Montag, 30. März 2015

Die erzählte Geschichte und der Moment

Leben ist Kontinuität, und menschliches Leben ist bewusst erlebte Kontinuität. Dieses Erleben der Kontinuität erfordert ein Gedächtnis, das damit ein Teilaspekt des Menschseins ist. Auf diese Weise wird Identität hergestellt. Auf diese Weise vergewissern wir uns, wer wir sind und dass wir sind.

Im Erzählen wird der Kontinuität Sinn gegeben. Damit wir uns nicht nur als existent erleben, brauchen wir den Sinn, der sich aus unserer erzählten Geschichte ergibt. Die Abfolge der Ereignisse ist kein blindes Stolpern vom Einen zum Nächsten, sondern ein sich Ineinanderfügen von Sinnerfahrungen. Dann fühlt sich ein Leben als gelungen an, als in sich stimmig. Selbst Brüche, wie sie z.B. durch Krisenzeiten entstehen, können im Durcherzählen überbrückt werden und damit innerlich zusammenwachsen. 

Kreative Geschichten sind auch nicht die Summe von historischen Fakten, sondern die Wiedergabe von lebendigen Prozessen, die selbst wieder in sich lebendig sind. Denn sie  überraschen den Erzähler und die Zuhörer. Es sind Geschichten, die ihre eigenen Wendungen nehmen, ohne nach vorgegebenen Absichten konstruiert zu werden. Damit gleichen sie sich den vom Leben selber geschriebenen Geschichten an, die im  Nacherzählen neu erschaffen und mit neuem Sinn versehen werden.

Der Zusammenhang der Geschichte


Geschichten können und müssen nie lückenlos erzählt werden. Eine Geschichte ist immer eine Auswahl aus der Fülle des Geschehenen. Der Zusammenhang ergibt sich aus der inhaltlichen Abfolge der Ereignisse, die in sich verständlich sein soll, um Sinn zu ergeben. Details, die dazu nicht notwendig sind, können weggelassen werden.

Lücken sind nur dort störend und verstörend, wo der Sinnzusammenhang unterbrochen ist. Dann bleiben Fragen offen: Warum musste dies passieren? Wie konnte mir solches zustoßen? Hier kommt es zum Hadern, Klagen und Anklagen. An die Stelle der Erzählung tritt das rekursive, auf sich selbst gerichtete Kreisen der Abwertung – von sich selbst, von anderen, vom Leben, so wie es verlaufen ist. Statt zuzulassen, dass sich die Geschichte selbst erzählt und damit immer wieder verändert, wird Geschichte festgenagelt auf eine, allzu oft negative Sichtweise und Interpretation. Der Sinn kann dann nicht mehr aus der Geschichte und der Erzählung entstehen, sondern bleibt wie die Inschrift auf einem Monument eingemeißelt.

Diese Starrheit überträgt sich auf die Identität, die aus einer solchen Geschichtslähmung ergibt. Sie wird in Teilen unbeweglich, irreversibel und ragt in die Gegenwart hinein, indem sie daran erinnert, was unabgeschlossen und unverarbeitet ist. Sie bindet Energien und Denkvorgänge, sie engt das Fließen des momentanen Erlebens ein.

Wenn die Geschichte keinen oder nur einen unvollständigen Sinn ergibt, weil die Lücken nicht aufgefüllt wurden, bleibt alles, was nachfolgt und was darauf folgt, unvollständig. Es fehlt der ganze Sinn, und ein halber Sinn grenzt schnell an Unsinn. Eine Identität, die auf einem unvollständigen Sinnerleben ruht, ist in lebendige und unlebendige Teile fragmentiert. Die unlebendigen Teile sind diejenigen, die Probleme machen und Leiden bringen.

Der Weg zur Lösung öffnet sich dort, wo wir beginnen, aktiv nach den Lücken in unseren eigenen Biographien zu forschen. Wenn wir die Schutzhüllen, die über diesen Lücken abgelagert sind, sorgfältig lüften und die darunter liegenden Inhalte freilegen, dann können wir die Erzählung dort fortsetzen, wo sie unterbrochen worden war, und sie an die schon vorliegenden Erzählstränge anhängen. Jeder weiße Fleck, der durch eine Geschichte ersetzt wird, bereichert die Wirklichkeit und macht sie vollständiger. Das Wort „heil“ hängt mit Ganzsein zusammen. Vervollständigte Geschichten sind heilsam.

