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Freitag, 11. April 2025

Weltmacht ohne Mitgefühl

Bei einer geleiteten Meditation in der Natur, an der ich kürzlich teilgenommen habe, wurde ein Text vorgelesen, in dem neben vielen schönen und erhebenden Worten zweimal „Amerika“ erwähnt wurde. Mir wurde in dem Moment bewusst, wie sehr sich das Wort „Amerika“ in wenigen Wochen in meiner Gefühlswahrnehmung von neutral bis leicht positiv in einen extrem schlechten Bereich verschoben hat. Es löst Gefühle von Ekel bis Abscheu, Ärger und Unsicherheit aus.

Mir ist klar, dass Amerika viel, viel mehr als die USA ist und auch, dass das, was gegenwärtig in diesem Land geschieht, von vielen US-Bürgern abgelehnt wird. Aber die Mächtigsten im Land zählen auch zu den Mächtigsten auf dieser Welt, und ihre Einstellungen und die daraus folgenden Handlungen haben zum Teil massive Auswirkungen auf große Teile der Weltbevölkerung. Darum kann es uns nicht egal sein, was in den Machtzentren der USA abläuft und welche Absichten jene haben, die an den Schalthebeln sitzen.

Mein erstes Amerikabild war geprägt von den Erzählungen der Erwachsenen in meiner Kindheit, und das war überwiegend positiv, vor allem im Gegensatz zu den Russen, die als barbarisch und bedrohlich geschildert wurden – eine Mischung aus realen Erfahrungen mit vergewaltigenden russischen Soldaten und solchen, die die Armbanduhren in der Bevölkerung abkassierten und aus der Nazi-Propaganda, die viel Hass und Angst auf die „bolschewistischen Untermenschen“ schürte.

Über das Bild der zuckerlverteilenden amerikanischen Besatzungssoldaten legte sich später das des „hässlichen Amerikaners“, gespeist aus den Bildern und Debatten um den Vietnamkrieg. Der US-General, der damals drohte, ganz Vietnam „zurück in die Steinzeit“ zu bomben, steht als Symbolfigur für ein rücksichtsloses und gewaltbereites Land, dem viele damals wünschten, mit ihrer überheblichen und menschenverachtenden Politik zu scheitern, was auch in Vietnam geschah und als kollektives Trauma bis heute im Selbstbild der US-Amerikaner nachwirkt. Auch weltweit hat dieser Krieg zu einem Prestigeverlust für die Staaten geführt. Das Misstrauen gegen die machtgierigen Amerikaner ist bei vielen Linksgerichteten weit verbreitet und tief verwurzelt. Es spielt beispielsweise bei der Beurteilung der Ursachen des Ukrainekrieges mit. Die Sichtweise, dass in diesem Fall Russland als Angreifer die alleinige Verantwortung und Schuld am Kriegsausbruch trägt, wird von vielen Linken, auf der Grundlage eines notorischen Misstrauens in die Machtambitionen der USA, in Frage gestellt. Es gibt aus diesem Blickwinkel verschiedene Narrative, die in den USA und der von ihr dominierten NATO die Hauptverursacher dieses blutigen Konflikts sehen.

Die Ambivalenz, Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit des Amerikabildes, die sich in meiner Beurteilung im Lauf der wechselhaften Geschichte der letzten Jahrzehnte niedergeschlagen hat, ist nun durch die jüngsten Ereignisse übertönt worden. Es scheint kaum zu glauben, wie schnell die Demokratie in den USA kollabieren kann, wenn ein selbstbesessener Präsident skrupellos sein autoritäres Programm durchzieht. Es ist viel die Rede von einer Schockstarre, in die die nunmehrige Opposition und die Zivilgesellschaft gefallen wären, überrollt vom Dauerfeuer aus dem Weißen Haus. Aber nun mehren sich die Anzeichen von Widerstand – mit wenig Aussicht auf Erfolg.

Für viele Generationen von Menschen auf der Welt galten die USA über lange Zeit als Symbol einer Freiheitsverheißung. Doch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten hat zur Zeit nur eine etwas weniger brutale Kopie von Hitlerdeutschland zu bieten: Militärische Hochrüstung, Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Machtlosigkeit des Parlaments, Gängelung der Justiz, aggressive Außenpolitik, Rassismus und Ausgrenzung von Minderheiten.

Macht ohne Verantwortungsübernahme

Die USA sind aus der Menschheitsgemeinschaft ausgeschert, weil sie laut gegenwärtiger Regierung auf keinen Fall mehr Verantwortung tragen wollen außer für die von der eigenen Ideologie diktierten engstirnigen Maßnahmen, die angeblich Amerika groß machen sollen. Bei der Erdbebenkatastrophe in Myanmar sind die amerikanischen Hilfsteams ausgeblieben, vor Ort waren die Chinesen und Russen, die in dieser Hinsicht die USA an gelebter Empathie weit in den Schatten gestellt haben.

Der US-Regierung ist der Preis egal, der durch ihre Maßnahmen bezahlt werden muss – in der eigenen Bevölkerung, die unter dem Kahlschlag in der Verwaltung und im Gesundheitssystem sowie unter den Folgen der Zollpolitik leiden muss. Noch weniger schert man sich darum, wie es dem Rest der Welt mit den willkürlichen Maßnahmen geht (das bettelarme Bangla-Desh wird mit 74% „Strafzöllen“ belegt, weil es mehr Waren nach den USA liefert als umgekehrt, denn dort können sich nur wenige einen Tesla oder einen Whiskey kaufen. Tausende werden dort um ihre Arbeit und ihre Existenz gebracht). Soviel offensichtliche Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit haben in der Geschichte der Menschheit nur skrupellose Diktatoren gezeigt, die allesamt letztlich katastrophal gescheitert sind, eine Spur der Zerstörung hinterlassend.

Macht ist in der Regel mit Verantwortung verbunden, viel Macht mit viel Verantwortung. Diese einfache Gleichung war den bisherigen Präsidenten der USA zumindest ansatzweise bewusst. Der jetzige Präsident fühlt sich offenbar nicht mehr daran gebunden und kehrt sie um: Je mehr Macht, desto weniger wird die Verantwortung für die Folgen der Machtausübung wahrgenommen, sowohl im eigenen Land als auch auf der ganzen Welt. Die Folgen sind bei weitem nicht abschätzbar, aber nach dem, was sich jetzt schon abzeichnet, sind die Aussichten trübe. Die Ökonomen sagen einhellig, dass es bei dem entfachten Zollkrieg nur Verlierer gibt; diese Erkenntnis gilt vermutlich für all die anderen Politikbereiche ebenso, in denen sich die Zerstörungswut des Präsidenten und seiner Gefolgsleute austobt.

Aus Katastrophen lernen

Die Erfahrung mit Rückschritten und Rückfällen in vormoderne, um nicht zu sagen primitiv barbarische Formen der Politik im Lauf der neueren Geschichte zeigt, dass nach der Überwindung der dadurch ausgelösten Katastrophen neue Anläufe zu mehr Menschlichkeit und zur Übernahme von globaler Verantwortung unternommen wurden. Jede Katastrophe löst unweigerlich Lernprozesse aus; mit mehr Vernunft und Bewusstheit könnte oder sollte es freilich die Menschheit schaffen, auch ohne Katastrophen die notwendigen Lernschritte zu setzen.

Die Beseitigung der Empathie, also der Mitmenschlichkeit im Bewusstsein der gegenseitigen Verantwortung für das Wohlbefinden der jeweils anderen, schlägt irgendwann hart auf dem Boden der Realität auf. An diesem Punkt wird plötzlich in aller Deutlichkeit bewusst, worum es eigentlich geht in den menschlichen Angelegenheiten. Wie ein Verbrecher, der im Gefängnis versteht, dass ihn das Ausleben des Bösen nicht glücklich gemacht hat, erkennen viele Menschen im Scheitern, dass sie sich im verantwortungslosen Verfolgen der Selbstsucht nur tiefer in die Selbstbezogenheit verstricken, die irgendwann unweigerlich in Verzweiflung und Sinnlosigkeit endet. Die Tragik der menschlichen Geschichte liegt darin, dass diese Erkenntnis oft erst zugänglich wird, wenn alles, was das Ziel der egoistischen Bestrebungen war, in Trümmer zerfallen ist. Das Ego will sich erst verabschieden, wenn es alles ruiniert hat, was es sich erträumte. Wo die Identifikation mit dem Ego so mächtig ist, gelingt ein Ausbruch aus seinen Fängen nur im Scheitern, im Zusammenbruch; tragisch wird es dann, wenn viele andere in diesen Strudel hineingezogen werden, wie z.B. im Ende des Großdeutschen Reiches in den Ruinen und Schuttbergen der deutschen Städte.

Mit unserer genetischen Grundausstattung kommen wir nicht über unser Ego hinaus, das sich höchstens auf ein Gruppenego ausweitet: Das Bindungshormon Oxytocin wirkt nur im vertrauten Umkreis und schürt Misstrauen gegen alles Fremde. Studien haben herausgefunden, dass die Empathie mit Machtgewinn schwächer wird. Je mehr Geld, desto mehr Macht, desto weniger Empathie – so will uns offenbar die Natur. Sie hat allerdings nicht mit den riesigen Anhäufungen von Geld und Macht gerechnet, die in der modernen Zeit durch den Kapitalismus möglich wurden. Die Natur hat uns allerdings auch eine enorme Lernfähigkeit mitgegeben, die wir nutzen können, um unsere Vernunft auszubilden. Sie ist in der Lage, das Ego und seine selbstdestruktiven Impulse zu durchschauen und zu überwinden.

Erst wo die Vernunft das Ego einzuschränken vermag, wird ein Handeln möglich, das von Verantwortung getragen ist. Die Vernunft vermag über den Tellerrand der eigenen individuellen und kollektiven Bedürfnisse schauen und ist offen für ein universelles Mitgefühl, also für ein Verständnis des Leides der gesamten Menschheit.

Zur Universalität des Mitgefühls:
Natan Sznaider: Politik des Mitgefühls. Die Vermarktung der Gefühle in der Demokratie. 
Weinheim: Beltz Juventa, 2021

Zum Weiterlesen:
Musk: "Empathie - eine Schwäche der westlichen Zivilisation"
Der heroisierte Verzicht auf Empathie
Der Propagandatrick der Umkehrung
Taktiken zur Machtergreifung
Muster der rechtsorientierten Propaganda

Donnerstag, 15. Februar 2024

Die Notwendigkeit der universalen Ethik

Die globalen Probleme der Menschheit können nur mit gemeinsamen Anstrengungen gelöst werden. Die weltweite Zusammenarbeit wiederum benötigt ein ethisches Fundament, um die notwendigen Motivationen und eine breite Basis des Verständnisses für die erforderlichen politischen Beschlüsse bereitzustellen. Es muss also eine genügend große Zahl von Menschen einsehen und unterstützen, dass alle Gesellschaften ihren Beitrag leisten müssen, entsprechend der jeweils zur Verfügung stehenden Ressourcen. Die universale Ethik wird diesen Anliegen gerecht. Sie dehnt den Rahmen für die Subjekte des ethischen Handelns auf alle Menschen und darüber hinaus auf alle Lebewesen und die gesamte Natur aus. Die Begrenzung der Ethik auf privilegierte Gruppen oder der Ausschluss von nichtmenschlichen Lebewesen verhindert die Problemlösungen, die notwendig sind, um das Leben der künftigen Generationen auf der Erde zu gewährleisten. Wir können uns also den Luxus einer begrenzten Ethik nicht mehr leisten.

Die Ausweitung der Ethik ist von Mystikern schon lange eingefordert worden. Sie haben erkannt, dass es nicht genügt, die Überwindung von individuellen Egoismen durch ethische Grundsätze zu fordern, sondern dass Gruppen- und Gesellschaftsegoismen ebenso hinter sich gelassen werden müssen, wenn es um ein gutes Handeln geht. Die Verantwortung bei jeder Entscheidung kann nicht auf das eigene Leben oder auf die Menschen in der engeren Umgebung beschränkt bleiben; jede unserer Handlungen hat globale Auswirkungen, für die wir die Verantwortung tragen und in unsere zukünftigen Handlungsmotivationen einbauen müssen.

