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Dienstag, 8. Juli 2025

Die vielen Guten und die wenigen Bösen

Viele, viele Menschen sind grundsätzlich gegen Krieg, Unterdrückung, Hunger, Ungerechtigkeiten und Ausbeutung eingestellt. So verhalten sich Menschen im Normalfall. Sie wollen das Gute und lehnen das Böse ab. In Einzelfragen gibt es Unterschiede, und bei moralischen Fragen tauchen oft auch widerstreitende Meinungen auf. Doch geht es dabei um unterschiedliche Auffassungen von dem, was unter dem Guten verstanden wird.

Wir haben es nur mit einer kleinen Gruppe von Personen zu tun, die voller Überzeugung Hass und Gewalt in Wort und Tat propagieren und ausleben. Es sind Menschen voll innerer Verbitterung und Verzweiflung, die es geschafft haben, sich einen Habitus von Stärke und Durchsetzungskraft zu geben und damit andere zu beeindrucken. 

Damit erwecken sie bei vielen den Eindruck, dass es sinnvoll ist, dem Guten mit Hass und Gewalt zum Durchbruch verhelfen zu wollen. Es sind die Ängstlichen und Verschämten, die sich verblenden lassen und die Nöte der Hetzer und Unverschämten nicht durchschauen. Vielmehr erhoffen sie sich von den Hasspredigern Abhilfen für ihre eigenen Ängste und Nöte. 

Deshalb schaffen es immer wieder viele der von Bosheit getriebenen Menschen, in verantwortungsvolle Machtpositionen zu gelangen. Dort richten sie großes Unheil an, in der Überzeugung, damit letztendlich dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen. Ihre menschenverachtenden und Zerstörung bewirkenden Taten versuchen sie durch Manipulationen und Wahrheitsverdrehungen zu verschleiern. Sie rechtfertigen das Böse, das sie tun, mit der moralisch verbrämten Überzeugung, es wäre der einzige Weg zur Verbesserung der schlechten Zustände. 

Tue Böses, damit daraus Gutes erwachse

Die Formel: Tue Böses, damit daraus Gutes erwächst, spielt eine zentrale Rolle bei der Popularisierung von Hass und Gewalt. Sie hat ihre Wurzel in gewaltvoll agierenden Erziehungspraktiken, die davon ausgehen, dass Kinder von Natur aus böse sind und von Anfang an gemaßregelt werden müssen. Mehr dazu im nächsten Blogartikel.

Eine überwältigende Mehrheit will das Gute und nur wenige das Böse, aber allzu viele nehmen das Böse hin, ohne sich dagegen zu wehren oder folgen ihm sogar, weil sie dadurch Besseres erhoffen. Dennoch haben wir viel Grund für die Hoffnung, dass es Erscheinungen sind, die sich mit aller Macht in den Vordergrund drängen, aber dann wieder zurücktreten müssen, wenn sich die anderen Kräfte gesammelt haben. Denn die Rückschritte in der Moral und in den (Menschen)rechten auf ein mittelalterliches Niveau (vgl. die Propagierung des "Rechts des Stärkeren") können nicht von Dauer sein. 

Allerdings haben es allzu viele von diesen Menschen in verantwortungsvolle Positionen geschafft, mit Unterstützung der Ängstlichen und Verschämten, denen sie Abhilfen für ihre Nöte versprochen haben. Das Unheil, das von solchen Manipulatoren angerichtet wird, ist groß. Fällt die Politik auf eine archaische Ebene zurück, so entstehen unweigerlich massive Spannungen in der Gesellschaft. Das ganze Gefüge beginnt zu krachen, weil die ökonomischen, sozialen und kulturellen Kräfte nach vorne ziehen, während die Politik mit aller Macht versucht, in die andere Richtung zu zerren.

Rückwärtsgewandte Ideologien können keine Zukunft gestalten

Wir haben trotz zahlreicher gegenteiliger Vorkommnisse, Grund für die Hoffnung, dass die manifesten Erscheinungen von bösen Taten, die sich mit aller Macht in den Vordergrund drängen, wieder zurücktreten müssen, wenn sich die anderen fortgeschrittenen Kräfte gesammelt haben. Denn die Rückschritte in der Moral und in den (Menschen)rechten auf ein mittelalterliches Niveau (vgl. die Propagierung des "Rechts des Stärkeren") können nicht von Dauer sein, weil sie kein Lösungspotenzial enthalten, sondern die Probleme nur verschärfen. Z.B. kann mit dem Prinzip „Aug um Aug, Zahn um Zahn“ kein Handel und Güteraustausch betrieben werden. Mit Machtausübung können keine Konflikte nachhaltig gelöst werden. Mit Schuldzuschreibungen statt Verantwortungsübernahme für eigene Fehler wird das Lernen unterbunden. Mit dem Hass auf Minderheiten kann keine globale Verständigung aufgebaut werden. Die Ablehnung der Verantwortung in Bezug auf die Zukunft der Umwelt führt dazu, dass die Kosten für die entstandenen Schäden umso größer werden.

Ab einem gewissen Grad an Zerstörung, der durch solche Rückentwicklungen angerichtet wird, wird immer mehr Menschen bewusst, dass sie durch das Tun des Bösen zum Zweck des Guten stärker verlieren als gewinnen. Der Widerstand wird schließlich so mächtig, dass sich die Kräfte des Fortschritts durchsetzen.

Die menschlichen Bestrebungen, die Lebensbedingungen zu verbessern, sind langfristig übermächtig 

Viele maßgebliche Entwicklungen schreiten voran, in der Wirtschaft, Technologie, im Sozialleben und in den Künsten. Sie sind angetrieben vom Bestreben nach der Verbesserung des Lebens. Sie führen unweigerlich zu mehr globaler Zusammenarbeit und beruhen auf ethischen Maßstäben, die von gegenseitigem Respekt und von der Achtung für die individuellen Unterschiede geprägt sind. Die meisten Bereiche stehen in globalen Zusammenhängen, sodass eine Politik, die auf kleinräumige oder auf die Vergangenheit gerichtete Interessen bezogen ist, keine Lösungen und Weiterentwicklungen anbieten kann, sondern an den Realitäten scheitern muss. Das Nationale hat keine Zukunft, wenn die Wirtschaft und viele Bereiche der Kultur längst die Staatsgrenzen überschritten haben. Das Gestrige liefert kein Verständnis für das Morgige, geschweige denn das Vorgestrige für das Übermorgige. 

Zum Weiterlesen:
Fortschritt trotz Rückschritten
Moralischer Fortschritt
Das "Recht des Stärkeren"


Freitag, 20. Juni 2025

Die Unverschämten und die Korruption

Zurzeit wird in Österreich ein Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen FPÖ-Parteiobmann und Vizekanzler Heinz Christian Strache vorbereitet. Er soll sich massiv an den Parteifinanzen für private Zwecke bedient haben: Schiurlaube, Geburtstagsfeste, Taxifahrten von Kindern und Mutter, teure Manschettenknöpfe, die als Büromaterial verbucht wurden usw. Da es sich bei den Parteifinanzen um Gelder handelt, die aus der öffentlichen Hand stammen, also von der Gesellschaft bezahlt werden, „vom kleinen Mann“, für den sich dieser Politiker so hingebungsvoll eingesetzt haben will, geht es um Korruption.

In diesem Artikel behandle ich die Zusammenhänge zwischen unverschämter Machtausübung und Korruption, nach der Erkenntnis, dass Macht korrumpiert, und absolute Macht absolut korrumpiert. Politiker, die zu einer absoluten Machtposition streben, innerhalb einer Partei oder eines ganzen Staates, sind deshalb der Korruption besonders zugeneigt.

Die Flucht aus der Beschämung

Die Sehnsucht von allen Verschämten liegt darin, aus der Scham herauszufinden und selber beschämen zu können, also andere in die Lage der Schwäche und Herabwürdigung zu bringen. Es gibt Verschämten, denen es gelingt, die Seite zu wechseln und in die Rolle der Unverschämten zu schlüpfen. Sie schaffen also die Gegenbesetzung, die Verkehrung ins Gegenteil – die Überwindung der Ohnmacht durch den Erwerb der Macht. Es ist eine Macht, die dann um jeden Preis gehalten und ausgebaut werden muss, denn sie bietet die Sicherheit gegen jede Beschämung.

Ein verbreitetes Mittel zur Verstärkung der Machtposition besteht darin, sie für eigene, persönliche Zwecke (oder die von Nahestehenden oder Verwandten) auszunutzen. Unverschämte, die an die Staatsmacht gelangt sind, sehen das als Einladung zur Selbstbedienung an den Ressourcen des Staates. Sie verfügen über vielfältige Möglichkeiten, Geld, das eigentlich der Gemeinschaft gehört, in die eigenen Taschen abzuzweigen, also Korruption zu praktizieren.

Beschädigung des Gemeinschaftsgefühls

Unter Korruption versteht man den Missbrauch einer anvertrauten Machtstellung oder Funktion zum privaten oder persönlichen Vorteil. In dieser Definition ist übrigens enthalten, dass Macht immer anvertraut ist, also einen Vertrauensvorschuss jener beinhaltet, die die Macht abtreten, z.B. die Wähler in einer Demokratie. Das lateinische Wort corrumpere bedeutet so viel wie verderben. Wenn Einzelne die Allgemeinheit für ihre egoistischen Zwecke ausnutzen, verderben sie das Gemeinschaftsgefühl in sich selber, sie lassen also die Schamgefühle, die sie an prosoziales Handeln erinnern, absterben. Sie sind dann verdorben oder verfault in dem Bereich ihrer Seele, der sie auf die Bedürfnisse der Mitmenschen aufmerksam machen will. 

Sie beschädigen auch das Gemeinschaftsgefühl im Außen. Denn der gesellschaftliche Zusammenhalt wird mit jeder korrupten Handlung geschwächt, die Vertrauensgrundlage erleidet einen Riss, das Misstrauen wächst. Dazu kommt, dass gemeinschaftsschädigendes Verhalten den Anreiz zur Nachahmung bietet. Menschen wollen sich grundsätzlich sozial verhalten, wenn sie aber merken, dass sich andere ihren Egoismus erlauben, sehen sie nicht ein, warum sie auf eigene Vorteile gegenüber der Gemeinschaft verzichten sollen. Auf diese Weise beginnt der soziale Zusammenhalt zu erodieren.

Außerdem ist eine besondere Form der Unverschämtheit, sich an der Gemeinschaft für die eigene Bereicherung zu bedienen, denn im Grund wird die ganze Gemeinschaft beschämt, der die beschämende Person angehört. Sie wird als Objekt der Bereicherung betrachtet, ohne eigenen Wert. Man kann ihr wegnehmen, was man will, ohne jede Rücksichtnahme.