Die Geschichte und der Moment


Das Unerzählte hindert uns daran, im Moment zu sein, weil es unsere Aufmerksamkeit in die Vergangenheit abzieht. Wenn wir also nicht im Moment sind, präsent mit dem, was gerade ist, dann heißt es, dass uns eine Geschichte ruft, die fertig oder neu erzählt werden möchte. Wenn wir dem Raum geben können und zulassen, dass die Geschichte ihre Form findet, gibt sie uns den Sinn, den wir brauchen, um wieder in den Moment zu kommen. Auf diesem Weg gewinnen wir immer mehr Frieden in uns selbst, der aus der Versöhnung mit unserer Geschichte erwächst.

Vgl. Erzählend sind wir und erzählt
Narrative Rekonstruktion und Traumaverarbeitung

Mittwoch, 18. März 2015

Ultra-Feinstaub-Belastung in Wien

Schlimme Zahlen zur Umweltbelastung in Wien: An dicht befahrenen Straßen finden sich über 100 000 Partikel Ultra-Feinstaub in einem Kubikzentimeter Luft, das kommt an die Werte in verrauchten Lokalen heran. Betroffen davon sind natürlich die Fußgänger, genauso aber auch die Autoinsassen. Zum Vergleich: Im Schönbrunner Schosspark, abseits des Verkehrs, beträgt die Belastung nur 5000 Partikel.

Der Schmutz stammt von älteren Dieselfahrzeugen. Erst modernere Lkws haben Partikelfilter.

Der Verkehrsclub Österreichs, der die Messungen durchgeführt hat, fordert ein schrittweises Fahrverbot für alte Lkws, kürzere Rotphasen bei Fußgängerampeln (damit diese an den neuralgischen Punkten nicht zu lang die verseuchte Luft einatmen müssen), die Umrüstung von Taxis und Firmenwagen auf Elektroautos, den Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel sowie Verkehrsberuhigungsmaßnahmen.

Was bewirken die Ultra-Feinstaubpartikel? Dazu der Umweltmediziner Hans-Peter Hutter: „Diese ultrafeinen Partikel beeinträchtigen nicht nur die Lunge, sondern den gesamten Körper, weil sie auch in die Blutbahn gelangen und so im ganzen Körper verteilet werden. Und Ultra-Feinstaub ist eindeutig als krebserregend klassifiziert worden. Statt dem üblichen Verantwortung-Abschieben – bei Feinstaub sind es immer die anderen, die ihn produzieren – braucht es daher verantwortungsvolles Handeln.“


Video zum Thema



Freitag, 13. März 2015

Gefühle - solche und solche

Über die Einteilung von Gefühlen

Die Fülle der menschlichen Gefühle in Kategorien zu bringen, ist ein altes Anliegen der forschenden Menschheit. Ich möchte hier nicht auf die Details dieser Bestrebungen eingehen, sondern einen Aspekt herausgreifen.

Viele Menschen verstehen intuitiv die Unterscheidung von positiven und negativen Gefühlen: Wenn es mir gut geht, wenn ich also positiv drauf bin, habe ich positive Gefühle. Wenn es mir schlecht geht, dann negative. Dann ist folgende Idee aufgekommen: Gefühle sind Ausdruck des menschlichen Organismus, in der Evolution entstanden. Deshalb müssen alle Gefühle einen Sinn haben, und deshalb kann es keine negativen Gefühle geben, sondern nur unterschiedliche. Damit ist die Abwertung bestimmter Gefühle, die uns zwar unangenehm sind, aber dennoch ihre Funktion erfüllen, vom Tisch.