Der persische Dichter Saadi hat im 13. Jahrhundert dazu die folgenden Zeilen geschrieben, die hier in einer Nachdichtung wiedergegeben werden:

„Die Kinder Adams sind aus einem Stoff gemacht, 
als Glieder eines Leibs von Gott, dem Schöpfer erdacht.
Sobald ein Leid geschieht nur einem dieser Glieder,
dann klingt sein Schmerz sogleich in ihnen allen wider.
Ein Mensch, den nicht die Not der Menschenbrüder rührt,
verdient nicht, dass er noch des Menschen Namen führt.“

Dieses Gedicht ist der Überlieferung nach übrigens entstanden, als der König den Dichter befragte, wie er sich vor einem übermächtigen Feind schützen könne. Es geht also um einen Gewaltzusammenhang, den der Dichter auf eine höhere ethische Ebene hebt, indem er die Universalität des Leidens und des Mitgefühls anspricht. Er verdeutlicht damit indirekt, mit wieviel Scham jeder Akt der Gewaltanwendung verbunden ist, weil dadurch die Geschichte des Leidens fortgesetzt wird, aber auch, wie durch das Einnehmen der geweiteten Perspektive jede Schambelastung aufgehoben wird und ein freier Raum der Menschlichkeit entsteht.

Von der Pflichtethik zur universalen Ethik

Die Pflichtethik geht von einem Unterschied zwischen Sein und Sollen aus. Was „ist“, sind die egoistischen Antriebe, die das Handeln der Menschen lenken, wenn sie von Überlebensängsten geleitet sind. Die Ethik fordert dazu auf, diese Antriebe zu überwinden und im Sinn der Gemeinschaft zu handeln. Sie formuliert das, was getan werden „soll“. Die Annahme dabei ist, dass das menschliche Sein erst durch das Sollen, das gegen die eigenen Impulse gerichtet ist, zur Ethik gelangt. Die Ethik wird nur durch eine kognitive Reflexion erreicht, mit der einsichtig wird, dass dem, was das Sollen verlangt, gefolgt werden muss. Ein Beispiel für diese systematische Überlegung stellt der kategorische Imperativ von Immanuel Kant dar: Handle so, dass die Maxime deines Handelns zugleich als allgemeines Gesetz geeignet ist.

In dem von mir beschriebenen Modell der Bewusstseinsevolution habe ich die holistische oder universalistische Stufe eingeführt. Sie umfasst die mystische Sichtweise auf die Welt, mit der auch jedes Handeln von bedingungsloser Liebe bestimmt ist. Frei von Ängsten und toxischen Schamgefühlen fließt das Tun aus einem Bewusstsein der Allverbundenheit. Das Eigene ist das Ganze, und das Ganze ist das Eigene. Anderen Menschen Gutes zu tun, ist nichts Besonderes, weil der Schmerz und die Scham unmittelbar gespürt würden, wenn anderen Schaden oder Leid zugefügt wird. Jedes Leid, das es auf der Welt gibt, ist zugleich eigenes Leid, und jede Vermehrung des Leidens der Welt steigert das eigene Leid. 

Es braucht deshalb nicht einmal einen Unterschied zwischen Sein und Sollen: Was zu tun ist, erwächst aus dem Sein, aus dem Wesenskern der eigenen Persönlichkeit, und nicht aus einem Prinzip oder aus einer moralischen Reflexion. Es geht nicht um eine Pflicht, sondern, in den Begriffen von Kant formuliert, wird das moralische Handeln zur Neigung, zu etwas, das die eigenen Bedürfnisse genauso berücksichtigt und abdeckt wie die der anderen Menschen.

Es wird auf dieser Ebene deutlich, dass ethisches Handeln aus der Übereinstimmung der handelnden Person mit sich selbst erfließt, und dass diese Übereinstimmung mit sich zugleich eine Übereinstimmung mit allen anderen einschließt. Es ist zugleich ein Tun und ein Geschehenlassen. Es geht also nicht um die Befolgung einer Pflicht, die im Gegensatz zu den Neigungen und egoistischen Antrieben steht, sondern darum, das zu tun, was einem entspricht, was aus dem eigenen Inneren kommt. Ethisch zu handeln, ist auf dieser Bewusstseinsstufe die einzige Option, die zur Verfügung steht. Alles andere wäre eine Form der Selbstverleugnung, die als schmerzhaft und schambeladen erlebt wird.

Möglich wird diese Haltung, wenn die inneren Ängste und Schamgefühle so tief bearbeitet sind, dass sie sich nicht mehr in die Handlungsmotivation einmischen. Die Überlebensimpulse, die jedes egoistische Handeln motivieren, müssen erkannt und integriert sein, sodass sie keine Rolle bei der Ausrichtung des Entscheidens und Handelns sind.

Erwachtes ethisches Bewusstsein

Mittlerweile ist das hohe ethische Bewusstsein nicht mehr nur Sache von wenigen Auserwählten aus der Menschheitsgeschichte, die gerne als Beispiele zitiert werden: Jesus, Buddha, Mahatma Gandhi. Es treten immer mehr Menschen auf, die von sich sagen, dass sie sich im erwachten oder erleuchteten Zustand befinden, und immer mehr Menschen suchen bei diesen Personen Inspiration und Hilfe für ihren inneren Weg. Der deutsche Philosoph Thomas Metzinger sieht in einer vertieften „Bewusstseinskultur“ (2023), die Zugang zu der universalistischen Bewusstseinsstufe hat und sich besonders auf die Meditation stützt, die wichtigste Ressource für die Änderungen in der Lebensweise, die durch die Klimaveränderungen auf uns zukommen. 

Auch die Wissenschaft nimmt sich dieser Phänomene an. Die US-amerikanische Neurowissenschaftlerin Lisa Hiller hat in einem Buch („Das erwachte Gehirn“, 2022) die Neurobiologie von spirituellen Bewusstseinszuständen erforscht und festgestellt, dass diese Zustände prinzipiell allen Menschen offenstehen. Es handelt sich also nicht um geistige „Spitzenleistungen“, die nur wenigen außergewöhnlich begabten oder begnadeten Personen zugänglich sind, sondern um ein Potenzial, das in allen Menschen steckt und durch geeignete Zugänge, Erfahrungen und Methoden erschlossen werden kann.

Die Welt steht vor großen Herausforderungen, die nur gemeistert werden können, wenn genügend Menschen mit den oberen Stufen der Ethik vertraut sind und in ihre Einstellungen und Werte aufnehmen können, sodass sie die praktischen Handlungen bestimmen. Wir haben viele Gründe zur Annahme, dass der Raubbau an der Natur massive Auswirkungen auf die sozialen Systeme haben wird. Die drohende Zerstörung von Klima und Atmosphäre, deren Stabilität für das Leben der Menschheit unerlässlich ist, führt zu immensen Herausforderungen für das Leben aller Menschen und für den sozialen Zusammenhalt. Dass die Menschen in Zeiten von knapper werdenden Ressourcen zusammenarbeiten statt zu kämpfen, erfordert eine starke Fundierung in einer erweiterten Form der Ethik. Ohne diese Rückbesinnung auf unser gemeinsames Schicksal auf diesem Planeten ist zu befürchten, dass die Verteilungskonflikte in den Staaten, in den Staatengemeinschaften und global an Schärfe und Heftigkeit zulegen werden. Die Probleme in der Eindämmung der CO2-Emissionen und vieler anderer Aspekte der Naturzerstörung, die ohnehin schon sehr groß sind, könnten dann nicht angegangen werden. Wir leben schon lange in einer Welt mit starken sozialen Unterschieden innerhalb der Weltbevölkerung, und diese eklatanten Unterscheide werden durch die Klimakrise fortlaufend vertieft. 

Universale Verantwortung

Die universalistische Ethik macht uns klar, dass Hunger und Armut nicht irgendwo fern in der Welt Leid verursacht, sondern dass das unser Problem ist, das wir gemeinsam lösen müssen. In dieser Perspektive leiden wir in den hochentwickelnden Ländern nicht nur an den Folgen der Klimaveränderungen und an der fortschreitenden Inflation, sondern auch am Hunger der Menschen in anderen Ländern. 

Es gibt eine Alternative, die allerdings keine wirkliche Alternative darstellt: Eine winzige Minderheit sichert sich ein komfortables Überleben (auf der Erde oder auf einem anderen Planeten), während die anderen mehr oder weniger darben oder zugrunde gehen, oder es arbeitet die Menschheit zusammen und findet Wege, die Lasten gleichmäßig zu verteilen und darauf zu achten, dass niemand unter die Räder kommt. Die erste Möglichkeit benötigt eine massive und kontinuierliche Schamverdrängung, sodass nur Zyniker überleben werden und sich dann untereinander das Leben schwer machen. Schon die Vorstellung einer solchen Möglichkeit ist in sich menschenverachtend und kann nur von Personen vertreten werden, die es nach Saadi „nicht verdienen, eines Menschen Namen zu führen.“ 

Die zweite Möglichkeit erfordert das innere Wachsen der ethischen Kompetenz bei möglichst vielen Menschen, und das geht nur über die Verarbeitung von Ängsten und die Entwicklung einer reifen Schamkompetenz. Wir alle müssen also an der Horizonterweiterung unserer moralischen Einstellung arbeiten und die dafür erforderlichen emotionalen Grundlagen festigen; diese Aufgabe ist mindestens so zentral wie die der Weiterentwicklung von Technologien und von sozialen Regulationen zur Abfederung der ärgsten Folgen der klimatischen Veränderungen. 

Zum Weiterlesen:
Keine Nachhaltigkeit ohne soziale Konfliktlösung
Von der Angst zur Ethik
Vom Gruppenegoismus zur globalen Ethik


Samstag, 23. Dezember 2023

Die pubertären Wurzeln der Ideologien

Die Zwischenzeit der Adoleszenz besteht darin, eine Antithese zur Kindheit zu bilden. Adoleszente wollen keine Kinder mehr sein und lehnen deshalb alles Kindliche ab. Sie orientieren sich an Werten, die sie absolut setzen. Sie fordern die Erwachsenen und ihre Ansichten heraus. Sie treten mit neuen Ideen und neuen Programmen auf, die die Gesellschaft verändern und vorantreiben sollen. Sie kritisieren die Widersprüche der von den Erwachsenen eingerichteten Welt und fordern die Widerspruchsfreiheit ein. Sie vertreten ihre Ideale bedingungslos, und sie können das auch, weil sie noch keine Handlungen setzen können und noch keine Verantwortung tragen müssen. Oft werden sie deshalb von den Erwachsenen als Träumer oder als weltfremde Idealisten belächelt. Die Jugendlichen wiederum sehen in den Erwachsenen in ihren Haltungen festgefahren und stur im Festhalten an alten Strukturen und an ihrer Macht. Sie betrachten das Bestehende als Hemmschuh für ihr Fortkommen und bekämpfen es, um Freiräume für eine Neugestaltung zu gewinnen. Die Adoleszenten treten mit vielen Forderungen auf, die sie leicht stellen können, weil sie nicht die Verantwortung für deren Verwirklichung tragen können.

Offenbar dient es dem gesellschaftlichen Fortschritt, dass jede junge Generation mit einem Elan zur Erneuerung und zur Überwindung von alten Verkrustungen antritt. Sie zeigt die Widersprüche zwischen Moral und Praxis, zwischen Idealen und Realität auf und fordert oft radikal eine Kehrwende ein, zurück zu mehr Gerechtigkeit und Offenheit. Denn die Jugend braucht eine offene Welt, in der es viele Chancen gibt, nicht nur für wenige Privilegierte, sondern für alle. Sie wissen noch zu wenig über sich selbst und sind unsicher, ob sie ihren Platz in der Welt finden können. Deshalb neigen sie zu radikaleren Vorstellungen über die notwendigen Veränderungen als viele Erwachsene, die sich eine pragmatischere Sicht auf die Wirklichkeit erworben haben. 

Widersprüchliche Realität

Die Realität ist geprägt von Gegensätzen und Widersprüchen, und das Erwachsenenleben gelingt in dem Maß, in dem diese Widersprüchlichkeit sein darf, ausgehalten wird und den Rahmen für das Handeln bildet. Viele Vorkommnisse sind weder gut noch böse, oder beides, keinesfalls aber eindeutig zuordenbar. Wir täten uns leichter mit der Wirklichkeit, wenn es immer die Täter (die Bösen) auf der einen und die Opfer (die Guten) auf der anderen Seite gäbe. Aber Vereinfachungen haben immer ihren Preis, während die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten bestehen lassen zu können, die Handlungsfähigkeit erweitert. Wir können besser auf die Wirklichkeit und ihre Erfordernisse eingehen, wenn wir sie in ihrer Ambiguität tolerieren. Je mehr Sichtweisen wir entwickeln, desto mehr Optionen haben wir. 