Zwar entzieht sich die unverschämte Person gewissermaßen selbst den Boden, der ihre Sicherheit gewährleistet. Denn sie leben ja selber aus und durch die Gemeinschaft. Aber unverschämte Menschen sind unfähig, an die Konsequenzen ihrer Handlungen zu denken, weil sie den Blick in die Zukunft perfekt verschließen können. In ihrer Machtverblendung meinen sie, dass es das Universum gut mit ihnen meint, weil es sie an die Spitze gebracht hat und nun so reichlich mit öffentlichen Gütern versorgt. Also kümmern sie sich nicht um die Folgen ihrer Unverschämtheiten, sondern genießen sie. Fliegen die Machenschaften auf, so geben sie sich verwundert und empört, als wäre es eine bodenlose Frechheit und Bosheit, wenn jemand die Verbrechen aufdeckt, in die sie sich verwickelt haben. 

Rache an Eltern als Hintergrund der Korruptionsgier

Die Rechtfertigung für ihr Tun finden die Unverschämten im Hintergrund ihrer Seele in ihrer Vergangenheit und in allem, was ihnen angetan wurde, als sie noch klein und ohnmächtig waren. Die Unverschämtheit ist die Rache für erlittene Beschämungen. Die Korruption besteht darin, sich zurückzuholen, was einem die Eltern schuldig geblieben sind. Aus der kindlichen Sichtweise wirken die Eltern als Allmacht im Ganzen; für die korrupten Politiker steht dann der „Vater“-Staat stellvertretend für die Eltern, an dem sie sich jetzt schadlos halten können – als Rache und als Ausgleich für erlittenes Leid. Den Tätern in der eigenen Lebensgeschichte soll heimgezahlt werden, was sie verbrochen haben. Es sind solche unbewusst wirkende Mechanismen, die Politiker zur Korruption und Wirtschaftstreibende zur Steuerhinterziehung anleiten. 

Da Unverschämte viel zu wenig Empathie in ihren Aufwachsen erhalten haben, bringen sie auch kein Mitgefühl für die Opfer der eigenen Rücksichtslosigkeiten und Bosheiten auf, sondern glauben sich im vollen Recht, sich auf Kosten anderer Menschen und der Allgemeinheit zu bereichern. Sie denken nur an die Schädigungen, die sie selbst erlitten haben, und sie suchen jene Formen der Wiedergutmachung, die sie reicher und mächtiger macht. Denn Reichtum und Machtfülle gelten ihnen als einzige Absicherung gegen jede Gefahr der Beschämung und Demütigung.

Ein funktionierendes Justizsystem in demokratischen Staaten ist der beste Garant gegen ausufernde Korruption. Dazu kommen investigative Medien, die oft Korruptionsfälle aufdecken. In autoritär regierten Staaten werden deshalb die Medien an die Kandare genommen, die Justiz wird politisch beeinflusst, um die korrupten Machenschaften nicht zu behindern. 

Zum Weiterlesen:
Die Unverschämten und ihr Kampf gegen die Aufklärung
Die Demokratie, die Verschämten und die Unverschämten
Die Verschämten und die Unverschämten


Mittwoch, 11. Juni 2025

Die Demokratie, die Verschämten und die Unverschämten

Nichts stört die Unverschämten mehr als eine übergeordnete Kontrolle. Sie können ihr Muster am besten ausspielen, wenn ihrem Machtstreben kein Widerstand entgegensteht. Im Wesen der Unverschämtheit liegt es, die eigenen Grenzen immer weiter auszudehnen, gleich ob dies auf Kosten der anderen geht. Macht will weiterwuchern, bis sie auf eine Gegenmacht stößt, die ihr Einhalt gebietet. In der Demokratie gibt es institutionalisierte Grenzen für die Machtausübung von Einzelpersonen und Gruppen: Wahlen, begrenzte Funktionsperioden, Kontrollen für das Wirtschaften der öffentlichen Hand, parlamentarische Willensbildung, Antikorruptionsbehörden, unabhängige Medien usw. In einer funktionierenden Demokratie wird jede Unverschämtheit irgendwann publik und ist dann Gegenstand von öffentlicher Beschämung. 

Deshalb versuchen unverschämte Politiker, sobald sie an die Macht gekommen sind, die Demokratie zu unterlaufen oder ihre Kontrollmechanismen abzubauen. Die antidemokratische Zerstörungswut kann so weit gehen, dass Gesetze und richterliche Anordnungen ignoriert werden, dass Notstandsgesetze ohne Not aktiviert werden, dass freie Medien verboten werden usw. Auf diese Weise soll die Spielwiese erhalten bleiben, auf der sich ihre Unverschämtheit austoben kann. 

Die Verschämten als Spielbälle der Unverschämten

Insgeheim (manchmal auch offen) verachten die Unverschämten die Demokratie, weil dieses System dem Ausufern der Macht Grenzen setzt. Sie sind dermaßen überzeugt von ihrer Mission, dass ihnen jede Kontrolle als Bosheit erscheint. Sie meinen generell, dass die Verschämten in diesem System ihre Macht auf Kosten der Unverschämten ausüben können. Sie nehmen an, dass die minderbemittelten Leute ihre Schwächen durch ein Regierungssystem kompensieren wollen, das die „Schwachen“ auf Kosten der „Starken“ bevorzugt. Sie setzen Unverschämtheit mit Stärke gleich und geben sich das Recht, die Schwachen für ihre Zwecke auszunutzen. Sie brauchen sie, um in der Demokratie an die Macht zu kommen und dann ihre Politik verfolgen zu können, die sich einen Deut um die verachteten „Schwachen“ kümmert.

Irgendwann merken die Verschämten das Spiel, das mit ihnen gespielt wurde. Dann wenden sie sich ab und schämen sich für die eigene Blindheit. Aber, solange sie von ihrer Scham beherrscht bleiben, suchen sie nur die nächste unverschämte Person, der sie nachlaufen, weil sie sich von ihr die Rettung und Erlösung erhoffen. Die vorgespielte Stärke der Unverschämten imponiert ihnen und gibt ihnen Hoffnung, aus der Misere herausgeführt zu werden.

Die Unverschämten haben einen manipulativen Dreh entwickelt, mit dem sie die Verschämten vor ihren Karren spannen können. Sie überzeugen die Verschämten davon, sie, also die Unverschämten zu wählen, weil sie ihnen versprechen, sie aus ihrer Schamposition herauszuholen. „Ich mache euch wieder groß, wenn ihr mir folgt“ – so die Botschaft unverschämter Machtpolitiker. Einmal an der Macht, versuchen sie, die demokratischen Kontrollen zu unterlaufen, um die Unverschämtheit ungehindert ausleben zu können. Damit nehmen sie den Verschämten weg, was sie schützt und stützt. Diese werden aber im Glauben gelassen, dass das alles nur zu ihrem Guten geschieht. 

Die Blockierung des Lernens aus der Geschichte

Die Schamimprägnierung, die die Verschämten in ihrer Rolle der Schwäche festhält, hindert wirkungsvoll am historischen Lernen: Am Erkennen der Destruktivität, die in der Unverschämtheit liegt, und der Mittäterschaft, der sie sich schuldig machen, weil sie sie unterstützen. Deshalb wiederholt sich das Schauspiel, wie wir es zur Zeit in den USA beobachten können und wie es die Wahlerfolge der AfD in Deutschland, der FPÖ in Österreich und ähnlich gestrickter Parteien in anderen europäischen Ländern widerspiegeln. Die Leistungsbilanz dieser Parteien der Unverschämten, die Regierungsverantwortung übernommen haben, schaut denkbar schlecht aus. Die Sozialgesetze werden beschnitten, die individuellen Freiheitsrechte werden eingeschränkt, die Gewaltenteilung wird unterlaufen, die unabhängigen Medien werden ausgehungert oder verboten, die Kulturlandschaft verödet, die Korruption gedeiht, die Klimapolitik wird vernachlässigt. Einzig rigorosere Einwanderungsgesetze, die den Menschenrechten oder zumindest der Menschlichkeit widersprechen, können sie für sich verbuchen.  

Die Schamprägung überwinden

Für die Verschämten liegt der einzige Ausweg aus ihrer Opferrolle darin, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und ihre Schambarrieren zu überwinden. Wenn sie ihre eigenen Tendenzen zur Unverschämtheit erkennen, gewinnen sie mehr Selbstvertrauen und achten mehr auf ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen. Sie lassen sich nicht mehr alles gefallen und erkennen leichter, wenn sie jemand zu manipulieren versucht. Sie erinnern sich an das, was ihnen von den Unverschämten angetan wurde und gehen ihnen nicht mehr auf den Leim.

Mit dem Selbstbewusstsein von Bürgern, die an ihrem eigenen Regierungssystem verantwortlich mitwirken, können sie dann erkennen, dass die Demokratie ein System des Ausgleichs darstellt, das tendenziell die Schwächeren stärkt. Die Kraft, die durch das Verlassen der Opferrolle freigesetzt wird, verhilft dazu, die versteckten Tendenzen zur Unverschämtheit im eigenen Inneren zuzulassen. Denn es braucht ein Stück Unverschämtheit, sich gegen Unverschämtheiten zu wehren und die Auswirkungen von schamlosen Taten einzudämmen. Nur mündige Menschen, die ihre erworbenen Schamprägungen überwunden haben, sind in der Lage, die Unverschämtheit einzudämmen, indem sie die Machtallüren der Unverschämten ohne Scham zurückweisen. Auf diese Weise können sie konstruktiv an der Demokratie mitarbeiten und sie weiterentwickeln. 

Zum Weiterlesen:
Die Verschämten und die Unverschämten


Samstag, 26. April 2025

Sprachverzerrung durch Macht

Die Aufgabe der Sprache liegt im Wesentlichen darin, dass sich die Menschen untereinander abstimmen – über ihre Befindlichkeiten und über die Wirklichkeit. Menschen suchen immer nach der Übereinstimmung mit ihren Mitmenschen, um sich sicher zu fühlen. Für dieses Sicherheitsgefühl ist es auch notwendig, dass es eine Übereinstimmung über die Welt im Außen gibt. Mit Hilfe der Sprache teilen wir unsere Gemütszustände und unsere Wahrnehmung von der Wirklichkeit. Wenn zwischen den beiden Bereichen Widersprüche aufklaffen, entstehen Unsicherheit und Verwirrung als Reaktion. 

Damit wir einander vertrauen können, brauchen wir zumindest ähnliche Einschätzungen über die Wirklichkeit. Mit jemandem, der ganz konträre Ansichten über die Welt hat als wir selber, tun wir uns schwer, Vertrauen aufzubauen. Für das Vertrauen benötigen wir auch die Verlässlichkeit, dass die Menschen um uns herum eine gewisse Beständigkeit aufweisen, dass sie also nicht jeden Tag andere Meinungen vertreten. 