Von dieser Auffassung stammen dann die Aufzählung von vier bis acht Grundgefühlen, die manchmal auch zu Anschauungszwecken mit Farben versehen in Kreisen grafisch angeordnet werden, gewissermaßen demokratisch, sodass jedes Gefühl seinen gleichen Rang hat. Dazu passen auch Sprüche wie „Wut tut gut“ oder „Wo die Angst ist, da geht es lang.“ Lebe also alle Gefühle aus, wie sie gerade kommen, alle sind gleich wichtig und richtig.



Denn die Wissenschaft belehrt uns, dass das Ausleben von Wut selbstverstärkend ist: Wutausbrüche bahnen das Gehirn, sodass Wut immer leichter zum Ausdruck kommt. Außerdem genügen fünf Minuten Wut, um die Produktion von IgA auf sechs Stunden zu stoppen – IgA (Immunglobulin A) ist ein wichtiger Baustein für die Immunabwehr. Zu verstehen, dass zuviel Angst krank macht, braucht es gar keine Wissenschaft, das leuchtet uns auch so ein.


Wachstumsgefühle und Schutzgefühle


Unzufrieden mit dieser unterschiedslosen Gleichmacherei, suchte ich meine eigene Einteilung, die ich der Zellbiologie entlehnt habe. Zellen trachten grundsätzlich danach zu wachsen, sie müssen sich zeitweise auch vor Gefahren schützen. Entsprechend müssen sie ihr Inneres jeweils der Situation angepasst umorganisieren. Das wirkt sich auf die innere Chemie aus, darauf, wie sich die Zelle „fühlt“.

Ähnliches finden wir im Bereich der menschlichen Emotionen: Es gibt welche, die uns in unserem Wachstum begleiten und unterstützen (Freude, Lust, Neugier, Interesse) und andere, die uns dabei dienlich sind, wenn wir uns in Gefahrensituationen befinden (Angst, Wut, Schmerz, Ekel). Deshalb habe ich die eine Gruppe von Gefühlen Wachstumsgefühle, und die anderen Schutzgefühle getauft. Mit dieser Einteilung verstehen wir die biologische Notwendigkeit der Gefühle, aber auch, dass wir die einen suchen und die anderen meiden.

Hier hat auch die Auffassung Platz, dass der Normalzustand des Organismus das Wachstum mit den damit verbundenen Gefühlen ist, während der Schutzzustand einen Ausnahmezustand darstellt. Wir können uns ein Leben ohne Angst, Wut und Schmerz vorstellen, und streben dies auch im Innersten an. Wir wollen uns also aus den Mustern befreien, die uns in Schutzgefühle führen, auch wenn gar keine Gefahren da sind. Und wir wollen möglichst viele von den Wachstumsgefühlen und finden ein Leben ohne sie reichlich leer und unbefriedigend. Da wir mit diesen Gefühlen innerlich wachsen, gibt es für sie keine natürliche Grenze, ähnlich, wie ein Künstler keine vorgegebene Grenze seiner Schaffenskraft kennt, sondern, wenn er im kreativen Fluss ist, immer wieder Neues erschaffen wird. Die Schutzgefühle dagegen haben eine natürliche Grenze, weil sie die körperlichen Ressourcen erschöpfen und keine neuen Energien aufbauen.

Zugleich ist mit diesem Modell der wertende Aspekt in positiv und negativ überflüssig. Alle Gefühle haben ihren Sinn und ihre Bedeutung, abhängig von der jeweiligen Situation. Dysfunktional werden Gefühle dort, wo sie mit der aktuellen Situation und ihren Erfordernissen nicht zusammenpassen. Eine Angst, der keine Bedrohung entspricht, ist unnötig. Aber auch eine übermäßige Freude, die keinen Anlass im Äußeren hat, kann der Ausdruck einer manischen Fehlregulation sein.

Das hängt damit zusammen, dass Schutzgefühle „teuer“ sind, weil sie auf Energiereserven zurückgreifen, ohne neue zu produzieren. Sie kosten also mehr als sie einbringen. Das hängt damit zusammen, dass sie immer mit Stress verbunden sind. Sie erfordern die Mobilisierung des sympathischen Teils des vegetativen Nervensystems, und das ist nun mal ein Energieräuber. Ein Zuviel an Schutzgefühlen führt irgendwann zur Erschöpfung und bildet die Basis für verschiedene Erkrankungen und Degenerationserscheinungen, wie die Stressforschung mittlerweile gut belegen kann. Deshalb wird diese Gruppe von Gefühlen auch manchmal als Minus-Gefühle bezeichnet.