Ideologien sind pubertäre Erlösungsfantasien 

Jede Ideologie stellt einen Versuch dar, Widersprüche auf Kosten der Realität zu harmonisieren. Das scheinbar eindeutige Benennen von einfachen Ursachen für Missstände begeistert viele Anhänger und Parteigänger. Vereinfachungen vermitteln Illusionen der Handlungsfähigkeit, weil sie vorgaukeln, dass mit der Beseitigung des so-genannten Bösen die Probleme gelöst werden und sang- und klanglos verschwinden. Die gesellschaftlichen Probleme sind allerdings immer komplex und können nicht durch ein einfaches Dreinhauen gelöst werden. Meist verstärken einfache Lösungsansätze die Probleme zusätzlich. Ein Beispiel bilden die ökonomischen Maßnahmen, die von vielen rechtspopulistischen Regierungen durchgeführt werden. Sie geben aus dem gesellschaftlichen Füllhorn gern Geschenke für ihre Klientel, die den Staatshaushalt belasten; und den kleinen Leuten wird dann auf andere Weise wieder das Geld aus der Tasche gezogen. Oft reduzieren diese Politiker die Steuern für die Reichen, was den Schlechterverdienern mehr Lasten aufbürdet, aber Geld von den Reicheren in die Parteikassen der Rechtsparteien spült, die damit ihre Propagandamaschinen betreiben können. 

Wir können erkennen, dass die Neigung zu Ideologien pubertäre Wurzeln hat. Jugendliche neigen zu radikalen Sichtweisen und einfachen Lösungswegen, wie sie von Ideologien angeboten werden. Z.B. wird gefordert, riesige Zäune zu bauen, um das Flüchtlingsproblem für das eigene Land zu lösen. Das Problem wird damit in andere Länder exportiert und im eigenen Land kann man sich selbstzufrieden abputzen. Das Problem wurde also nur von den eigenen Leuten und Anhängern weggeschoben, aber nicht gelöst. Echte Lösungsschritte müssen in den Herkunftsländern ansetzen, damit die Bedingungen dort so verbessert werden, dass niemand mehr flüchten will. Aber das sind langwierige und komplexe Bemühungen, die zwar nachhaltig wirken, aber in den Zielländern der Fluchtbewegungen nicht populär sind, weil sie keine unmittelbare Entlastung von den Ängsten bewirken, die durch die Migrationen ausgelöst werden. 

Ideologen und Ideologieanhänger sind in ihrer Weltsicht nicht erwachsen geworden. Sie befinden sich in einer Fundamentalopposition zur Realität, die die objektive Entsprechung der Erwachsenenwelt darstellt. Sie wollen eine Gegenwelt, nicht die Weiterentwicklung der bestehenden. Sie erhoffen sich schnelle Lösungen und übersehen die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit, indem sie die Komplexitäten auf Einfachheit reduzieren und damit alle Details und Zusammenhänge, die dem eigenen Weltbild widersprechen, ausblenden. Deshalb bringen sie im besten Fall Scheinlösungen oder nur kurzfristig wirksame Verbesserungen zustande. Der Verantwortungshorizont reicht nicht aus, um nachhaltige oder langfristig haltbare Maßnahmen zu verwirklichen.

Verantwortungsbewusstes politisches Handeln trägt der Komplexität Rechnung und versucht, verschiedene Interessenslagen zu bedienen. Im 21. Jahrhundert bedeutet das immer auch, dass die Perspektive des gesellschaftlichen Handelns immer auch die Bedürfnisse der Natur und der künftigen Generation mit einschließt – Bereichen, denen sonst nachhaltiger Schaden zugefügt wird. Viele rechtsextreme Politiker vermeiden diese wichtige Sicht, indem sie den Klimawandel leugnen und damit Raubbau an den Ressourcen des Planeten fördern, die auch die Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen einschränken. 

Reifes Erwachsensein

Das reife Erwachsensein besteht nicht in der Negation der Adoleszenz, sondern in einer Integration von Kindheit, Jugend und Erwachsenem. Im Sinn von Georg Wilhelm Friedrich Hegel geht es beim Fortschritt immer um eine Synthese aus These und Antithese, aber nicht um eine reine Negation der Negation. Die Pubertierenden neigen zwar zur Negation von Kindheit und Erwachsenenwelt, aber die Weiterentwicklung führt zur Synthese, zur Verbindung der Kräfte und Energien.

Erwachsene dürfen immer wieder mal kindlich und pubertär sein. Es sind Aspekte der Lebendigkeit, die unterschiedliche kreative Impulse enthalten, die in jedem Erwachsenenleben mitwirken sollten. Das Erwachsensein, das sich nur als Abkehr und Überwindung von Kindheit und Jugendzeit versteht, neigt zur emotionalen Trockenheit und schöpferischen Farblosigkeit. Die Hauptausrichtung der Erwachsenen ist der produktive Umgang mit der Realität und ihren Herausforderungen mit den Mitteln der Rationalität und Pragmatik. „Reine“ Erwachsene sind nur Verwalter der Realität und keine Gestalter. Die Impulse zur Gestaltung kommen aus der Kreativität des Kindes und des Jugendlichen. Sie erfordern die Fähigkeit, die Welt immer wieder ganz anders sehen zu können, als sie ist.  

Die frühkindlichen Wurzeln der Ideologien
Verschwörungstheorien und Normalitätsscham

Mittwoch, 22. November 2023

Scham und Krankheit

Scham spielt bei Krankheiten eine große Rolle. Krankheiten bringen uns in besorgniserregende Zustände und reißen uns aus der Alltagsroutine heraus. Neben den Beschwernissen, die mit den Symptomen verbunden sind, z.B. Fieber und Schmerzen, kommen auch Lebensumstellungen und psychische Belastungen. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf den eigenen Zustand, während die Mitmenschen als Helfer gebraucht werden. Es ist meist nicht möglich, mehr zu geben außer Dankbarkeit, und es ist notwendig, im Zustand der Hilflosigkeit die Unterstützung anzunehmen. Das ist für Menschen, die von der Bedürfnisscham geprägt sind, eine unangenehme Herausforderung. Sie fühlen sich schnell wertlos, wenn sie nicht für sich selber sorgen können und wollen möglichst alles verhindern, um in sie hineingezwungen zu werden. Oft leugnen und verharmlosen sie ihre Erkrankungen, bis es so schlimm ist, dass sie nicht mehr alleine damit zurechtkommen. Wenn sie einmal in die bedürftige Rolle geraten sind, wollen sie wieder herauskommen, so rasch es nur geht.

Im kranken Zustand ist die eigene Leistungsfähigkeit reduziert oder nicht mehr vorhanden. Menschen, die sich über Arbeit und Leistung definieren, reagieren mit Schamgefühlen, sobald sie aus dem Leistungsgefüge herausfallen. Sie leiden darunter, dass sie die Erwartungen der anderen nicht erfüllen und fühlen sich unwert und nutzlos. Der Anspruch an sich selbst, durch Leistung die Zugehörigkeit zur Gesellschaft zu verdienen, kann nicht eingelöst werden – eine Schande.

Die individuellen Schamreaktionen unterscheiden sich nach Krankheitsart und sind von den vorherrschenden gesellschaftlichen Bewertungen beeinflusst. Es gibt Krankheiten, die als “normal” gelten, weil sie fast alle zu bestimmten Zeiten bekommen, wie Erkältungserkrankungen und grippale Infekte. Bei ihnen ist die Schambelastung gering. Dauern Krankheiten länger als gemeinhin angenommen wird, dann steigen die Schamgefühle. Jemand, der eine Covid-Erkrankung mit geringen Symptomen hatte, wird sich weniger schämen als jemand, der an Long-Covid leidet.

Niemand will kränker oder krankheitsanfälliger als alle anderen sein; jeder mit solchen Dispositionen fühlt sich schnell im Eck der Scham gefangen. Manche brüsten sich mit ihrem scheinbar unüberwindlichen Immunsystem, leiden dann aber doppelt, wenn sie doch eine schlimme Infektion erwischt. Neben der Krankheit müssen sie unter Umständen mit der Häme ihrer Mitmenschen leben und auch schamvoll von ihrer Selbstüberschätzung Abschied nehmen.

Es gibt Krankheiten, die mit sehr viel Angst verbunden sind, z.B. Krebs. Krebsdiagnosen lösen meist starken Stress und Überlebensängste aus. Obwohl es bei vielen Krebsarten inzwischen gute Heilungsaussichten gibt, ist das Wort Krebs nach wie vor von vielen Ängsten besetzt. Wo die Angst herrscht, ist die Scham nicht weit. Es fällt nicht leicht, über diese Krankheit zu reden, denn es ist ein schambesetztes Tabuthema, gerade weil es um eine so gefürchtete Krankheit geht. Das Stigma der Todesdrohung ist schon im Wort enthalten. Krebsdiagnosen konfrontieren mit der Endlichkeit, ob wir es wollen oder nicht. 

Es gibt Krankheiten, die mit einem starken Verlust an Selbstkontrolle verbunden sind, z.B. Parkinson, Demenz oder Inkontinenz. Die Scham steht gewissermaßen im Zentrum dieser Störungen. Denn sie werden von einem selber und von den Mitmenschen erkannt, und die Betroffenen merken, dass den anderen die Störung unangenehm auffällt. Sie fühlen sich in ihrer Inkompetenz bloßgestellt. Sie sind unfähig, die Symptome willentlich abzustellen, die Hilflosigkeit und der Kontrollverlust sind auffällig und peinlich. Auf den Körper ist kein Verlass mehr, er verweigert den Gehorsam und tut, was er will. Die Muskeln und das Gehirn sind mächtiger als das Selbst, das beschämt und ohnmächtig daneben steht. Es ist eine Hilflosigkeit sich selbst gegenüber, die neben dem Angewiesensein auf Hilfe die Schambelastung bewirkt. Die aktuelle Unfähigkeit wird mit der früheren Fähigkeit verglichen, und der Vergleich endet immer in einer Beschämung. Was doch früher alles so selbstverständlich gut gelaufen ist und funktioniert hat, geht jetzt überhaupt nicht mehr.

Schwere und chronische Krankheiten erfordern eine Änderung der eigenen Identität, die in ihrer Fragilität, und manchmal sogar in ihrer Endlichkeit anerkannt werden muss. Die Identität als gesunde Person muss ersetzt werden durch die Identität einer kranken oder behinderten Person. Es sind wiederum Schamgefühle, die die Anpassung des eigenen Selbstempfindens an die Krankheitssituation erschweren. Wie soll ich weiterleben, wenn ich bisher ein funktionstüchtiges Mitglied der Gesellschaft war und mich über meine Leistungsfähigkeit und zuverlässige Pflichterfüllung definiert habe? Bin ich noch wer, wenn ich hauptsächlich ein kranker Mensch bin? 

Chronisch kranken Menschen bleibt nichts anderes übrig, als sich in ihr missliches Schicksal zu fügen. Häufig gehen sie durch verschiedene Gefühlsstadien. Von Frustration, Ärger und Angst über Verzweiflung und Resignation gelangen sie manchmal zu einer gleichmütigen Annahme der Lage und finden vielleicht sogar zurück zum Humor. Wenn dieser Schritt gelingt, steht ein wirksames Mittel gegen die Scham zur Verfügung, das das schwere Los erleichtert.

Ein anderes Beispiel für die Aktivierung von Scham bei Krankheiten bieten äußerlich sichtbare Krankheiten, wie Hautkrankheiten. Sie können bei den Betroffenen unangenehme Gefühle auslösen, von den anderen scheel oder abfällig betrachtet zu werden und sich wie ein Außenseiter zu fühlen. Mit solchen Krankheiten sind fast automatisch Ekelgefühle verbunden, die das Gefühl des Ausgegrenztseins verstärken. Zur Krankheitsscham kommt noch eine Körperscham, eine abwertende Reaktion auf den eigenen Körper. In früheren Zeiten wurden bekanntlich die Aussätzigen wegen der Ansteckungsgefahr streng abgesondert und auch sozial stigmatisiert. Deshalb melden sich auch heute noch uralte kollektive Ängste, an etwas zu leiden, das zu sozialer Ausgrenzung führt. 