Auf diese Weise regeln die Menschen den Umgang miteinander. Missverständnisse werden nach Möglichkeit ausgeräumt. Die Übereinstimmung immer wieder herzustellen, ist ein wichtiges Anliegen, weil dadurch Vertrauen und soziale Sicherheit geschaffen werden. 

Machtgesteuerte Kommunikation

Systematische Verzerrungen entstehen vor allem dann, wenn sich die politische Macht in die kommunikativen Netzwerke einmischt. Macht hat von sich aus die Tendenz, sich auszuweiten, bis ihr eine andere Macht entgegentritt. In Demokratien, sorgt die Gewaltenteilung dafür, dass es zu jeder Form der Machtausübung eine institutionalisierte Kontrolle und Grenze gibt. Damit wird die Verschmutzung der kommunikativen Kanäle möglichst gering gehalten. Sobald die demokratischen Institutionen aufgeweicht oder ausgeschaltet sind, können die machtgesteuerten Kommunikationsinhalte und –formen umso leichter die Kommunikationsräume fluten. Die Folge ist die Verkrüppelung und Verzerrung der Sprache. Denn sie dient dann nicht mehr der Verständigung und der Übereinstimmung über die Realität, sondern der Durchsetzung von Sichtweisen ohne Realitätsbezug. Abweichende Sichtweisen werden unter Strafe gestellt oder anderswie aus den Kommunikationsräumen verbannt.  Die Funktion der Sprache, nach der Wahrheit zu suchen, um eine sichere Basis der Verständigung aufzubauen, verschwindet. Stattdessen wird der Unterschied zwischen Realität und Fantasie oder Ideologie eingeebnet. Die vorherrschende Macht legt fest, was für wahr gehalten werden muss. 

Die Nazisprache und die Folgen

Die langfristigen Folgen konnten wir schon beobachten: Der deutsche Sprachraum war auf Jahrzehnte hinaus verseucht durch die Nazisprache. Da sie weiter von rechten Kreisen gepflogen wird, ist die Verzerrung der Sprache nach wie vor nicht überwunden. Erst vor kurzem verwendete ein Rechtsabgeordneter im österreichischen Parlament den Ausdruck „Umvolkung“, einen NS-Terminus mit seinem gesamten rassistischen und gewaltbesetzen Gehalt, der ohne Ordnungsruf vom ebenso rechten Nationalratspräsidenten hingenommen wurde. Auf diese Art pflegen die Rechten und Rechtsextremen das „Niemals vergessen“: Die Sprachzerstörung immer wieder wachzurufen, um die Tür zur Diktatur offen zu lassen. Sprachzerstörung ist Gesellschaftszerstörung und damit direkt auch Menschenzerstörung. 

Sprachzerstörung in den USA

In den USA können wir gewissermaßen in Echtzeit verfolgen, wie die Unterwerfung des sozialen Diskurses, in dem die Sprache der Verständigung und der Herstellung von geteilten Realitäten dienen sollte, durch gewaltsame Eingriffe dem Machtapparat unterworfen wird. Das geschieht durch Bücherverbote, Zensierung von Lehrinhalten auf Schulen und Universitäten, existenzbedrohlichen Druck auf Staatsangestellte und öffentlich Bedienstete, durch das Verbreiten von Angst bei ausländischen Studenten und Immigranten, durch das Biegen des Rechts und durch ein Trommelfeuer an Propaganda und durch offensichtliches und schamloses Lügen. Sprache wird zum Instrument einer aggressiven und autoritären Politik, die ihre Macht ausbreiten und vertiefen möchte, um niemals mehr in die zweite Reihe zurücktreten zu müssen. Hitlers wahnwitziger Plan vom „Tausendjährigen Reich“ soll hier Auferstehung feiern, zunächst darin, dass Trump eine dritte Amtszeit entgegen der Verfassung anstrebt und in dieser Zeit die Weichen stellen wird, dass die Republikaner, die auf seinen Kurs getrimmt sind, in Hinkunft jedes Mal die manipulierten Wahlen gewinnen werden.

Die Erosion der Sprache und damit des gesellschaftlichen Diskurses geschieht schleichend. Die Sprache wird sukzessive mit Gewaltvokabeln angereichert, bis diese Aufladung als normal empfunden und von immer mehr Menschen angewendet wird. Begriffe werden ihren bisherigen Kontexten entrissen und mit ideologischen Inhalten besetzt. Die Grenzen zwischen Realität und frei erfundenen Fantasiewelten werden aufgeweicht und durchlässig, sodass jede Sicherheit in der Unterscheidung zwischen diesen beiden Bereichen schwindet. Die politische Macht, die sich zur alleinigen Deutungsmacht aufschwingen will, bestimmt über das, was wirklich und unwirklich ist. Es ist eine Willkür ohne einen realen Außenpol, der korrigierend eingreifen könnte. 

Die epistemische Willkür hält sich auf Dauer allerdings nur als Wahnsinn oder mit Hilfe brutaler Macht. Irgendwann zerschellt das Fantasiegebäude an der unerbittlichen Wirklichkeit, und die Machtkonstruktionen brechen zusammen. Es dauert aber noch lange, bis die Schädigungen an der Sprache repariert sind und die Gewalt- und Machteinflüsse identifiziert und entfernt werden können.

Zum Weiterlesen:
Der Hass in der politischen Fixierung
Der Propagandatrick der Umkehrung
Taktiken zur Machtergreifung
Der Angriff auf den Wahrheitsbegriff von rechts


Freitag, 11. April 2025

Weltmacht ohne Mitgefühl

Bei einer geleiteten Meditation in der Natur, an der ich kürzlich teilgenommen habe, wurde ein Text vorgelesen, in dem neben vielen schönen und erhebenden Worten zweimal „Amerika“ erwähnt wurde. Mir wurde in dem Moment bewusst, wie sehr sich das Wort „Amerika“ in wenigen Wochen in meiner Gefühlswahrnehmung von neutral bis leicht positiv in einen extrem schlechten Bereich verschoben hat. Es löst Gefühle von Ekel bis Abscheu, Ärger und Unsicherheit aus.

Mir ist klar, dass Amerika viel, viel mehr als die USA ist und auch, dass das, was gegenwärtig in diesem Land geschieht, von vielen US-Bürgern abgelehnt wird. Aber die Mächtigsten im Land zählen auch zu den Mächtigsten auf dieser Welt, und ihre Einstellungen und die daraus folgenden Handlungen haben zum Teil massive Auswirkungen auf große Teile der Weltbevölkerung. Darum kann es uns nicht egal sein, was in den Machtzentren der USA abläuft und welche Absichten jene haben, die an den Schalthebeln sitzen.

Mein erstes Amerikabild war geprägt von den Erzählungen der Erwachsenen in meiner Kindheit, und das war überwiegend positiv, vor allem im Gegensatz zu den Russen, die als barbarisch und bedrohlich geschildert wurden – eine Mischung aus realen Erfahrungen mit vergewaltigenden russischen Soldaten und solchen, die die Armbanduhren in der Bevölkerung abkassierten und aus der Nazi-Propaganda, die viel Hass und Angst auf die „bolschewistischen Untermenschen“ schürte.

Über das Bild der zuckerlverteilenden amerikanischen Besatzungssoldaten legte sich später das des „hässlichen Amerikaners“, gespeist aus den Bildern und Debatten um den Vietnamkrieg. Der US-General, der damals drohte, ganz Vietnam „zurück in die Steinzeit“ zu bomben, steht als Symbolfigur für ein rücksichtsloses und gewaltbereites Land, dem viele damals wünschten, mit ihrer überheblichen und menschenverachtenden Politik zu scheitern, was auch in Vietnam geschah und als kollektives Trauma bis heute im Selbstbild der US-Amerikaner nachwirkt. Auch weltweit hat dieser Krieg zu einem Prestigeverlust für die Staaten geführt. Das Misstrauen gegen die machtgierigen Amerikaner ist bei vielen Linksgerichteten weit verbreitet und tief verwurzelt. Es spielt beispielsweise bei der Beurteilung der Ursachen des Ukrainekrieges mit. Die Sichtweise, dass in diesem Fall Russland als Angreifer die alleinige Verantwortung und Schuld am Kriegsausbruch trägt, wird von vielen Linken, auf der Grundlage eines notorischen Misstrauens in die Machtambitionen der USA, in Frage gestellt. Es gibt aus diesem Blickwinkel verschiedene Narrative, die in den USA und der von ihr dominierten NATO die Hauptverursacher dieses blutigen Konflikts sehen.

Die Ambivalenz, Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit des Amerikabildes, die sich in meiner Beurteilung im Lauf der wechselhaften Geschichte der letzten Jahrzehnte niedergeschlagen hat, ist nun durch die jüngsten Ereignisse übertönt worden. Es scheint kaum zu glauben, wie schnell die Demokratie in den USA kollabieren kann, wenn ein selbstbesessener Präsident skrupellos sein autoritäres Programm durchzieht. Es ist viel die Rede von einer Schockstarre, in die die nunmehrige Opposition und die Zivilgesellschaft gefallen wären, überrollt vom Dauerfeuer aus dem Weißen Haus. Aber nun mehren sich die Anzeichen von Widerstand – mit wenig Aussicht auf Erfolg.

Für viele Generationen von Menschen auf der Welt galten die USA über lange Zeit als Symbol einer Freiheitsverheißung. Doch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten hat zur Zeit nur eine etwas weniger brutale Kopie von Hitlerdeutschland zu bieten: Militärische Hochrüstung, Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Machtlosigkeit des Parlaments, Gängelung der Justiz, aggressive Außenpolitik, Rassismus und Ausgrenzung von Minderheiten.

Macht ohne Verantwortungsübernahme

Die USA sind aus der Menschheitsgemeinschaft ausgeschert, weil sie laut gegenwärtiger Regierung auf keinen Fall mehr Verantwortung tragen wollen außer für die von der eigenen Ideologie diktierten engstirnigen Maßnahmen, die angeblich Amerika groß machen sollen. Bei der Erdbebenkatastrophe in Myanmar sind die amerikanischen Hilfsteams ausgeblieben, vor Ort waren die Chinesen und Russen, die in dieser Hinsicht die USA an gelebter Empathie weit in den Schatten gestellt haben.

Der US-Regierung ist der Preis egal, der durch ihre Maßnahmen bezahlt werden muss – in der eigenen Bevölkerung, die unter dem Kahlschlag in der Verwaltung und im Gesundheitssystem sowie unter den Folgen der Zollpolitik leiden muss. Noch weniger schert man sich darum, wie es dem Rest der Welt mit den willkürlichen Maßnahmen geht (das bettelarme Bangla-Desh wird mit 74% „Strafzöllen“ belegt, weil es mehr Waren nach den USA liefert als umgekehrt, denn dort können sich nur wenige einen Tesla oder einen Whiskey kaufen. Tausende werden dort um ihre Arbeit und ihre Existenz gebracht). Soviel offensichtliche Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit haben in der Geschichte der Menschheit nur skrupellose Diktatoren gezeigt, die allesamt letztlich katastrophal gescheitert sind, eine Spur der Zerstörung hinterlassend.

