Freitag, 28. Oktober 2022

Krisen und Krisenresilienz

Im vorigen Artikel war die Rede von Störungen im Alltag. Es gibt Störungen, die von Dauer sind, ohne dass wir uns an sie gewöhnen können, und die wir als sehr heftig erleben. Wir nennen sie dann Krisen. Es sind Anhäufungen von Störungen, die unsere Verarbeitungskapazitäten überschreiten. Persönliche Krisen entstehen durch Krankheiten oder psychische Überlastungen wie z.B. beim Burnout. Gesellschaftliche Krisen entstehen, wenn eine Gesellschaft mit den Herausforderungen nicht mehr zu Recht kommt, die an sie gestellt werden und viele Individuen darunter leiden.

Krisen sind also massive Enttäuschungen von Erwartungen. Sie erschüttern eingeübte Lebensgewohnheiten und unterbrechen ritualisierte Abläufe, was verunsichert und als sehr belastend erlebt wird und Stress erzeugt. Zukunftsbilder und Pläne müssen über den Haufen geworfen werden, und sie zerplatzen wie Seifenblasen. Die Menschen fühlen sich ausgeliefert und ohnmächtig, ohne Chance, den Lauf der Dinge zu beeinflussen.

Die Pandemie als Krise

In der Pandemiezeit sind viele in Krisen gestürzt – Ängste um die eigene Gesundheit und die von Angehörigen, Ängste um den Beruf und die Ausbildung, Verlustängste wegen abgeschotteter und unterbrochener Beziehungen. Dazu kamen und kommen die von Verschwörungstheorien, Halbwahrheiten und verzerrten Forschungsergebnissen erzeugten und geschürten Ängste, die das Krisenbewusstsein zusätzlich aufgeladen haben. Viele Menschen mussten viele ihrer Gewohnheiten aufgeben und auf viele Selbstverständlichkeiten des täglichen Lebens verzichten. Diese massiven Enttäuschungen und Verunsicherungen haben Depressionen ausgelöst und zu anderen psychischen Symptomen geführt. Denn wir greifen in Krisen auf unsere Überlebensprogramme zurück. Da sie uns schon irgendeinmal geholfen haben, sollen sie uns auch jetzt mehr Sicherheit verschaffen. Sie engen allerdings unsere Flexibilität und unsere Kreativität ein und schneiden uns von unserem lösungsorientierten Potenzial ab, sodass wir erst recht nicht mit den Herausforderungen der Krise zurande kommen. 

Traumaketten

Alle Krisen docken zusätzlich an das kollektive Krisengedächtnis an, sodass die aktuellen Ängste durch vergangene Ängste verstärkt werden. Die subjektive Krisenresilienz, also die individuelle Fähigkeit, mit Krisen konstruktiv umgehen zu können, hängt sehr von der eigenen persönlichen Vorgeschichte ab. Je mehr Traumatisierungen in der eigenen Geschichte vorgekommen sind, desto verletzbarer und infizierbarer ist das Bewusstsein für aktuelle Krisenbelastungen. Außerdem dringen Verschwörungsgeschichten und vereinfachende Erklärungstheorien leichter in den Innenraum ein und vermindern die Fähigkeit zur adäquaten Wirklichkeitswahrnehmung. Die Personalisierung von komplexen Zusammenhängen, die Fixierung auf Retter und Bösewichte und einfache Schwarz-Weiß-Schemata vermitteln zwar eine gewisse kognitive Orientierung, die einigermaßen Sicherheit gibt, aber sie hilft in der Praxis nicht weiter, weil sie auf realitätsfremden Annahmen und Schlussfolgerungen beruht.

Große Zerstörungen, große Chancen?

Die Krisenbelastungen in Kriegsgegenden sind natürlich noch viel höher und hinterlassen deshalb enorm tiefere Spuren im kollektiven Gedächtnis der betroffenen Länder und der Menschheit insgesamt. Aber selbst beim düsteren Szenario des Ukrainekrieg gibt es Perspektiven der Hoffnung: Vielleicht wird der furchtbare Ukrainekrieg zum wichtigsten Wendepunkt in der Geschichte des gepeinigten Landes und führt es in eine lichtvollere Zukunft? Vielleicht führt der Krieg in Russland zu neuen Entwicklungen für mehr Demokratie und Meinungsfreiheit?

Der erste Weltkrieg mit seinen Millionen an Todesopfern hat zur Gründung der ersten internationalen Staatenvereinigung und der zweite Weltkrieg mit noch viel mehr Opfern und Zerstörungen zur Gründung der UNO geführt. Die verheerenden Erfahrungen mit den beiden Hauptkatastrophen des vergangenen Jahrhunderts haben bei vielen Menschen eine zuvor noch nie gekannte Friedensbereitschaft wachgerufen und die Ächtung des Krieges zu einem ethischen Standard gemacht. 

Lernchancen

Krisen enthalten große Lernpotenziale, die nach dem Überstehen der Krisenzeit genutzt werden können. Wir werden uns zwar nie mit den angerichteten Zerstörungen und geopferten Menschenleben abfinden können – die tiefen Spuren des vergossenen Blutes sind unauslöschlich in unser kollektives Gedächtnis eingesunken. Wir können aber unsere Energien darauf bündeln, die Chancen, die in einer überwundenen Krise enthalten, zu nutzen, um die Menschheit zu mehr Menschlichkeit weiterzuentwickeln.

Das Lernen durch die Pandemie

Die Pandemie hat nicht nur bei vielen Menschen und in vielen Bereichen die digitalen Fähigkeiten verbessert, sondern auch neue Einstellungen zur Gesundheit, zum Gesundheitswesen und zu den Gesundheitsberufen hervorgebracht. Es hat sich als gesellschaftlicher Konsens herausgebildet, dass der Wert jedes einzelnen Menschenlebens über betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzenrechnungen und über kapitalistische Gewinnerwartungen gestellt werden muss – oder: Die Ethik ist wichtiger und maßgeblicher als die neoliberale Ideologie.