Psychisches Leiden

Jede Krankheit verändert den Körper und das Selbsterleben. Es gehen Möglichkeiten der Lebensgestaltung verloren. Die reduzierte Leistungsfähigkeit ist häufig von Schamgefühlen begleitet. Besonders psychische Leiden sind schambesetzt. Sie gelten als ein persönlicher Makel, den die betroffene Person zu verantworten hat. Körperliche Leiden gelten bei vielen als Schicksal, während psychisches Leid häufig als selbstverursacht angesehen wird. Psychisch Kranke wären unfähig oder unwillig, „sich am Riemen zu reißen“. Sie seien nicht von einem unwägbaren Schicksal betroffen, sondern von einem Mangel an Willenskraft, für den sie selber verantwortlich sind, so eine noch immer wirksame Auffassung. Deshalb tun sich viele Menschen schwer, über ihre psychische Krankheit zu reden, weil sie sich dafür schämen und weil sie befürchten, dafür beschämt zu werden.

Die Scham, einem psychischen Leiden ausgesetzt zu sein, wird durch die Übernahme solcher Vorurteile zum Teil der Krankheit. Die Unfähigkeit, Verhaltensweisen oder Stimmungen in den Griff zu bekommen, was anderen scheinbar so leicht fällt, verstärkt die Scham und verschlimmert die Krankheit. Die Hilflosigkeit, trotz besseren Wissens und trotz Einsicht die eigene Innenwelt nicht zu beherrschen, sondern von ihr beherrscht zu werden, legt die nächste Schicht der Scham über das jeweilige Symptom und macht es noch mächtiger. 

Der Ausdruck „Geisteskrankheit“ trägt die Scham schon begrifflich in sich. Es ist nicht die Rede von Störungen des Gehirnstoffwechsels oder der hormonellen Abläufe, die die psychischen Störungen bewirken, sondern von einer Erkrankung des Geistes. Da gemeinhin unter dem Geist das Höchste und Wertvollste im Menschen verstanden wird, bedeutet eine Krankheit dieser Instanz die Gefährdung und Einschränkung dessen, was den Menschen zum Menschen macht. Die Bezeichnung „geisteskrank“ enthält einen Würdeverlust, und die Integrität der Person wird in Frage gestellt. Niemand würde annehmen, dass jemand, der an einer Blinddarmentzündung erkrankt, deshalb in seiner Würde geschmälert wäre; ist aber jemand in einem „geistig“ abnormen Zustand, so wird er von vielen nur mehr in einem eingeschränkten Sinn als Mensch geachtet. Das ist auch ein Grund, warum sich die Nationalsozialisten angemaßt haben, Menschen mit psychischen Störungen als „lebensunwertes Leben“ zu brandmarken und sie deshalb in den Tod zu schicken. 

Psychologisiertes Krankwerden

Ein moderner Zusammenhang zwischen Scham und Krankheit eröffnet sich durch die Psychologisierung von Krankheiten, also durch die Zuschreibungen von psychischen Ursachen und Charakterschwächen für jede Form von Leiden, körperlichen wie seelischen. Es gibt alle möglichen populären Ratgeber, die jede erdenkliche Krankheit mit bestimmten psychologischen Schwächen in Verbindung bringen. Sie wollen den Menschen helfen, die seelischen Hintergründe ihrer Krankheiten zu verstehen und verbreiten den Glauben, dass durch die Auflösung der psychischen Konflikte die Krankheit geheilt werden kann. Das Wissen um die Psychosomatik, also um die Zusammenhänge zwischen körperlichen und seelischen Störungen, ist in die Alltagspsychologie eingedrungen und hat dort nicht nur Gutes bewirkt, sondern auch in mancherlei Hinsicht zu mehr Schambelastung geführt. Denn die Auffassung von Krankheit als Los wurde ergänzt oder ersetzt durch die Eigenverantwortung für die Gesundheit und deren Versagen im Fall von Krankheit. Wer krank ist, hat versagt, so die Kurzformel. 

Im Zug dieser Entwicklung hat sich das Gewicht vom Schicksal auf die Verantwortung verschoben: Gesundheit ist keine Gnade und Krankheit kein Schicksal, gesund sind wir als Ergebnis von Bemühungen und Einsatz; wer krank ist, hat in dieser Hinsicht versagt und trägt dafür die Verantwortung. Er kann sich nicht mehr ausreden – auf einen ungnädigen Gott, auf die Gene oder die stressigen Lebensumstände. Eine Flut von Ratgebern füllt die Buchläden, die Zeitschriften bersten von unterschiedlichen Gesundheitstipps, der Markt an alternativen Heilmethoden boomt. So viele Möglichkeiten gibt es, für die Gesundheit vorzusorgen, und wer dennoch krank wird, muss etwas falsch gemacht haben und muss mit dem Vorwurf rechnen, sich nicht genügend um sich selbst gekümmert zu haben. Er entkommt der Scham nicht, die mit der mangelnden Verantwortungsübernahme verbunden ist.

Häufig versteckt sich hinter den scheinbar fürsorglichen psychologischen Erklärungen für die Krankheitsursachen die Angst vor der Ungewissheit des Schicksals, das jeden einmal treffen kann. Wenn eine Erklärung für das Unerklärliche gefunden wird, mindert das die Angst und holt ein Stück Macht über das Schicksal zurück. Zugleich erspart das Psychologisieren die Empathie mit dem Leiden und das Eingehen auf die leidende Person. Sie wird zum Fall für eine Diagnose.


Sonntag, 16. Juli 2023

Die eigene Geschichte und das Schicksal

Es gibt kein Schicksal in der äußeren Wirklichkeit, sondern nur Abläufe und Geschehnisse. Der Begriff Schicksal entsteht in unserem Denken, er ist ein Konzept des Bewusstseins. Es handelt sich um die Benennung und Bewertung unseres Erlebens in bestimmten Momenten, als Bezeichnung für eine Erfahrung, die etwas Unbegreifliches enthält. Das Schicksal stößt uns zu, gewissermaßen ruckartig und gewaltsam tritt es in unser Leben und nimmt uns voll in Beschlag. In der Rückschau ragen die schicksalhaften Erlebnisse wie mächtige und dunkle Marksteine aus der Umgebung heraus: Nach solchen Vorkommnissen war nichts mehr wie früher, das Leben wurde ein anderes.

Wenn wir an das Schicksal denken, fallen uns sofort äußere Ereignisse ein, die uns stark betroffen haben: Unerwartete Todesfälle, Unfälle, Krankheiten und andere emotional belastende Erfahrungen. Wir erleben sie als von außen kommend, die dann unser Inneres ergreifen und erschüttern. Was hat es nun mit unserem Innenleben auf sich, ist da auch die Macht des Schicksals aktiv?

Unverfügbare Abläufe in unserem Inneren

Wir haben den Eindruck, dass wir unsere innere Situation immer beeinflussen und regulieren können, zum Unterschied von der Außenwelt, auf die wir in nur sehr geringem Maß Einfluss haben. Allerdings ist auch dort vieles vorgegeben, also „Schicksal“. Denn unsere Impulse, Stimmungen und Gedanken werden von Vorgängen erzeugt, die im Organismus und seelisch im Unterbewussten, also ohne unsere bewusste Mitwirkung ablaufen. Wir haben keine Macht darüber, was als Gefühl oder als Gedanke auftaucht. Wir sind ihm ausgeliefert wie einem Schicksalsschlag, obwohl Gefühle und Gedanken in der Regel viel harmloser sind als das, was wir als schicksalhaft beschreiben.

Sobald allerdings etwas in unser Bewusstsein getreten ist, können wir darauf einwirken, indem wir die Kraft unserer Aufmerksamkeit einsetzen. Den Inhalten unseres Bewusstseins, denen wir Aufmerksamkeit geben, verleihen wir mehr Macht als jenen, die wir übergehen oder beiseite stellen. Wir verfügen also über die Fähigkeit, Bewusstseinsinhalten, die uns angenehm und förderlich erscheinen, mehr Bedeutung zu verleihen, als jenen, die uns runterziehen oder in ungewollte Gewohnheiten verstricken. Wir sind nicht Herr (Frau) unseres unmittelbaren Erlebens, sondern der Verarbeitung dieses Erlebens. Unsere Einflussnahme kommt also immer hinten nach, gleichwohl wirkt sie längerfristig darauf ein, was als erstes auftaucht. Denn Bewusstseinsinhalte, die wir durch unsere Aufmerksamkeit pflegen und stärken, melden sich öfter als solche, die wir vernachlässigen oder ignorieren. So können wir mit unseren Gedanken umgehen, und Ähnliches gilt für Gefühle. Wir sind in der Lage, belastenden Gefühlen weniger Bedeutung zuzumessen und befreienden Gefühlen mehr Raum zu geben. Auf diese Weise schwächen wir die einen und fördern die anderen.

Das ist der Weg, auf dem wir die Verantwortung für unser Erleben übernehmen, sprich für die Übersetzung dessen, was uns im Außen begegnet, in unser Inneres. Wir haben keine Zuständigkeit für das, was wir erleben, sind aber dann zuständig für das, was nach der Bewusstwerdung geschieht. Wir können nicht verhindern, dass die Erde zu beben beginnt und dass wir in Panik geraten. Aber wir können beeinflussen, wie wir mit dieser Erfahrung umgehen: Ob wir in der Panik bleiben oder ob wir schnell wieder zur Ruhe finden und das Vernünftige tun.

Verantwortung beruht auf Bewusstheitsschulung

Es gibt noch eine weitere Ebene dieser Zugangsweise. Sie liegt darin begründet: Das Bewusstmachen des Inneren wird erst möglich, wenn jemand beginnt, am eigenen Schicksal und an den Verstrickungen, die die Seele damit macht, zu arbeiten. Menschen mit wenig Bewusstheit ihrer selbst bringen die Aufmerksamkeit nicht auf, die es braucht, das Innenleben zu beeinflussen. Solche Menschen werden oft von Gefühlen überschwemmt und finden schwer wieder heraus. Andere sind von Gedanken dominiert, die auch aufs Gemüt drücken können. Die Annahme dabei ist, dass alles im Inneren geschieht und dass es keine Einflussmöglichkeiten darauf gibt.

Es ist wiederum das Schicksal, das manche auf den Weg der Selbsterforschung bringt und andere nicht. Es ist nicht eigentlich ein Verdienst, eine bewusste Verantwortungsübernahme, die zu diesem Schritt führt, sondern etwas, das sich ergeben hat, vielleicht aus drängender Not oder aus Neugier, vielleicht auf Anraten oder unter Druck, vielleicht durch traumatische Erfahrungen oder durch eine sensible Persönlichkeitsstruktur. Natürlich braucht es eine freiwillige Zustimmung, sich auf den Erforschungsweg zu begeben, aber die Bedingungen dafür, dass es dazu kommt, liegen nicht in der eigenen Entscheidungsbefugnis. Das Schicksal entscheidet darüber, ob sich jemand einer Therapie unterzieht, auf ein Meditationsretreat geht, einen anderen Selbsterfahrungsweg wählt oder in den unbewusst geprägten Gewohnheitsmustern verharrt.

Das geheimnisvolle Reich des Unverfügbaren

Wenn allerdings das Tor zur Innenerforschung einmal aufgetan wurde, wird klar, dass es in der eigenen Verantwortung liegt, immer wieder hindurchzugehen und mehr Bewusstheit ins eigene Leben und Erleben zu bringen. Es wird einsichtig, dass es einen Bereich der Verantwortung dem eigenen Erleben gegenüber gibt, der genutzt werden kann, um die Selbstregulation im Innenbereich zu verbessern. Ein einfaches Werkzeug bietet unsere Atmung, die wir bewusst steuern können. Mit der Regelung unserer Atmung können wir Einfluss nehmen auf unser Nervensystem und auf unsere Stimmung. Vor allem zur Stressreduktion ist sie prädestiniert.