Macht ist in der Regel mit Verantwortung verbunden, viel Macht mit viel Verantwortung. Diese einfache Gleichung war den bisherigen Präsidenten der USA zumindest ansatzweise bewusst. Der jetzige Präsident fühlt sich offenbar nicht mehr daran gebunden und kehrt sie um: Je mehr Macht, desto weniger wird die Verantwortung für die Folgen der Machtausübung wahrgenommen, sowohl im eigenen Land als auch auf der ganzen Welt. Die Folgen sind bei weitem nicht abschätzbar, aber nach dem, was sich jetzt schon abzeichnet, sind die Aussichten trübe. Die Ökonomen sagen einhellig, dass es bei dem entfachten Zollkrieg nur Verlierer gibt; diese Erkenntnis gilt vermutlich für all die anderen Politikbereiche ebenso, in denen sich die Zerstörungswut des Präsidenten und seiner Gefolgsleute austobt.

Aus Katastrophen lernen

Die Erfahrung mit Rückschritten und Rückfällen in vormoderne, um nicht zu sagen primitiv barbarische Formen der Politik im Lauf der neueren Geschichte zeigt, dass nach der Überwindung der dadurch ausgelösten Katastrophen neue Anläufe zu mehr Menschlichkeit und zur Übernahme von globaler Verantwortung unternommen wurden. Jede Katastrophe löst unweigerlich Lernprozesse aus; mit mehr Vernunft und Bewusstheit könnte oder sollte es freilich die Menschheit schaffen, auch ohne Katastrophen die notwendigen Lernschritte zu setzen.

Die Beseitigung der Empathie, also der Mitmenschlichkeit im Bewusstsein der gegenseitigen Verantwortung für das Wohlbefinden der jeweils anderen, schlägt irgendwann hart auf dem Boden der Realität auf. An diesem Punkt wird plötzlich in aller Deutlichkeit bewusst, worum es eigentlich geht in den menschlichen Angelegenheiten. Wie ein Verbrecher, der im Gefängnis versteht, dass ihn das Ausleben des Bösen nicht glücklich gemacht hat, erkennen viele Menschen im Scheitern, dass sie sich im verantwortungslosen Verfolgen der Selbstsucht nur tiefer in die Selbstbezogenheit verstricken, die irgendwann unweigerlich in Verzweiflung und Sinnlosigkeit endet. Die Tragik der menschlichen Geschichte liegt darin, dass diese Erkenntnis oft erst zugänglich wird, wenn alles, was das Ziel der egoistischen Bestrebungen war, in Trümmer zerfallen ist. Das Ego will sich erst verabschieden, wenn es alles ruiniert hat, was es sich erträumte. Wo die Identifikation mit dem Ego so mächtig ist, gelingt ein Ausbruch aus seinen Fängen nur im Scheitern, im Zusammenbruch; tragisch wird es dann, wenn viele andere in diesen Strudel hineingezogen werden, wie z.B. im Ende des Großdeutschen Reiches in den Ruinen und Schuttbergen der deutschen Städte.

Mit unserer genetischen Grundausstattung kommen wir nicht über unser Ego hinaus, das sich höchstens auf ein Gruppenego ausweitet: Das Bindungshormon Oxytocin wirkt nur im vertrauten Umkreis und schürt Misstrauen gegen alles Fremde. Studien haben herausgefunden, dass die Empathie mit Machtgewinn schwächer wird. Je mehr Geld, desto mehr Macht, desto weniger Empathie – so will uns offenbar die Natur. Sie hat allerdings nicht mit den riesigen Anhäufungen von Geld und Macht gerechnet, die in der modernen Zeit durch den Kapitalismus möglich wurden. Die Natur hat uns allerdings auch eine enorme Lernfähigkeit mitgegeben, die wir nutzen können, um unsere Vernunft auszubilden. Sie ist in der Lage, das Ego und seine selbstdestruktiven Impulse zu durchschauen und zu überwinden.

Erst wo die Vernunft das Ego einzuschränken vermag, wird ein Handeln möglich, das von Verantwortung getragen ist. Die Vernunft vermag über den Tellerrand der eigenen individuellen und kollektiven Bedürfnisse schauen und ist offen für ein universelles Mitgefühl, also für ein Verständnis des Leides der gesamten Menschheit.

Zur Universalität des Mitgefühls:
Natan Sznaider: Politik des Mitgefühls. Die Vermarktung der Gefühle in der Demokratie. 
Weinheim: Beltz Juventa, 2021

Zum Weiterlesen:
Musk: "Empathie - eine Schwäche der westlichen Zivilisation"
Der heroisierte Verzicht auf Empathie
Der Propagandatrick der Umkehrung
Taktiken zur Machtergreifung
Muster der rechtsorientierten Propaganda

Sonntag, 16. Februar 2025

Der Angriff auf den Wahrheitsbegriff von rechts

Wir leben in Zeiten, in denen ein Kampf um die Deutungshoheit und die Wahrheitsfindung mit allen Mitteln geführt wird. Es stehen dabei nicht weniger als die liberalen Errungenschaften einer rationalen und demokratischen Wahrheitsfindung und damit die Grundlagen einer modernen Gesellschaft auf dem Spiel. Es werden von rechter und rechtsextremer Seite alle Register der Manipulation gezogen, um den Wahrheitsbegriff systematisch zu untergraben und damit der Willkür preiszugeben. Die angestrebte Folge ist, dass derjenige die Wahrheit prägt, der die Macht hat. Die Wahrheitszerstörung wird als Mittel zur Machtergreifung perfektioniert, um dann durchsetzen zu können, was die Menschen für wahr zu halten haben. Die Nationalsozialisten und die anderen faschistischen Regime haben das vor hundert Jahren vorexerziert, und ihre Nachahmer sind weltweit auf dem Vormarsch.

Hier werden ein paar der Manipulationstechniken beschrieben, die in aller Unverschämtheit die sozialen Medien fluten und mehr und mehr die öffentliche Debatte bestimmen. Alle, die weiterhin daran interessiert sind, dass die Wahrheit in einem liberalen Rahmen von Respekt und Achtung gefunden werden soll, müssen sich mit diesen manipulativen Untergriffen beschäftigen, um sie entlarven und bloßstellen zu können, sodass der öffentliche Diskurs von toxischen Elementen frei gehalten wird.

Bullshitting

Der US-Philosoph Harry Frankfurt hat diesen Begriff erstmals 1986 geprägt. Bullshitting wird mit „Humbug“, „Hohlsprech“ oder „Geschwurbel“ übersetzt. Das Wort „bull“ heißt nicht nur Stier, sondern hat auch die Bedeutung von lügen und täuschen. Dieses Phänomen tritt zunächst dann auf, wenn Menschen über Dinge reden, von denen sie nichts verstehen. Es geht dabei weniger um die Falschdarstellung von Dingen als um eine Täuschung über sich selbst. 

Näher betrachtet, wirkt die systematische Verwendung dieser Kommunikationsform schlimmer als Lügen, bei denen es um das Mitteilen von bewussten Unwahrheiten geht, wobei also der Lügner die Wahrheit grundsätzlich anerkennt und sie nur verstecken will. Beim Bullshitting wird die Grundlage der Wahrheit selbst angegriffen. Es wird das Recht auf das Ausdrücken der eigenen Sichtweise über jeden Wahrheitsbezug gestellt. Die Wahrheit liegt einzig und allein im Aussprechen dessen, was man sagt. Man maßt sich die Macht an, sagen zu können, was man will – wir verfügen ja über die liberale Errungenschaft der Meinungsfreiheit, die solange missbraucht wird, bis sie alle loswerden wollen. Ob das Gerede Sinn macht, sozialförderlich oder wirklichkeitsbezogen ist, zählt nicht. Es geht nur darum, im öffentlichen Diskurs möglichst viele giftige Rückstände zu hinterlassen, die andere dann wegräumen sollen. Hauptsache ist es, präsent zu sein und möglichst viel Raum einzunehmen, den die anderen, die Gegner, nicht haben.

Hannah Arendt, die scharfsinnige Kritikerin des Nationalsozialismus, hat schon vor vielen Jahren darauf verwiesen, dass fortgesetztes Lügen nicht darauf abzielt, dass die Leute schließlich an die Lüge glauben, sondern dass sichergestellt werden soll, dass niemand mehr an irgendetwas glaubt. Ein Volk, das nicht mehr zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden kann, kann auch nicht zwischen richtig und falsch entscheiden – und mit einem solchen Volk kann man machen, was man will, so die Beobachtung von Hannah Arendt.

Der Conway-Move

In die gleiche Kerbe schlägt die berüchtigte Aussage von Trumps ehemaliger Sprecherin Kellyanne Conway, die  2017 von „alternativen Fakten“ sprach, als sie darauf angesprochen wurde, dass sie falsche Zahlen über die Teilnehmer bei Trumps erster Amtseinführung genannt habe. Nach dieser Auffassung gibt es nicht mehr nur Unterschiede zwischen Sichtweisen, sondern über die Wirklichkeit, die durch Fakten repräsentiert wird: Wenn A sagt, die Erde kreist um die Sonne, und B, die Sonne kreist um die Erde, dann sind das alternative Sichtweisen, die beide den gleichen Geltungsgrad beanspruchen. Niemand kann sagen, welche Aussage stimmt. Damit wird die Basis für die Bildung von konsensuellen Übereinstimmungen über die Existenz von Dingen geleugnet, weil für jeden andere Dinge existieren oder diese Dinge anders existieren und diese Unterschiede in den Existenzweisen akzeptiert werden müssen. Die Folge ist, dass sich dann als dominante „Wirklichkeit“ das durchsetzt, was mit mehr Macht verbreitet werden kann. Das ist die Gefahr, auf die George Orwell in seinem Roman 1984 hingewiesen hat: Die lückenlose Kontrolle der Meinungsverbreitung durch die Machthaber führt dazu, dass alle nur mehr das Gleiche denken. Es gibt keinen Bezugspunkt in der Realität, der ein sicheres Wissen bieten kann, sondern alles kann so gesehen werden oder auch anders. Die jeweiligen Machthaber entscheiden dann über das, was real ist und was nicht.

Der Marlboro-Move

In einer ähnlichen Form gibt es diesen Ansatz in der Wahrheitsrelativierung schon länger. Zunächst haben sich bestimmte Teile der Wirtschaft des Tricks bedient, Forschungsergebnisse, die gegen ihre Produkte gesprochen haben, durch den Hinweis auf Gegenstudien zu entkräften. Dazu wurden entsprechende Studien gefälscht. Dieses Vorgehen kennen wir aus der Tabakindustrie – von da auch der Name –, aber auch von der Zuckerindustrie. Zurzeit sind wir massiver Propaganda von der Ölindustrie ausgesetzt, die den hohen wissenschaftlichen Konsens über die Ursachen des Klimawandels ignoriert und suggerieren will, dass das nur Einzelmeinungen sind und dass die Leugner der menschengemachten Erwärmung der Atmosphäre mindestens genauso recht haben. 

