Donnerstag, 28. November 2013

Die zwei Wahrheiten und die Konfliktkultur

Wenn wir den Unterschied zwischen den relativen Wahrheiten und der absoluten Wahrheit gut verstanden haben, haben wir einen wichtigen Aspekt der Klarheit nicht nur für unseren spirituellen Weg, sondern auch für das Verständnis der menschlichen Gesellschaftsformen gewonnen.

Verwechslungen im Typ der Wahrheit, die immer auch mit Prä-Trans-Verwechslungen im Sinn von Ken Wilber zu tun haben, liegen an der Wurzel vieler Konflikte, innerer Konflikte, zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Konflikte. Ich möchte in diesem Beitrag einige Themen in diesem Zusammenhang aufgreifen und auch darauf eingehen, wie wir mit solchen Konflikten umgehen können.

Menschen unterliegen immer wieder ihrer Tendenz zur narzisstischen Selbsttäuschung. Das wird uns immer dann passieren, wenn wir aus dem Fließen des unmittelbaren Erlebens dessen, was jetzt gerade da ist, aussteigen. Vermutlich geschieht das, weil sich ein verstecktes ungelöstes Thema meldet, das mit Angst besetzt ist. Irgendetwas, das wir denken oder wahrnehmen, erinnert uns an eine frühere Erfahrung, die wir damals nicht integrieren konnten. Die Aufmerksamkeit geht zurück zu dieser Erfahrung bzw. zu den Gefühlen und Gedanken, die damit verbunden waren. Wir sind plötzlich in einem Film aus der Vergangenheit und nicht mehr bei dem, was jetzt gerade geschieht.

Wir merken allerdings nicht, dass wir gar nicht mehr wirklich anwesend, sondern von unserem Kopfkino beherrscht sind. Aus diesem selbstgetäuschten Selbstverständnis heraus nehmen wir leicht die Pose eines Rechthabers ein, der über alles und jedes das richtige Urteil hat. Wir werfen uns in die Haltung eines Verkünders absoluter Wahrheiten und fühlen uns berufen, die anderen darüber zu belehren, was jetzt in Wirklichkeit und eigentlich Sache ist und was genauso klar daneben und falsch ist.

Mit solchen Aktionen, die ja andauernd und fortlaufend im täglichen Leben passieren, stiften wir vor allem eine Verwirrung, in die wir andere verwickeln und uns selber. Deshalb zählt es zu den wichtigsten Lernaufgaben auf dem Weg zur absoluten Wahrheit, ein feines und zuverlässiges Gespür dafür zu entwickeln, wann wir den Bezug zu ihr verloren haben und dabei zu erkennen, welchen typischen Neigungen zur Selbsttäuschung wir bei solchen Gelegenheiten gerne verfallen.

Die Demagogen


In verschiedenen Sektoren der Gesellschaft treten charismatische Personen auf, die Einfluss und Macht gewinnen, auch wenn zugleich deutlich wird, wie stark sie sich dabei selber in Szene setzen und begünstigen. Hier begegnet uns z.B. der Typ des Demagogen. Seine Erfolgsmasche liegt darin, seine eigenen relativen Einsichten als absolute Botschaften zu tarnen und mit der Selbstsicherheit und Überzeugungskraft aufzutreten, die aus einer gekonnten Selbstverleugnung stammt. Da reden Menschen von ihren Berufungen, die Welt zu erretten und das Unheil von den Menschen abzuwenden. Sie benennen mit plumpen Argumenten die Schuldigen und propagieren den Kampf gegen sie.

Warum fallen immer wieder viele Menschen auf ein derartiges Theater herein? Sie erkennen sich darin selbst und bestätigen ihre Selbsttäuschungen. Ähnliche Schicksale verbinden. Wer sich z.B. einmal als kleines Kind gedemütigt gefühlt hat, wird auf einen Redner oder Schreiber hereinfallen, der dieses Thema in einem neuen Zusammenhang anspricht, und wird jeden Ausweg, sprich jede Projektion, die er anbietet, bedingungslos akzeptieren. Wer das Gefühl hat, anderen gegenüber benachteiligt zu sein, wird in Resonanz mit Demagogen gehen, die diese Gefühle kanalisieren und ihnen nachfolgen, weil sie mit dem Pathos einer scheinbar absoluten Wahrheit die scheinbare Wurzel des eigenen Übels formulieren und zugleich das scheinbare Heilmittel anbieten.

Bei den Demagogen selber wird es wohl so laufen, dass sie ihrer eigenen Überzeugungskraft, die aus ihrer besonderen Fähigkeit zur Selbsttäuschung stammt, auf den Leim gehen. Da sie als Narzissten derart begeistert von sich selber sind, verlieren sie jedes Gefühl für wahr und falsch. Sie sind ja in ihr gefälschtes Selbst verliebt. Deshalb sind sie Virtuosen in der Selbsttäuschung, weil sie es schaffen, sich selber doppelt hinters Licht zu führen: Zum einen, indem sie ihre verzerrte Wirklichkeitserfahrung nicht durchschauen, und zum anderen, weil sie sich noch dafür bewundern. Das macht wohl auch ihre Faszination für andere aus, die sich in diesen Formen der Blindheit wiedererkennen.

Mit etwas Distanz mag es skurril wirken, wie sich der dieser Tage von der Macht entfernte Meisterdemagoge Berlusconi mitsamt seinem selbstgerechten und realitätsvergessenden Zorn ins Internet stellt; für seine Anhänger wirkt es wohl so, als wäre hier einem Unschuldigen die größte Ungerechtigkeit widerfahren, die sich Menschen vorstellen können.

Wer nicht bemerkt hat, wie störanfällig jede Aktion und jede Kommunikation auf der Ebene der relativen Wahrheit ist, wie leicht sich also Elemente der Ignoranz, Selbstbezogenheit und Wirklichkeitsverleugnung einschleichen, wird Personen Glauben schenken, die die eigenen frustrierten Hoffnungen und Wünsche ansprechen. Deshalb kann es auch einen armen Schlucker rühren, wenn der angebetete Milliardär (wie in einem Sketch von Otto Waalkes) bitterlichst darüber klagt, dass sein Rasierpinsel ins Klo gefallen ist, worauf ihm der Komiker den Trost spendet, dass manch anderer ja nicht einmal einen Bart habe.

Mit ihrer Selbstfaszination schaffen es die Demagogen jeden Metiers, eine nebelartige Aura der Irreführung und Falschinformation um sie herum zu verbreiten, in der wiederum die Unfähigkeit zur Unterscheidung gedeiht und Wissen durch blinden Glauben ersetzt wird. Dabei gründet sich der Glaube auf nicht mehr als auf die Faszination durch jemanden, der grenzenlos in der Selbstglorifizierung versunken ist.

Wenn nicht mehr unterschieden werden kann, welchen Rang eine Wahrheit hat, dann ist der Willkür Tür und Tor geöffnet. Je mehr relative Wahrheiten als absolute angepriesen werden, desto mehr wird der Zugang zur absoluten Wahrheit verstopft.

Die Pflicht zum Widerstand


Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht, heißt es bei Bert Brecht. Wo eine relative Wahrheit zu einer  absoluten verdreht wird, ist es wichtig, dagegen aufzutreten. Denn die Verallgemeinerung einer solchen Vertauschung ist die Verallgemeinerung einer Vertuschung. Wenn ihr nichts entgegen gehalten wird, wird der Schaden, den sie anrichtet, vermehrt.

Dagegen aufzutreten ist nicht mit den Mitteln der absoluten Wahrheit möglich. Sie gibt zwar die Motivation und die Kraft, denn sie weiß, wie wichtig sie ist und wie wichtig es ist, dass sie nicht missbraucht wird. Aber ihre Stimme wird auf dem Markt der relativen Wahrheit nur wie eine weitere Meinung im Gewirr des Marktgeschreis untergehen.

Wer gegen Egoismen im Kleid von ewigen Weisheiten auftreten will, muss deshalb aus der absoluten Wahrheit heraustreten und in die Arena der relativen Wahrheiten gehen. Er nimmt dafür allerdings die Kraft mit, die aus der Verbindung mit dem Fließen kommt. Der heilige Zorn, mit dem Jesus die Tische der Händler vor dem Tempel umwirft, das ist die Energie, mit der jemand nicht um seiner selbst willen, also aus einem Ego-Motiv heraus, sondern aus einem Gefühl der Verantwortung für etwas Größeres und gegen das Hintertreiben der essentiellen Klarheit auftritt.

Nicht mehr ist bei diesem Auftreten möglich als die verdrehten und überzogenen Ansprüche zu entlarven und bloßzustellen und damit der anmaßenden Verwechslung Einhalt zu gebieten. Es gilt also, die Lüge als Lüge und die Verdrehung als Verdrehung bloßzustellen und die als absolut ausgegebene Botschaft auf ihren relativen Rang zurückzustufen. „Was du hier verkündest, ist deine Meinung und nicht mehr. Was du sagst, gilt vielleicht für dich, aber nicht für mich.“ So können wir eine Grenze ziehen und die Aussage wieder in das Feld ihrer Herkunft, auf das Feld der Relativität zurückholen, wenn sie aus dieser stammt. Wir müssen die andere Person nicht kritisieren und schlechtmachen, es genügt, ihren (Macht-)Anspruch einzudämmen. Wir können dabei nur für uns sprechen, ohne uns auf höhere Einsichten berufen zu können, weil wir in einer Sphäre des Kampfes nur die Waffen der relativen Welt zur Verfügung haben. Die absolute Wahrheit taugt nicht für Konflikte, weil sie außer Streit steht. Streiten erfordert relative Positionen und relative Methoden der Auseinandersetzung.

In der Sphäre der Relativität können wir nicht „rechter“ haben als die anderen. Wir können nur einem Rechthaben, das sich auf eine angemaßte Absolutheit beruft, entgegentreten und es damit relativieren. Wir unterbrechen ein Spiel, das verwirrt und verschleiert, indem wir seine Regeln brechen. Dabei setzen wir der die Wahrheit verdrehenden Definitionsmacht, die sich ungehindert ausbreiten will, eine ebensolche Macht entgegen, nicht, um uns selbst ebenso ausbreiten zu können, sondern um die Ausbreitung der Vernebelungskultur zu verhindern. Eine Farbe, die über alles gegossen werden soll, wird eine Kontrastfarbe hinzugefügt, und damit ist das einheitliche Bild verdorben, wie es sich für eine relative Welt gehört. Die dahinterstehende absolute Wahrheit wirkt allein aus dem Verborgenen.

Wachsamkeit gegen die Gleichgültigkeit


Wer von der absoluten Wahrheit gekostet hat, muss wachsam bleiben: Wachsam auf die eigenen Anmaßungen, den gehobenen Schatz für eigene Zwecke zu missbrauchen, und wachsam auf die Versuche anderer Menschen, Dreck als Gold zu verkaufen.

Und es gilt wachsam zu bleiben gegenüber der eigenen Tendenz, die Gelassenheit und Toleranz mit Gleichgültigkeit in einen Topf wirft. Es darf nicht egal sein, wenn die großen und kleinen Demagogen auftreten, um ihre Schäfchen hinterlistig ins Trockene zu bringen. Es muss Widerstand geleistet werden, damit solche Blockierungen erkannt und gemieden werden können. Wer von sich meint, dass er sich zu gut oder zu erhaben ist für solche Streitigkeiten und deshalb die Konflikte in der Öffentlichkeit und im Privaten meidet, unterliegt der eigenen Überheblichkeit und Feigheit, Haltungen, die nicht besser sind als das, worüber sie sich erheben wollen.