Dennoch kann es geschehen und geschieht es immer wieder, dass der Pfad ins Neuland der Seele wieder verlassen wird und die alten Geleise die Regie übernehmen. Die Fähigkeit zur Verantwortungsausübung in diesem Bereich geht verloren. Wir vergessen, was wir schon gelernt haben und denken beispielsweise nicht daran, das Ausatmen zu entspannen, wenn wir uns gestresst fühlen.

Damit kommen wir zu einer weiteren Ebene, auf der wir auch zugeben müssen, dass das Übernehmen von Verantwortung selber wieder ins Reich des Unverfügbaren gehört. Es gelingt manchen leichter und anderen schwerer. Diese Fähigkeit hängt letztlich wiederum von Faktoren ab, die nicht in der eigenen Verantwortung liegen.

Also sind unsere Verantwortungsbereiche beständig von Bereichen des Vorgegebenen und des Geschehenden eingegrenzt und umgeben. Unsere Verantwortung nehmen wir wahr, weil es uns in bestimmten Momenten gegeben ist und wir vernachlässigen sie, weil uns in anderen Momenten kein Zugang dazu gewährt ist. Je näher wir hinschauen, desto deutlich wird, welch großen Raum all das einnimmt, was wir nicht kontrollieren können, was ohne unser Zutun in uns wirkt, was unserer Bewusstmachung immer voraus ist.

Die eigene Geschichte und das Schicksal

Mit dem Einsehen, dass der eigene Verantwortungsbereich schmal ist im Vergleich zu dem, was ohne unsere bewusste Mitwirkung geschieht, ändert sich der Blick auf die eigene Lebensgeschichte. Wir können sie auf neue Weise erzählen. Viele Ereignisse in unserer Vergangenheit, über die wir hadern und mit denen wir uns nicht abfinden können, erscheinen in einem anderen Licht, wenn wir die Grenze zwischen Verantwortung und Schicksal genauer erkennen. Die Möglichkeit, für unser Handeln Verantwortung zu übernehmen, war zu den kritischen Zeitpunkten, mit denen wir im Unfrieden sind, viel kleiner, als wir jetzt annehmen. Nachträglich ist uns manches bewusst geworden; damals verfügten wir nicht über diese Bewusstheit. Deshalb konnten wir nicht anders handeln als wir gehandelt haben. Deshalb ist etwas geschehen, was wir heute als Fehler erkennen und so nicht mehr machen würden. Wir sind in dieser Hinsicht bewusster geworden und haben aus der Erfahrung gelernt. Jetzt können wir damit aufhören, von uns selber eine Bewusstheit für die Vergangenheit zu verlangen, die uns erst nachträglich zuteil wurde. Jetzt können wir damit aufhören, uns selber mit dem heutigen Besserwissen zu quälen.

Die Lücken der Verantwortung

Wir müssen immer wieder anerkennen, dass wir die Verantwortung nur in Lücken, die sich im dichten Gewebe des Seins öffnen, ausüben können. Wenn wir aber diese Lücken ausnutzen, um unsere Bewusstheit zu vertiefen, dann werden diese Lücken umso häufiger auftreten, sodass uns ein Wachsen in der geistigen Reife geschenkt wird.

Wir gelangen zu unserer vollen Wirkmacht nur dann, wenn wir ein klares Gefühl für die Grenzen unserer Einflussnahme haben. Wo diese Grenzen unklar und verschwommen sind, vergeuden wir unsere Kräfte, weil sie in Scham- und Schuldgefühle fließen. Mit der Einsicht in die Grenzen verstehen wir, wie wir unsere Autorität und Verantwortung in den kleinen Bereichen leben können, die unserer Kontrolle unterliegen, und wie wir sie durch Übungen in der Bewusstheit vermehren. Dem Unverfügbaren gilt es in Respekt und Demut sowie mit Gelassenheit zu begegnen. Wir sind nicht die Meister:innen unseres Schicksals, aber die Gestalter:innen unseres bewussten Lebens.

Zum Weiterlesen:
Schicksal und Verantwortung
Schicksal und Scham

Samstag, 17. Juni 2023

Über das Leben mit Widersprüchen angesichts der Klimakrise

Die Klimakrise hält allen einen Spiegel vor. Unsere moderne Lebensweise kommt mit all ihren Aspekten auf den Prüfstand. Nachdem klar ist, dass es diese Lebensweise ist, die die Erderwärmung mit all ihren bekannten und unbekannten Konsequenzen nach sich zieht, ist jede/r gefordert, seinen/ihren Beitrag zur Treibhausgasemission zu überdenken. Es gibt den ökologischen Fußabdruck als Abschätzungs- und Berechnungsmöglichkeit, wie hoch der eigene Anteil an der Klimafehlentwicklung ist. Er wird in gha gemessen: Ein „gha“ entspricht einem Hektar weltweit durchschnittlicher biologischer Produktivität, etwa für Ackerbau, Holzwirtschaft, Energiegewinnung. Bei fossilen Energieträgern wird die Fläche errechnet, die nötig ist, um die bei der Verbrennung entstehenden Emissionen von Kohlendioxid durch Wälder und Ozeane zu binden, ohne das Klima zu gefährden (Quelle).  Er liegt in Österreich bei 6 gha (Europäischer Durchschnitt 4,8 gha). Dieser Wert bedeutet, dass wir mit dem Vierfachen dessen leben, was uns dieser Planet zur Verfügung stellt, Tendenz steigend. Wir leben also so, als hätten wir noch drei weitere Planeten zur Verfügung, nachdem wir unseren abgewirtschaftet haben. Ohne mit der Wimper zu zucken, leben die meisten von uns in einer unbekümmerten Selbstverständlichkeit, als ob es kein Morgen und keine Verantwortung für die Zukunft gäbe.  

Diese Sorglosigkeit gelingt uns nur dann, solange wir uns nicht mit dem beschäftigen, was uns die Wissenschaften schon lange auf den Tisch gelegt haben, was wir uns die Nachrichten präsentieren und was wir selber an Klimaveränderungen wahrnehmen. Wir brauchen in diesem Fall eine dicke Haut zur Immunisierung gegen das Offenkundliche und zum Verdrängen unserer Zuständigkeit. Wenn wir hingegen zur Kenntnis nehmen, wie es um die Welt steht, erkennen wir sofort, in welchen Widersprüchen wir durch unsere Lebensweise stecken – in die wir uns immer tiefer verstricken wie die Fliege, die mit jeder Flügelbewegung von immer mehr Spinnenfäden umfangen wird, die ihr schließlich das Leben kosten. 

Es gibt verschiedene Abwehrformen gegen diese unangenehme Selbstprüfung, die mit Schamgefühlen konfrontiert. Auf diese verhängnisvollen Zusammenhänge bin ich schon in den vorigen Blogartikeln eingegangen. Sie haben alle mit Selbsttäuschungen und Illusionen zu tun. 

Die Unvermeidbarkeit von Widersprüchen 

Selbst wenn wir wissen, was es zu wissen gibt, und das Wissen ernstnehmen, können wir nicht immer so leben, wie es für das Überleben der Menschheit wichtig wäre. Wir sind Wesen mit den verschiedensten Bedürfnissen, Interessen und Werten auf den verschiedensten Ebenen. Die Klimafrage ist nur eine von ihnen, obgleich in einem bestimmten Sinn die wichtigste. Aber sie steht in Konkurrenz mit anderen Ebenen und bekommt deshalb im inneren Abstimmungsprozess nicht immer die oberste Priorität. Es scheint immer wieder akutere Probleme zu geben, die zuerst angegangen werden sollten. Die Klimakrise mit ihren langsamen Verläufen und ihren punktuell wahrnehmbaren Auswirkungen zieht da häufig den Kürzeren. Also fahren wir mit dem Auto, weil es schneller geht, obwohl sich der Weg auch klimafreundlicher bewältigen ließe, wir uns aber die Zeit nicht nehmen oder glauben, sie nicht zu haben.  

Aus der Theorie der kognitiven Dissonanz wissen wir, dass wir sehr ungern mit uns selbst im Widerspruch sind. Die Theorie besagt, dass wir Entlastungsgründe erfinden, wenn wir merken, dass unser Handeln nicht mit unseren Werten übereinstimmt. Wir wollen in Übereinstimmung mit unseren Werten leben, sonst meldet sich die Scham. Gelingt uns das nicht, neigen wir zu Selbsttäuschungen, um die innere Spannung und das Schamgefühl in uns abzuschwächen. Beispielsweise wissen wir, dass das Fliegen umweltschädlich ist. Dennoch wollen wir aus irgendwelchen Gründen an einen fernen Ort gelangen und entscheiden uns für den Flug und gegen unsere umweltbezogene Werthaltung. Um die Dissonanz mit uns selber aushalten zu können, schwächen wir sie ab, indem wir uns z.B. vergegenwärtigen, was wir alles für die Umwelt tun, oder indem wir uns einreden, dass wenn nicht wir fliegen würden, jemand anderer unseren Platz einnähme, was dann wieder aufs Gleiche hinausliefe. Oder wir weisen darauf hin, dass andere viel mehr als wir selber das Flugzeug nutzen usw. Natürlich sind all diese Argumente Ausreden, mit denen wir uns vor unserer eigenen Verantwortung drücken. Aber es sind Selbsttäuschungen, die die kognitive Dissonanz in uns selber verringern. Es ändert sich nichts an der Realität und an dem Schaden, den wir anrichten, nur das schlechte Gewissen wird schwächer. 

Widerspruchsbewusstsein 

Die Dissonanzreduktion, also die Verringerung der inneren Spannung zwischen unserem Tun und unseren Werten, erfolgt durch Selbstmanipulation. Wir lügen uns in unsere eigene Tasche, und das ist fatal, weil wir auf diese Weise unser umweltschädliches Verhalten weiter betreiben. Wir entkommen dieser Selbsttäuschung, die meist unbewusst und automatisch abläuft, indem wir uns der Widersprüche stellen und Verantwortung übernehmen, statt uns Ausreden zurechtzulegen. Sobald uns die Widersprüche bewusst werden, in die wir uns verstricken, ist nicht alles verloren. Denn wir spüren die Schamlast, die darin besteht, den eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden und mit den eigenen Idealen im Konflikt zu sein. Wir nehmen diese Last auf unsere Schultern.  Sie wirkt wie ein Stachel im Fleisch und motiviert uns, ein andermal mit mehr Achtsamkeit auf die Bedürfnisse der Natur zu handeln. Wir stellen uns der Scham, statt sie wegzudrängen, und nehmen das Leid auf uns: das Leid, das wir der Natur und zukünftigen Generationen zufügen und das das Leben anderer und zukünftiger Menschen belastet, ohne dass wir billige Ausflüchte suchen uns mit Scheinargumenten aus unserer Verantwortung herausreden. 

Wenn wir erkannt haben, dass ein widerspruchsfreies Leben gar nicht möglich ist, fällt es uns leichter, uns selbst in unserer Widersprüchlichkeit anzunehmen. Wir sind nie zu hundert Prozent mit uns selber in Übereinstimmung, und es wäre ein perfektionistischer Anspruch, eine solche absolute Authentizität jemals zu erreichen. Unsere innere Widersprüchlichkeit ist eine Facette unserer Fehleranfälligkeit, unserer Unvollkommenheit.  

Das heißt nicht, dass wir uns auf unseren Widersprüchen ausruhen und unsere Diskrepanzen kultivieren sollten, um uns vor der Verantwortung zu drücken, die mit jedem handeln verbunden ist. Es geht vielmehr darum, die Spannungsfelder, die wir durch unser Handeln aufbauen, bewusst anzuerkennen und daraufhin die Kraft zu mobilisieren, die wir brauchen, um diese Spannungen zu verringern und unser Handeln mehr unseren Werten und Idealen anzunähern.  

Wir leben in Umgebungen, die auf hohen Ressourcenverbrauch ausgelegt sind. Damit ist es uns unmöglich, völlig klimaneutral zu leben. Wir können nur das Maß bestimmen, nach dem wir die Umwelt belasten und für uns selber entscheiden, wieweit wir aus diesen Zusammenhängen aussteigen wollen, im Bewusstsein, damit den Widersprüchen nicht zur Gänze zu entkommen, aber die implizite Schambelastung ein Stück zu verkleinern.  