Mit solchen Manövern wird gezielt an der Glaubwürdigkeit der Wissenschaften gesägt; sie werden so dargestellt, als könne man mit ihrer Hilfe jeden Standpunkt bestätigen und jedes Geschäftsinteresse bedienen. Die Verlässlichkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die ausgefeilten Prüfinstanzen unterworfen sind, ist ein wichtiger Referenzpunkt für eine liberale Demokratie, und gerade deshalb ist sie den Gegnern dieser Staatsform ein Dorn im Auge. Mittels manipulativer und irreführender Rhetorik soll die Überzeugungskraft und die zentrale Rolle der Wissenschaften für die Wahrheitsfindung systematisch diskreditiert werden. Am Ende gibt es nur noch das Meinungsdiktat derer, die über genügend Macht und Geld verfügen.

Der “I Did My Own Research”-Move

Das Internet und die Plattformen für künstliche Intelligenz versetzen jeden in die Lage, Informationen zu sammeln. Man findet eine Seite, auf der jemand die eigene Meinung bestätigt, und schon verfügt man über eine Expertenmeinung und kann jeden anderen, der als Experte auftritt, übertrumpfen, auch wenn dieser auf wissenschaftlich anerkannte Forschungsarbeiten verweisen kann. Während der Pandemie-Zeit hat es nur so gewimmelt von selbsternannten Virologen und Impfexperten, die mit ihrem kursorisch angelesenen Halbwissen jeden ausgebildeten Virologen, der über jahrzehntelange Erfahrung in seinem Fachgebiet verfügte, als „Scharlatan“ verspotten oder als gekauften Büttel von Pharmakonzernen verleumden konnten. Ähnlich peinlich treten Leugner des menschengemachten Klimawandels auf, die in irgendeiner wissenschaftlichen Disziplin Experten oder sogar Nobelpreisträger sind, diese Position aber missbrauchen, indem sie ohne jede fachliche Qualifikation Erkenntnisse zu Klimafragen verbreiten und damit die Tausenden Klimawissenschaftler belehren wollen.

Der Bannon-Move 

Diese kommunikative Untugend ist nach dem ehemaligen Trump-Berater Steve Bannon, einem rechtsextremen Publizisten, benannt. Seine Schlachtruf ist bekannt: „Flood the zone with shit.“ Es geht darum, möglichst viele unsinnige, faktenfremde, hetzerische und hasserfüllte Botschaften in die mediale Landschaft hinauszuposaunen, ohne irgendeinen Wahrheitsanspruch, einfach nur mit dem Ziel, Aufmerksamkeit zu bekommen, laut zu sein und möglichst viel Verwirrung und Verunsicherung zu stiften. Wenn sich viele angeekelt von all dem „Scheiß“ abwenden, ist die Arena frei für die Meinungsdiktate der Autokraten.

Das Erbe der Aufklärung weiterführen

Für alle, denen es wichtig ist, das Erbe der Aufklärung zu bewahren und weiter zu entwickeln, geht es darum, sich den Wahrheitsbegriff nicht wegnehmen zu lassen, sondern ihn gegen alle Zerstörungsversuche zu verteidigen. Die Wahrheitsfindung, mit der die Menschheit den Weg von der Steinzeit bis in die Moderne erfolgreich beschritten hat, beruht auf zwei Zugängen: Die möglichst hohe Übereinstimmung zwischen der Theorie und der Wirklichkeit (die Korrespondenzwahrheit) und die möglichst hohe Übereinstimmung mit anderen Wahrheitssuchern (die Konsenswahrheit). Diese Formen der Wahrheitsfindung haben sich praktisch bewährt – alle Maschinen, Geräte und Bauwerke sowie alle komplexeren Formen des menschlichen Zusammenlebens sind aus der Anwendung dieser Zugänge zur Wirklichkeit entstanden. Im technischen Bereich besteht im Grund kein Problem; auch die Rechten wollen funktionierende Computer und sichere Hochhäuser. Aber die systematische Infragestellung der Wahrheitskompetenz der Wissenschaften, indem diese in den Dienst der Machtpolitik gestellt werden sollen, unterminiert selbst diesen Bereich. Diktatoren haben immer schon bestimmte naturwissenschaftliche Theorien und die damit verbundenen Forschungen, die nicht in ihre Ideologie passten, verboten und bekämpft. 

Besonders betroffen von den Attacken auf die Wissenschaften sind allerdings die Sozialwissenschaften. Denn sie forschen im Bereich des menschlichen Zusammenlebens, der von den Feinden der liberalen Demokratie mit allen Mitteln besetzt und umgestaltet werden soll. Deshalb sind diese Wissenschaften der natürliche Gegner für die selbsternannten Retter vor allem Bösen. Statt Formen der Kooperation zu fördern, geht es darum, möglichst überall das Recht des Stärkeren und Mächtigeren zu etablieren – aber damit kommt man in den Sozialwissenschaften nicht weit, und deshalb müssen eben diese Forschungsrichtungen unterdrückt werden. Die Trump-Administration hat schon eine lange Liste von Themen veröffentlicht, die nicht mehr mit Regierungsgeldern gefördert werden dürfen (z.B. Forschungen zum „Trauma“ oder zu indigenen Völkern); und auch private Geldgeber werden wohl unter Druck gesetzt werden, sodass ganze Forschungszweige stillgelegt werden müssen. Was auf Deutschland zukommen könnte, hat die AfD-Vorsitzende Alice Weidel kundgetan: „Soll ich sagen, was wir tun, wenn wir am Ruder sind? Wir schließen alle Gender-Studies und schmeißen alle diese Professoren raus.“ Soviel gilt also die Freiheit der Wissenschaften bei Rechtsparteien und unter den von ihnen angestrebten Diktaturen. 

Die Wahrheit muss über der Macht stehen

Nur eine starke und artikulierte liberale Zivilgesellschaft kann verhindern, dass die gezielt angewendeten Tricks der Meinungsmanipulation unter dem Deckmantel rechter Wahrheitsverbiegungen noch mehr Platz greift. Die Wahrheit darf niemals der Macht untergeordnet werden, denn dann bleibt die Freiheit auf der Strecke. Mit viel Einsatz haben Generationen vor uns die liberalen Grundrechte gegen autoritäre Staatssysteme errungen, die wir uns nicht von machtgeilen Möchtegerne-Diktatoren und ihren Speichelleckern und Mitläufern wegnehmen lassen dürfen. Die Alternative zu einer liberalen Demokratie ist eben eine illiberale, eine mit beschnittenen Freiheitsrechten, an deren Stelle eine unkontrollierte, korrupte und rücksichtslose Staatsmacht tritt, die den öffentlichen Diskursraum mit gleichgeschalteten Medien ausfüllt. Der Blick nach Orbán-Ungarn genügt, um zu sehen, wohin die Rechte steuert.

Zum Weiterlesen:
Fossile Propaganda und Klimazerstörung
Petromaskulinität und Klimazerstörung


Donnerstag, 11. Juli 2024

Was ist Manipulation?

Wir reden viel von Manipulation, oft ohne uns genauer zu überlegen, was eigentlich gemeint ist. Zunächst ist es klar, dass es um eine Form der Beeinflussung geht. A hat eine Absicht, und er will B dazu bringen, sie auszuführen. Statt einfach zu fragen, ob B die Absicht umsetzen möchte, wird die Absicht verschleiert und es wird versucht, B dazu zu bringen, zu glauben, dass es für ihn am besten ist, wenn er die Absicht von B ausführt. Beispiel: A möchte B einen Rasenmäher verkaufen. Er weiß, dass B schon einen Rasenmäher hat und keinen neuen braucht. Also muss er versuchen, B dazu zu bringen, dass er selber glaubt, einen neuen Rasenmäher zu kaufen. Es geht also darum, die Einstellung von B so zu verändern, dass dann das, was A will, von B gemacht wird, so dass B meint, es selber zu wollen, und damit können alle scheinbar zufrieden sein.

Die Beeinflussung von anderen geschieht unter Ausnutzung ihrer Schwachstellen und Unsicherheiten. Die Botschaft soll dort ins Innere eindringen, wo die Wachsamkeit aussetzt oder schlecht ausgebildet ist. Der Manipulator zieht seinen Gewinn aus der  Naivität, Gutgläubigkeit oder Gier der Menschen, indem er sie für seinen Vorteil empfänglich macht.

Wir nutzen für Manipulation auch den Ausdruck „jemandem etwas einreden“. Damit ist gemeint, dass wir mittels der Sprache die eigene Rede in jemand anderen einpflanzen wollen. Wir wollen, dass die andere Person unsere Rede und damit unsere Sichtweise übernimmt und zu ihrer eigenen macht. Sie soll also introjizieren, was wir aufoktroyieren wollen. Damit wird die Grundlage für ein Machtgefälle gelegt, indem B tut, was A will, und dabei meint, es selber zu wollen.

Es gibt beim Manipulator eine Absicht, mit der er die andere Person in eine bestimmte Richtung lenken will. Es gibt dazu einen bewussten Teil, der es für richtig befindet, dass das Objekt der Manipulation genau das tut, was man von ihr will. Es gibt auch einen unbewussten Teil, der spürt, wo die Schwachstelle der anderen Person ist, über die sie erreicht werden kann, sodass sie zustimmt, obwohl sie von sich aus nicht will. Aus der Zusammenarbeit dieser beiden Teile entsteht die Manipulation, die wirklich wird, sobald die Person B in die von A gewünschte Richtung geht und deren Absicht ausführt.

Manipulation durch Werbung

Bei der Werbung und Propaganda ist die Absicht klar und unverblümt, und ebenso sind die Schwachstellen der Menschen bekannt, durch Erfahrung und wissenschaftliche Erforschung. Es gibt viele Untersuchungen, wie Menschen zu bestimmten Einstellungen und über die Einstellungen zu Handlungen gebracht werden können, ohne dass sie es merken. Wir wissen zwar, was die werbetreibenden Unternehmen von uns wollen, schauen uns aber trotzdem ihre Botschaften an und können uns den Einflüssen nicht entziehen, die auf unsere unbewusst ablaufenden emotionalen Muster und Denkvorgänge wirken. Auch wenn wir gerade kein Parfüm kaufen wollen, fühlen wir uns freudig berührt, wenn wir ein trautes Paar sehen, das sich beim Sonnenuntergang liebkost. Wir wissen, dass das alles für einen bestimmten Zweck inszeniert ist, aber wenn wir irgendwann einmal in einem Geschäft die Marke sehen, für die geworben wurde, kann uns das gleiche Gefühl wieder befallen, und, so die Hoffnung der Manipulatoren, wir greifen diesmal zu und schon ist das Parfüm in der Tasche gelandet. Wir denken vielleicht später, dass wir eigentlich etwas ganz anderes einkaufen wollten, aber nun ist es schon zu spät. Die Manipulationsfalle ist zugeschnappt.