Klima und Krisenbewusstsein

In Bezug auf die Klimakrise sind wir als Gesellschaft viel zu weit vom Krisenbewusstsein und damit von der Lernzone entfernt. Es braucht offenbar noch mehr und noch schlimmere Katastrophen, damit eine kritische Masse für substantielle Veränderungen entsteht. Viele Menschen sind erst dann bereit, ihr Leben zu verändern und gesellschaftliche und politische Änderungen zu fordern, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht – wie den Menschen in Bangladesch und Pakistan, wenn also die Krise an die eigene Haustüre klopft und sie die Bedrohung hautnah erleben müssen.

Zerstörung und Neubeginn

Krisen haben Ähnlichkeiten mit Geburtsprozessen. Das Alte wird zerstört und muss unwiederbringlich hinter sich gelassen werden. Vom Alten zum Neuen muss bedrohliche eine Krisenphase durchlaufen werden, ohne die das neue Leben nicht gewonnen werden kann. Es kann umgekehrt sein, dass wir Krisen nur deshalb als so belastend erleben, weil wir den krisenhaften Geburtsprozess durchlaufen haben und weil sich unser Unterbewusstsein an all die lebensbedrohlichen Situationen dieses dramatischen Ablaufs erinnert. Jede spätere Krise bringt die Ängste aus den früheren Krisen hoch – und aktiviert das Unterbewusste, noch mehr nach möglichen Gefahrenquellen zu fahnden, auch deshalb sind Theorien, die große Katastrophen ankündigen, bei traumatisierten Menschen besonders beliebt. 

Krisen fordern unsere Anpassungs- und Lernbereitschaft heraus und können, wenn sie zu intensiv erlebt werden (verstärkt durch Vorbelastungen), auch zur Lähmung und Resignation führen. Die Chancen, die in jeder Krise liegen und durch die neue Kräfte mobilisiert werden können, können nur genutzt werden, wenn es gelingt, die Macht der Ängste, die uns blockieren, zu überwinden und den Mut des Neuanfangens zu spüren. 

Krisenresilienz

Krisenresilient können wir nur werden, wenn wir einen stabilen Bezug zur äußeren Realität herstellen und aufrechterhalten können. Auf diese Weise gelingt es uns, die Ängste mit der Realität zu konfrontieren und unsere Handlungsmöglichkeiten nach ihrer Tauglichkeit und Umsetzbarkeit zu bewerten. Wir sollten unsere Befürchtungen durch Vertrauen und unsere Verzweiflung durch Hoffnung ersetzen. Wir sollten uns auf unseren Mut besinnen, der uns schon in vielen Situationen unseres Lebens weitergeholfen hat. Krisen sind Wendepunkte, und wenn wir sie in der richtigen Weise nutzen, können wir gestärkt aus jeder Krise hervorgehen.

Zum Weiterlesen:
Störungen zerstören Illusionen
Die Kraft der Zerstörung
Brauchen wir Krisen, um die globalen Probleme zu lösen?
Krisenängste und ihr Jenseits
Die Corona-Krise als Chance


Freitag, 21. Oktober 2022

Störungen zerstören Illusionen

Störungen sind Ereignisse, die wir nicht voraussehen und die uns aus etwas herausreißen, was uns gerade beschäftigt oder fesselt. Wir lesen eine spannende Passage in einem Roman, und es klingelt an der Tür. Wir haben einen tollen Einfall, das Telefon läutet und die Idee ist weg. Wir sind in ein anregendes Gespräch mit einer Freundin vertieft, und jemand anderer mischt sich lautstark ein. Wir wandern beschaulich durch den Wald und plötzlich hören wir eine Sirene.

Dopamin
Jede Störung, die wir erleben, enthält ein Element der Zerstörung: Es wird der Zustand, in dem wir uns gerade befinden, unterbrochen und verändert. In dem Zustand ist auch eine Erwartung enthalten, die jetzt enttäuscht und damit zerstört wird. Wir müssen unser Inneres umgruppieren und neu aufstellen, damit es adäquat dem veränderten Außen begegnen kann. In unserem Gehirn wird ein Dopamin-Zyklus unterbrochen, und statt des angenehm prickelnden Gefühls herrscht plötzlich Flauheit und Leere. Denn Dopamin ist der Botenstoff,
der unsere positiven und motivierenden Zukunftsabsichten unterstützt und  der ausgeschüttet wird, wenn wir uns im Fluss befinden und daraus eine positive Zukunftserwartung aufbauen.

Erwartungssteuerung

Wir sind Gewohnheitstiere und stark von unseren Erwartungen gesteuert. Jede Überraschung wirft uns aus der Bahn, genauer gesagt, aus den Schienen, die wir uns selber mit unserer Fantasie in die Zukunft hinein gelegt haben. Manche Überraschungen überwältigen uns mit Euphorie, wie der berühmte Lottogewinn oder ein unerwartetes Liebesgeständnis, und manche mit Frustration, wie z.B. wenn sich der Lottogewinn als Irrtum herausstellt oder wir erkennen, dass das Liebesgeständnis nicht ernst gemeint war. 

Vor allem in den letzteren Fällen fühlen wir uns von der Realität gestört, die unsere Absichten und Pläne nicht beachtet, und wir kommen dabei zur Annahme, dass sie uns einfach ignoriert. Das Fantasieszenario, das in unserem Kopf entstanden ist, hat sich so fest etabliert, dass sofort ein Leidenszustand entsteht, wenn die Fantasie von der Wirklichkeit zerstört wird. Wir leiden am Festhalten und an unserer Sturheit, und nicht an der widerborstigen Realität. Denn die Quelle unseres Leidens ist in unserem Inneren, und das Außen liefert nur den Anlass. Aber diese Erkenntnis fällt uns bestenfalls später ein.

Die Zerstörung von Fantasien

Den organischen Hintergrund von solchen Minikrisen könnte der plötzliche Dopaminabsturz bilden. Wir stellen uns vor, wie wir im strahlenden Sonnenschein wandern, und tatsächlich beginnt es zu regnen, als wir aus dem Haus treten. Die Stimmung fällt, die Frustration steigt. Wir ärgern uns und schimpfen auf das unzuverlässige Wetter. 

Wir tun dabei so, als wären wir die Herren oder Herrinnen der Wirklichkeit und als hätte sie uns einen bösen Streich gespielt. In der Frustration sind wir nicht nur traurig (wir müssen Abschied nehmen von einer Erwartung), sondern auch zornig (wir sind sauer, weil sich die Umwelt nicht nach unseren Erwartungen richtet, sondern sie einfach ohne jeden Federlesens zerstört) und irritiert, weil unsere Pläne vereitelt wurden. 