Wir können vielleicht als Einzelne eine klimaneutrale Lebensweise verwirklichen, indem wir auf Auto- und Flugreisen verzichten und unsere Lebensmittel weitgehend selber produzieren, unsere Kleidung selber herstellen usw. Allerdings befinden wir uns dann in einer privilegierten Position, denn nur wenige könnten sich eine derartige Form der autarken Subsistenzwirtschaft leisten. Nicht einmal in unseren Breiten stünde genug fruchtbares Land zur Verfügung, dass alle auf derartigem Niveau ihren Lebensunterhalt sichern könnten. 

Sobald wir irgendwo einkaufen, wirken wir schon mit am exzessiven Ressourcenverbrauch der globalisierten Wirtschaft. Beinahe jede Form von Konsum, außer vielleicht der Einkauf beim benachbarten Bauern, ist belastet von energieintensiver Herstellung, Verbrauch von knappen Rohstoffen und Transportaufwand. Wenn dazu noch unsoziale Arbeitsbedingungen in weniger entwickelten Ländern kommen oder Materialen verwendet werden, die mit umweltverschmutzenden Methoden gewonnen werden, sind wir mitbeteiligt an der Klimakrise. 

Das Leben mit Ambivalenzen

Mit Ambivalenzen leben, Widersprüche aushalten, ohne sie wegzukürzen oder schönzureden, gibt eine besondere Kraft, die gerade angesichts einer sich mehr und mehr verbreiteten Hilflosigkeit und Ignoranz notwendig ist. Das andere ist, dass wir diese Kraft dafür brauchen, uns so weit als möglich zu informieren, unseren Konsum so weit wie möglich zu reduzieren und die Nachhaltigkeit in jede Konsumhandlung mit höchster Priorität versehen. Nur die Übernahme unserer persönlichen Verantwortung verhilft zur uns zu unserer Würde, zugleich folgt daraus genau das, was wir, und nur wir beitragen können, um die Überlebensfähigkeit der Menschheit zu sichern. 

Zum Weiterlesen:
Privileg Flugreisen
Pubertärer Wachstumswahn und die Klimakrise
Die Wissenschaftsskepsis und das Versagen der Klimapolitik
Realoptimismus angesichts der Klimakrise

 


Donnerstag, 2. Februar 2023

Die Denkzettelwähler

Ein Denkzettelwähler wählt nicht, um bestimmte Ziele durchzusetzen, sondern um bestehende Machtträger abzuwählen, gleich welche Ziele sie haben. Die Mächtigen werden für das Ungemach im eigenen Leben verantwortlich gemacht. Wenn ihre Abwahl erfolgreich ist, erfolgt die Bestrafung für ihre schlechte Regierung – die Medien sprechen oft von einer „Abstrafung“. Von der Abwahl wird erhofft, dass es irgendwie besser wird, weil ja die unfähigen Politiker nichts mehr zu sagen haben. Die Hoffnung besteht darin, dass all das, was einem nicht passt an der Gesellschaft oder am eigenen Leben, dadurch besser wird. Es ist eine Hoffnung, die sich freilich nie erfüllt, weil die Erfahrung zeigt, dass die Protestparteien, die die Denkzettelwähler in Scharen anziehen, auch nicht besser regieren als die anderen Parteien und in vielen Fällen noch mehr Schaden anrichten.

Denkzettelwähler wählen aus Trotz und Ressentiment. Sie fühlen sich ohnmächtig und abhängig und gehen davon aus, dass die Regierung für sie und ihre Probleme sorgen sollte, und wo sie das zu wenig tut, muss mit dem Stimmzettel der Protest ausgedrückt werden, damit es die nächste Regierung besser macht. Üblicherweise schafft es diese auch nicht, also wird auch sie wieder abgewählt und der nächsten Partei die Proteststimme gegeben, die am stärksten gegen die regierenden Parteien opponiert und polemisiert. So geht das Denkzettelwählen weiter, manche geben nach einigen Wahlgängen auf und wechseln zu den frustrierten Nichtwählern.

Demokratie bedeutet bekanntlich „Herrschaft des Volkes“. Weiters wissen wir, dass wir wegen der Komplexität des Herrschens diese nicht direkt, sondern über Repräsentanten ausüben. Und diese werden bei uns durch Parteien gestellt, die dann um die Wählerstimmen werben. Wir leben also in indirekten repräsentativen Demokratien und die turnusmäßig stattfindenden Wahlen sind eine der Gelegenheiten, mit der Stimmabgabe die Politik mitzubestimmen. Die Parteien versuchen sich so zu positionieren, dass sie ein möglichst großes Spektrum der Bedürfnisse und Interessen der Bevölkerung abdecken, z.B. leistbares Wohnen, ein funktionierendes Gesundheitswesen, Arbeitsplätze, Bildungsangebote, Infrastruktur usw. Die meisten Parteien orientieren sich an Werten und Ideologien, nach denen sie ihre Politik ausrichten. 

Protestwähler richten ihr Wahlverhalten aber nicht nach Werten aus, die sie in der Politik verwirklicht sehen möchten, z.B. mehr Menschlichkeit oder soziale Gerechtigkeit. Vielmehr gehen sie von ihren individuellen Bedürfnissen und Nöten aus und messen die Parteien daran, wieweit sie ihnen Abhilfe verschaffen. Sie sind also auf ihr eigenes Leben und die Erwartungen, die sie daran haben, fokussiert und nicht auf das Gemeinwohl. Es geht ihnen nicht um eine Weiterentwicklung der Gesellschaft in eine Richtung, in der es für alle besser wird, sondern darum, dass das, was sie stört, beseitigt wird.

Die narzisstische Identifikation

Protestwähler wollen beschämen, weil sie sich selbst beschämt vorkommen, „verarscht“ durch die Politik und die Mächtigen. Sie wollen, dass die Politiker so leiden wie sie selber. Um dieses Ziel zu erreichen, suchen sie jemanden als Identifikationsfigur, der es den Mächtigen „zeigt“, der sie also bloßstellt und beschämt. Gleichzeitig meinen sie, dass es so jemand auch gut mit den Ohnmächtigen meint – so lautet zumindest die Annahme, die meistens auf einer Selbsttäuschung beruht. Denn Demagogen haben in den allermeisten Fällen eine starke Neigung zur Korruption, die sie ausleben, sobald sie an der Macht sind. Sie verfügen auch über ein hohes Maß an Zynismus als Komponente ihrer narzisstischen Prägung, der es ihnen erlaubt, schamlos diejenigen auszubeuten, die ihnen zur Macht verholfen haben. Doch solange sie noch um die Macht kämpfen, ist ihnen jedes Mittel recht, um den Anschein eines edlen und selbstlosen Einsatzes für die Ohnmächtigen aufrechtzuerhalten. 

Denkzettelwähler haben aufgrund eigener ko-narzisstischer Neigungen die Tendenz, Demagogen zu idealisieren und deren Schattenseiten zu übersehen. Sie vertrauen ihnen voll und ganz und missionieren deshalb auch gerne für sie in ihrem Umfeld. Die Umkehr der Idealisierung findet dann statt, wenn die ideale Führerfigur der Manipulation und Korruption überführt wird. Plötzlich verkörpert sie das Böse an sich, und es muss eine neue Person gesucht werden, die sich als Demagoge anbietet.

Die Identifikation mit der Machtperson vermittelt ein Gefühl von Mächtigkeit angesichts des Ohnmachtsgefühls, in dem sich viele gefangen fühlen. Die Macht besteht darin, vor Beschämung geschützt zu sein und selber beschämen zu können. Ein Beispiel: Der Paradedemagoge Jörg Haider hat einmal öffentlich den damaligen Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde Ariel Muzicant mit den Worten beschämt: „Ich verstehe nicht, wieso einer, der Ariel heißt, so viel Dreck am Stecken hat.“ Die Frechheit in dem boshaften Witz beeindruckt alle, die selber jemals Opfer boshafter Witze geworden sind und sich nicht zur Wehr setzen konnten. Denn das ist vermutlich die Perspektive vieler Denkzettelwähler: Opfer politisch verursachter Bosheit zu sein, die das Ziel der Beschämung hat. Der Demagoge mit seiner frechen Kühnheit soll die Ehre und Würde wiederherstellen. Dafür verdient er die Gefolgschaft.

Demokratie und Verantwortung

Demokratie bedeutet nicht nur, alle paar Jahre mal einen Stimmzettel auszufüllen, sondern bedeutet auch Mitverantwortung für das Ganze der Gesellschaft und des Staates. Dagegen-Wähler wollen mit ihrer Stimmabgabe nicht ausdrücken, dass sie bereit sind, für irgendetwas die Verantwortung zu übernehmen. Vielmehr wollen sie die offiziellen Verantwortungsträger bestrafen, weil sie sie für alles verantwortlich machen, was ihnen nicht passt. Protestwählen ist deshalb eine pubertäre Handlung von Erwachsenen – ohne Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, ohne Bereitschaft zum Mitgestalten des Gemeinwohls.

Die Demokratie bleibt nur dann lebendig und kreativ, wenn sie durch möglichst viele Staatsangehörige mitgestaltet wird. Verantwortungsübernahme inkludiert die Bereitschaft, sich für bestimmte Anliegen zu engagieren, sich zu informieren und auf verschiedenen Ebenen an politischen Diskursen zu beteiligen. Der Staat gehört uns allen, und deshalb ist es auch unsere Aufgabe, aktiv an seiner Weiterentwicklung mitzuarbeiten. Dazu gehört auch Kritik an Fehlentwicklungen und Missständen, ebenso wie das Einbringen von Ideen und neuen Perspektiven.

Zur Selbstreflexion über das Schreiben dieser Zeilen

Ich habe diesen Text aus einer analytischen Perspektive geschrieben. „Der Denkzettelwähler“ wird hier als Prototyp beschrieben, in dem sich reale Personen mehr oder weniger oder auch gar nicht wiederfinden können. Der Text nimmt also eine Außensicht auf ein Phänomen ein, mit dem Versuch, die Innenwelt in ihren Abläufen nachzuvollziehen und damit zu einem besseren Verständnis dieses Verhaltens und der damit verbundenen Einstellungen beizutragen. Der Hintergrund soll ein wenig ausgeleuchtet werden und die entstehende Einsicht in die Zusammenhänge kann dazu beitragen, mit dem Phänomen besser umgehen zu können.

Dabei ist in Betracht zu ziehen, dass es Teil des Profils eines typischen Denkzettelwählers ist, unter der Überheblichkeit der Besserwisser zu leiden, sich dadurch beschämt zu fühlen und auf diese Erfahrung mit einem Trotz und dem Einnehmen einer Protesthaltung zu reagieren. Außendiagnosen übermitteln Scham, indem sie Inneres bloßstellen, und führen damit zur Abwehr. Sie verstärken also tendenziell das Verhalten, das sie entlarven wollen. 

Ich sehe es allerdings so, dass wir alle potenzielle „Denkzettelwähler“ sind, insofern wir die Impulse zur Rache in uns tragen und im alltäglichen Leben anwenden. Wir verteilen gerne Denkzettel, nur machen das nicht alle bei den Wahlen. Die Protestwähler drücken sich durch ein emotionales Muster aus, das wir alle kennen und in verschiedenen Zusammenhängen kennen. Insofern kommt dieser Artikel nicht aus einer Position der Überheblichkeit, sondern weist auf eine Verwandtschaft hin, die zwischen allen Menschen besteht. Am Beispiel der Denkzettelwähler können wir uns selber besser verstehen, auch wenn wir selber keine Denkzettelwähler sind. Wenn wir das erkennen, brauchen wir nicht mehr verächtlich auf Menschen herabschauen, die vielleicht im Bereich der demokratischen Reife Mängel aufweisen.

Samstag, 15. Oktober 2022

Tempo 80/100 und die Widerstände gegen eine Maßnahme zur Nachhaltigkeit

Eine persönliche Erfahrung vorweg: Neulich bin ich eine längere Strecke auf der Autobahn mit ungefähr 100 Stundenkilometer gefahren, fast immer auf der rechten Spur, während links die anderen Autos vorbeizischen. Es sind kaum Überholmanöver notwendig und es braucht kaum eine Aufmerksamkeit auf die Nachkommenden. Das Fahren ist subjektiv wesentlich entspannter als mit 130 km/h. Ich war länger unterwegs und dennoch erholter - ein Zugewinn an Lebensqualität.