Das Missverständnis liegt darin, dass das Reich der absoluten Wahrheit nicht als Zuflucht dienen kann, in das sich alle, denen es in der Welt zu gewaltsam, gemein oder hässlich zugeht, zurückziehen könnten, um dort das biedere Gärtchen einer wohlgehegten Heiligkeit zu pflegen. Wenn das geschieht, ist längst schon verloren, was gesucht wurde. Eine solche spirituelle Idylle ist nur eine weitere Nische der relativen Welt, versteckt hinter einem kunstvollen Gespinst aus scheinbar absoluten Fäden.

Tatsächlich fallen wir sofort aus dem Reich des Absoluten, wenn wir auf die Widersprüche der Kommunikation und der Gesellschaft stoßen. Und das ist auch gut so, denn dort müssen wir uns immer wieder behaupten, dort müssen wir auftreten und Anmaßungen entgegentreten. Automatisch geraten wir in die Versuchung, unseren eigenen Anmaßungen zu erliegen. Und das ist auch gut so, damit wir immer wieder auf uns selbst zurückgeworfen werden, um immer wieder den Blick auf unsere eigene Bewusstheit zu richten. So können wir in uns wieder den Kontakt zur absoluten Wahrheit herstellen.

Je mehr Ahnung wir von der absoluten Sphäre haben, desto mehr von den Selbst- und Fremdtäuschungen, die wir selbst und die anderen Menschen inszenieren, wird uns bewusst werden und desto mehr können wir aufzeigen und bewusst machen. Damit halten wir das Gewissen wach, das uns immer wieder darauf aufmerksam macht, uns aus dem Leben im Relativen auf das Absolute zurück zu beziehen und damit die Bereiche des Absoluten im Gesamten zu erweitern.

Donnerstag, 21. November 2013

Die zwei Wahrheiten und die Paradoxie


Absolute (transrationale) Wahrheiten sind in mehrfacher Hinsicht paradox. Wer sie ausspricht, ist sich dieser Paradoxie bewusst und kann die Paradoxie aushalten. Diese Fähigkeit erwächst zunächst aus der Rationalität, die sich bis an ihre eigenen Grenzen denken will. Dort löst sich die Eindeutigkeit auf, die zu stiften die Rationalität als ihre eigentliche Aufgabe angesehen hat. Zum Beispiel fand Immanuel Kant in den letzten Bereichen, die der Vernunft zugänglich sind, Antinomien, also Erkenntnisse, die sowohl in der einen Form wie auch in ihrer gegenteiligen Form vernünftig bewiesen werden können. Man könnte auch im Sinn von Hegel sagen, dass sich die Vernunft an ihren Grenzen selbst aufhebt.

Wenn sie zurücktritt und der transrationalen Erkenntnisform Platz macht, wird die Paradoxie zum Kennzeichen der Stimmigkeit. Sie besteht schon einfach darin, dass Unendliches in endlichen Worten, Freiheit in der Begrenztheit ausgesprochen wird. Viele Mystiker, aber auch Philosophen, beklagen die Unmöglichkeit, die zeitlosen Erfahrungen in einer an die Zeit gebundenen Sprache auszudrücken (vgl. Blog zur Sprache der Wahrheit).


Ein weiteres Element der Paradoxie besteht in Folgendem: Viele dieser Erfahrungen führen zu einer Auflösung der Körpererfahrung z.B. in einer grenzenlosen Weite oder in einer vollkommenen inneren Leere, Erfahrungen, die gleichwohl in einem Körper stattfinden. Es wird also beides zugleich erlebt: Ein Körper und ein Nicht-Körper. Deshalb ist es ein Charakteristikum von transrationalen Erfahrungen, dass sie diese Paradoxien beinhalten und ihnen Raum geben, weil das Transrationale das Rationale in sich enthält. Auch wenn das Transrationale als das Größere, Bedeutungsvollere oder Erfüllendere erlebt wird, weiß die erlebende Person um die Existenz der begrenzten Welt, und sie hegt dabei nicht den Wunsch, diese begrenzte Erfahrungswelt los werden zu wollen oder aus ihr entfliehen zu müssen. Im Gegenteil, durch die Besuche in den transrationalen Räumen wird die relative Welt immer wieder neu entdeckt und das Dasein in ihr immer mehr wertgeschätzt und in seiner Schönheit erkannt.

In der transrationalen Sphäre gibt es keine Körperverleugnung, -verachtung oder -kasteiung. Der Körper wird manchmal als „Tempel des Geistes“ bezeichnet oder als Quelle von Lebendigkeit und Freude erfahren. Er gilt als eine Ausdrucksform des Geistes, als Äußeres eines Inneren, das es (vermutlich) ohne das Äußere nicht gibt.


Die Angst vor der Rationalität


Auf der prärationalen Ebene wird dagegen Paradoxie als eine Form der Verwirrung erlebt und vermieden. Sie löst Angst aus. Aus dieser Angst nährt sich die Abwertung jeder Form von Rationalität, wie sie manchmal in der esoterischen Szene auftritt. Entgrenzende Erfahrungen sollten vor mentalen Konzeptualisierungen geschützt werden, und von daher kommt der manchmal geäußerte Imperativ, dass der Verstand oder das Ego zerstört oder zertrümmert werden muss, dass der „Kopf“ zum Schweigen gebracht werden muss usw. Die Aggressivität in dieser Sprache zeugt von einer Angst, die mentalen Fähigkeiten unseres Geistes könnten kaputt machen, was sich als kostbare Erfahrung jenseits des Verstandes gezeigt hat. Für die Vorstellung, dass eine reife Intelligenz in der Lage ist, eine umgreifende spirituelle Erfahrung anzuerkennen und wertzuschätzen, ist kein Platz.

Stattdessen wird dem Wiedererleben von dissoziativen Zuständen Tür und Tor geöffnet, weil es kein rationales Korrektiv gibt. Scheinbar spirituelle Erfahrungen wiederholen die Flucht aus der Wirklichkeit, wie sie einst im Traumamoment vor unerträglichen Schmerzen oder Leiden geschützt hat. Hier ist Heilungsarbeit notwendig, die oft mühsam, langwierig und schmerzhaft sein kann. Aber es führt kein Weg darum herum, alle Abschneider führen immer wieder zurück auf den Ausgangspunkt. Nur auf diesem Weg, der Abspaltung nach Abspaltung zusammenführt, kann die Ganzheit und innere Identität gefunden werden, in der Verbindung von lebendiger Emotionalität und klarer Rationalität.

Von dieser Basis ausgehend, öffnet sich dann wie von selber und in natürlicher Weise die transrationale Welt und die Erkenntnis der absoluten Wahrheiten. Das Leben wird als freier Tanz von Paradoxien erkannt, als ein immer wieder überraschendes Fließen vom Einen ins Andere.

Ein Zustand, wie er z.B. im Zen durch das unablässige Meditieren über „Koans“, also über paradoxe Aussagen erreicht werden soll, ermöglicht die Freiheit. Es ist ein Zustand, in dem die Wahrheit in der unmittelbaren Erfahrung auftaucht, die sich im nächsten Moment schon wieder verändert hat und in dem die Veränderung in ihrer Widersprüchlichkeit genossen werden kann. Das große Spiel des Lebens entfaltet sich in seinem Reichtum an Formen und Gestalten, frei von Erwartungen, Kontrollen und Zwängen. Die Emotionalität und die Rationalität dienen dabei als Spielzeug unter anderen. Das Eintauchen in ihre Relativität geschieht bewusst und die Rückverbindung an das Absolute geht nie wirklich verloren.


Die Aufgabe der Lehrer


Ein guter Lehrer braucht ein sicheres Gespür für Prä- und Transverwechslungen, für den Unterschied von Relativität und Absolutheit. So kann er die Schülerin auf alle die Fallen, die sich auf dem Weg versteckt halten, aufmerksam machen. Je freier er selber ist von den Antrieben der relativen Welt, von den Egomotiven und selbstsüchtigen Interessen, zu desto mehr Freiheit kann er seiner Schülerin verhelfen. Er braucht dafür den absoluten Respekt für die Einzigartigkeit des Weges, auf dem sich die Schülerin befinden, sodass er mit ihr lernt, wie sie sich Schritt für Schritt der Befreiung nähert und lernt, mit der Paradoxie umzugehen.


Vgl. Prä-Trans-Verwechslungen
Vgl. Narzissmus 

Die zwei Wahrheiten: Relatives verkleidet als Absolutes

Die zwei Wahrheiten klar zu unterscheiden, ist wichtig, weil wir daran erkennen können, ob unser Weg weiter in die Tiefe des Seins oder zurück in die Untiefen unserer Lebensgeschichte führt. Diese Unterscheidung ist jedoch deshalb knifflig, weil wir für diese Aufgabe die Fähigkeit brauchen, die vielfältigen Fallen und Tricks der relativen Wahrheit zu erkennen, und weil wir ebenso in der Lage sein müssen, die absolute Wahrheit in ihrer Reinheit und Klarheit zu erkennen. Wir brauchen also die Weltläufigkeit und zugleich den Zugang zur Tiefe der Erkenntnis, um uns im Gelände zwischen Relativität und Absolutheit sicher orientieren zu können.

Mit dieser doppelachsigen Bewusstheit wird es uns möglich, Verwechslungen, die immer auch dem von Ken Wilber beschriebenen Prä-Trans-Fehlschluss verfallen sind, zu durchschauen und zu erkennen, wo sich relatives Wissen als absolutes ausgibt. Solche Verkleidungen geschehen zumeist in guter Absicht und aus mangelnder Selbstreflexion. Sie können aber, wie schon in anderen Beiträgen zu dem Thema dargestellt, Menschen in die Irre führen und damit Schaden anrichten.

Die Flüchtigkeit des Absoluten


Die absolute Wahrheit gibt es nicht in einer fixen Form. Sie ist beweglich wie ein Quecksilberkügelchen. Wer sie fassen will, hält nur einen relativen Abklatsch von ihr in der Hand. Alles, was sich unserem Zugriff entzieht, macht uns misstrauisch und fordert unsere Kontrollzwänge heraus. Wir wollen, was wir schon einmal hatten, sicherstellen, damit wir es immer wieder kriegen können, wann wir es brauchen. Ähnlich wie die reichen Länder der Welt die Rohstoffquellen dieser Erde unter ihre Kontrolle behalten wollen, damit sie ihr verschwenderisches Leben unbehindert weiter führen können, möchten wir auch unsere inneren Schätze in einem imaginären Tresor verwahren, wo sie uns niemand nehmen kann und wir sie zu jeder Zeit für unsere Zwecke nutzen können.

Da eine der zentralen Fähigkeiten, die wir brauchen, um in der Welt des Relativen erfolgreich zu sein, im Täuschen und im Selbsttäuschen besteht, fällt es uns nicht auf, wenn wir eine absolute Wahrheit mit einer relativen vertauschen. Doch woran können wir erkennen, dass wir uns selbst oder andere auf den Holzweg geführt haben?