Es ist natürlich nur unser Fantasiegebilde, das zerstört wird, aber das ist unsere aktuelle innere Realität, die voll präsent ist und uns als ähnlich mächtig erscheint wie die äußere. In solchen Momenten sind wir von diesen Fantasien beherrscht, und unser inneres Gleichgewicht hängt an ihnen und an ihrer Verwirklichung. 

Enttäuschende Mitmenschen

Auch mit Mitmenschen gehen wir so um: Wer unsere Erwartungen erfüllt, ist gut, wer nicht, den mögen wir gleich nicht. Wir teilen die anderen in diese zwei Gruppen ein: Die verlässlichen und die unzuverlässigen, also diejenigen, die unsere Erwartungen erfüllen, und diejenigen, die sie enttäuschen. Die einen schätzen wir, die anderen lehnen wir ab. In Beziehungen, in den wir fix gebunden sind, wechseln sich diese Kategorisierungen oft schnell ab. In diesen Konstellationen fallen uns enttäuschte Erwartungen besonders stark auf, denn je enger die Beziehung, desto höher ist die emotionale Ladung, die in die fantasierten Erwartungen investiert wird.  

Im Grund befinden wir uns auf einer frühen Stufe der Innenentwicklung, wenn wir auf diese Weise reagieren. Für Kinder ist die Fantasie so präsent wie die Realität, und durch ihre rechtshemisphärische Dominanz wird ihr ein bedeutender Rang eingeräumt, sodass die Unterschiede zur äußeren Realität fließend sind. Deshalb fällt es ihnen schwer, sich umzustellen, wenn sie schon bestimmte Absichten oder Pläne entwickelt haben. Andererseits hält ihre Frustration nur kurz an, sie können sich meist schnell umstellen und unterscheiden sich in diesem Punkt von vielen Erwachsenen.

Störungstoleranz

Wie können wir mehr Störungstoleranz erlernen, sodass wir unser inneres Gleichgewicht nicht verlieren, wenn wir in unseren Erwartungen enttäuscht werden? Wie können wir mehr Flexibilität entwickeln? Wir können uns bewusst machen, dass Störungen nur Illusionen zerstören, die wir uns aufgebaut haben, damit wir eine Übersicht über die Zukunft haben und unsere Handlungen planen können. Gelingt es uns, Störungen als Überraschungen zu erleben, als Gelegenheiten zum Verändern und Umstrukturieren, so wird es uns leichter fallen, die Erwartungen gehen zu lassen, die wir aufgebaut haben, und das Gute an der neuen Richtung, die die Realität genommen hat, zu erkennen. 

In vielen Religionen ist diese Form der Lebenskunst Teil der Lehre. Im Buddhismus heißt es, dass alles in Veränderung ist und nichts Dauer hat. Es gibt nichts Festes, sondern nur Bewegtes. Was uns unglücklich macht und Leiden bewirkt, ist das Anklammern an dem, was wir haben, und die Weigerung, zu akzeptieren, was sich ändert oder verschwindet. Im Christentum wird davon gesprochen, dass Leben der Menschen immer in Gottes Hand ist. Es liegt nicht in unserer Macht, unser Schicksal in allen Belangen nach unseren Vorstellungen zu gestalten. Wenn wir dem Leben vorschreiben wollen, wie es zu sein hat, dann erheben wir gottähnliche Machtansprüche, an denen wir nur scheitern können.  


Samstag, 15. Oktober 2022

Tempo 80/100 und die Widerstände gegen eine Maßnahme zur Nachhaltigkeit

Eine persönliche Erfahrung vorweg: Neulich bin ich eine längere Strecke auf der Autobahn mit ungefähr 100 Stundenkilometer gefahren, fast immer auf der rechten Spur, während links die anderen Autos vorbeizischen. Es sind kaum Überholmanöver notwendig und es braucht kaum eine Aufmerksamkeit auf die Nachkommenden. Das Fahren ist subjektiv wesentlich entspannter als mit 130 km/h. Ich war länger unterwegs und dennoch erholter - ein Zugewinn an Lebensqualität.

Zunächst ein paar Zahlen und Fakten zur Thematik: 

Klimabilanz und Treibstoffersparnis

Laut österreichischem Umweltbundesamt können 460.000 Tonnen CO2-Äquivalente pro
Jahr durch ein Tempolimit 100 statt 130 vermieden werden (das entspricht einer Reduktion des Spritverbrauchs um rund 180 Millionen Liter pro Jahr und einer Ersparnis bei heutigen Spritpreisen von 360 Millionen Euro). Zum Vergleich: Wer 5.000 km mit dem Auto zurücklegt, emittiert dabei eine Tonne CO2. Mit einem Reisebus kommt man etwa 10.000 km weit. Mit dem Zug legt ein Reisender 450.000 km zurück, um auf einen CO2-Fussabdruck von 1 Tonne zu kommen. Ein Langstreckenflug und zurück verursacht 1 - 2 Tonnen CO2 pro Person. Anders formuliert: Mit einer 50-Liter Tankfüllung kommt ein Pkw mit Tempo 130 nur 714 Kilometer, mit Tempo 100 hingegen mit 925 Kilometer deutlich weiter. 

Tempo 130 km/h: 190 g CO2e / km (entspricht 7 Liter Treibstoffverbrauch pro 100km)

Tempo 100 km/h: 146 g CO2e / km (entspricht 5,4 Liter Treibstoffverbrauch pro 100km – minus 23 Prozent)

Das Tempo 100 statt Tempo 130 auf Autobahnen reduziert den Stickstoff-Ausstoß (NOx) um rund 50 Prozent, den CO2-Ausstoß um 23 Prozent sowie die Feinstaub-Emissionen (PM10 motorisch) um rund 34 Prozent.

Höhere Leistungsfähigkeit der Fahrbahnen

Bei Tempo 100 beträgt die reale Leistungsfähigkeit einer Fahrbahn rund 2.440 Kfz pro Stunde; bei Tempo 130 hingegen nur rund 2.250 Kfz. Eine höhere Leistungsfähigkeit bedeutet weniger Staus und damit weniger Fahrzeit-Verzögerungen. Zusätzlich nimmt bei niedrigerem Tempolimit die Zahl der Verkehrsunfälle ab, was wiederum die Zahl der Staus verringert. Auch wenn es paradox klingen mag: In Summe kann ein niedrigeres Tempolimit dazu führen, dass die Kfz-Lenkenden schneller ans Ziel kommen. Staus werden oft dadurch verursacht,  dass Schnellerfahrende auf der Überholspur wegen Langsamerfahrenden abbremsen müssen.