Wenn wir unsere Gefühlslandschaft nach dem Gesichtspunkt von Schutz und Wachstum kartographieren, wird klar, dass nicht alle Gefühle gleichberechtigt gelebt werden sollen oder wollen. Vielmehr  ist es wichtig und im Grund auch eine tief verwurzelte Bestrebung der Menschen, von Schutzgefühlen weg zu kommen und mehr Wachstumsgefühle spüren zu können. Das Zauberwort für diesen Schritt heißt Entspannung, weil wir mit ihr in den Bereich des Parasympathikus kommen, der uns zur Regeneration und zum Aufbau neuer Energien verhilft.

Nutzen wir also den Haupt-Indikator und -Korrektor für unseren inneren Zustand, wenn wir von zehrenden und lähmenden Schutzgefühlen weg wollen, hin zu erfüllten und entspannten Stimmungen: Unseren Atem. Er zeigt uns, wo wir uns gerade befinden, und er gibt uns die Möglichkeit, von Überspannung zurück zu unserer Mitte zu finden. Entspannen wir den Ausatem!

Donnerstag, 12. März 2015

Die sexuelle Identität

Die menschliche Sexualität ist ein wichtiger Teil der menschlichen Lebenskraft und Vitalität. Sie hat natürlich ihre Wurzeln im Fortpflanzungstrieb, und ist darüber hinaus eine wichtige Funktion in der zwischenmenschlichen Bindung. Die intime körperliche Vereinigung, die durch die Sexualität ermöglicht wird, ist die tiefste Form des Sich-Aufeinander-Einlassens und Füreinander-Öffnens von zwei Menschen, und darin liegt neben der Fortpflanzung der eigentliche Sinn der sexuellen Kraft. Manche Anthropologen sind der Ansicht, dass die Sexualität als „Dauerfunktion“ beim Menschen ausgebildet ist, weil damit die Männer mehr an die Familie gebunden sind, was wiederum notwendig ist, weil die Kinder so lange brauchen, um sich selbst auf den Beinen zu halten, und noch länger, um sich selbst versorgen zu können. Unter anderen Hormonen, die die menschliche Sexualität steuern, spielt auch das Bindungshormon Oxytocin eine wichtige Rolle, es wird vor allem in der Entspannungsphase nach dem Höhepunkt ausgeschüttet und trägt dazu bei, dass sich Mann und Frau tiefer verbinden, was gemeinhin Liebe genannt wird.

Die Sexualität ist zum Unterschied von anderen Funktionen nicht von Anfang an ausgebildet, sondern ist in ihrer Entwicklung durch eine klare Zäsur gekennzeichnet, die Geschlechtsreife. In den Stammeskulturen fällt dieser Einschnitt mit dem Erwachsenwerden zusammen und wird mit besonderen Ritualen gewürdigt. Im kulturellen Gefüge der Moderne fallen Geschlechtsreife und Erwachsenwerden immer weiter auseinander.

Die Doppelfunktion der Sexualität verleiht ihr eine besondere Macht im Gefüge der menschlichen Strebungen und Leidenschaften, da sie biologisch wie auch sozial verankert und verwoben ist. Deshalb erleben Menschen mit ihr die schönsten und die schwierigsten Momente. Deshalb wird sie in den meisten Liedern besungen und ist andererseits Anlass für viele Gewaltverbrechen. Mächtige taumeln über ihre sexuellen Eskapaden, andere nutzen ihre Affären, um nach oben zu kommen. Ohne Sexualität gäbe es nur wenige Gedichte und Romane, einschließlich Kriminalromane.