Jede Wahrheit, die unbeweglich und in einem starren sprachlichen Korsett präsentiert wird, kann nicht absolut sein, so schön sie auch klingen mag. Vielmehr haben wir es mit einem Dogma zu tun. Die Wahrheit ist zu einem Ding geworden, das gegen jedes andere Ding ausgetauscht werden kann. Die Richtigkeit beruht nur auf der Autorität dessen, der sie verkündet hat. Wie die Geschichte zeigt, lassen sich mit Gewalt alle Wahrheiten durchsetzen, außer die absoluten.

Wahrheit und Kritik


Relative Wahrheiten sind grundsätzlich kritikfähig, was ihren Inhalt anbetrifft. Jede relative Einsicht kann ganz einfach auch anders sein. Relativ betrachtet, ist es gleich richtig, ob das Licht eine Wellen- oder eine Teilchennatur hat. Wir brauchen nur den Blickpunkt zu verändern, schon schaut alles anders aus. Jede relative Erkenntnis steht in Konkurrenz zu anderen Ansichten. Sie unterliegt allen Formen der emotionalen und rationalen Kritik. Gerade deshalb gibt es immer wieder die krampfhaften Versuche, relative Wahrheiten unter dem Schleier der Absolutheit vor Kritik zu immunisieren.

Die absolute Wahrheit fürchtet keine Kritik, sie braucht sie aber nicht, weil sie in sich einleuchtend ist. Wird an ihr Kritik geübt, so kommt diese aus einem fehlenden Verständnis von der Tiefe des Gesagten. Wenn jemand sagt: „Alles ist eins“, wird jemand, der ganz dem Relativen verhaftet ist, meinen, dass das nicht einmal auf einen Eintopf zutrifft, solange man Kartoffel und Karotten unterscheiden kann, geschweige denn dass das auf das ganze Universum bezogen werden könnte. Doch verfehlt eine Kritik aus dieser relativen Ecke den Erfahrungskern des Satzes, der eben auf der relativen Erfahrungsebene nicht zu finden ist.

Das ist auch das defensive Standardargument, das jeden gestandenen Skeptiker zur Weißglut treibt, wenn ihm jemand aus der spirituellen oder esoterischen Welt berichtet. Gleich ob prä- oder transrational, also der Prä-Trans-Verwechslungsecke kommt: Mitreden kann nur, wer die entsprechende Erfahrung gemacht hat. Und damit öffnet sich ein Graubereich, der mit dem Reinheitsgebot einer intellektuellen und spirituellen Redlichkeit in Konflikt kommt.

Doch die transrationale Erfahrung – und das unterscheidet sie von der prärational-esoterischen – ist so beschaffen, dass sie dem rational denkenden Menschen zumindest intellektuell verdeutlichen kann, warum bestimmte Einsichten nur auf einer vertieften Erfahrungsebene Sinn machen. Es ist argumentierbar und kann einem verantwortungsbewussten Rationalisten verständlich gemacht werden, wo die Grenze der Rationalität liegt. Soweit reichen eben die Argumente, und das Jenseits der Argumente ist nur dem zugänglich, der bereit ist, seine einschränkenden Denkgewohnheiten zurückzulassen.

Der kommunikative Raum des Absoluten


Absolute Wahrheiten kann man nicht zwischen zwei Buchdeckeln kaufen oder aus einschlägigen Seminaren in der Aktentasche mitnehmen. Sie erscheinen nur unter ganz bestimmten Bedingungen, wie Glühwürmchen zu Sommerbeginn. Es ist eine nicht konventionelle Form der Offenheit bei der Sprecherin und beim Empfänger erforderlich, damit sich eine absolute Wahrheit als solche überhaupt manifestieren kann. Diese Form der Offenheit ist dann möglich, wenn weitgehend alle emotionalen und mentalen Einschränkungen zurückgenommen sind. Sowohl der Sprecher wie die Empfängerin müssen in der Lage sein, ihre konventionellen Sprech- und Wahrnehmungsgewohnheiten abzulegen. Das ist dann möglich, wenn die emotionalen Fixierungen, die die Gewohnheiten an ihrem Platz festhalten, also vor allem die alten Ängste, aufgelöst sind.

Angst- und vorurteilsfrei sowie mit dem gebührenden Respekt müssen wir in den Raum der absoluten Wahrheit eintreten, dann wird sie sich zeigen. Nehme ich nun eine solche Wahrheit, der ich teilhaftig geworden bin, und trage sie in die Welt der Relativität, so werde ich erkennen, dass sie verblasst und ihre Kraft verliert, weil die Menschen, auf die sie trifft, sie nicht empfangen können. Sie wollen nur, dass ihre Vorurteile und Ängste bestätigt werden und bekämpfen alles, was diese in Frage stellt. Der Weise erkennt daran, dass geschwiegen werden muss, wo nicht geredet werden kann.

Die Lehrerin dagegen, die übersehen hat, dass sie das Heiligtum verlassen hat und auf den Marktplatz getreten ist, wird vielleicht Wege der Überzeugung und Überredung suchen, um ihre Wahrheit „an den Mann“ zu bringen. Sie macht dann schnell die Erfahrung, dass manche Leute fasziniert sind, weil sie die Wahrheit hinter der Überzeugung spüren, die ihre Sehnsüchte nach Befreiung anspricht. Deshalb werden sie der Lehrerin folgen und ihre Lehren übernehmen. Solange sie jedoch selber nicht ins Heiligtum eingetreten sind, werden sie nicht verstehen, worum es wirklich geht. Und die Lehrerin kann der Versuchung verfallen, die Schüler statt ins Heiligtum in die Irre zu führen, indem sie sich selbst und ihre Lehren als das Heiligtum darstellt. Damit ist die absolute Wahrheit von beiden Seiten, Sprecherin und Hörer, relativiert und verdinglicht.

Im System der Vorurteile und Ängste wird die absolute Wahrheit ein Spielball von allen möglichen Interessen und Motivationen. Dann können mit ihr Geschäfte gemacht, Abhängigkeiten aufgebaut, Lehrgebäude errichtet werden. Die Sehnsüchte werden mit Fantasien und Illusionen gefüttert, und die Seelen der Suchenden regredieren in einen dumpfen Kindheitsschlummer, den sie für ein tiefes Erwachen halten.

Die absolute Wahrheit zerfällt also sofort, wenn die Bedingungen ihrer Existenz verloren gehen. Sie ist wie eine sensible Pflanze, die nur in einem fein  abgestimmten Ökosystem wachsen und gedeihen kann.

Wahrheit und Aggression


Wahrheiten, die mit Aggressivität und mit der Abwertung von Andersdenkenden vertreten werden, entlarven sich selbst als relative, die sich als absolute verkleidet haben. Relative und absolute Wahrheiten kann man nicht an den Worten unterscheiden, sondern am Kontext, in dem sie ausgesprochen werden. Damit wird auch jede Form der Missionierung obsolet, denn die absolute Wahrheit will nur einleuchten und nicht überzeugen. Sobald sie erkannt, verstanden und inkorporiert worden ist, hat sie ihren Sinn erfüllt.

Die absolute Wahrheit braucht keine Schutzgefühle wie Angst oder Aggression. Sie wirkt oder sie wirkt nicht, je nach Kontext und Empfänger. Sie kann nicht um Verständnis und Akzeptanz kämpfen. Sie weiß, dass ihre Wirkmächtigkeit vom Erfahrungsgrad und emotionalen Zustand des Empfängers abhängt. Denn sie kann nur jemandem einleuchten, der sich ihr frei von Ängsten und Traumatisierungen nähert.

Dienstag, 19. November 2013

Prä- und transrationale Erfahrungen unterscheiden

Nach dem Modell von Ken Wilber gilt alles als prärational, was vor der Entwicklung der rationalen Fähigkeiten, also vor der Ausbildung des Großhirns, vor allem des präfrontalen Kortex geschehen ist sowie auch alle Inhalte des Bewusstseins, die zwar später auftauchen können, aber die Form des Prärationalen haben. Diese Form ist gekennzeichnet durch  eine assoziative, bildhafte und emotionale, in Bezug auf das Gehirn also eine dominant rechtshemisphärische Informationsverarbeitung. Sie kennt weder die verbale Sprache noch die Gesetzmäßigkeiten der Logik.

Die prärationale Phase der frühen Kindheit wird im Lauf des Aufwachsens durch die rationale ergänzt und weitgehend abgelöst, die durch eine Dominanz des logischen und abstrakten Denkens gekennzeichnet ist und das Vorherrschen der linken Gehirnhemisphäre anzeigt.

Dann zeigen sich in der Weiterentwicklung des Bewusstseins die transrationalen Bereiche, die durch Weite, Offenheit, innere Freiheit, vernetztes und systemisches Denken gekennzeichnet sind. Solche Zustände sind frei von Angst und Kontrolle, und sie können nur auftauchen, nicht gemacht werden. Psychodynamisch betrachtet, beruhen sie auf der erfolgreichen Auflösung von Traumatisierungen. Jedes aufgearbeitete und integrierte Trauma bringt einen Zugewinn an innerer Freiheit.

Prärationale Trans-Erfahrungen


Das Modell der Peakstates-Therapie nach Grant McFetridge relativiert dieses einfache Stufenmodell von Ken Wilber mit folgender Grundannahme: Peakstates, also Gipfelzustände, wie sie für die transrationale Erfahrungswelt kennzeichnend sind, sind nicht nur spätere Errungenschaften durch meditativen Übungen usw., sondern sie sind zuallererst der ursprüngliche Zustand des prärationalen Bewusstseins, der allerdings dann fast immer durch Traumatisierungen im Lauf der organischen und psychischen Entwicklung blockiert wird. Also gibt es nach diesem Modell weit zurück im prärationalen Bereich die Erfahrungsformen des Transrationalen, und was wir dann später als transrational erfahren, ist eigentlich „nur“ eine Wiederherstellung ursprünglich zugänglicher Gipfelzustände. Das deckt sich mit der von mir vertretenen Gefühlstheorie: Gipfelzustände sind Erlebensformen des Wachstumszustands und deshalb mit Wachstumsgefühlen (Glück, Lust, Freude etc.) verbunden. Im Schutzzustand, der vor allem durch Angst und andere “negative” Gefühle gekennzeichnet ist, sind sie allerdings blockiert. Traumatisierungen chronifizieren den Schutzzustand und führen dazu, dass wir den Schutzzustand als normal und den Wachstumszustand als Besonderheit oder Absonderheit erleben.

Damit wird das Modell von Wilber als Entwicklungslogik, die strukturelle Abläufe untersucht und die Phänomene nach ihrem Gehalt und ihrer Form einordnet, in seiner zeitlichen Struktur in Frage gestellt. Phänomene, die eigentlich erst nach der rationalen Phase auftauchen können, gibt es im Erleben schon vor ihr, sie werden nur im Wiedererleben nach der Traumalösung in einer mit der Erwachsenenrealität und ihren rationalen Strukturen verträglichen Form neu wahrgenommen. In der Bewusstseinsrekonstruktion können wir erkennen, dass aus dem Wiedererleben und Heilen von Traumatisierungen an Entwicklungspunkten, dass Gipfelzustände und damit transrationale Erfahrungen zum ursprünglichen Repertoire des Bewusstseins gehören. Prärationale Gipfelzustände unterscheiden sich von den transrationalen darin, dass sie ohne Rationalität und verbale Sprache auskommen. Sie benötigen nicht mehr als eine einfache Körperform wie die befruchtete Eizelle, um sich entfalten zu können. Also benötigen sie weder eine fortgeschrittene Zelldifferenzierung noch ausgeprägte Strukturen des Nervensystems, geschweige denn ein voll entwickeltes Großhirn als Grundlage. Deshalb sind prärationale Trans-Zustände in ihrer Struktur ganz einfach und haben keinen Bezug zur Paradoxie, die erst in der Spannung von Rationalität und Transrationalität entsteht.