Weniger Verkehrslärm

Eine Verringerung des Tempos von 130 auf 100 km/h führt zu einer Reduktion des Verkehrslärms um drei Dezibel. Eine Reduktion um drei Dezibel wird vom menschlichen Ohr wie die Halbierung der Verkehrsmenge wahrgenommen.

Was spricht dagegen?

Manche Autofahrerklubs biegen die Zahlen ein wenig um, womit sie ihr Klientel, aber nicht die Umwelt und die Klimaentwicklung bedienen. Aber an der massiven Macht der Berechnungen lässt sich nicht rütteln, auch wenn ein paar Prozente mehr oder weniger unterm Strich stehen. Tempo 130 oder noch darüber zu fahren, ist im Hinblick auf die Umwelt ein Luxus, den sich nicht einmal in einem reichen Land die Mehrheit gönnen kann. Es ist also immer eine Minderheit, die die schmalen Vorteile genießt, während die Folgen von der Gesamtheit der Menschheit getragen werden müssen. 

Realpolitisch betrachtet, wird sich in unserem Land der Benzinbrüder und Autofetischisten an 100/130 nichts ändern, solange die Klimakatastrophen anderswo zuschlagen. Grünenfeinde fürchten schon, dass ihnen die Politik das Autofahren verbieten will. Die Sprecherin der konservativen Partei wischte entsprechende Vorschläge mit der Bemerkung vom Tisch:  „Tempo 100 auf Autobahnen bringt wenig Nutzen und sorgt nur für Ärger bei den Betroffenen.“ Die Vertreter der Rechtsparteien sprechen von „reiner Frotzelei“, während die Liberalen an die „Eigenverantwortung“ appellieren. Die Grünen wiederum sind zwar für Tempolimits, resignieren aber angesichts der breitgefächerten politischen Gegnerschaft.

Die Macht der Gewohnheit und die Ärgerbürger

Die Macht der Gewohnheit, mit der vermeintlich Rechte ersessen wurden, ist zäh und schwer zu brechen. Jede neue Regelung führt bei vielen zunächst zu Ärger, bis sie irgendwann zur Selbstverständlichkeit wird. Nach dem Ärgerpegel Politik zu machen, ist sinnlos, weil es immer Menschen geben wird, die Veränderungen nicht gutheißen, genauso wie es immer Menschen geben wird, die mit dem Status quo unzufrieden sind.

Allerdings: Keine politische Partei will die Stimmen all jener verlieren, die ein Auto haben, mit dem sie locker 130 fahren können und jede Reduktion des Tempolimits als Einschränkung ihrer Freiheit und ihrer Rechte ansehen und einen Hass auf alle Politiker entwickeln, die sich erfrechen in ihre Gewohnheiten einzugreifen. Es ist aber reine Gewohnheit, die Zeiten mit den gegenwärtigen Höchstgeschwindigkeiten zu berechnen und sich nicht vorstellen zu können, für die gleiche Strecke ein paar Minuten länger zu brauchen, also z.B. am Morgen fünf Minuten früher außer Haus zu gehen.

Es ist zwar gegenwärtig eine Entwicklung zu beobachten, dass mehr und mehr Leute die Autoverwendung angesichts der hohen Spritpreise und den anderen Preissteigerungen einschränken: 47 Prozent fahren nun spritsparender, 45 Prozent gehen häufiger zu Fuß, 30 Prozent fahren häufiger Rad. (Quelle)

Sie erkennen, dass sie kurze Wege, die den Hauptteil des Autoverkehrs darstellen, auch anders billiger zurücklegen können. Es ist aber anzunehmen, dass dieser Trend wieder verschwinden wird, sobald die Benzinpreise auf das gewohnte Niveau zurückgehen.

Einschränkung der Freiheit?

Das Hauptargument gegen Tempolimits ist die Einschränkung der Freiheit. Bekanntlich sollte die eigene Freiheit soweit reichen, bis sie auf die Freiheit von jemand anderem stößt. Augenfällig ist dieses Prinzip, wenn man jemanden anrempelt. Die Freiheitszone der anderen Person wird verletzt, und sie wird sich dagegen zur Wehr setzen. Beim Autofahren sind diese Grenzen abstrakter. Wenn wir durch eine Gegend mit dem Auto fahren, merken wir nicht, welche Menschen wie unter dem Lärm und den Abgasen leiden. Wir merken auch nicht, wie sich unser Schadstoffausstoß auf die Atmosphäre auswirkt und wie diese Auswirkungen auf das Klima zurückwirken. Wir richten Schaden an, ohne dass wir es erkennen, und nehmen deshalb naiverweise an, dass wir nur unsere Freiheitsräume ausnutzen. Wir kennen zwar die Zusammenhänge, wollen dieses Wissen aber tunlichst von unserem Verhalten abkoppeln, um keine unangenehmen Scham- und Schuldgefühle zu entwickeln. Viele wehren sich deshalb so heftig gegen neue Regelungen, die sie als Einschränkungen erleben, weil sie nicht an die Folgen ihres Verhaltens für die Menschheit und den Planeten erinnert werden wollen.

Der Appell an die „Verantwortung“

Statt zwingende Maßnahmen zu erlassen, appellieren die Politiker an die „Eigenverantwortung“ der Autofahrer. Bei solchen Statements handelt es sich um bloße Leerformeln. Natürlich nimmt jeder die Verantwortung für sein Tun auf sich, und die meisten werden es sich so einrichten, wie es für sie am angenehmsten oder am gewohntesten ist. Was soll aber der Appell an die Verantwortung, wenn die Folgen des Tuns, nämlich der verursachte Schadstoffausstoß, keinerlei Konsequenzen haben? Niemand mahnt irgendwelche Wirkungen ein, die Natur nimmt sie zur Kenntnis und ändert sich, mit unabsehbaren Folgen. Die „Verantwortungsübernahme“ geht völlig ins Leere, weil wir einfach ausblenden können, was uns nicht angenehm zu wissen ist; wir sind niemandem irgendeine Rechenschaft schuldig und es gibt niemanden, der uns zur Rechenschaft zieht. Die nachkommenden Generationen, die uns vielleicht einmal anklagen werden, sind jetzt noch nicht auf der Welt oder haben noch keine Stimme und noch kein Wahlrecht.