Zunächst ein paar Zahlen und Fakten zur Thematik: 

Klimabilanz und Treibstoffersparnis

Laut österreichischem Umweltbundesamt können 460.000 Tonnen CO2-Äquivalente pro
Jahr durch ein Tempolimit 100 statt 130 vermieden werden (das entspricht einer Reduktion des Spritverbrauchs um rund 180 Millionen Liter pro Jahr und einer Ersparnis bei heutigen Spritpreisen von 360 Millionen Euro). Zum Vergleich: Wer 5.000 km mit dem Auto zurücklegt, emittiert dabei eine Tonne CO2. Mit einem Reisebus kommt man etwa 10.000 km weit. Mit dem Zug legt ein Reisender 450.000 km zurück, um auf einen CO2-Fussabdruck von 1 Tonne zu kommen. Ein Langstreckenflug und zurück verursacht 1 - 2 Tonnen CO2 pro Person. Anders formuliert: Mit einer 50-Liter Tankfüllung kommt ein Pkw mit Tempo 130 nur 714 Kilometer, mit Tempo 100 hingegen mit 925 Kilometer deutlich weiter. 

Tempo 130 km/h: 190 g CO2e / km (entspricht 7 Liter Treibstoffverbrauch pro 100km)

Tempo 100 km/h: 146 g CO2e / km (entspricht 5,4 Liter Treibstoffverbrauch pro 100km – minus 23 Prozent)

Das Tempo 100 statt Tempo 130 auf Autobahnen reduziert den Stickstoff-Ausstoß (NOx) um rund 50 Prozent, den CO2-Ausstoß um 23 Prozent sowie die Feinstaub-Emissionen (PM10 motorisch) um rund 34 Prozent.

Höhere Leistungsfähigkeit der Fahrbahnen

Bei Tempo 100 beträgt die reale Leistungsfähigkeit einer Fahrbahn rund 2.440 Kfz pro Stunde; bei Tempo 130 hingegen nur rund 2.250 Kfz. Eine höhere Leistungsfähigkeit bedeutet weniger Staus und damit weniger Fahrzeit-Verzögerungen. Zusätzlich nimmt bei niedrigerem Tempolimit die Zahl der Verkehrsunfälle ab, was wiederum die Zahl der Staus verringert. Auch wenn es paradox klingen mag: In Summe kann ein niedrigeres Tempolimit dazu führen, dass die Kfz-Lenkenden schneller ans Ziel kommen. Staus werden oft dadurch verursacht,  dass Schnellerfahrende auf der Überholspur wegen Langsamerfahrenden abbremsen müssen.

Weniger Verkehrslärm

Eine Verringerung des Tempos von 130 auf 100 km/h führt zu einer Reduktion des Verkehrslärms um drei Dezibel. Eine Reduktion um drei Dezibel wird vom menschlichen Ohr wie die Halbierung der Verkehrsmenge wahrgenommen.

Was spricht dagegen?

Manche Autofahrerklubs biegen die Zahlen ein wenig um, womit sie ihr Klientel, aber nicht die Umwelt und die Klimaentwicklung bedienen. Aber an der massiven Macht der Berechnungen lässt sich nicht rütteln, auch wenn ein paar Prozente mehr oder weniger unterm Strich stehen. Tempo 130 oder noch darüber zu fahren, ist im Hinblick auf die Umwelt ein Luxus, den sich nicht einmal in einem reichen Land die Mehrheit gönnen kann. Es ist also immer eine Minderheit, die die schmalen Vorteile genießt, während die Folgen von der Gesamtheit der Menschheit getragen werden müssen. 

Realpolitisch betrachtet, wird sich in unserem Land der Benzinbrüder und Autofetischisten an 100/130 nichts ändern, solange die Klimakatastrophen anderswo zuschlagen. Grünenfeinde fürchten schon, dass ihnen die Politik das Autofahren verbieten will. Die Sprecherin der konservativen Partei wischte entsprechende Vorschläge mit der Bemerkung vom Tisch:  „Tempo 100 auf Autobahnen bringt wenig Nutzen und sorgt nur für Ärger bei den Betroffenen.“ Die Vertreter der Rechtsparteien sprechen von „reiner Frotzelei“, während die Liberalen an die „Eigenverantwortung“ appellieren. Die Grünen wiederum sind zwar für Tempolimits, resignieren aber angesichts der breitgefächerten politischen Gegnerschaft.

Die Macht der Gewohnheit und die Ärgerbürger

Die Macht der Gewohnheit, mit der vermeintlich Rechte ersessen wurden, ist zäh und schwer zu brechen. Jede neue Regelung führt bei vielen zunächst zu Ärger, bis sie irgendwann zur Selbstverständlichkeit wird. Nach dem Ärgerpegel Politik zu machen, ist sinnlos, weil es immer Menschen geben wird, die Veränderungen nicht gutheißen, genauso wie es immer Menschen geben wird, die mit dem Status quo unzufrieden sind.

Allerdings: Keine politische Partei will die Stimmen all jener verlieren, die ein Auto haben, mit dem sie locker 130 fahren können und jede Reduktion des Tempolimits als Einschränkung ihrer Freiheit und ihrer Rechte ansehen und einen Hass auf alle Politiker entwickeln, die sich erfrechen in ihre Gewohnheiten einzugreifen. Es ist aber reine Gewohnheit, die Zeiten mit den gegenwärtigen Höchstgeschwindigkeiten zu berechnen und sich nicht vorstellen zu können, für die gleiche Strecke ein paar Minuten länger zu brauchen, also z.B. am Morgen fünf Minuten früher außer Haus zu gehen.

Es ist zwar gegenwärtig eine Entwicklung zu beobachten, dass mehr und mehr Leute die Autoverwendung angesichts der hohen Spritpreise und den anderen Preissteigerungen einschränken: 47 Prozent fahren nun spritsparender, 45 Prozent gehen häufiger zu Fuß, 30 Prozent fahren häufiger Rad. (Quelle)

Sie erkennen, dass sie kurze Wege, die den Hauptteil des Autoverkehrs darstellen, auch anders billiger zurücklegen können. Es ist aber anzunehmen, dass dieser Trend wieder verschwinden wird, sobald die Benzinpreise auf das gewohnte Niveau zurückgehen.

Einschränkung der Freiheit?

Das Hauptargument gegen Tempolimits ist die Einschränkung der Freiheit. Bekanntlich sollte die eigene Freiheit soweit reichen, bis sie auf die Freiheit von jemand anderem stößt. Augenfällig ist dieses Prinzip, wenn man jemanden anrempelt. Die Freiheitszone der anderen Person wird verletzt, und sie wird sich dagegen zur Wehr setzen. Beim Autofahren sind diese Grenzen abstrakter. Wenn wir durch eine Gegend mit dem Auto fahren, merken wir nicht, welche Menschen wie unter dem Lärm und den Abgasen leiden. Wir merken auch nicht, wie sich unser Schadstoffausstoß auf die Atmosphäre auswirkt und wie diese Auswirkungen auf das Klima zurückwirken. Wir richten Schaden an, ohne dass wir es erkennen, und nehmen deshalb naiverweise an, dass wir nur unsere Freiheitsräume ausnutzen. Wir kennen zwar die Zusammenhänge, wollen dieses Wissen aber tunlichst von unserem Verhalten abkoppeln, um keine unangenehmen Scham- und Schuldgefühle zu entwickeln. Viele wehren sich deshalb so heftig gegen neue Regelungen, die sie als Einschränkungen erleben, weil sie nicht an die Folgen ihres Verhaltens für die Menschheit und den Planeten erinnert werden wollen.

Der Appell an die „Verantwortung“

Statt zwingende Maßnahmen zu erlassen, appellieren die Politiker an die „Eigenverantwortung“ der Autofahrer. Bei solchen Statements handelt es sich um bloße Leerformeln. Natürlich nimmt jeder die Verantwortung für sein Tun auf sich, und die meisten werden es sich so einrichten, wie es für sie am angenehmsten oder am gewohntesten ist. Was soll aber der Appell an die Verantwortung, wenn die Folgen des Tuns, nämlich der verursachte Schadstoffausstoß, keinerlei Konsequenzen haben? Niemand mahnt irgendwelche Wirkungen ein, die Natur nimmt sie zur Kenntnis und ändert sich, mit unabsehbaren Folgen. Die „Verantwortungsübernahme“ geht völlig ins Leere, weil wir einfach ausblenden können, was uns nicht angenehm zu wissen ist; wir sind niemandem irgendeine Rechenschaft schuldig und es gibt niemanden, der uns zur Rechenschaft zieht. Die nachkommenden Generationen, die uns vielleicht einmal anklagen werden, sind jetzt noch nicht auf der Welt oder haben noch keine Stimme und noch kein Wahlrecht.

So beißt sich die Katze in den Schwanz. Politiker nehmen lieber auf Menschen Rücksicht, die mit ihrem Verhalten nachhaltige Schäden anrichten und bestärken sie damit in ihrem Verhalten – und überlassen ihnen dann  noch großzügig ihre Verantwortung, obwohl sie selber sich aus der Verantwortung zur nachhaltigen Gestaltung der Gesellschaft, die ihnen übertragen wurde, schleichen. 

Die sogenannten betroffenen Menschen ärgern sich schon im Vorhinein und machen diesem Ärger oft lauthals Luft, um Regelungen, die ihnen mehr Zeit im geliebten Auto verordnen, aber nachweislich erhebliche Verbesserungen in der Schadstoffbilanz nach sich ziehen, möglichst im Vorfeld schon zu verhindern. Wer laut schreit, hat meistens nicht Recht. Aber dieses Recht hat keinen Kläger und keinen Richter, und damit kann sich jede/r seine Verantwortung zurechtzimmern, wie er/sie will.


Samstag, 17. September 2022

Es ist, was es ist.

Das berühmte Gedicht von Erich Fried enthält als Refrain den Satz „Es ist, was es ist“ als Stimme der Liebe gegenüber allen Zweifeln und Infragestellungen. 

Eigentlich ist es ein nichtssagender oder tautologischer Satz, auf den die Wienerische Antwort kommen könnte: „No-na-ned“. Wir verwenden ihn aber ausdrücklich oder innerlich, wenn wir mit der Wirklichkeit wieder ins Einvernehmen kommen, nachdem wir uns mit ihr „zerstritten“ haben. Es klingt zwar etwas eigenartig, wenn wir von einem Streit zwischen dem Selbst und der Wirklichkeit reden, so als wäre die Wirklichkeit ein Kommunikationspartner, mit dem wir in eine Meinungsverschiedenheit geraten können. Die Wirklichkeit ist doch einfach da und streitet nicht mit uns. 

Tatsächlich sind es vermeintliche Streitereien, in die wir uns verwickeln, wenn wir Teile der Wirklichkeit, die in unsere Erfahrungswelt geraten, ablehnen und versuchen, ihnen das Daseinsrecht zu verweigern. Wir hadern und schimpfen, weil wir gerade eine Erfahrung machen, die uns nicht in unseren Kram, sprich zu unseren Erwartungen und Wünschen passt. Wir empören uns über diese Eigenwilligkeit, die sich unserem Willen entgegenstellt.

Uneins mit uns selbst

Es ist also, genauer betrachtet, unsere Erfahrung der Wirklichkeit, mit der wir uneins sind, und nicht die Wirklichkeit selbst. Aber wir verwechseln gerne unsere Erfahrung mit der Wirklichkeit an sich, weil wir uns damit entlasten können: Es ist ein Trick, mit dem wir uns aus der Verantwortung stehlen wollen. Wir wollen nicht schuld sein an etwas Unangenehmem, Störendem, Schädlichem, was gerade passiert ist. Wir schieben also die Verantwortung der Wirklichkeit oder einem ihrer Elemente zu: Die Bosheit eines Mitmenschen hat mich aus der Fassung gebracht. Die Unberechenbarkeit des Wetters hat mir den Ausflug vermiest. Die höheren Kräfte sind gegen mich, weil ich so wenig Erfolg habe. Das heimtückische Virus hat mich befallen und mich meiner Kräfte beraubt, usw.

Es ist ein Manöver, mit dem wir uns vor der Verantwortung, die wir für unsere Erfahrungen und für deren Bewertung haben, drücken wollen. Wohlgemerkt: Wir haben nicht die Verantwortung für die Wirklichkeit und für das, was in ihr geschieht, ausgenommen unser Handeln und seine Folgen. Wir haben auch die Zuständigkeit für unser Erleben und wie wir damit umgehen. Alles andere unterliegt nicht unserem Einfluss und unserer Macht.