Prärationale Gipfelerfahrung versus dissoziative Zustände


Allerdings, und da meldet sich wieder die Wilber’sche Prä-Trans-Schere, müssen prärationale Gipfelzustände von prärationalen dissoziativen Zuständen unterschieden werden. Denn gerade traumatische Erfahrungen hinterlassen die starke Neigung zu dissoziativen Abspaltungen. In der Dissoziation können wir Phänomene erleben, die Erfahrungen, wie wir sie aus der transrationalen Bewusstseinswelt kennen, „zum Verwechseln“ ähnlich sind. Ein Beispiel ist die Erfahrung von Leere: Sie kann die Folge einer Erfahrung des Abgeschnittenseins sein, wenn etwa eine werdende Mutter dem fötalen Leben keine Aufmerksamkeit und Zuwendung geben kann. Diese prärationale traumatische Erfahrung wird als Leere aus Mangel erlebt, häufig verbunden mit einem Gefühl der Einengung, mit Angst und Grauen. Die transrationale Leereerfahrung dagegen ist verbunden mit einem Gefühl der inneren Freiheit. Sie ist keine Mangel- oder Verlusterfahrung, sondern  die Befreiung von Ballast, unnützen Gedanken usw.

So ist also tatsächliche die prärationale Landschaft gekennzeichnet von heil gebliebenen Inseln der Freude und Glückseligkeit und von dissoziativen Bruchstücken.

Wenn wir die Phänomene der Dissoziation betrachten: Ihrem Sinn nach dienen sie dazu, das Bewusstsein vom körperlichen Erleben, das im Trauma von massivem Schmerz überwältigt wird, abzutrennen, um in einen Bereich der Schmerzfreiheit und Gelöstheit zu gelangen. Das Bewusstsein trennt sich also vom Körper, um sich zu schützen.

Wenn wir solche Zustände wiedererleben, ist die Erfahrung der Körperlosigkeit, des Aus-dem-Körper-Gehens typisch. Die innere Verbindung zum körperlichen Dasein ist abgeschnitten. Ähnlich wie bei Nahtoderfahrungen kann der eigene Körper nur von außen wahrgenommen werden, es gelingt aber nicht mehr, mit der Aufmerksamkeit in ihm drinnen zu sein.

Deshalb sind solche Erfahrungsräume durch eine scharfe Außengrenze geschützt, und wenn sie überschritten wird, (z.B. durch eine Störung von außen), bricht der Zustand ab und es kommt zu einer tiefgreifenden Irritation und Verwirrung, bis erst nach einiger Zeit wieder der Kontakt zur Realität hergestellt werden kann. Es gibt also keine graduellen Übergänge, kein langsames Auftauchen aus der Erfahrung, sondern das Gefühl, herausgerissen zu werden und darauf mit einem Schock zu reagieren. Äußere Störungen wirken also als Zerstörungen des Bewusstseinszustandes und lösen Angst oder Aggressionen aus.

Typisch für solche dissoziativen Erfahrungen ist demnach das Fehlen von Empfindungen, oft sind auch die Gefühle nur vage, es besteht keine Verbindung zur Sprache. Der Kontakt nach außen, also zur umgebenden Realität oder zu anwesenden Menschen ist kaum oder gar nicht vorhanden. Dazu kann ein Gefühl der Unwirklichkeit kommen, das sich auf das eigene Selbst oder auf die Außenwelt bezieht. Statt dessen tritt das Erleben eines mentalen Zustandes, in dem Bilder und assoziativ ablaufende Filme sowie traumartige Sequenzen vorkommen können.

Da die Sensibilität für die Innen-Außenunterscheidung verlorengeht, verschwimmt das Innere und das Äußere. Deshalb können Innenerfahrungen leicht mit Außenerfahrungen verwechselt werden, was ja auch eine Form der Prä-Trans-Verwechslung darstellt und zu den Vorformen von Psychosen gerechnet werden kann.

Im Modell der Peakstates-Therapie, sind Gipfelzustände, zum Unterschied von Dissoziationen, durch die Buchstaben „CPL-BL“ gekennzeichnet: Calm, Peace, Light, Bright, Large. Gipfelzustände fühlen sich also ruhig und friedlich an, leicht, unbeschwert, sowie hell und weit. Diese Merkmale bezeichnen einen traumafreien Zustand. Solange noch eine Spannung im Körper wahrgenommen wird, handelt es sich nicht um einen transrationaler Zustand. Vielmehr ist es ein Hinweis darauf, dass das Trauma noch nicht gelöst ist.

Wenn uns Prä-Trans-Verwechselungen begegnen


Wie können wir bei anderen Menschen unterscheiden, ob das, was sie uns mitteilen, aus einer dissoziativ-prärationalen oder aus einer transrationalen Quelle stammt? Zu dieser Frage ein paar Beispiele:

Manche Menschen neigen dazu, ihre Lehrer oder Gurus zu idealisieren, und so erzählen sie von ihren Erfahrungen und von dem Wissen, das sie davon mitnehmen, ohne rationale Distanz und Differenzierung. Es wird deutlich, dass sie sich keine eigene Meinung mehr erlauben. Vielmehr neigen sie dazu, sich einem fremden Wissen unterzuordnen, das sie selber nicht prüfen, sondern ihm wie einem Dogma folgen. Damit verzichten sie auf ihre eigene erwachsene Rationalität und erfüllen sich als Ersatz ein narzisstisches kindliches Bedürfnis nach Klarheit und Sicherheit. (vgl. Narzissmus)

Wenn sich Menschen bei der Begründung ihrer Ansichten, Einsichten oder Entscheidungen auf eine Eingebung aus einer höheren Quelle berufen und, so kann es sich zwar um Informationen des inneren Sinnes handeln, der Zugang zum eigenen Unbewussten hat. Wenn sie dabei allerdings die Frage nach rationalen Begründungen aggressiv abwehren, kann das ein Hinweis sein, dass die Einsichten weniger mit einer höheren Realität oder einer tieferen Erkenntnis über die Zusammenhänge der äußeren Realität oder mit verlässlichen Prognosen für die Zukunft zu tun haben, sondern dass es um Verschlüsselungen oder assoziativ symbolisierten Erfahrungen aus unbewältigten Erfahrungen der eigenen Lebensgeschichte geht, die in spirituellem Gewand ihren Ausdruck suchen und mit Hilfe von Aggressionen verteidigt werden müssen.

Die Quellen der menschlichen Fantasie können unbegrenzt sprudeln. Für viele Menschen war von früher Kindheit an die Flucht ins Reich der Fantasie ein Ausweg aus Situationen des Unverstandenseins, der Hilflosigkeit und Verzweiflung. Damit wird die Fantasie zu einer vertrauten Ressource, die jederzeit mobilisiert werden kann, um sich tieferen inneren Konflikten nicht stellen zu müssen. Solche Tendenzen können die Verunsicherungen und Störungen im Realitätsbezug und im Selbstbezug verstärken, was den Hintergrund für die Attraktivität von esoterischen Angeboten der Welterklärung abgeben kann. Modelle, wie sie z.B. in esoterischen Geschichtsdarstellungen oder Zukunftsszenarien angeboten werden, spiegeln diese verschwommene Unterscheidung von Fantasie und Realität wider.

Da solche Modelle in rational strukturierten Kreisen auf Ablehnung und Unverständnis stoßen, bestätigt sich das Gefühl des Unverstandenseins, was wiederum die Fluchttendenz verstärkt und die pseudospirituelle Welterklärung noch vehementer vor rationaler Überprüfung und Infragestellung abschottet.

Dienstag, 12. November 2013

Narzissmus und Prä-Trans-Verwechslungen

Im ersten Beitrag zu den Prä-Trans-Verwechslungen habe ich die Vermutung geäußert, dass die Tendenz zu solchen Verwechslungen auf nicht aufgearbeiteten Traumaerfahrungen beruht. Aus solchen Vorprägungen kann auch die innere Anziehung zu „zwielichtigen" Angeboten der Esoterik erwachsen, die viele Menschen in unseren Breiten zum Konsum von entsprechenden Büchern, Gegenständen und Dienstleistungen motiviert.

Ich möchte hier die Verbindung zwischen Prä-Trans-Verwechslungen und narzisstischen Störungen genauer betrachten. Narzisstische Persönlichkeitsstörungen haben die Kennzeichen von einer Überschätzung der eigenen Wichtigkeit verbunden mit Fantasien über Erfolg und Macht, Verlangen nach Bewunderung durch andere, Fehlen von Einfühlungsvermögen, Egoismus und Überheblichkeit. Das zentrale Bestreben des Narzissten liegt darin, sein labiles Selbstwertgefühl in Balance zu bringen. Er nutzt dafür andere Menschen gnadenlos aus, häufig mit ausgeprägten manipulativen Fähigkeiten. Narzissten können nach außen sehr charmant und gewinnend auftreten, während sie zugleich, aus der Nähe betrachtet, kühl, unnahbar und arrogant wirken.

Menschen, die in ihrer Kindheit wenig echte Zuwendung und Verständnis erfahren haben, können diese Störung entwickeln. Da sie als Kinder selber nie oder viel zu wenig „gesehen“ wurden, erkennen sie andere Menschen und deren Bedürfnisse nicht oder nur mangelhaft. Von den Eltern eher an äußeren Maßstäben gemessen (Du bist viel besser, schöner, tüchtiger als andere Kinder, oder: Du musst noch viel besser, schöner, tüchtiger werden, um zu genügen), entwickeln sie kein realistisches Selbstwertgefühl. Außerdem fehlt es ihnen an Empathie, die ihnen selbst nie oder viel zu wenig entgegengebracht wurde.

Nach dem Psychoanalytiker Stavros Mentzos (1984) gibt es verschiedene narzisstische Kompensationsmöglichkeiten zum Ausgleichen der Defizite im Selbstwertgefühl, von denen hier drei in Bezug auf die Esoterik beleuchtet werden:
Die erste Möglichkeit besteht darin, durch Regressionen in einen früheren (vermutlich pränatalen) Einheitszustand einen Selbstwert- und Machtzuwachs zu bewirken. Daraus entsteht dann die Grundlage für Verschmelzungsfantasien mit etwas unbegrenzt Großen.
Im zweiten Fall werden die unangenehmen Aspekte der Realität mit Hilfe von Größenfantasien verleugnet. Kinder, denen dauernd bestätigt wurde, dass sie ganz besonders und besser als andere Kinder sind, können als Erwachsene Wahnvorstellungen unterschiedlichen Grades (von harmlosen Tagträumereien bis zu psychotischem Größenwahn) entwickeln.
Drittens kann durch die Idealisierung von anderen Personen, die als omnipotent und allwissend verherrlicht werden, versucht werden, das eigene Selbstwertgefühl zu retten.
Im günstigeren Fall entwickelt sich ein Selbst, das innere Sicherheit, Selbstbewusstsein und ein ruhiges Selbstvertrauen ermöglicht, relativ unabhängig von Anerkennung und Kritik durch andere. Kommt es allerdings zu Krisen, dann kann das Fehlen von Erfolgen oder von Bestätigungen durch andere Menschen zu manifesten Störungen führen.