So beißt sich die Katze in den Schwanz. Politiker nehmen lieber auf Menschen Rücksicht, die mit ihrem Verhalten nachhaltige Schäden anrichten und bestärken sie damit in ihrem Verhalten – und überlassen ihnen dann  noch großzügig ihre Verantwortung, obwohl sie selber sich aus der Verantwortung zur nachhaltigen Gestaltung der Gesellschaft, die ihnen übertragen wurde, schleichen. 

Die sogenannten betroffenen Menschen ärgern sich schon im Vorhinein und machen diesem Ärger oft lauthals Luft, um Regelungen, die ihnen mehr Zeit im geliebten Auto verordnen, aber nachweislich erhebliche Verbesserungen in der Schadstoffbilanz nach sich ziehen, möglichst im Vorfeld schon zu verhindern. Wer laut schreit, hat meistens nicht Recht. Aber dieses Recht hat keinen Kläger und keinen Richter, und damit kann sich jede/r seine Verantwortung zurechtzimmern, wie er/sie will.


Donnerstag, 13. Oktober 2022

Verhüllung und Scham, gewidmet Mahsa Amini

Die vorgeschriebene Verhüllung der Frauen in islamisch geprägten Ländern führt direkt zu 
vielschichten Schamthemen. 
Nach dem Psychologen Konrad Schüttauf hat jede Scham mit Verhüllung und Enthüllung zu tun. 

Um diese Dynamik zu veranschaulichen, entnehme ich dem Buch von Schüttauf, Specht und Wachenhausen* ein Beispiel: Es geht um einen Professor für Moraltheologie, der in seinen Vorlesungen gegen jede Form von Pornographie wettert, weil dort enthüllt wird, was verhüllt bleiben sollte. Dann grüßt ihn eines Tages ein Student, als er in einem Nachbarort gerade aus dem Pornokino kommt. Er ist selbst enthüllt und einem mächtigen Schamgefühl ausgesetzt. Das, was er in sich verhüllen wollte, eine Verhüllung, die er mit viel Einsatz auch „in der Welt“ durchsetzen wollte, ist ans Tageslicht gekommen. Er steht plötzlich entblößt in der Öffentlichkeit und ist seines Schutzes entkleidet, ein Schutz, den er mit seiner öffentlichen Identität verknüpft hat. 

Es handelt sich also um die Spaltung zwischen einer privaten Person, die sich in diesem Beispiel zur Pornografie hingezogen fühlt, und einer öffentlichen, die vehement  gegen ebendiese Form der Darstellung von Sexualität kämpft. Die Angst vor der Beschämung wacht darüber, dass die öffentliche Person in der Verhüllung bleibt. Deshalb lässt sie viel Energie ins Bekämpfen dessen hineinfließen, was der privaten Person wichtig ist, aber von der öffentlichen Person, die mit dem eigenen idealen Ich verbunden ist, strikt abgelehnt und verurteilt wird. Der Professor kämpft also die ganze Zeit gegen die eigenen Wünsche und muss im Dienst seiner Ideale in der Öffentlichkeit immer heftiger gegen das wettern, was er im Privaten begehrt – bis zu dem Moment, in dem durch eine unvorhergesehene (aber vielleicht vom Unbewussten, das die Spannung nicht mehr aushalten kann, angestiftete) Enthüllung das Abwehrsystem zusammenbricht. 

Die Verhüllung als stellvertretende Schamabwehr

Soweit also ein Beispiel zur Dynamik von Verhüllung und Enthüllung, deren emotionaler Katalysator die Scham ist. In vielen Kulturen gelten besondere Regeln zur Verhüllung der Frauen. Das Zeigen von offenen Haaren war das gesamte europäische Mittelalter hindurch den Frauen verboten, während die Männer zum Teil ihre ausgeprägte Haaresfülle und -länge zur Schau stellen konnten. Ähnlich wie bis heute in islamischen Ländern wurde die Notwendigkeit der Verhüllung der Frauen von den Männern dadurch begründet, dass das Zurschaustellen bestimmter Teile des weiblichen Äußeren die männliche Begierde entfachen würde, die dann zu Übergriffen gegen die Frauen führen würde, was ja verhindert werden sollte. Allerdings trügen dann die Frauen die Schuld am Vergehen, indem sie dadurch die Schwächen der Männer provozieren würden, wobei es sich dabei um eine Täter-Opfer-Umkehr handelt. Denn initiiert wurden alle diese Regeln von den Männern, die in den öffentlichen Machtstrukturen das Sagen hatten und haben.

Es ist also die Enthüllung männlicher Schwächen, die durch eine Verhüllung der Frauen verhindert werden soll. Denn es stellt eine Charakterschwäche dar, die gleich allen Männern einer Kultur, wenn nicht allen Männern überhaupt, unterstellt wird, nämlich dass sie das eigene Macht-, Dominanz- und Sexstreben nicht kontrollieren können, sondern ihren eigenen Trieben schutzlos und ohnmächtig ausgeliefert sind, sobald sie einem bestimmten Schlüsselreiz, z.B. dem offenen Haar einer Frau oder deren auch nur deren Fußgelenk, ausgesetzt sind. Männer stellen sich selbst demnach als triebgesteuerte Instinktwesen ohne jede Vernunft dar, also als mental zurückgeblieben und behindert, zumindest in Bezug auf die Kontrolle der Sexualität. 