Weil die Macht der Sexualität so stark ist, dass sie Menschen um den Verstand bringt oder zumindest ihre Ratio benebelt, und weil ihre Folgen – Nachkommen, die gezeugt werden – einschneidend lebensverändernd sind, muss sie gesellschaftlich geregelt werden. Je komplexer die Gesellschaft wird, desto komplexer die Normierung und Einschränkung der Sexualität. Dadurch kommt es zu systematischer Beschädigung und Verformung. Z.B. wird die natürliche Freude und Lust an der Sexualität in vielen Kulturen mit einem Schuldkomplex überlagert. Damit  mischen sich Denkmuster, verbundenen mit hemmenden Gefühlen, in die Sexualität ein und behindern das freie Fließen, das charakteristisch für ihre ursprüngliche Form ist.


Wir sind alle tragen Spuren sexueller Störung in uns


Deshalb können wir davon ausgehen, dass wir alle sexuelle Störungen haben. Denn  die Kultur, in der wir alle, einschließlich unserer Bezugspersonen aufgewachsen sind, ist sexuell gestört. Sie hat über Jahrtausende schon kein unbefangenes Verhältnis mehr zu ihr. Beispiele für solche systematische kulturelle Deformationen der Sexualität sind die Leibfeindlichkeit im Christentum, die Beschneidung im Judentum, das rigide Patriarchat im Islam etc.

Der Umgang mit der Kraft der Sexualität erfordert ein hohes Maß an Achtsamkeit, und dafür gibt es in den traditionellen Kulturen keine Anleitung und Schulung. Im Gegenteil, die Einführung für junge Menschen in diesen empfindlichen und vielschichtigen Bereich beschränkt sich in vielen Fällen auf nüchterne Informationen von „offizieller“ Seite und wird ergänzt durch inoffiziellen Medienkonsum einschließlich aller Spielarten der immer leichter zugänglichen Pornografie.

Folglich war und ist es in unserer Kultur kaum mehr möglich, dass heranwachsende Jugendliche ihre eigene sexuelle Identität unbeschädigt formen und entwickeln. Prägende hemmende Einflüsse auf diese Entwicklung können im Mutterleib beginnen, unter Umständen schon mit der Zeugung, beeinflusst von den Einstellungen und Kompetenzen der Eltern in Bezug auf die Sexualität und von den Emotionen, die damit verbunden sind. In welchem Grad die Eltern in der Lage waren, respekt- und liebevoll miteinander die Sexualität zu leben, wirkt sich von früh an auf das Kind in seiner Einstellung zur Sexualität aus.

Auch im Durchgang durch den Geburtskanal, also durch die Geschlechtsorgane der Mutter werden viele Informationen übertragen, die auf die Formung der eigenen geschlechtlichen Identität einwirken. Wichtig ist dann in den frühen Jahren nach der Geburt, wie die Eltern mit dem Geschlecht des Kindes umgehen, emotional, sozial und körperlich. Dass sexueller Missbrauch zu den schwersten seelischen Zerstörungen bei Kindern führt, braucht hier nicht näher erläutert zu werden.

Später kommt dazu der Einfluss des sozialen und medialen Umfelds. Die Allverfügbarkeit der Pornografie für Kinder und Jugendliche seit nunmehr schon Jahrzehnten ist eine massive Einflussgröße auf die sexuelle Entwicklung, deren Wirkung und Auswirkung noch nicht annähernd im öffentlichen Bewusstsein angelangt ist.

Vielleicht noch mächtiger jedoch wirkt sich die steigende allgemeine Stressbelastung aus, die spätestens mit dem Schuleintritt bei vielen jungen Menschen zu chronifizierten inneren Angsthaltungen führt. Damit wird die Sexualität unweigerlich mit Anspannung statt mit Entspannung assoziiert. Der Erwartungsdruck an die sexuelle Performance ist groß und steigert sich mit jeder neuen Generation. Druck und Stress sind die wirksamsten Gegenmittel gegen eine erfüllende Sexualität.

Wie ist es also noch möglich, im Dschungel der Erwartungen, medialen Rollenbilder, elterlicher Verklemmtheit, unbenannten Ängsten und drängenden Leidenschaften eine sexuelle Identität zu entwickeln?