Zur Manipulation gehört, dass die beeinflusste Person nicht erkennen soll, dass sie beeinflusst wurde, sondern zur Meinung gelangen soll, dass sie eine bestimmte Ansicht von sich aus vertritt und für richtig empfindet. Es geht also um eine Fremdbestimmung, um Fernsteuerung, die unbemerkt ablaufen soll.

Die Parabel vom kleinen Hänschen

Es gibt Manipulationen, die dem Manipulator nicht bewusst sind. Sie bilden den Quell für alle späteren Manipulationsimpulse. Sie entstehen in der Eltern-Kind-Interaktion, wenn Eltern Erwartungen an die Kinder haben, die sie nicht direkt ausdrücken, weil sie mit Scham behaftet sind, aber die sie auf eine Weise mitteilen, dass die Kinder ein schlechtes Gewissen ausbilden, wenn sie die Erwartungen nicht erfüllen. Zum Beispiel sagt die Mutter zum Hänschenklein: „Geh nur in die weite Welt hinaus,“ aber ihr Blick drückt ihr großes Leid darüber aus, dass sie verlassen wird. Der kleine Hans geht in die weite Welt, also in seine Autonomie, aber das schlechte Gewissen holt ihn ein, er besinnt sich, weil er spürt, wie traurig die Mutter ist, und kehrt geschwind wieder heim. Vorbei ist es mit der Autonomie, er hat sich der manipulativen Macht der Mutter unterworfen.

Die Mutter „kann nicht anders“, d.h. sie hat keine bewusste Absicht, ihren Sohn zu manipulieren. Scheinbar will sie ja das Beste für ihn. Sie steckt jedoch fest in ihren narzisstischen Besitzansprüchen und übt damit die Macht aus, die ihr in ihr selber fehlt. Wenn der Sohn geht, fällt sie ganz auf sich selbst zurück und merkt, dass sie nichts wert ist. Also muss der Sohn wieder her, um dieses Vakuum zu füllen. Der kleine Hans lernt dabei, dass es keinen direkten Weg zur Erfüllung der Bedürfnisse gibt, sondern dass der immer über Manipulationen führen muss.

NLP und Manipulation

Eine interessante Wendung findet das Thema im NLP. Dort wird die Sache umgedreht: Manipulation gibt es nur, wenn sie von einem Empfänger zugelassen wird. Der augenscheinlich Manipulierte sorgt erst mit seiner Zustimmung dafür, dass der Manipulierende sich manipulierend verhält. Er manipuliert in diesem Sinne den von außen als aktiv gesehenen Manipulator. Wer Manipulation zulässt, macht sie erst zur Manipulation. Manipulation wird damit zu einer alltäglichen Vorgehensweise, die demnach nicht negativ bewertet werden muss. Es handelt sich um Abmachungen mit wechselseitiger Verantwortung.

Formal nachvollziehbar ist, dass es zum Zustandekommen einer Kommunikation immer zwei braucht, so auch bei einer manipulativen Kommunikation. Wenn B auf die manipulative Absicht von A nicht eingeht, entsteht keine Manipulation. Allerdings gehört zur Manipulation die bewusste Absicht zur Manipulation, die darin besteht, B nicht nur zu einer Handlung zu bewegen, z.B. zum Kauf des Rasenmähers, sondern bei ihm eine innere Haltung zu erzeugen, die diesen Kauf als dem eigenen Interesse dienend einschätzt.

Übersehen wird bei dieser Überlegung das Machtgefälle. Der Manipulierende will (bewusst oder unbewusst) der anderen Person seinen Willen aufzwingen. Er sucht einen Weg, auf dem die andere Person nicht merken soll, dass sie überrumpelt wird. Es gibt also immer eine Täuschungsabsicht, und sie markiert den Unterschied zwischen der Manipulation und anderen Formen der Überzeugungsrede. Mit Hilfe der Täuschung soll in die Innenwelt der Adressatin ein fremder Inhalt eingeschmuggelt werden, ohne dass der Schwindel bemerkt wird. Dieser Vorgang kann von beiden Seiten unbewusst ablaufen, wie beim Beispiel vom kleinen Hans, oder bewusst, wie in der Werbung oder bei einem Kundengespräch, bei dem z.B. Nachteile der angebotenen Ware oder Dienstleistung verschwiegen werden, bei dem also Mogelpackungen angepriesen werden. Das bekannte Beispiel sind die Kühlschränke, die an Eskimos verkauft werden.

Dem NLP wird nachgesagt, als Methode manipulativ zu sein und Manipulationstechniken zu lehren. Es gibt NLP-Kurse mit dem Titel: „Manipulieren, aber richtig.“ Ein Buch namens: „Mit NLP manipulieren“ wird folgendermaßen angepriesen: „In diesem Buch erfahren Sie erstmals, wie Sie Menschen mit Hilfe von NLP so manipulieren können, wie Sie es möchten. Mit Hilfe der richtigen NLP Technik lässt sich jeder Mensch marionettenartig so steuern, wie man es möchte. Hierzu bedarf es lediglich der richtigen NLP Technik.“ (Jacobsen, Frank, 2010)

Natürlich sehen das die Vertreter dieser Richtung nicht so und verweisen darauf, dass man mit dem NLP lernen kann, sich nicht manipulieren zu lassen. Das bedeutet aber, man könne nur mit NLP lernen, NLP-basierende Manipulationen zu durchschauen. NLP versucht, Einfluss auf das Unterbewusste des Interaktionspartners zu nehmen, auch ohne dass dieser es bemerkt. Damit liegt es an der ethischen Integrität dessen, der NLP anwendet, ob er mit seinen Techniken andere Menschen zum eigenen Vorteil täuscht oder ob er sie zum Vorteil der angesprochenen Person nutzt. Das NLP stammt ja zu einem gewissen Teil aus der Hypnotherapie (vor allem nach Milton Eriksson), bei der auch direkt auf das Unterbewusste der behandelten Person Einfluss genommen wird. In diesem Rahmen gibt es klare ethische Richtlinien, die die Klienten schützen. Das NLP hat die Anwendungsgebiete der hypnotischen Beeinflussungen auf andere Geschäftsfelder erweitert und wird z.B. in der Wirtschafts- und Politikberatung angewendet. Dort geht es aber um Konkurrenz und schnellen Gewinn unter Umständen auch auf Kosten anderer und nicht um Mitgefühl für Leidenszustände. Wer die Machtaspekte bei der Manipulation ignoriert oder verharmlost, öffnet dem egoistischen Gebrauch der Manipulation Tür und Tor.

Manipulationsuniversen in den sozialen Medien

Wer Unterlegenheitsgefühle, mangelndes Selbstvertrauen oder Angst hat, lässt sich leichter täuschen, ist leicht manipulierbar. Wer als Kind von den Eltern (zumeist unbewusst) manipuliert wurde, ist besonders anfällig für Manipulationen.

Manipulationen haben aber auch deshalb so viel Erfolg, weil es immer schwieriger wird, alle Angebote und Glücksversprechen, die auf uns einprasseln, zu überprüfen. Mit den sozialen Medien haben sich neue Universen der Manipulation geöffnet, in denen jedermann/frau die Manipulationskünste erproben kann, ohne Rücksicht auf irgendwelche ethischen Standards. Medienkompetenz gehört schon längst zu den Grundfähigkeiten im Umgang mit dem Informationsdschungel, dem wir ausgesetzt sind. Wenn wir aber von ungewollten Beeinflussungen frei bleiben wollen, müssen wir die Mühe auf uns nehmen, Faktencheck über Faktencheck durchzuführen.

Gebräuchliche Manipulationstechniken

Es gibt unterschiedliche Manipulationstechniken, die dort wirksam werden, wo es Grenzverletzungen in der Kindheit gegeben hat:

1.   Manipulation durch Wiederholung:
Hier geht es darum, die Botschaft so oft zu wiederholen, bis das Gegenüber „weichgeklopft ist“ und den Widerstand aufgibt. In der Erziehung ist es wichtig, Vorgänge immer wieder zu wiederholen, damit die Kinder lernen können. Wenn aber die Prozeduren, die immer wieder die gleichen sind, dem Kind nicht beim Wachsen helfen, sondern ihm Prügel vor die Füße werfen, wird es keinen kritischen Geist entwickeln.

2.   Manipulation durch Erzeugen von Angst:
Es wird der Eindruck erweckt, dass eine Entscheidung so schnell wie möglich getroffen werden muss, weil sonst ein großer Nachteil entsteht. Die Angst soll das logische und vernünftige Denken abstellen und zu spontanen Handlungen (z.B. Spontankäufen) anleiten.
Das Aufwachsen unter angstgeprägten Umständen macht empfänglich für die Motivation aus Angst.

3.   Manipulation des Denkens:
Ein weites Feld von Möglichkeiten gibt es bei der Beeinflussung der unbewusst ablaufenden Denkvorgänge, z.B. Übertreibungen, Fangfragen oder Faktenverdrehungen. Es werden Aussagen präsentiert, die nicht überprüft werden können, z.B. das Waschmittel wäscht weißer als alle anderen. Kinder, die mit Eltern aufgewachsen sind, die immer rechthatten und rechthaben mussten, merken schwerer, wenn ihre Denkvorgänge beeinflusst werden.

4.   Manipulation des Verhaltens durch Sprache:
Mit der Formulierung: „Man tut etwas (nicht)“ wird suggeriert, dass es sich um eine unumstößliche Norm handelt. Ebenso wirken Aussagen, die als Faktum behaupten, was nur eine Bewertung darstellt: „Es ist unmöglich, sich so zu verhalten.“ Wer mit solchen Mitteln erzogen wurde, neigt dazu, solche Behauptungen für bare Münze zu nehmen und sich danach zu richten.

5.   Manipulation von Informationen:
Informationen brauchen einen Kontext, um Sinn zu machen. Deshalb ist es relativ einfach, den Kontext zu verändern, ohne dass es bemerkt wird, und schon gewinnt die Information eine neue Bedeutung. Z.B. werden Informationen, die dem angepriesenen Produkt zum Nachteil gereichen, als unwichtig bezeichnet, und solche, die das Produkt auszeichnen, als einzig wichtig benannt. Allgemein heißt das, dass Informationen, die der eigenen Sichtweise entgegenstehen, ausgeblendet oder abgewertet, und Informationen, die diese Perspektive unterstützen, herausgestrichen und überbetont werden.
Wer schon als Kind entmutigt wurde, nach dem zu forschen, was die eigenen Normen und Werte sind, wird sich schwertun, sich gegen solche Manipulationen abzuschirmen.