Wir haben es im Grunde mit einer infantilen Schwäche zu tun, die darin besteht, dass ein Reiz, der ein Bedürfnis auslöst, sofort die erwünschte Befriedigung bekommen muss. Es ist eine Schwäche, die bei Erwachsenen mit Scham belegt ist. Auf dass diese Schwäche nicht offenbar werde, was jedem Erwachsenen zur Scham gereichte, wird durch ein System von Vorschriften deren Auslösung hintangehalten. Die Frauen werden einem Zwang unterworfen, indem ihnen eine Verhüllung vorgeschrieben wird, damit sich die Männer nicht in ihrer Schwäche entblößen. Die Frauen müssen also das Symbol für die männliche Scham zur Schau stellen, z.B. ein Kopftuch oder eine Ganzkörperverschleierung. Verschleiert werden also eigentlich die männliche Zügellosigkeit und die durch sie hervorgerufene Gewaltanwendung an Frauen. Sie sollen dafür sorgen, dass diese Scham nicht auftritt, indem ihnen selber mit der Vorschrift die zugehörige Scham aufgezwungen wird: Sie sollen sich schämen, wenn sie sich nicht schamvoll verhüllen. 

Die Spaltung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit

Auch hier spielt eine Spaltung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten eine zentrale Rolle. Das öffentliche Bild der Frauen ist durch die Verhüllung gekennzeichnet, während die Männer unverhüllt herumlaufen. Tatsächlich wird aber das Private der Männer, nämlich ihre zügellose Triebsteuerung, verhüllt. Im Äußeren unverhüllt, besetzen die Männer Öffentlichkeit  und üben ungehindert und schamlos ihre Macht aus. Sie haben ihr Inneres den Frauen zur stellvertretenden Verhüllung übergeben, die damit öffentlich manifestieren sollen, dass sie sich für ihre Reize schämen. Den Frauen ist die Enthüllung ebenso wie das Ausüben von Selbstbestimmung und Macht nur im Privaten erlaubt. 

Patriarchale Wurzeln

Es handelt sich bei dieser vorgeschriebenen Verhüllung um ein Beispiel für die Widersprüche der patriarchalen Ideologie. Die Männer können ihre öffentliche Vorherrschaft nur aufrechterhalten, wenn sie vermittels einer defizitären Selbstbeschreibung die Frauen dazu zwingen, aus der Öffentlichkeit mit ihrem Selbstausdruck zu verschwinden und in der verhüllten Schrumpfform die männliche Definitionsmacht zu bestätigen. Ausgangspunkt und treibendes Motiv dieses Manövers liegen aber in der Schwäche der Männer, die ihre bedrohlichste Wunde darstellt. Denn Männer müssen gemäß der patriarchalen Ideologie die Starken und die Mächtigen sein, denen nichts Furcht einflößt und die alles im Griff haben. Die Kraft des Weiblichen ist aber von einer Art, die nicht von der männlichen bezwungen werden kann, weil sie nicht auf Muskelkraft oder auf der Geschicklichkeit im Umgang mit Waffen beruht, sondern auf dem Verständnis von Emotionen, insbesondere der Hingabe. Es ist geradezu die Macht, die in der äußeren Schwäche besteht, die die Frauen den Männern zeigen und vor der diese im patriarchalen Geflecht ihre größte Angst haben. 

Durch die Emanzipationsbewegung der Frauen wurde der Patriarchalismus geschwächt, aber die Spuren sind noch in allen Gesellschaften zu finden, am augenfälligsten dort, wo das Verhüllen des Weiblichen vorgeschrieben ist. Die Gefahr, die vom Weiblichen ausgeht, erscheint dort so stark, dass jedes Gewaltmittel recht erscheint, um die weibliche Ausdrucksfreiheit zu unterdrücken. Im Iran z.B. gibt es den weitverzweigten Apparat der Sittenpolizei, deren Aufgabe darin liegt, die Gesetzeskonformität der weiblichen Verhüllungen zu kontrollieren und durchzusetzen, mit Mitteln, die offenbar das Morden mit einschließen, ohne Strafen fürchten zu müssen. Zu bewundern ist der Mut, mit dem sich Frauen und auch Männer aus verschiedenen Ethnien und gesellschaftlichen Schichten in diesen Tagen gegen diese Zwänge protestieren.

* Konrad Schüttauf, Ernst Konrad Specht, Gabriela Wachenhausen: Das Drama der Scham. Ursprung und Entfaltung eines Gefühls. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2003


Freitag, 7. Oktober 2022

Das Hamsterrad des Erfolgsstrebens

Wir alle haben die Prinzipien der Leistungsgesellschaft verinnerlicht, von klein auf und gründlich. Sie sind uns wie eine zweite Natur geworden, die von Schamgrenzen bewacht wird. Denn wenn wir dagegen verstoßen, fühlen wir uns nicht wohl in unserer Haut, und das ist das Schamgefühl. Ein wichtiger Teil dieser Prinzipien besteht darin, dass der Wert der Menschen nach den Erfolgen bemessen wird, die sie im Rahmen dieser Gesellschaft und ihrer Normen erwerben. Das beginnt spätestens mit dem Schuleintritt, ab dem Noten darüber Auskunft geben, wie erfolgreich jemand ist, also inwieweit die vorgegebenen Leistungskriterien erfüllt werden.

Ab nun heißt die Devise: Erfolg ist gefordert, wer keinen Erfolg aufweisen kann, muss sich schämen. Auch jemand, der sich nicht um Erfolg bemüht, wird abschätzig oder verächtlich betrachtet. Wer nach Erfolg strebt, aber scheitert, wird zwar von der Scham angetrieben, aber verfällt beim Scheitern einer doppelten Schambelastung: Er hat nicht geschafft, was er sich vorgenommen hat, und er hat sich schon in seinen Vorsätzen übernommen und muss sich auch dafür schämen. Scheiternder Ehrgeiz ist demnach ebenso Anlass für Scham wie ein Mangel daran.

Wir haben in unserer Gesellschaft die Konzepte der Leistungsgesellschaft in unser Ich-Ideal eingebaut, und sie wirken so, dass sie immer wieder Druck ausüben und uns antreiben, deshalb kann man diesen Teil auch den inneren Antreiber nennen. Er erzeugt Stress. 

Bei den meisten Menschen heißt Erfolg, etwas zu schaffen, was die anderen bestaunen und bewundern. Es geht um Lob und Anerkennung und damit um die Bestätigung, dazuzugehören und einen sicheren Platz in der Gemeinschaft zu haben, der durch das Einhalten der Prinzipien der Leistungsgesellschaft gewährleistet ist. Damit kann die Scham in Schach gehalten werden.