Narzisstische Kompensation durch esoterische Angebote


Die jeweilige Art der narzisstischen Kompensation kann auf der Grundlage von Prä-Transverwechslungen das Interesse an esoterischen Angeboten in eine bestimmte Richtung lenken und damit den Kompensationsmechanismus zu verstärken. Ebenso kann die entsprechende narzisstische Störung auf der Seite der Anbieter den Hintergrund bereitstellen, der für die Entwicklung des entsprechenden Angebotes und seiner Vertretung und Propagierung auf dem Markt notwendig ist.


Verschmelzungsfantansien


Ozeanische Verschmelzungsgefühle gehen mit großer Wahrscheinlichkeit zurück auf die pränatale Zeit, also die erste Geburtsmatrix nach Stan Grof. Der Embryo erlebt im günstigen Fall ein Gefühl des Einsseins mit dem mütterlichen Organismus, das eine gewaltige Ressource für das Urvertrauen in das Leben darstellt.

Das Kind beginnt, diese Einheit zu fantasieren, wenn sie schon verloren ist, und vor allem dann, wenn statt der ganz selbstverständlichen Verbundenheit Erfahrungen des Abgetrenntseins, der Einsamkeit und Unverbundenheit auftreten, wie es geschehen kann, wenn das werdende Leben unwillkommen ist, das Neugeborene von der Mutter getrennt wird oder das Baby allein gelassen wird. So wird die fantasierte Einheit in Form einer Verschmelzung mit etwas Großem und Ganzen zum Fluchtpunkt aus einer schwer zu ertragenden Wirklichkeit voll von emotionalen Entbehrungen.

Menschen, die eine Erfüllung solcher Verschmelzungsfantasien suchen, finden in esoterischen Angeboten eine reichhaltige Anregung und Bestätigung in esoterischen Angeboten: Propagiert wird das Erreichen der Verbundenheit mit Allem, das Eins werden mit einem großen Ganzen, die Auslöschung der eigenen Identität, und der Weg zurück zur Einfachheit, mittels verschiedenster Psychotechniken oder pseudospiritueller Praktiken.


Größenfantasien


Größenfantasien können entstehen, wenn Eltern das Kind idealisieren. Sie sehen das Kind nicht, wie es ist, mit seinen Stärken und Schwächen, sondern so, wie sie es gerne haben würden (oder: Wie sie selber gerne sein würden...). Das Kind entwickelt dann ein unrealistisch aufgeblähtes Selbstbild. Es verliert die Fähigkeit, sich selber an den Reaktionen der Außenwelt einzuschätzen. Die äußere Realität wird in ihrer Rolle als Korrektiv der Innenwelt zurückgestuft, und damit finden Konzepte Eingang ins Bewusstsein, die keinerlei Kontrolle durch die äußere Wirklichkeit benötigen, sondern sofort und ohne Prüfung anerkannt werden. Sie müssen nur mit den eigenen Größenfantasien kompatibel bleiben und sie bestätigen.

Die dahinterliegende Bindungsstörung zwischen Eltern und Kindern ist wahrscheinlich die unsichere (distanzierte) Bindung, die dadurch zustande kommt, dass sich das Kind den elterlichen Vorstellungen von Selbständigkeit und Unabhängigkeit unterordnet und seine eigenen Bedürfnisse nach Nähe und Zuwendung verdrängt.

Eine Form dieser Größenfantasien findet sich im Beziehungswahn und seinen milderen Abstufungen, einer Quelle für Prä-Trans-Verwechslungen. Aus der spirituellen Idee, dass alles mit allem verbunden ist, fixiert die narzisstisch gestörte Persönlichkeit inmitten des Netzes dieser unzähligen Verbindungen einen Zentralpunkt, das eigene Ich, auf das sich alles und jedes bezieht, was im Außen passiert, verbunden mit der Annahme, dass diese Beziehungen von einem selbst kausal verursacht werden. Die harmlosen Formen beginnen dort, wo jemand sagt, weil ich an XY gedacht habe, ruft er an (die möglicherweise viel zahlreicheren Gelegenheiten, bei denen jemand anruft, ohne dass vorher an ihn gedacht wurde, oder wo an jemanden gedacht wurde, und diese Person ruft dann nicht an, werden nicht beachtet, statt dessen wird die eine Erfahrung zur Regel gemacht, um die eigene Bedeutung zu erhöhen). Komplexer wird es, wenn jemand annimmt, dass die Leute deshalb aus der Straßenbahn aussteigen, weil man selbst einsteigt oder dass die Ampel deshalb auf rot (oder grün) gestellt wird, weil man gerade bei ihr ankommt.  Bis zu: Die Welt geht den Bach hinunter, weil ich selber zu wenig positive Gedanken bilde. In einer Welt der totalen Determiniertheit aller Vorgänge durch die eigene Willenskraft oder die eigenen Denkvorgänge gibt es natürlich auch keine Zufälle


Dazu passen die entsprechenden Angebote an esoterischen Lehren, die die unbegrenzte Erfüllung der eigenen Wünsche versprechen: Du brauchst dir nur auf die richtige Weise zu wünschen, dann wird dir alles gegeben. Das ganze Universum wartet nur darauf, einen jeden deiner Wünsche zu erfüllen. Das Schlaraffenland wird mit pseudospirituellen Gesetzmäßigkeiten für real erklärt. Kindliche Größenfantasien, in einer belasteten prärationalen Welt entstanden, liefern den Treibstoff für Lehrgebäude, die sich mit rationalen und spirituellen Bordüren verbrämen.


Idealisierung und Identifizierung


Der dritte Kompensationsmechanismus der Idealisierung und Identifizierung bevorzugt neue Konstruktionen der Wirklichkeit, wie sie z.B. in der Romantisierung bestimmter Phasen der Vergangenheit oder in der Erfindung fantastischer Kulturen auf anderen Planeten entstehen. In einer idealisierten Kultur können die Widersprüche und Unmenschlichkeiten der modernen Welt zum Verschwinden gebracht werden.

Weiters bieten sich Personen als Identifikationsmöglichkeiten für das narzisstische Bedürfnis nach Selbstüberhöhung an. Magische Meister mit übermenschlichen Fähigkeiten und kosmischen Verbindungen können nur die letztgültigen und von aller Mühsal befreienden Botschaften vermitteln. Wer über intime Kontakte zu den Plejaden verfügt, kann ein Wissen und eine Weisheit weitergeben, die jedes menschliche Maß übersteigen müssen, auch wenn die gechannelten Einsichten den Aussagewert eines durchschnittlichen spirituellen Ratgebers nicht wesentlich übersteigen.

Doch auch smarte Redner und Zahlenkünstler können mit dem willkürlichen Zusammenschneidern scheinbar objektiven Fakten das Publikum begeistern und seine Sehnsüchte nach einer besseren Welt befriedigen. So spricht z.B. der US-amerikanische New-Age-Vortragende und Bestsellerautor David Wilcock davon, dass sich gerade jetzt ein 25 920-Jahreszyklus abschließt, dank dessen die „Bösewichter“ genau in diesem Moment der Geschichte besiegt werden. Solche Botschaften hören wir gerne und danken es dem Retter mit der Verehrung, die einem Genie gebührt. Auch ist es angenehm zu hören, dass die kosmische Ordnung mit ihren mathematischen Regeln für die Beseitigung der Missstände auf dieser Erde sorgt, so brauchen wir uns selber gar nicht mehr wirklich anzustrengen. Wie leicht sich mit solchen Fantasien und Irreführungen viel Geld verdienen lässt, zeigt die weite Verbreitung der narzisstischen Verknüpfung von Größenfantasien und Idealisierungen.

Wer vierzehn oder fünfundzwanzig Stufen der Erleuchtung gemeistert hat, muss in einem derartigen Maß frei und wach sein, dass er/sie bedingungs- und kritiklose Nachfolge verdient. Alle Mängel oder Menschlichkeiten der Person in Bezug auf die Ethik der Lebensführung, in kommunikativen oder wirtschaftlichen Belangen usw., die ein außenstehender Beobachter wahrnehmen würde, werden vom narzisstischen Idealisierer ausgeblendet.

Schließlich kann die narzisstische Identifikation auch Hypothesen, Theorien und Modellen gelten, die dann nicht mehr als solche angesehen werden, sondern als unhinterfragbare Dogmen. Die von der katholischen Kirche in der Zeit der Konfessionswirren des 16. Jahrhunderts definierte Form der Dogmatisierung, dass „jeder ein Ketzer ist“, der nicht an das entsprechende Dogma glaubt, findet sich noch in esoterischen Glaubensformen, die ihre Magie angeblich nur dann entfalten, wenn man bedingungslos an sie glaubt. Zweifel und rationale Überprüfungen werden ausgeschlossen, weil die Theorien aus übernatürlichen Quellen stammen und ihre Herkunft und Legitimität gerade deshalb nicht in Frage gestellt werden darf. Besonders verschiedene Katastrophen- und Verschwörungstheorien bedienen sich dieser Abschottung.

Sie versprechen ein Wissen über die Zukunft, das die Berechnung von kommenden Ereignissen und damit die Verfügung über die Zukunft ermöglicht –  magisches Wunschdenken, das der Psyche des verträumten Vorschulkindes entspricht, das die Geschichten, die ihm erzählt werden, und die Realität, in der es lebt, nicht genau auseinanderhalten kann. Wenn Erwachsene solchen Verwechselungen erliegen, kann das mit einer unbewussten Flucht in dieses Lebensalter zusammenhängen. Wie weit solche Phänomene Verbreitung finden können, zeigt sich an der Hysterie um den angeblichen Weltuntergang am 21. Dezember 2012. Eine NASA-Webseite zur Astrobiologie erhielt in dieser Zeit Tausende von Anfragen, darunter Fragen, ob man sich selber, die Kinder oder die Haustiere umbringen sollte. Im Mai 2012 wurden bei einer Umfrage in 21 Ländern 16 000 Erwachsene befragt, von denen 8% berichteten, dass sie Angst angesichts eines möglichen Endes der Welt am 21. Dezember 2012 hätten. 10% stimmten der Aussage zu, dass der Maya-Kalender das Ende der Welt angebe. Bezeugt ist ein Selbstmord aus Angst vor dem angeblichen Weltuntergang, berichtet wurde von zahlreichen anderen. (Wikipedia)

Die Projektion von Allwissenheit und Allmacht auf Personen, Konstruktionen oder Theorien, z.B. bei der Idealisierung von bestimmten historischen Epochen, bei der Verwechslung von Mythen und realer Geschichte (etwa beim Mythos von Atlantis – ein bekanntes Beispiel der esoterischen Geschichtsschreibung) und bei pseudowissenschaftlichen Theoriegebäuden wird ein undifferenziertes kindliches Gemüt angesprochen, das sich von den Mühen der Rationalität entlasten will. Solche Projektionen dienen als Fluchtpunkt aus einer unbarmherzigen und unangenehmen Realität, die das mühevolle Aushalten von Ambivalenzen und Unsicherheiten einfordert.