Es ist also nur ein winziger Teil der Wirklichkeit, für den wir die Verantwortung zu tragen haben. Und dazu gehören unsere Erfahrungen und die Bewertungen, die wir ihr umhängen. Wir beklagen uns z.B. über den vielen Stress, dem wir ausgesetzt sind, und vergessen dabei, dass wir es sind, die den Stress erzeugen, indem wir unserem Nervensystem erlauben, die Alarmreaktion in Gang zu setzen. Die Entscheidung, ob wir uns gestresst fühlen oder nicht, liegt in uns selber, nicht bei den Ereignissen um uns herum. Stress entsteht zwar ohne unser bewusstes und gewolltes Zutun in unserem Organismus, aber der Automatismus, der in uns abläuft, gehört zu unserem Verantwortungsbereich, und wir können steuern eingreifen, sobald uns der Stress bewusst ist.

Die Schädigung des Selbstgefühls

Obwohl wir uns von der Verantwortung abkoppeln wollen und uns als unschuldig an unseren Problemen und Missstimmungen darstellen wollen, fügen wir unserem Selbstgefühl auf doppelter Weise einen Schaden zu. Zum einen verweigern wir die Verantwortung für die Erfahrung, die wir erlebt haben. Dadurch schwächen wir unser Selbstgefühl. Wir bringen uns in eine Opferrolle. Zum anderen sind wir durch die Art und Weise verstört, wie wir die Erfahrung bewerten, die wir gerade haben, indem wir sie ablehnen und damit mit der Wirklichkeit in Konflikt geraten. Auch hier fühlen wir uns wieder wie das Opfer und sind innerlich geschwächt.

„Die Hunde bellen, und die Karawane zieht weiter.“ Wir können dieses arabische Sprichwort auch so verstehen, dass sich unser Verstand immer wieder gegen die Wirklichkeit auflehnt und nicht akzeptieren will, was geschieht. Dadurch geraten wir in Unfrieden, während die Wirklichkeit so ist, wie sie ist und weiterzieht, wie sie weiterzieht. Wir können bellen, was wir wollen, bis wir heiser sind, ohne dass sich der Rest der Wirklichkeit darum schert. Er entwickelt sich weiter, ob es uns passt oder nicht.

In Frieden kommen

In unsere Kraft und in unseren Frieden kommen wir erst, wenn wir aufhören zu bellen. Wir akzeptieren, was passiert ist und übernehmen für unser Erleben die Verantwortung. Dann fügen sich Erfahrung und Wirklichkeit wieder ineinander und wir nehmen das, was ist, so, wie es ist. Wir sind in Übereinstimmung mit uns selber und mit dem, was um uns herum ist.

Zum Weiterlesen:

Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)
Akzeptieren, was ist (Teil 5)
Akzeptieren, was ist (Teil 7)
Akzeptieren, was ist (Teil 8)


Donnerstag, 16. Juni 2022

Kindsein und Erwachsenensein

Die Kindheit ist eine begrenzte Phase, sie endet spätestens mit der Volljährigkeit, zumindest offiziell und dem Gesetz gemäß. Die Zeit des Spielens ist vorbei, der Ernst des Lebens beginnt, so lautet die traditionelle Richtschnur für diesen Übergang, der in der Regel den Abschied vom Elternhaus und die Begründung des eigenen Lebens unabhängig von den Bedingungen des Herkommens beinhaltet. 

Wir wissen zwar, dass wir in manchen Situationen emotional in die Kindheit zurückfallen, wenn wir uns z.B. maßlos über etwas ärgern oder an kleinen Dingen des Lebens verzweifeln oder bestimmte Gewohnheiten, die wir eigentlich loswerden wollen, nicht überwinden können. Wenn uns dringende Bedürfnisse plagen, können wir ungeduldig wie Kleinkinder werden. Wir sehen diese Rückfälle aber als Ausnahmen von der Regel und fühlen uns im Allgemeinen als Erwachsene, die die Kindheit schon lange hinter sich gelassen haben. Meistens sind solche Erlebnisse mit Scham gepaart, sie sind uns peinlich. Schließlich wollen wir als voll kompetente Erwachsene gelten, die sich keine Ausrutscher leisten und alle Dinge des Lebens gut im Griff haben. Wir wollen auch so von unseren Mitmenschen gesehen werden und erwarten, dass wir auf diese Weise und nur auf diese Weise Achtung und Respekt bekommen. Das Kindliche bezeichnen wir als kindisch, also als einen Mangel an Erwachsenensein und Reife. 

Wirkliches und reifes Erwachsensein ist dagegen inklusiv, indem es das Kindsein nicht ausschließt, sondern mit umfasst. Diese Haltung speist sich aus der Gesamtheit der Vorerfahrungen, bei denen jene aus der Kindheit eine besondere Bedeutung tragen. Wir sind in Frieden mit den Schwierigkeiten aus unserer Lebensgeschichte und nehmen aus jeder Lebensphase wertvolle Ressourcen für die Bewältigung der Alltagsherausforderungen mit. Solange wir einen Gegensatz zwischen dem Kindlichen und dem Erwachsenen für uns festhalten, sind wir mit unserer inneren Kindseite nicht versöhnt. 

Wenn wir hingegen das Kindsein als integralen  Bestandteil des Erwachsenenseins erkennen und verkörpern können, verfügen wir über einen offenen Zugang zu lebenswichtigen Quellen für Lebendigkeit und Kreativität in unserem Inneren. 

Werden wie die Kinder

„Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen“ (Mt 18,3). Vielleicht können wir diese Bibelstelle so verstehen: Wenn ihr es nicht schafft, im Moment zu sein und von Moment zu Moment das Leben neu zu erfinden, werdet ihr kein Glück finden. Ihr werdet getrieben sein, den Idealen des Erwachsenseins nachzulaufen mit dem Gefühl, sie nie zu erreichen und zu erfüllen. Wenn ihr dem Kindlichen keinen Raum in eurem Innenleben gebt, findet ihr keine Ruhe.

Das Kind ist der Vater des Mannes

Dieser bekannte Satz von William Wordsworth (1802) wird so verstanden, dass das Kindsein eine prägende Wirkung auf das Erleben und Verhalten der Erwachsenen ausübt. Wir sind in gewisser Weise Produkte unserer Kindheitserfahrungen und der in dieser Zeit widerfahrenen Traumatisierungen. In dem Sinn, wie wir von unseren Vätern und Müttern gelernt haben, ist es wichtig, dass wir aus dieser Erfahrungsmenge lernen. Das Herauswachsen aus den kindlichen Prägungen ist die Arbeit des Reifens. Es besteht im bewussten Zurücklassen der vergangenen Erfahrungen und im Herausschälen der eigenen Identität, indem die elterlichen Erwartungen distanziert werden und die eigenen Ideale und Werte gefunden und gelebt werden, die ihre Wurzeln im kindlichen Welterfahren haben. 

Das innere Kind

Das „innere Kind“ ist keine Instanz, die nur in der Vorstellung existiert und in der Therapie genutzt wird, um verletzte und traumatisierte Anteile der Seele aufzuarbeiten. Vielmehr ist es ein permanent wirksamer Aspekt von uns selbst,  also ein wichtiges Element des Erlebens und Verhaltens. Es ist ein ganz zentraler Teil unserer Geschichte, aus den Jahren, in denen wir die emotionale Basis für den Rest unseres Lebens gebildet haben. Da wir nichts anderes sind, als das vorläufige Ergebnis dieser Geschichte, gehört es ganz intim zu uns. Es ist lebendig in allen Gefühlsregungen, in unserer Intuition, in unserer Neugier und Spielfreude.

Erwachsenwerden

Erwachsenwerden ist eine komplexe und langwierige Geschichte, die vermutlich ein Leben lang dauert. Es ist in dem Maß erfolgreich, in dem das Kindsein mitschwingen und mitwirken darf. Wenn das der Fall ist, bleiben wir in Balance zwischen Verantwortung und Flexibilität, zwischen Ernst und Leichtigkeit, zwischen Disziplin und Spontaneität. Wenn eine Seite zu stark überwiegt, kommen wir nicht weiter, sondern stecken entweder in einer Verbissenheit fest oder verlieren uns in Zerfahrenheit und Beliebigkeit. „Das Leben ist ein Kampf“: Das ist ein Satz aus dem verkrampften Erwachsenen-Ich, das auf das Kind vergessen hat. Erwachsensein ist so lange mühsam und anstrengend, als es den Bezug zum Kindlichen verloren hat und es nur mehr als kindisch abwertet.

Erwachsensein ist ebenso vielschichtig und mehr ein Projekt in Entwicklung als ein dauerhafter Zustand. Es muss in jedem Moment neu erfunden und neu gestaltet werden. Es beinhaltet die Reflexion, also die Selbstüberprüfung und Evaluierung. Teil dieser Selbsteinschätzung sollte immer auch sein, ob das Kindsein einen gebührenden Platz einnimmt und immer wieder zum spielerischen Umgang mit den Herausforderungen des Erwachsenseins einladen darf.

Das Erwachsenwerden ist nur in dem Maß möglich, in dem die Fundamente in der Kindheit dafür gelegt und ausreichend versorgt wurden. Wer unter materiellem Mangel leiden musste, kann sich als Erwachsener mit eigenen Kräften für den Aufbau eines guten Lebens einsetzen.  Wer emotionalen Mangel erlitten hat, wird sich schwer tun, auf dieser Ebene erwachsen zu werden. Er wird versuchen, den Mangel in Beziehungen auszugleichen und die Verantwortung für diesen Mangel nach außen auslagern, also anderen Menschen umzuhängen. Doch diese Strategie ist selber mangelhaft. Nur die verantwortungsvolle innere Auseinandersetzung mit den unerfüllten Bedürfnissen und offenen Gefühlszyklen holt die Entwicklungsversäumnisse nach und bessert das Fundament aus, wo es nicht stabil genug ist.

Verantwortungsübernahme

Erwachsensein hat mit Verantwortungsübernahme zu tun. Kinder tragen keine oder nur wenig Verantwortung für ihr Leben. Kindsein heißt, dass immer jemand anderer da ist, der dafür sorgt, dass alles, was zum Leben notwendig ist, vorhanden ist, materiell und emotional. Die Erziehung besteht darin, den Kindern immer mehr Verantwortung zu übertragen, bis sie diese ganz selber übernehmen können. Dann hat die Erziehung ihr Ziel erreicht und wird überflüssig. 

Die Erwachsenenverantwortung ist umfassend. Sie bezieht sich auf alles, was wir erleben, ob es unserem Tun oder Erfahren entspringt. Wir haben die Verantwortung für unsere Gefühle und Reaktionsweisen, für unsere Handlungen und ihre Folgen und für die Beziehungen, in denen wir leben.

Mit dieser Verantwortung verbunden ist die Autonomie. Sie bedeutet, sich selber die Regel geben zu können und sich daran zu halten. Erwachsene haben ein klares Verhältnis zur Selbstdisziplin und legen selbst die Prioritäten in ihrem Leben fest. Sie treffen die Entscheidungen, die für sie stimmen und an die sie sich dann halten. Sie geben sich die Orientierung in ihrem Leben selbst und legen die Werte fest, nach denen sie sich ausrichten. Sie passen ihre Orientierung immer wieder an die äußeren Gegebenheiten und ihre Erfordernisse an. Die dafür notwendige Disziplin muss aber nicht stur sein, sondern kann sich, wenn der Einfluss des Kindlichen zur Mitwirkung eingeladen ist, geschmeidig an die unterschiedlichen Situationen anpassen. 

Das Erwachsensein, das ein gutes Verhältnis zum Kindsein hat, hat ein klares Bewusstsein für das Spielerische, das immer dort zu Hilfe gerufen werden kann, wo die Erwachsenenlogik an ihre Grenze stößt und ein neuer Zugang die Verwirrung oder Verkrampfung lösen kann. Wenn das Erwachsenen-Ich mit der Wirklichkeit zu kämpfen beginnt, sollte das kindliche Ich einspringen und mit seiner Leichtigkeit und Fröhlichkeit das Spielerische beisteuern, das noch jeden Karren aus dem Dreck gezogen hat.

Zum Weiterlesen:
Das Kind in uns
Der Raub des Selbst
Der Narr