6.   Manipulation von Bedürfnissen:
Unerfüllte Bedürfnisse motivieren uns zum Handeln. Deshalb ist der Zugriff auf die Bedürfnisse bei jeder Manipulation wichtig. Jeder Mensch leidet irgendwo unter einem Mangel, nachdem nie alle Bedürfnisse optimal erfüllt sind. Diesen Mangel aufzuspüren, ist die Kunst der Manipulatorin. Der zweite Schritt besteht darin, das eigene Angebot als perfekte Erfüllung genau dieses Bedürfnisses darzustellen. Viele der Mangelzustände sind emotionaler Natur: zu wenig Aufmerksamkeit, Zuwendung, Mitgefühl und Liebe zu bekommen. Also werden Produkte emotional aufgeladen, sodass sie scheinbar in der Lage sind, emotionalen Mangel auszugleichen. Z.B. suggeriert eine Schokosüßigkeit einen Genuss, der jeden inneren Mangel stillt. Viele, die als Kinder gelernt haben, statt emotionaler Zuwendung mit Nahrungsmitteln oder Medienkonsum abgespeist zu werden, sind anfällig für diese Form der Manipulation.

Zum Weiterlesen:
Manipulation erkennen und entzaubern
Astroturfing - Manipulation vom Feinsten
Die Begrenzung narzisstischer Manipulation
Wird die Demokratie von Manipulatoren gekidnappt?

Freitag, 30. Juni 2023

Der "Mainstream" als Kampfbegriff

Mit dem Begriff „mainstream“ bezeichnen wir einen Trend, eine Mehrheitsmeinung, eine Strömung in der Gesellschaft. In der Kultur wird er oft für den Populargeschmack verwendet, also für das, was den meisten gefällt. Es kommt dann immer wieder dazu, dass sich Gegenströmungen entwickeln, die dem populären Massengeschmack entgegen gerichtet sind, wie z.B. die Punk-Bewegung, die sich als Kontrast zur Pop-Kultur verstanden hat. Alles, was dem Mainstream zugeordnet wird, ist aus der Sicht der neuen Richtung per se schon schlecht. 

Es ist die Dynamik von Durchschnitt und Avantgarde, die sich in vielen kulturellen Phänomenen widerspiegelt und die die kulturelle Entwicklung vorantreibt. Die Minderheiten werden zunächst kritisiert und angegriffen, was sie zu einer weiteren Radikalisierung treibt, bis das Neue irgendwann in den Mainstream übernommen wird. Zerschlissene Jeans waren zunächst Notwendigkeiten für arme Menschen, die sich keine neue Kleidung leisten konnten, dann der provokante Ausdruck des Außenseitertums in einer Protestbewegung und schließlich ein Modeaccessoire, mit dem sich die Wohlhabendsten schmücken. 

Jeder neue Trend beginnt in einer Minderheit, dann bildet sich eine frühe Mehrheit, und sobald die Wirtschaft ein Geschäft wittert und die Werbung aufspringt, wird das, was vorher noch verächtlich abgewertet wurde, zum absoluten Muss für alle, und wer sich jetzt noch verweigert, gilt als fader Muffel. Inzwischen hat sich ganz wo anders schon wieder eine neue Minderheit gebildet und erschreckt die Leute im Zentrum der Gesellschaft mit einer neuen Provokation, bis auch dieses Phänomen wieder vermarktet wird und alle für hübsch befinden, was sie vorher als hässlich verabscheuten. 

Mainstream in der politischen Debatte

Vor einiger Zeit wurde der Mainstream-Begriff in die politische Debatte eingeführt, und zwar vor allem als Kampfbegriff. Die Medienlandschaft wird dabei in zwei Kategorien geteilt: Öffentlich-rechtliche Medien sowie Zeitungen und Magazine, die von Wirtschaftsgruppen finanziert werden, auf der einen Seite, und alternativen Informationsquellen. Diese Einteilung nehmen vor allem Personen und Gruppen vor, die glauben, sich in einer Außenseiterposition zu befinden. Sie verstehen sich als Avantgarde und denken, sie wissen und verstehen vieles besser als die einfältige Mehrheit.

Der Vorwurf der Manipulation

Deutlich hervorgetreten ist dieses Phänomen vor fast zehn Jahren, als Russland 2014 die Krim annektierte. Die Verurteilung dieser Aktion war im Westen einhellig und wurde auch von den meisten Medien übernommen. Andere wieder vermuteten eine mediale Gleichschaltung hinter dieser Einhelligkeit und suchten alternative Sichtweisen, wie sie z.B. von den russischen Medien angeboten wurden. Auf diese Weise konnte die russische Aggression entschuldigt werden, die einen Bruch des Völkerrechts bedeutete und die erste militärisch erzwungene Gebietserweiterung in Europa nach dem zweiten Weltkrieg war. Die Entgegensetzung von Mainstream und alternativen „Wahrheiten“ wurde zu einem politischen Kampfmittel.

Die Notwendigkeit der Medienkritik

Die Suche nach alternativen Sichtweisen ist an und für sich eine Form der Bewusstseinserweiterung und ist ein wichtiger Bestandteil jeder wissenschaftlichen Forschung. Sie würdigt die Unterschiedlichkeit der Menschen und das kreative Potenzial, das im Eröffnen von neuen Perspektiven steckt. Eine konstruktive Medienkritik ist ein zentrales Element in der Demokratie, in der die verschiedenen Medien eine tragende und korrigierende Rolle spielen sollen, aber oft durch wirtschaftliche Verflechtungen bestimmte Interessen vertreten. Dann bleibt die objektive Berichterstattung auf der Strecke und die Informationen werden gefiltert. Die Medien können ihre aufklärende Rolle in der Demokratie nur spielen, wenn sie unabhängig sind, und die Medienkritik muss auf interessengeleitete Meinungsbildung aufmerksam machen und einseitige oder ideologisch gefärbte Berichterstattungen analysieren und ergänzen. Sonst gelten die Aussagen von Marx und Engels: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken.“

Deshalb ist es autoritären Führungspersonen, die demokratisch an die Macht kommen, ein wichtiges Anliegen, die Medien zu kontrollieren und unter ihren Einfluss zu kriegen, damit sie ihnen nicht mit lästiger Kritik in die Suppe spucken, sondern beim Machterhalt dienlich sein sollen. Beispiele aus Ungarn und der Türkei zeigen, wie erfolgreich diese Strategie ist, wenn sie konsequent durchgezogen wird. Die Mächtigen sind kaum zu entthronen, weil ihre Gegner in den Medien kaum am Rande vorkommen und die meisten Leute nur mehr an einen Informationskanal angeschlossen sind.

Medienkritik als Gesellschaftskritik

In der politischen Debatte wird die Kritik an  bestimmten Medien allerdings oft mit grundlegenden Kritikpunkten vermischt. Alternative Narrative werden gerne mit einem höheren Wahrheitsanspruch verbunden als die „offizielle“ Erzählweise, also jene, die von den „Mainstream-Medien“ angeboten wird. Der Kritikansatz dahinter zielt auf die Macht in der Gesellschaft, die einem homogenen Block zugeordnet wird, der alles umfasst, was aus der Sicht der eigenen Ideologie als menschenfeindlich und demokratiebedrohlich angesehen wird. Deshalb ist auch die Rede von den „Systemmedien“ oder von der „Lügenpresse“ (Begriffe aus der NS-Propaganda), also gewissermaßen die Sprachrohre der Eliten, von denen behauptet wird, dass sie das System steuern. 

Das antielitäre Misstrauen ist ein wichtiges Korrektiv gegen die Machtanhäufungen bei denjenigen, die schon am meisten Macht haben. Aber oft fehlt die differenzierte Analyse und die Überprüfung der Fakten, und es werden Informationen schon allein deshalb in Bausch und Bogen als unwahr etikettiert, weil sie aus einem bestimmten Kanal kommen.

Die Wahrnehmung der Medienlandschaft als Block oder Koloss, als homogene, gleichgeschaltete Meinungsmache, die nichts anderes neben sich zulässt und jede Kritik diffamiert, ist einseitig und ideologiegesteuert. Wenn dahinter noch anonyme Drahtzieher angenommen werden, die alle Fäden in der Hand haben und die Welt dirigieren, dann sind wir in der verworrenen Welt der Verschwörungstheorien gelandet. Der Übergang von einer grundsätzlich kritischen Haltung gegenüber den Medien zu solchen Theoriegebäuden ist oft fließend. Unbemerkt wird der Boden der Realität verlassen und durch Fantasien und Projektionen ersetzt.

Der Stolz des Besserwissens

Es ist ein Zeichen eines übertriebenen Stolzes, über „besseres“ Wissen zu verfügen als die „dumme Masse“, die nur nachbetet, was ihnen die Meinungsmacher vorkauen. Man bezieht sein Wissen nicht aus einem Einheitskanal, sondern aus ausgewählten und besonderen, also auch elitären Quellen, die angeblich nicht der Machtkontrolle unterliegen, die aber im Dunklen bleiben. 

Dieser Stolz wirkt dabei mit, dass dieses Wissen mit allen Mitteln verteidigt und allen anderen mit missionarischem Eifer gepredigt wird. Allzu schnell wird es zur Überzeugung und schließlich noch zu einem Bestandteil der eigenen Identität. Dann darf es keine Zweifel mehr geben, dann ist jede Gegenstimme ein Beweis für die Manipulation durch die bösen Elitemedien.

Aufklärung und Wissenschaft

Das Pathos der Aufklärung hat allerdings nur seine Berechtigung, wenn die Quellen für die verbreiteten Ansichten offengelegt sind und die Faktenlage einer Überprüfung standhält. Wirkliche Aufklärung unterliegt den Standards der Wissenschaftlichkeit: Jede Theorie muss grundsätzlich falsifizierbar sein und ihr Zustandekommen muss nachvollziehbar sein. Alle Aussagen gelten vorläufig, bis sie durch bessere ersetzt werden. Eine Theorie der Aufklärung kann nur besser sein als eine andere, indem sie der Realität näherkommt, aber verfügt immer nur über einen relativen Wahrheitsgehalt. 

Das sind die Ansprüche, denen eine aufgeklärte Medienkritik folgen sollte. Pauschale Abwertungen mit Kampfbegriffen wie Mainstream-Lügen und ähnliches gehören auf ideologische Streitbühnen, in denen eingeschworene Meinungsblasen aufeinandertreffen, die sich ihre Auseinandersetzungen liefern, ohne in der Erkenntnis weiterzukommen.