Sexuelle Identität


Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch eine eigene sexuelle Persönlichkeit in sich trägt. Sie setzt sich aus den Kernen des individuellen Wesens und den tiefsten Prägungen und Erfahrungen im Lauf der Entwicklung zusammen. Wir sind als einzigartige Wesen entstanden, und haben eine einzigartige Geschichte durchlaufen. Daraus bildet sich unsere sexuelle Identität. Dabei gilt auch, was durch die genetischen Forschungen immer deutlicher wird, dass die Zuschreibungen von männlich und weiblich auf einem Kontinuum zu sehen sind und weniger in einer Polarität. 0,1 bis 1 % der Menschen weisen Spuren oder Merkmale von  Intersexualität (sexueller Differenzierungsstörung) auf. Genetiker sprechen deshalb lieber davon, dass es eine große Vielfalt der Geschlechter gibt, mit einer nur groben Zuteilung auf männlich/weiblich, in der sich manche Menschen nicht vorfinden: „Manche Menschen offenbaren ein genetisches Mosaik: Sie entwickeln sich zwar aus einem einzelnen befruchteten Ei, doch ihre Zellen tragen eine teils unterschiedliche genetische Ausstattung. Eine der Ursachen kann sein, dass die Geschlechtschromosomen in der frühen Entwicklung des Embryos nicht gleichmäßig aufgeteilt werden.“

Weiters gibt es das Phänomen des „Mikrochimärismus “, das entstehen kann, wenn Stammzellen des Kindes in den Organismus der Mutter kommen oder umgekehrt Stammzellen der Mutter im kindlichen Organismus aufgenommen werden. Diese Stammzellen können erstaunlich lang leben und bewirken, dass Männer Zellen ihrer Mütter in sich bergen und Frauen nach Geburt eines Jungen männliche Zellen in sich tragen. (Quelle)

All diese Varianten zeigen, dass die gesetzlich vorgeschriebene Einordnung des Geschlechts nichts mit der sexuellen Identität zu tun hat und dieser eigentlich widerspricht. Diese Identität ist nicht durch einen Geburtsschein definiert, sondern durch unsere innere Beziehung zu uns selbst, zu unserem Persönlichkeitskern. Wir können uns dieser Identität nur bewusst werden, wenn wir den Kontakt zu unserem inneren Sein nicht verloren haben und uns unserer Prägungen bewusst sind.

Da diese Prägungen wohl immer mit Verletzungen und Traumatisierungen verbunden sind, ist es wichtig, einen therapeutische n Prozess zu durchlaufen, um Schicht für Schicht der anerlernten Ängste, Schuldgefühle, Lusterwartungen und Stereotype loszuwerden, die sich über das, was unsere Sexualität ausmacht, darübergelegt haben.

Die sexuelle Identität ist die einzigartige Ausprägung der Sexualität, die jedem Menschen eigen ist, jenseits von Vor- und Zuschreibungen durch Eltern, Erziehung, Medien etc., hinter allen Klischees und Konzepten, Normierungen und Klassifikationen. Wenn wir die grundsätzliche Individualität der sexuellen Identität anerkennen, wie sie unserer Natur und unserer Geschichte entspricht, dann haben auch alle sexuellen Orientierungen den gleichen Rang und die gleiche Berechtigung. Maßstab ist einzig und allein der Respekt und die Achtung zwischen den Partnern, in der gelingt dort, wo Bewusstheit mit der Lebens- und Liebeskraft der Sexualität verbunden ist.

Menschliche Sexualität kann dort gelingen und glücklich machen, wo sich zwei Menschen intim begegnen, die weitgehend die Wunden ihrer sexuellen Entwicklung geheilt und ihre individuelle geschlechtliche Identität entfaltet haben und in die Begegnung einbringen können. So wird sie ihrer eigentlichen Aufgabe gerecht und trägt dazu bei, die Menschheit ausgeglichener und friedlicher zu gestalten. 


Vgl. Animus und Anima im 21. Jahrhundert

Dienstag, 10. März 2015

Was ist dran an der „Weizenwampe“?

Ich bekam das Buch von William Davis „Weizenwampe“ geschenkt. Da mir der Schreibstil und die Argumentationsweise des Buches nicht gefällt, habe ich es nur überflogen und mich anderweitig über das Thema informiert. Hat schon das Lesen in dem Buch meinen Magennerven nicht besonders gut getan (und weniger wegen den Horrormeldungen, die darin vorkommen, als in der reißerischen und aggressiven Art des Schreibens), so erst recht ein Vergleich mit dem, was Wissenschaftler und erfahrene Praktiker zu dem Thema sagen.