Das Erfolgsstreben ist also von den Erwartungen der anderen getrieben und nicht vom eigenen Inneren. Manche Leute erkennen diese Außenorientierung irgendwann in ihrem Leben wie eine Fremdsteuerung und geben dann ihren Beruf auf, den sie aus diesem Antrieb gewählt haben, aber nicht mögen, und suchen sich eine Beschäftigung, die mehr ihren Leidenschaften und Visionen entspricht. 

Der Zwang zur Selbstoptimierung

Der bekannte französische Psychoanalytiker und Theoretiker Jacques Lacan hat vom Zwang zur ständigen Selbstoptimierung gesprochen, der die moderne Gesellschaft kennzeichne. Der Glaube an unserer Freiheit ist nur eingebildet, weil uns der Zwang zum andauernden Entsprechen der Erwartungen selbstverständlich geworden ist. Dass die Scham vor dem Nicht-Entsprechen im Hintergrund die Triebkraft ist, fällt uns nicht mehr auf. Auf diese Weise spielen wir mit in einem Spiel, dessen Regeln uns nicht bekannt ist, ebenso wie sein hintergründiger Zweck. Wir wissen zwar, was wir gewinnen können, das Objekt unseres Erfolgsstrebens (oder Begehrens im Sinn von Lacan). Es ist uns aber nicht bewusst, warum wir gerade dieses Objekt anstreben und nicht ein anderes, bzw. verfügen wir nur über Scheinrationalisierungen und Scheinbegründungen.

Michel Foucault hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass sich die Machtmechanismen, die unterschwellig im Erfolgsstreben und in all den anderen Strebungen zur Selbstoptimierung stecken, in unsere Körper eingeprägt haben. Auf diese Weise kontrollieren wir uns beständig selber, ob wir Normen entsprechen, deren Geltung wir ungefragt hinnehmen. Wir enttäuschen also im Fall unseres Scheiterns nicht mehr nur die gesellschaftlichen Vorgaben, sondern das, was wir als die eigenen Ansprüche an uns selbst wahrnehmen. 

Das isolierte Erwachsensein

Es kommt ein weiterer Aspekt dazu, den ich das isolierte Erwachsensein nennen möchte. Mit diesem Begriff ist gemeint, dass diese Leistungs- und Optimierungsgesellschaft fordert, das Kindliche gänzlich hinter sich zu lassen. Es ist ein Spiel der rational agierenden und angetriebenen Erwachsenen, die von sich alles abverlangen, um zu entsprechen und um Anerkennung zu bekommen. Es ist ein Spiel, das der Vermeidung von Beschämung dient. Aus diesem Spiel ausgeschlossen ist alles, was mit Schwäche und Bedürftigkeit verbunden ist, aber auch alles, was als Lebensfreude, Spontaneität und Neugier erlebt wird. All diese Anteile des Menschlichen gelten als kindisch und werden mit Scham belegt. Jede Erkrankung, jeder Unfall, alles, was an der Produktivität und am Erfolgsstreben behindert, sollte nicht sein und weist auf einen persönlichen Makel hin, auf einen Mangel an erwachsener Kompetenz, die allein Anerkennung verdient. Verdammt zum Erfolgreichsein, vollzieht sich dieses Sich-Abschneiden von den kindlichen Anteilen, die verleugnet und innerlich abgewertet werden müssen. Sie melden sich zwar immer wieder in Anspannungen, Selbstzweifeln und Unsicherheiten, müssen aber tunlichst unbewusst bleiben, um die mit ihnen verknüpfte Scham nicht spüren zu müssen.

Heldentum und Ehre

Interessant in diesem Zusammenhang ist das Aufgreifen der Motive aus der hierarchischen Gesellschaftsform, also Ideale des Mittelalters, die immer noch weiterwirken und nun den Ansprüchen der Leistungsgesellschaft dienen. Es sind die Ideale des Heros und der Ehre. Wer Erfolg hat, darf sich als Held fühlen und im Stolz baden. Sie hat Großes vollbracht und verdient Anerkennung. Die Ehre ist ihr gewiss. Allerdings nur solange, solange die Strähne des Erfolgs anhält. Bricht sie ab, ist es vorbei mit der Ehre und mit dem Heldenstatus. Jede Heldenposition hat ihr Ablaufdatum. Alle Helden der Körperbeherrschung, alle Sportler kommen irgendwann in ein Alter, in dem sie nur noch vom Ruhm der Vergangenheit zehren können. Manchen gelingt es, eine neue Erfolgsschiene aufzutun, andere bleiben auf dem Status der vergangenen Ehre. 

Selbstausbeutung und Naturzerstörung

Die Gesellschaft entwickelt sich weiter, immer schneller, und das bedeutet, dass sich die Erfolgskriterien laufend verschieben und verändern. Was noch vor einem Jahr eine heldenhafte Errungenschaft dargestellt hat, ist nun schon langweilig und selbstverständlich. Am Laufenden zu sein, ist zum Zwang und zur Überlebensmaxime in der Erfolgsgesellschaft geworden und sorgt für ein andauerndes Hinterherlaufen, ohne Verschnaufpause. 

Eine Gesellschaft, in der das Kindliche keinen Platz in der Erwachsenenwelt hat, hat sich dem permanenten Stress verschrieben. Stress ist Ressourcenverbrauch ohne Ressourcenaufbau. Unschwer ist zu erkennen, dass die Art und Weise, wie die Individuen gelernt haben, sich selbst auszubeuten, genau diejenige ist, mit der die Natur und damit die Lebensgrundlage jeder Gesellschaft ausgebeutet wird.

Zum Weiterlesen:
Das Kind in uns
Der Raub des Selbst
Über Schwäche und Bedürftigkeit
Muße als Lebenskunst
Leistung - was ist denn das?
Wozu brauchen wir Erfolge?
Funktions- und Flussmodus


Dienstag, 4. Oktober 2022

Verbrecher sind ehemalige Opfer

Das Englische sagt es so prägnant: Hurt people hurt people. Menschen, die häufig und viel verletzt wurden, verletzen andere häufig und viel. Oft merken sie es gar nicht, wenn sie anderen Menschen Leid zufügen, oder sie halten es für normal und selbstverständlich, andere zu verletzen. Ihre vielen Verletzungen bringen sie zur Haltung, dass anderen das Verletztwerden bei weitem nicht so wehtun kann wie das, was sie selber erlitten haben. 