Natürlich sollen wir unsere Fantasie und die unserer Kinder nicht limitieren. Sie ist frei, und sie muss frei bleiben, weil wir sie brauchen, um unsere Kreativität gedeihen zu lassen. Und solange Fantasie Fantasie und sonst gar nichts ist, sie ist über jede Kritik erhaben. Diese ist erst dort sinnvoll und notwendig, wo Produkte der Fantasie als Realität ausgegeben werden, was eine Form der Täuschung oder des Betrugs, also der Unredlichkeit darstellt, und damit Schaden bewirkt. Mit den narzisstischen Anfälligkeiten der Menschen Geschäfte zu machen, ist wohl nicht strafbar, aber ethisch bedenklich und hat rein gar nichts mit transrationaler Spiritualität zu tun. 


Literatur:
Reinhard Haller: Die Narzissmusfalle: Anleitung zur Menschen- und Selbsterkenntnis. Ecowin Verlag 2013
Arno Hraschan: Über Narzissmus. In: ATMAN-Zeitung 3/2013
Otto F. Kernberg: Narzissmus: Grundlagen – Störungsbilder – Therapie. Schattauer Verlag 2006
Christopher Lasch: Das Zeitalter des Narzißmus. Bertelsmann Verlag 1982
Stavros Mentzos: Neurotische Konfliktverarbeitung. Fischer 1984
Heinz-Peter Röhr: Die Narzißmusfalle. Deutscher Taschenbuch Verlag 2005

Freitag, 8. November 2013

Die zwei Wahrheiten und die Alltagspraxis

Sind wir Wanderer zwischen zwei Welten? Einmal in der einen, ein andermal in der anderen, nirgends wirklich zuhause? Pendeln wir vom einen ins andere, ohne irgendwo jemals wirklich anzukommen? Sollte der Weg nicht darin bestehen, die Welt des Relativen immer mehr hinter sich zu lassen, um schließlich ganz in der Welt des Absoluten aufzugehen? Oder genügt es, ab und zu von den Blüten des Absoluten zu kosten, damit das Leben im Relativen erträglich bleibt? 

Die Welt der relativen Wahrheit ist ein unendliches Feld des Lernens. Die Welt der absoluten Wahrheit ist ein unendliches Feld des Wachsens und Fallens. Das Lernen braucht das Fallen, um an Tiefe und Freiheit zu gewinnen, das Fallen braucht das Lernen, um am Spiel der Gegensätze zu wachsen. Insoferne können wir mit der Vorstellung von einer horizontalen und vertikalen Dimension arbeiten und erkennen, dass wir beides zugleich sein können und müssen, wenn wir nicht flach oder fadendünn werden wollen: Eine absolute Wahrheit ohne Bezug zur relativen ist stumm, in sich verschlossen, von den Menschen und ihrer Welt abgeschnitten. Eine relative Wahrheit ohne Bezug zur absoluten ist schal und oberflächlich, geschwätzig und besserwisserisch. 

Die Vergeistigung des Alltags 


Oft berichten Menschen von der Langeweile und Routine ihres Alltags. Das Wort selber hat schon die lethargische und resignative Schwingung - im Alltag ist das Alltägliche, Gewöhnliche, Uninteressante, Beschränkte. Das eigentliche Leben spiele sich erst dort ab, wo das engmaschige Gewebe dieses Alltags durchbrochen wird - auf einer tollen Urlaubsreise, bei einem schönen Konzert, während einer intensiven Meditationsgruppe. Das Zurückkehren in den "grauen" Alltag wird als Enttäuschung erlebt, und es wird geklagt, wie schnell die Farbenpracht und hohe Schwingung der außergewöhnlichen Erfahrungen verloren geht. Die Sehnsucht besteht darin, ein Leben führen zu können, in dem es keinen Alltag gibt. Wenn man es schon selber nicht wagt, auf eine Abenteuerreise ohne Rückkehr aufzubrechen, liest man von den Erzählungen anderer und schaut sich spannende Filme vor dem Schlafengehen an, um sich möglichst weit weg von der schwarzen Magie des Müssens zu zaubern, die unweigerlich den nächsten Tag von früh bis spät durchziehen wird. 

Der Geschmack der absoluten Wahrheit ist nicht an bestimmte Speisen oder Bilder gebunden, an keine äußerliche Realität, an keine innere Gestimmtheit. Einmal genossen, kann er in alles und jedes eingewoben werden, was wir erleben. In jeder Situation, die uns das Leben beschert, können wir Schätze und Kostbarkeiten finden, wenn wir nur die internen Augen, Ohren und Geschmacksknospen dafür öffnen. Es sind nur Gewohnheiten der faulen Seele, die das Überschreiten einer Schwelle der Intensität erforderlich machen, dass das Außerordentliche am Leben erkannt wird. Wir können statt dessen lernen, in den kleinen Dingen das Große zu entdecken, in den matten Farben die Sattheit und in der Fadesse das Abenteuer. Wir brauchen nur zu tun und zu erleben, was wir gerade tun und erleben. Wenn wir uns ganz dahinein fallen lassen, was im Moment in unserer Erfahrung geschieht, wenn wir ganz darin aufgehen und zu dem werden, was gerade geschieht, dann zeigt sich ein Reichtum und eine Schönheit, die jeden Augenblick zu einer Feier des Lebens werden lässt. 

In dieser innigen Verbindung des Vertikalen und des Horizontalen, des Absoluten und des Relativen, kann jede Erfahrung eine Tiefe erlangen, die das Innere erfüllt, sodass nichts mehr belanglos, nichts mehr fahl und glatt erscheinen kann. Das ist wohl der Höhepunkt der Lebenskunst, die volle Verwirklichung des menschlichen Lebens. 

Die Erdung der Spiritualität 


Nicht nur der Alltag braucht die Vergeistigung. Auch der Geist braucht den Alltag. Er braucht den Kontakt zum Boden, zu den erdigen Dingen und Abläufen. Er wird lebendig, wenn er sich auf die vielfältigen Schönheiten der relativen Welt einlässt. Die Herausforderung, den Alltag zu verzaubern und die Routine zum Tanzen zu bringen, lässt den Geist wachsen. Der Humor ist eines seiner Wundermittel, der das Schräge, Absurde und Komische aufzeigt, das in der Verbohrtheit in die Kleinlichkeiten des Alltags liegt. Er macht auch nicht Halt vor den höchsten Heiligtümern und weisesten Menschen. Sollte das Verweilen im Absoluten oder das Suche der Wahrheit zu viel an Ernst und Strenge bewirken, bringt ein Bad in den irdischsten Formen des Humors alles wieder zurück an den rechten Platz der Menschlichkeit. 

Erst an den verworrenen Windungen des gemeinen Treibens zeigt sich, ob die erfahrenen Einsichten in das Absolute wirklich gediegen und klar sind. Nur eine Spiritualität, die diesen vielfältigen Herausforderungen gewachsen ist, ist von wirklicher Güte und Brillanz. Wie sie mit der Dummheit und Bosheit der Menschen, den Ungerechtigkeiten der Gesellschaft, den Wechselfällen des Beziehungslebens, den Zufälligkeiten des Marktes und Unzuverlässigkeiten des Körpers umzugehen vermag, ist ihr Prüfstein. Hier muss sich ihre Kreativität immer wieder aufs Neue erschaffen und bewähren. Das Reiben an den Verwerfungen und Kalamitäten des immer wieder neu sich erschaffenden Chaos des Menschenlebens poliert den Kristall und verleiht ihm immer wieder neue funkelnde Facetten. Das Umgehen mit solchen Prüfungen ist die eigentliche Aufgabe des Lebens, das nach Ganzheit und Vervollkommnung strebt, und weiß, dass es im Tanz von Relativem und Absolutem kein Ende gibt, sondern beständiges neues Erleben im „strebenden Bemühen“ (Goethe). 

Damit der Zugang zur absoluten Wahrheit nicht verschüttet wird von den vielfältigen Anforderungen und Versuchungen der Alltagswelt, braucht es spezielle Zeiten, die nur ihr gewidmet sind. Darin liegt der Sinn der rituellen Praktiken, wie sie in den Religionsgemeinschaften gepflogen werden, und der meditativen Übungen, die in Gruppen oder alleine durchgeführt werden können. Der Sinn des Rückzugs aus der Umtriebigkeit liegt nicht im Verschwinden in einer Kontrastwelt, sondern in einer Stärkung für das Wieder-Zurückkommen und Mitmischen in der Geschäftigkeit. Damit wird in das relative Tun eine Note hineingewoben, ein Klang, der ihm einen tieferen Sinn verleiht, eine tiefere Verbundenheit mit allem, was geschieht. 

Eine Spiritualität, die sich hermetisch in sich selbst zurückzieht und den Kontakt zur Lebenswelt der "relativen" Menschen verliert, wird verarmen und vertrocknen. Sie wird keine Worte mehr finden, um sich mitzuteilen, und sie wird von den anderen Menschen ignoriert werden. So bleibt sie unfruchtbar für die Erfordernisse der Weiterentwicklung. Pflegt sie jedoch die Beziehung zu den verschiedenen Lebensformen der Menschen, sucht sie immer wieder den Austausch, dann kann sie Wertvolles beitragen zur Verbesserung der Qualität des Lebens in den Kreisen der Gesellschaft. 

Was hat der Buddha auf dem Marktplatz verloren? 



Er muss sein Gemüse und Obst einkaufen und mit dem Händler einen guten Preis aushandeln. Dazu muss er die Logiken der relativen Wahrheit kennen, um nicht als naiver Tor durch die Welt zu taumeln. Er braucht die Bereitschaft, immer weiter und immer Neues zu lernen, weil sich die relative Welt fortwährend weiter entwickelt. So lernt er im Gemüsehändler eine Facette des Menschseins kennen, die auch eine Facette von sich selbst ist. Ohne den Händler würde er sie nie in sich finden. Und er übt sich in einer Weise des Redens, wie sie nur mit dem Gemüsehändler möglich ist, eine Form des Austausches, in der sich seine Buddhanatur in ganz spezieller Weise nach außen hin zeigt.

Zugleich erkennt er in dem Weben und Streben des Marktplatzes eine tiefere Wahrheit über das Leben: dessen permanentes Entstehen und Vergehen. Das Erleben der Unbeständigkeit in allen relativen Belangen verbindet ihn mit dem absoluten Wissen. Nichts ist von Dauer, und nichts braucht deshalb festgehalten zu werden. Da alles in permanenter Veränderung ist, gilt es, sich immer wieder dem Fließen anzuvertrauen, statt ihm Widerstand entgegenzusetzen. 

Hier unterscheidet er sich vom Gemüsehändler, dessen Blick nicht über sein Gemüse hinausreicht. Sein Leben hängt ab von den Gemüsepreisen, von den Saisonen und der Kauflust der Kunden. Nur Teil der relativen Welt zu sein, bedeutet, ihrer Willkür ausgesetzt zu sein, wie ein Tischtennisball den Wellen des Meeres. 