Zunächst die These: Davis behauptet, dass der Konsum von Weizen an vielen Erkrankungen ursächlich beteiligt ist und dass die Abkehr davon nicht nur Gewichtsprobleme reduziert, sondern auch die meisten Gesundheitsprobleme löst. So wird ein Kapitel übertitelt: „Runzelig, buckelig und halb erblindet“, so endet der Weizenesser, und natürlich stirb er früher als die Weizenverzichter. An anderer Stelle wird Weizenessen mit Rauchen und Drogenkonsum verglichen, Weizen habe „in der ganzen Welt eine Spur der Verwüstung hinterlassen.“

Wie schaut es in Wirklichkeit aus? Wie bei jeder Polemik und Wahrheitsverzerrung gibt es einen Kern, der stimmt. Es gibt Menschen mit Zöliakie (gluteninduzierte Darmerkrankung), für die es wichtig ist, auf Gluten und Weizen zu verzichten. Aber glücklicherweise sind davon nur ca. 0,3% der Weltbevölkerung betroffen. Dazu gibt es andere Krankheitsbilder oder Allergien, bei denen der Weizen eine Rolle spielt. Für mindestens 95% der Bevölkerung gelten die Aussagen nicht, für sie ist der Verzehr von Weizen unproblematisch und bietet viele gesundheitliche Vorteile (Vitamine, Mineral- und Ballaststoffe).

Dass eine glutenfreie Ernährung zur Gewichtsabnahme führen könnte, wie Davis behauptet, ist nirgends belegt. Das Buch strotzt leider von unzulässigen Verallgemeinerungen, ungenau oder falsch zitierten Studien und nicht bewiesenen Behauptungen.

Wer Probleme mit seiner Gesundheit, und insbesondere mit der Verdauung hat, tut gut daran, abzuklären, ob sein Körper autoimmune, intolerante und allergische Reaktionen zeigt. Bei einigen Menschen wird es dazu führen, auf Weizenprodukte zu verzichten. Daraus aber eine Untergangs- und Erlösungstheorie für die gesamte Menschheit zu basteln, ist unverantwortlich. Ängste zu schüren, statt fundiert aufzuklären, mit enormem Werbeaufwand (facebook etc.) Verunsicherung in die Köpfe der Konsumenten zu pushen,

Haben wir nicht schon genug Verschwörungstheorien? Ist es wirklich sinnvoll, ein Produkt der Natur, das im Lauf der Menschheitsgeschichte Milliarden von Menschen das Überleben ermöglicht hat, zu dämonisieren? Ich stelle mir gutmeinende Eltern vor, die nach dem „Verzehr“ des Buches mit ihren Kindern durch die Felder spazieren und ihnen erklären: „Schau, ein Weizenfeld, da wird eine schädliche Pflanze angebaut.“



Und sicher: Wir sollten uns nicht ausschließlich von irgendwas ernähren, auch nicht von Weizen, und wir sollten darauf achten, dass die Vielfalt der Arten erhalten bleibt und die Züchtungen nicht in Sackgassen führen. Wir sollten organischen Anbau vor industriellem bevorzugen und durch unseren Konsum fördern. Und wir sollten Horrormeldungen, auch wenn sie in einem weißen Mantel und mit dem Anschein der Seriosität vorgetragen werden, überprüfen und uns selber ein Urteil bilden.

Wir sind noch immer die ersten und hauptsächlichen Experten unserer eigenen Gesundheit durch unseren direkten Draht zu unserem Körper. Pflegen wir diese innere Kommunikation, tun wir mehr für unser Wohl als durch die Lektüre von polemischen Büchern und durch die Verbreitung der damit verbundenen Vereinfachungstheorien.

Statt „Weizenwampe“ empfehle ich als Lektüre ein Interview mit dem Gastroenterologen, Diabetologen und Internisten Prof. Holtmeier.