Wir lehnen natürlich Verbrecher und ihre Taten ab, die viel Schaden anrichten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt verunsichern. Täter wollen mit ihren Taten ihr eigenes vergangenes Opfersein ausgleichen. Sie üben gewissermaßen Rache für das eigene Leid, indem sie neues Leid verursachen. Dass sie dafür zumeist Unbeteiligte in die Opferrolle bringen, muss angeprangert, verurteilt und möglichst verhindert werden. 

Die Entstehung des Bösen

Mittlerweile wissen wir aus vielen empirischen Erhebungen, dass die meisten, wenn nicht alle Straftäter eine schwere Kindheit hatten. Zum Beispiel geben 76% der in Deutschland inhaftierten Männer und 62% der inhaftierten Frauen an, in ihrer Kindheit emotional vernachlässigt worden zu sein – ein Wert der wesentlich höher ist als in der Allgemeinbevölkerung. Ähnlich liegen die Zahlen bei körperlicher Misshandlung und bei sexuellem Missbrauch. Es gibt zwar auch viele Menschen, die trotz solcher traumatischer Erfahrungen nicht kriminell werden. Aber umgekehrt erweist sich der Blick auf die Bedingungen in der Kindheit bei den straffällig gewordenen Menschen als sehr aufschlussreich.

Straftäter konnten aufgrund ihrer Traumatisierungen keine klare Wertordnung und keine konsistenten Konzepte von Gut und Böse entwickeln. Außerdem war es ihnen nicht möglich, einen ausreichenden Respekt vor anderen Menschen aufbauen, weil ihnen selbst keine Achtung entgegengebracht wurde. Sie konnten sich nicht gegen Übergriffe abgrenzen und wehren, sondern waren ihnen hilflos ausgeliefert, solange, bis sie selber die Kraft hatten, sich durchzusetzen. Sie konnten deshalb kein Gespür für adäquate Grenzen im zwischenmenschlichen Bereich entwickeln und verletzen deshalb oft skrupellos die Grenzen anderer. Sie weisen schwere Defizite im Sozialverhalten und in der emotionalen Kompetenz auf. Gewaltakte und andere Verbrechen entstehen im Grund aus inneren Nöten und innerer Ausweglosigkeit. Ist dieser Weg der Kompensation frühkindlicher Mängel einmal beschritten, ist es schwer, wieder von ihm loszukommen. Er ist natürlich nicht zielführend, weil der emotionale Mangel nicht durch Gewaltakte wettgemacht werden kann. Vielmehr wachsen der Mangel und die innere Not mit jeder Handlung, die nicht im Einklang mit der allgemeinen Wertordnung steht.

Die Schamdynamik beim Verbrechen

Denn jeder Täter verstrickt sich in einen Schamkonflikt: Jede böse Tat hat Scham zur Folge, die entweder unangenehm gespürt wird oder durch eine Form der Schamabwehr verdrängt wird. Erst recht bewirken die polizeiliche und gerichtliche Verfolgung der Straftat und die Verurteilung eine massive Schambelastung. Eine Gefängnisstrafe schließt die betroffene Person aus der Menschengemeinschaft aus und wird als Demütigung und Bestätigung des emotionalen Zukurzkommens erfahren. Das Leiden an der Scham kann dann nur durch eine weitere Tat bewältigt werden, die dann sobald wie möglich nach der Entlassung die Selbstachtung wieder herstellen soll. Aber der erste Moment des Stolzes über einen gelungenen Coup weicht schnell wieder der Scham, spätestens dann, wenn die Handschellen klicken. 

Die Verachtung der Täter

Da die Täter immer Opfer waren, steht die Verachtung der Täter niemandem zu. Die Haltung der moralischen Aburteilung wird vielmehr gespeist aus der Dämonisierung des Bösen im Außen, das der Verleugnung des Bösen im eigenen Inneren dient. Denn Neigungen zum Bösen gibt es in jedem Menschen; wer das Glück hatte, rechtzeitig zu lernen, wie diese Tendenzen unter Kontrolle gehalten werden können, braucht sich nicht denen überlegen fühlen, die diese Chance nicht hatten.

Das alles heißt nicht, dass die Schuld, die durch Verbrechen entsteht, mit Hinweisen auf eine verpatzte Kindheit entschuldigt werden könnten. Verbrecher sind erwachsen und haben die Verantwortung für ihre Taten zu tragen und die entsprechenden Strafen auf sich zu nehmen. Wir können allerdings ein Mitgefühl für die inneren Nöte und Konflikte von straffälligen Menschen entwickeln, ebenso wie für ihre Opfer. Das Mitgefühl ist ein menschlicher Akt und hat nichts mit der Ahndung der Tat zu tun, die erfolgen muss, damit einzelne Menschen und die Gesellschaft als ganze vor weiteren Übergriffen geschützt wird.

Es heißt nur, dass sie auch als Übeltäter vollwertige Menschen bleiben, die Respekt und Verständnis – für ihr Leid, nicht für ihr Tun – verdienen. Es braucht keine beschämenden und verachtenden Blicke der Gutmenschen auf die Bösmenschen. Kein Mensch ist gut, wenn er andere verachtet. Selbst die schlimmsten Taten löschen die Würde nicht aus, die jedem Menschen aufgrund seiner Geburt innewohnt. 

Die Folgen für unseren kommunikativen Alltag

Die wenigsten unter uns haben viel mit Verbrechern zu tun. Wir leben in vergleichsweise sicheren Ländern. Wir können aber für unser alltägliches Leben mit seinen Unebenheiten und Beschwernissen die Sichtweise übernehmen, dass jede Verletzung, die uns zugefügt wird, aus einer Verletzung herrührt, die die Person, die uns verletzt hat, früher betroffen hat. Sie reagiert aus einer Episode ihrer alten Geschichte heraus und verwechselt uns gerade unbewusst mit einer Person, die ihr einmal Böses angetan hat.

Diese Sichtweise kann uns helfen, die Reaktivität, die uns begegnet, nicht mit der eigenen Reaktivität heimzuzahlen. Wir können die Reaktion verstehen, auch wenn wir sie nicht gutheißen müssen. Das Verständnis hilft uns, entspannt zu bleiben oder schneller in die Entspannung zu kommen und ruhig auf das zu antworten, was gerade abgelaufen ist.