Der Weise dagegen kann inmitten der Wellengänge des großen Ozeans des Lebens immer wieder zur Gelassenheit und Ruhe in sich selbst finden. Er wird damit zum Modell für ein Leben im Relativen und jenseits des Relativen, für ein Leben im Vertikalen wie im Horizontalen. 

Vielleicht macht sich der Gemüsehändler, inspiriert von seinem Buddha-Kunden, eines Tages auf den Weg, die tieferen Gesetzmäßigkeiten des Menschlichen zu erforschen und wird dann selber ein Buddha auf dem Marktplatz. 

Einfach in die Einheit von Absolutem und Relativem eintauchen 


Wer - wie jeder Mensch - des bewussten Atmens mächtig ist, weiß im Grunde, wie in jedem Augenblick das Mysterium der Verbindung von Absolutem und Relativem geschehen kann: Im Einatmen die Weite und Vielfalt der Welt, im Ausatmen die Einfachheit des In-die-innere-Weite-Fallens, und beides im jeweilig Anderen erkannt und gelebt werden kann. Der Atemvorgang wird vom vergänglichen Körper in Gang gehalten, vergänglich wie jeder Atemzug selbst, und der Atem lässt uns mehr und ganz anderes spüren, die Qualität des einfachen, zeitlosen Daseins. Mit dieser Einfachheit können wir beginnen, Relatives und Absolutes als Eines zu erfahren, und immer wieder können wir in sie eintauchen. 

Vgl. Die zwei Wahrheiten, Die zwei Wahrheiten und das Ego, Die zwei Wahrheiten und die Religionen, Die zwei Wahrheiten und die Sprache

Dienstag, 5. November 2013

Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit


Der deutsche Philosoph Thomas Metzinger versucht in einem interessanten Artikel die Themenbereiche von Philosophie, Religion und Spiritualität in eine neue Beziehung zu bringen. Viele seiner Gedanken decken sich mit den auf dieser Blogseite vertretenen Ansichten und bringen auch neue Einsichten in die Zusammenhänge. Ich gebe hier einen Überblick über diesen Text. Die Zahlen in Klammer geben die Seitenzahl im Text wieder. Am Ende finden sich einige weiterführende Anmerkungen von meiner Seite.

Der Ausgangspunkt: Drei Grundthesen


1)      Das Gegenteil von Religion ist nicht Wissenschaft, sondern Spiritualität.
2)      Das ethische Prinzip der intellektuellen Redlichkeit kann man als einen Sonderfall der spirituellen Einstellung beschreiben.
3)      Die wissenschaftliche und die spirituelle Einstellung entstehen in ihren Reinformen aus derselben normativen Grundidee.

Unter Spiritualität wird vor allem eine Praxis und nicht so sehr eine Theorie, eine bestimmte Form des inneren Handelns und nicht eine bestimmte Frömmigkeit oder ein dogmatischer Glaube verstanden.  „Bei der spirituellen Erfahrung geht es nicht nur um Bewusstheit als solche, sondern auch im ihre leibliche Verankerungen, um die subjektive Innenseite dessen, was … embodiment oder grounding genannt wird. Das Ziel ist immer der Mensch als Ganzer.“ (7)

Spiritualität wird auch als epistemische, also auf Wissen gerichtete Einstellung verstanden:
„Spirituelle Personen wollen nicht glauben, sondern wissen.“ (8) „Die spirituelle Einstellung ist eine Ethik des inneren Handelns um der Selbsterkenntnis willen.“ (9)
Metzinger greift dabei auf den Begriff der Unbestechlichkeit nach Krishnamurti zurück, „der semantische Kern eines wirklich philosophischen Begriffs der Spiritualität.“ (10)
Darunter wird eine Unbestechlichkeit gegenüber:
  • Versuchen, die Meditationspraxis an metaphysische Theorien zu binden,
  • ideologischen Formen des rationalistischen Reduktionismus
  • und sich selbst gegenüber verstanden.
Das führt zu dem zentralen Begriff des Textes, die intellektuelle Redlichkeit. Der Begriff bedeutet, „dass man nicht vorgibt, etwas zu wissen oder auch nur wissen zu können, was man nicht wissen kann, dass man aber trotzdem einen bedingungslosen Willen zur Wahrheit und zur Erkenntnis besitzt, und zwar selbst dann, wenn es um Selbsterkenntnis geht, und auch dann, wenn Selbsterkenntnis einmal nicht mit schönen Gefühlen einhergeht oder der akzeptierten Lehrmeinung entspricht.“ (11)

Meditation zielt „auf diese Erhöhung von mentaler Autonomie. Meditation kultiviert die geistigen Bedingungen der Möglichkeit von Rationalität. Es geht nämlich um die innere Fähigkeit, nicht zu handeln, um die sanfte, aber sehr präzise Optimierung von Impulskontrolle und eine schrittweise Bewusstwerdung der automatischen Identifikationsmechanismen auf der Ebene unseres Denkens.“  „Das aufrichtige Streben nach intellektueller Integrität ist in Wirklichkeit ein wichtiger Sonderfall des Strebens nach moralischer Integrität.“ (12)

Drei Brücken zwischen der spirituellen Praxis und dem rationalen Denken


Die erste Brücke: „Bei beiden geht es um eine Ethik des inneren Handelns um der Erkenntnis willen. Und in beiden Fällen ist das Ziel die systematische Erhöhung von geistiger Autonomie.“ (14)
Die zweite Brücke: die Lauterkeit der Absicht, sich selbst gegenüber aufrichtig zu sein (nach Immanuel Kant).
Die dritte Brücke bildet Nietzsches Wille zur Wahrhaftigkeit: „Er erlaubt es uns, die von der Evolution fest in uns eingebaute Suche nach emotionaler Sicherheit und guten Gefühlen loszulassen und der Tatsache ins Auge zu schauen, dass wir radikal sterbliche Wesen sind, die zu systematischen Formen der Selbsttäuschung neigen. Wahrhaftigkeit uns selbst gegenüber erlaubt es, das Wahnhafte und die systematische Endlichkeitsverleugnung in unserem Selbstmodell zu entdecken.“ (15)

Wie hast du‘s mit dem Glauben?


Wann ist es ethisch in Ordnung, an etwas Bestimmtes zu glauben, sich also eine bestimmte Überzeugung „zu Eigen“ zu machen? Der Evidentialismus ist eine Erkenntniseinstellung, bei der man nur an etwas glaubt, für das man wirklich Argumente und Belege hat.
Er steht im Gegensatz zum Dogmatismus (Es ist legitim, an einer Überzeugung festzuhalten, einfach weil man sie schon hat) und zum Fideismus (Es ist legitim, an einer Überzeugung auch dann festzuhalten, wenn es keine guten Gründe oder Evidenzen für sie gibt, sogar angesichts überzeugender Gegenargumente). 

Dogmatismus und Fideismus beinhalten die Verweigerung jeder ethischen Einstellung zum inneren Handeln überhaupt, einen Mangel an innerem Anstand, vorsätzliche Selbsttäuschung, systematisches Wunschdenken oder auch Paranoia, „während das psychologische Ziel der Ethik eines Glaubens eine ganz bestimmte Form von geistiger Gesundheit ist. Ich nenne diese Form von geistiger Gesundheit ‚intellektuelle Integrität‘.“ (16)

Nach dieser Unterscheidung kann Metzinger den Vertretern der organisierten Religion aller Art die intellektuelle Redlichkeit absprechen. Statt dessen kommt es zur Missachtung des Prinzips der Selbstachtung, zum Verlust der Würde und der geistigen Autonomie. Das betrifft nicht nur die Vertreter der Kirchen, „sondern auch einen sehr großen Teil der so genannten ‚spirituellen Alternativkultur‘, die durch infantile Selbstgefälligkeit und grobe Formen der intellektuellen Unredlichkeit gekennzeichnet sind.“ (16f) „Wenn man ernsthaft an der Frage nach der Möglichkeit einer säkularisierten Spiritualität interessiert ist, dann muss man alle relevanten empirischen Daten und alle möglichen Gegenargumente in Betracht ziehen.” (17)

Selbsttäuschungen


Die Evolution des Glaubens hat „viel mit der Evolution von nützlichen Formen der Selbsttäuschung zu tun.“ (19) Im Laufe der Entwicklung der Menschen haben sich falsche Überzeugungen, positive Illusionen und komplette Wahnsysteme als zeitweilig nützlich erwiesen und als genetische Programme verfestigt. „Selbsttäuschung lässt uns vergangene Niederlagen vergessen, sie erhöht Motivation und Selbstvertrauen.“ (20)
Solche Verdrängungsmechanismen bieten nicht nur eine defensive Funktion, indem sie den inneren Zusammenhalts einer Gruppe schützen. „Sie dienen allem Anschein nach auch auf sozialpsychologischer Ebene als wirksame Strategie, um genau die Information zu kontrollieren, die für andere Menschen verfügbar ist, um diese effektiver zu täuschen – zum Beispiel um andere wirklich glaubhaft davon zu überzeugen, dass man moralischer, stärker, schlauer oder attraktiver ist, als es tatsächlich der Fall ist. Selbsttäuschung dient also nicht nur dem Selbstschutz, sondern auch der Aggression, etwa dem Versuch der Erhöhung des eigenen sozialen Status.“ „Wer es also ernst meint mit dem philosophischen Projekt der Selbsterkenntnis, muss die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass intuitive Gewissheiten systematisch in die Irre gehen können und dass es auch beim ‚direkten Blick ins eigene Bewusstsein‘ jederzeit introspektive Illusionen geben könnte.“ (20)

Wir haben also eine tief in uns verankerte Neigung, uns selbst zu täuschen und Dinge für wirklich zu halten, die es gar nicht sind. Solche Mechanismen haben mit der Entwicklung von Religionen zu tun und wurden auch von diesen zur Etablierung ihrer Monopolstellung in der Wirklichkeitsdeutung und Sinnerzeugung genutzt.

Die „Terror management theory“


Das Bewusstwerden der eigenen Sterblichkeit erzeugt einen direkten Konflikt mit unserem Selbsterhaltungstrieb und damit auch das Potenzial für eine lähmende, existentielle Form der Angst. Wir versuchen diese zu bewältigen, indem wir Sicherheit und Stabilität in einer Weltanschauung suchen, die wir als eine Art „Angstbuffer“ benutzen. Ein fester ideologischer Rahmen ermöglicht es uns dann auch auf emotionaler Ebene, unser Selbstwertgefühl zu stabilisieren, zum Beispiel durch einen religiösen Glauben.“ (21)
Metzinger zitiert Forschungen aus dem Bereich der  Terror management theory. Sie zeigt: „Je schlechter es uns gelingt, Informationen über die eigene Sterblichkeit zu verdrängen, desto stärker identifizieren wir uns mit dem von uns gewählten ideologischen System.“ (21)

Das „adaptive Wahnsystem“


Unter Wahn ist eine offensichtlich falsche Überzeugung zu verstehen, die mit einem starken subjektiven Gewissheitserleben einhergeht und die durch vernünftige Argumente oder empirische Belege nicht korrigiert werden kann. Ein System aus Wahnvorstellungen ist ein ganzes Netzwerk zusammenhängender Überzeugungen, das auch von vielen Menschen miteinander geteilt werden kann. Wahn beeinträchtigt immer die Lebensführung und erzeugt Leidensdruck, das gilt auch für religiöse Glaubenssysteme. „Eine Einschränkung von intellektueller Redlichkeit führt zu einem Verlust von Autonomie und Flexibilität. Sie hat die Menschheit wiederholt in politische und militärische Katastrophen geführt, in Diktaturen und Kriege.“ (21)
Natürlich kann es kurzfristig Trost, intensive Gemeinschaftserfahrungen, Geborgenheit bei Unsicherheit bewirken, „metaphysische Placebos, die in der existentiellen Palliativmedizin eingesetzt werden. Für die Menschheit als Ganze ist diese Strategie aber objektiv nicht nachhaltig. … Die lokale, kurzfristige Stabilisierung des Selbstwertgefühls erzeugt auf globaler Ebene immer wieder unfassbares Leid.“ (21)

 „Dass ein Wahnsystem ‚adaptiv‘ ist, bedeutet, dass es eine Anpassungsleistung darstellt.“ Es schützt vor Gefahr, wie sie z.B. durch „das plötzlich auftretende, explizite und bewusst erlebte Wissen um die eigene Sterblichkeit“ ausgelöst wird. (21) Religion entsteht zuerst aus Bestattungsriten und aus dem Ahnenkult, also aus „systematischen Formen der Sterblichkeitsverleugnung – Coping-Strategien in Bezug auf die eigene Endlichkeit.“

Die Evolution hat „allem Anschein nach erfolgreiche Formen von geistiger Krankheit hervorgebracht.“ Sie hat möglicherweise Vorgänge in uns installiert, die „das Selbst sozusagen von Geburt an korrupt machen.“ Wir sind deshalb ethisch nicht verantwortlich, weil dieser Mechanismus von der Evolution in die Architektur unserer Gehirne und damit auch in unseren Geist einprogrammiert wurde. Wenn wir jedoch von dieser Tatsache wissen, ergibt sich „eine direkte ethische Verpflichtung, die verschiedenen Mechanismen der Selbsttäuschung so gut wie irgend möglich zu verstehen, … mit allen Formen des epistemischen Handelns gleichzeitig.“ (22)

Die Absicherung von solchen Selbsttäuschungsvorgängen verläuft sowohl Bottom-up, durch die biologische Einprogrammierung der Selbsttäuschung, wie Top-Down: „Die gesellschaftliche und kulturelle Dynamik – für die wir als einzelne Menschen eine Mitverantwortung tragen – kann den menschlichen Geist natürlich auch ‚von oben‘ versklaven, zum Beispiel durch die verschiedensten Weltanschauungen und Ideologien.“ (22)

Aber auch die intellektuelle Redlichkeit könnte ideologisch werden, wie eine neue Religion. Deshalb ist es notwendig, „den Mechanismen, die seine innere Integrität bedrohen, so direkt wie möglich ins Angesicht zu schauen – und zwar immer wieder von Neuem. Man kann das von innen tun, oder von außen.“ (22)


Die Existenz Gottes und das Weiterleben nach dem Tod


In Bezug auf diese "letzten" Fragen besteht der aktuelle Stand von Wissenschaft und Philosophie bei der überwiegenden Zahl der Forscher darin, dass es keine vernünftigen Argumente sowohl für die Existenz Gottes als auch für ein Weiterleben nach dem Tod gibt. Empirische Befunde dazu sind ohnehin nicht möglich. Es geht nun bei der intellektuellen Redlichkeit um „etwas viel Einfacheres, Bescheideneres: sich selbst gegenüber ehrlich zu sein und einfach nur die Tatsache anzunehmen, dass dies im Moment der aktuelle Stand der Dinge in Wissenschaft und Philosophie ist. … Es sieht im Moment so aus, als ob Befreiung immer nur innerweltliche Befreiung sein kann und Erlösung immer nur innerweltliche Erlösung. Es geht dann nicht mehr um ein Jenseits oder eine mögliche Belohnung in der Zukunft, sondern immer nur um den gelebten Augenblick der Achtsamkeit, den Moment des Mitgefühls, um das aktuelle Jetzt.“ (24)

Was ist Erleuchtung?


Was unter Erleuchtung zu verstehen sei, wird in den Hunderten von Berichten aus vielen Kulturen und aus allen Zeiten ganz unterschiedlich beschrieben. „Die buddhistische Philosophie zum Beispiel ist sich in keinem Stadium ihrer Geschichte wirklich darüber einig gewesen, was Erleuchtung überhaupt ist oder sein könnte.“ (25)

Weiters gibt es bei dieser Frage ein einfaches logisches Problem: Wenn Erleuchtung in der Auflösung des Selbst besteht, gibt es nichts, was über diese Erfahrung berichten könnte. „Aber genau dieser Punkt verbindet ja dann auch wieder die ernsthaft spirituell Praktizierenden mit der Sichtweise der Wissenschaft.“ (26) Es scheint so zu sein, „dass die Komponente der existentiellen ‚Befreiung‘ … sich wegen ihrer Unaussprechlichkeit nicht operationalisieren und wissenschaftlich behandelbar machen lässt. Wissenschaftlich lässt sich dieser Aspekt immer nur als eine ganz und gar vergängliche und auf physikalischen Vorgängen im Gehirn beruhende Form des Erlebens fassen, und nicht als eine transzendente Form des Wissens. … Wenn ein Erkenntnisanspruch öffentlich erhoben wird, dann muss man uns erklären, was genau denn jetzt die fragliche kontemplative ‚Einsicht‘ oder das Wissen hinter der spirituellen ‚Erfahrung‘ ist, was genau es bedeutet, dass ganz bestimmte veränderte Bewusstseinszustände eine andere Art von Erkenntnis transportieren, die nichts mit Sprache, Theorien oder rationalen Argumenten zu tun hat. … Eine aufgeklärte, säkularisierte Form von Spiritualität müsste sich … genau dadurch auszeichnen, dass sie von den … Entwicklungen in der modernen Philosophie und Wissenschaft nicht wirklich bedroht wird, sondern im Gegenteil sogar das Potenzial zu ihrer Integration besitzt.“ (26)


Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit


„Das Ideal der intellektuellen Redlichkeit … ist etwas, das ganz neu ist und sich erst an wenigen Stellen auf unserem Planeten … zu realisieren beginnt. Was die intellektuelle Redlichkeit möglich gemacht hat, waren aber die ursprünglich religiösen Ideale der bedingungslosen Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit gegenüber Gott. In der reflexiven Wendung auf den Menschen selbst sind daraus die beiden ethischen Ideale der bedingungslosen Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber geworden… Eine zentrale Einsicht, die der spirituellen Einstellung schon immer zugrunde liegt, ist dann allerdings, dass es mehr als eine Form von Erkenntnisfortschritt, mehr als eine Form des Wissens gibt.“ (27)

Der Vergleich von Religion und Spiritualität zeigt: „Religion opfert die eigene Vernünftigkeit für die emotionale Kohärenz des Selbstmodells. Spiritualität löst das phänomenale Selbst auf. Religion ist von der Grundstruktur her dogmatisch und damit intellektuell unredlich. Spirituelle Menschen werden immer offen für rationale Argumente sein, denn es gibt für sie keinen Grund, sich zu verschließen. Religionen organisieren sich und missionieren. Spiritualität ist etwas radikal Individuelles und typischerweise eher still.“ „Vieles, was heute unter dem Deckmantel der Spiritualität auftritt (ist) natürlich nichts anderes als Religion in diesem … Sinne.“ (28)

Es gibt zwischen Wissenschaft und spiritueller Einstellung zwei Aspekte einer verbindenden Grundeinstellung:
1)      Der unbedingte Wille zur Wahrheit, aus Erkenntnis und nicht aus dem Glauben.
2)      Das normative Ideal der absoluten Ehrlichkeit sich selbst gegenüber.

Die Zukunft


„Wir wissen einfach nicht, wohin uns der innere und der äußere Erkenntnisprozess noch führen werden. Eine ethische Einstellung ist nicht zwingend davon abhängig, dass die Aussicht auf einen Erfolg der eigenen Handlungen groß ist. … Das Mehr-Wissen-Wollen ist die einzige Option, die wir haben, wenn wir unsere Würde und den gegenseitigen Respekt voreinander und auch vor uns selbst nicht aufgeben wollen.“ (31)
„Redlichkeit im fraglichen Sinn ist eine intellektuelle Tugend, die über die Zeit hinweg kultiviert werden kann, genau wie zum Beispiel die inneren Tugenden einer präzisen, sanften Achtsamkeit oder des Mitgefühls geistige Fähigkeiten sind, die aktiv erworben und schrittweise entwickelt werden können.“ (33)

Zur Weiterführung


Soweit eine Zusammenfassung des Textes von Thomas Metzinger, Philosophieprofessor in Mainz. Die in diesem Blog mehrfach vertretene Argumentationslinie, was das Thema „Esoterik“ anbetrifft, findet durch die Begrifflichkeit dieses Textes eine ethische Zuspitzung und Verschärfung. Religiös oder esoterisch zu glauben, ist nicht nur eine Form der Selbsttäuschung, die uns unterläuft, sondern beinhaltet auch eine Form der Unredlichkeit und der Unehrlichkeit, eine Form der Selbstverleugnung, von der wir uns distanzieren sollten, sobald wir uns ihrer bewusst werden. Auch sind wir aufgefordert, dort, wo andere solche Unredlichkeiten verbreiten, dagegen Stellung zu beziehen.

Wer den Weg der Meditation geht, hat nicht nur die Verpflichtung, den Blick immer wieder nach innen zu richten und dort die Wahrheit zu suchen. Er oder sie hat auch dafür zu sorgen, dass die inneren Erkenntnisse einer intellektuellen und damit auch öffentlichen Reflexion standhalten können. Das Innere muss sich auch im Äußeren, im Diskurs der an Vernunft ausgerichteten Öffentlichkeit bewähren.

Dieses Veröffentlichen der Innenerkenntnis hat auch eine gegenläufige Seite: Es handelt sich beim Wissen, das die meditierende Person erwirbt, um wissenschaftlich und gesellschaftlich relevante Erkenntnisse. Was ich im Inneren erlebe, ist bedeutsam nicht nur für mich, sondern auch für die Menschheit als ganzer. Wir brauchen für den Fortschritt zu einer besseren Gesellschaft all das Wissen darüber, wie im Inneren Frieden, Gerechtigkeit und Anspruchslosigkeit gefunden werden können. Dazu hat jede Person, die den Weg der Meditation und Innenerforschung geht, etwas Wertvolles beizusteuern. Es handelt sich um ein sinnstiftendes Wissen, das die Gesellschaft dringend benötigt.

Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, dass sich die Wissenschaft in ihrer Methodologie für ein neues Paradigma öffnet, das die Erkenntnisse des inneren Sinnes in einer an den wissenschaftlichen Standards orientierten Form aufbereiten und für die Gesellschaft nutzbar machen kann.

Eine andere Weiterführung des Textes von Thomas Metzinger zur Position der Psychotherapie zwischen Spiritualität und Wissenschaft möchte ich in einem weiteren Blogbeitrag diskutieren.

Für alle, die den Text genauer nachlesen wollen:

Für alle, die lieber Videos schauen: Auf Youtube finden sich ein Vortrag von Thomas Metzinger zu dem Thema (6 Teile).