Samstag, 30. April 2022

Unterstellungen und ihre Ursprünge

Unterstellungen kommen immer wieder vor in der menschlichen Kommunikation. Damit ist gemeint, dass wir Annahmen über das Innere unserer Gesprächspartner bilden, die uns als real erscheinen, ohne dass wir dafür eine stichhaltige Begründung haben. Auf der juridischen Ebene können Unterstellungen schwerwiegende Folgen haben, wenn sie den Tatbestand der Verleumdung oder der üblen Nachrede erfüllen. Der Rechtsstaat schützt in diesen Fällen das Ansehen aller Staatsbürger vor ungerechtfertigter öffentlicher Beschämung. Erfolgen Unterstellungen hinterrücks, so bilden sie die Grundlage für Mobbing. In der Alltagskommunikation erzeugen sie Unstimmigkeiten und Konflikte oder werden in solchen als Angriffsinstrument verwendet.

Sie betreffen Absichten, Gefühle, Gedanken sowie Werte und Haltungen:

  • Absichten: Du bist mir absichtlich auf die Zehen getreten.
  • Gefühle: Du magst mich nicht.
  • Gedanken: Du denkst immer abwertend über mich.
  • Werte und Haltungen: Du bist ein Chauvinist (Rassist, Linker, Rechter)

Politische Propaganda und Unterstellungen

In der politischen Debatte gehören Unterstellungen offenbar zum täglichen Kleingeld der Scharmützel. Schnell wird dem Gegner Käuflichkeit oder Verlogenheit vorgeworfen. Werden politische Akteure direkt auf diese Weise angegriffen, kommt es häufig zu Gerichtsverfahren, in denen dann das Zutreffen der Unterstellungen untersucht wird.

Auch auf der internationalen Ebene wird fleißig mit Unterstellungen gearbeitet und für Außenstehende ist es oft schwierig, die Sachverhalte zu klären und zu unterscheiden, wo es um bloße Propaganda oder um Fakten geht. Aktuelle Beispiele: Ukraine: Russland bombardiert absichtlich Kindergärten und Spitäler. Wir wissen, dass Kindergärten und Spitäler vernichtet wurden; wir wissen aber nicht, ob es Absicht oder Versehen war. Russland: Die Ukraine produziert biologische Kampfstoffe. Es gibt aber bisher keine Hinweise oder Beweise. Propagandistische Unterstellungen werden in diesem Fall wie auch in anderen benutzt, um die eigenen Angriffs- und Zerstörungsabsichten zu rechtfertigen.

Unterstellungen in Alltagskonflikten

Wenn wir uns in Auseinandersetzungen bedroht fühlen, greifen wir manchmal zum Mittel der Unterstellung. Es besteht darin, der anderen Person Gedanken, Gefühle oder Absichten anzuhängen, so, als wüssten wir genau, was in der anderen Person abläuft. Wir sind gerade gefangen in den eigenen Gefühlen, sind verletzt und verärgert, weil uns die andere Person unrecht getan hat und wehren uns, indem wir dem Gegenüber unsere Mutmaßungen unterjubeln. Wir verwechseln unser Spekulieren und Fantasieren mit dem Inneren unseres Gegenübers. In solchen Zusammenhängen verwenden wir Äußerungen wie: „Du hörst mir nicht zu.“ (Woher wollen wir das wissen?) „Du verstehst mich nicht.“ (Könnte sein oder auch nicht!)

Eine Gangart wird zugelegt, wenn Sätze kommen wie: „Du willst mir die Laune verderben, wenn du mich so unfair kritisierst.“ „Du musst mich hassen, wenn du so etwas zu mir sagst.“ „Du kannst nur Böses über mich denken, wenn du dich so verhältst.“

Wir vermeinen in diesen Situationen, dass wir über die besondere Gabe des Gedanken-, Gefühle- oder Absichtenlesens verfügen, die wir vor allem dann aktivieren, wenn wir uns durch andere Personen bedroht, verletzt oder beschämt fühlen. Wir tun so, als ob die Mitmenschen wie offene Bücher für uns sind, die wir nur aufschlagen müssen, und schon wissen wir, was da los ist und können diese Erkenntnisse gegen sie verwenden. Tatsächlich aber blättern wir dauernd in unseren eigenen Notizen und in den alten Aufzeichnungen aus dem Archiv unseres defensiven Denkens mit seinen selbstkonstruierten Annahmen, Erwartungen, Vermutungen und Konzepten.

Wenn wir namhaft und dingfest machen können, was im Gegenüber gerade abläuft, glauben wir, die Situation kontrollieren zu können. Wir haben die andere Person durchschaut und ihre bewussten und unbewussten Antriebe bloßgelegt. Damit verringert sich das Ausmaß der Bedrohung. Und wir können die andere Person in einen schamvollen Zustand versetzen, der sie außer Gefecht setzt und wehrlos macht. Sie ist aufgeblättert, und es liegt zu Tage, wo die Ursache und die Schuld am Zerwürfnis zu finden ist. Sie muss klein beigeben und ihre Mangelhaftigkeit und Schuld einbekennen, weil sie durchschaut und damit ihrer Waffen entledigt ist. Wenn wir der anderen Person auf den Kopf zusagen können, was sich in ihrem Inneren abspielt, soll sie Einsicht zeigen und ihr Verhalten sofort ändern. Wir gewinnen damit eine Machtposition, von der wir uns Schutz erhoffen. Denn unser eigenes Inneres bleibt unberührt, während das der anderen Person im kritischen Rampenlicht steht.

Psychologisieren

Unterstellungen dienen folglich als Machtmittel zur Durchsetzung der eigenen Sicht auf die Dinge. Meist bedienen wir uns dabei des Psychologisierens. Denn die Psychologie stellt uns viele begriffliche Möglichkeiten zur Verfügung, mit denen wir unsere Projektionen anbringen. Menschen mit psychologischer Bildung oder Halbbildung nutzen deshalb gerne psychologisch aufgeladene Unterstellungen: „Du solltest diesen Ärger deiner Mutter umhängen, nicht mir.“ „Du denkst wieder einmal wie dein Vater.“

Allerdings wissen wir aus der Psychologie ebenfalls: Nicht nur die Fantasien, die wir über andere und deren Innenleben entwickeln, gehören zu uns, sondern auch deren Wurzeln und Hintergründe. Es sind meistens Ängste und Beschämungserfahrungen, die wir von früher kennen und die wir dann in die andere Person projizieren, wenn in uns ein ähnliches Gefühl auftaucht, wie eines, das wir schon einmal unter unangenehmen Umständen erlebt haben. Wir sollten dafür die Verantwortung übernehmen, statt sie dem Gegenüber aufzuladen.

Zu diesem Zweck lehrt uns die Psychologie, Feedback-Sätze mit „Ich“ zu beginnen statt mit „Du“. Es wird viel schwieriger, eine Unterstellung vorzunehmen, wenn wir eine Ich-Botschaft wählen: „Ich habe das Gefühl, du verstehst mich nicht.“ Indem die Perspektive gewechselt wird, wird die Angriffsenergie entschärft. Der Sprecher bleibt im eigenen Rayon und teilt sich aus seiner Welt mit. Die Tatsachenbehauptung wird auf eine Vermutung zurückgestuft. Es bleibt nur die Unklarheit, ob es ein Gefühl namens „der-andere-versteht-mich-nicht“ gibt oder ob das nicht eher eine mentale Konstruktion darstellt. Manchmal, und das ist auch eine verbreitete psychologisierende Unsitte, wird der Begriff „Gefühl“ verwendet, um etwas Untrügliches und Unhinterfragbares, gewissermaßen einen Fixstern in die Debatte einzubringen. Gegen Gefühle kann man nicht argumentieren. Würde man hingegen sagen, man hätte den Eindruck, nicht verstanden zu werden, wäre das neutraler und nähme den manipulativen Gehalt weg.

Beschämungsfolgen

Bei genauerem Hinsehen erkennen wir, wie wir die Beschämung in mehrfacher Weise nutzen: Zum einen dringen wir in die andere Person ein und kehren ihr Inneres nach außen. Wir zerren Intimes an die Öffentlichkeit, was bei der anderen Person Scham auslöst. Weiters geben wir vor, dass wir besser als die Angesprochenen selbst wissen, was in ihnen ist, nämlich was ihre versteckten und verborgenen Impulse und Regungen anbetrifft. Wir wollen ihnen glaubhaft machen, dass ihre Eigenwahrnehmung schlechter ist als unsere Einsichten von außen. Wir werten sie ab und beschämen sie dadurch. Schließlich bietet der Inhalt des Unterstellten – die böse Absicht, der schlechte Gedanke, das feindliche Gefühl – Anlass für Beschämung und will auch beschämen: Es sind Mängel und Fehlerhaftigkeiten, die angeprangert werden und die betroffene Person in ein schlechtes Licht stellen, und die Veröffentlichung soll dazu führen, dass es zu einer Veränderung kommt, sodass das verletzende Verhalten nicht mehr vorkommt. Da wir selber über Erfahrungen verfügen, in denen wir als Folge einer Beschämung unser Verhalten verändert haben – z.B. indem wir in der Folge bestimmte Gefühlsäußerungen, verbale Wendungen oder Handlungen unterdrückt haben –, meinen wir, dass das Machtmittel der Beschämung auch im aktuellen Fall Abhilfe schaffen wird.

Natürlich hängt es von der Reaktion der angesprochenen Person ab, sie kann sich fügen und verändern. In ihr verbleibt aber das gleiche innere Ressentiment, das wir selber aus unserer früheren Beschämungssituation kennen und das mit dem heimlichen Wunsch verbunden ist, es einmal heimzuzahlen. Es kann aber auch zur Abwehr kommen, zu einem Gegenangriff oder einer Gegenunterstellung, und die Auseinandersetzung verschärft sich und eskaliert. Es kann die andere Person auch erkennen, was abläuft, und die Unterstellung als Unterstellung benennen und sich dagegen abgrenzen. In all diesen Fällen zeigt sich, dass das Kommunikationsmittel der Unterstellung keinen wirklichen Erfolg bringt, sondern die Beziehungssituation zusätzlich anheizt und verschlechtert.

Manchmal fühlt sich jemand ertappt oder erkannt – die Unterstellung hat, wenn vielleicht nicht in allen Aspekten, doch einen wunden Punkt getroffen. In den meisten Fällen wird dann die Abwehr besonders heftig ausfallen oder zum totalen Rückzug führen. Es bedarf dann einer hohen Schamkompetenz und integrer Reife, zu sagen, dass etwas an dem, was vermutet oder interpretiert wurde, stimmt und dass man sich damit auseinandersetzen wird.

Unklare Grenzen zwischen innen und außen

Die Tendenz zum Unterstellen stammt aus einer Schwäche in der Unterscheidungsfähigkeit zwischen innen und außen. Wir verfügen über keine klare Grenze zwischen dem, wo wir selber sind und wo wir aufhören, und dem, wo der andere ist und aufhört. Diese Schwäche stammt aus Erfahrungen mit Grenzüberschreitungen. Wenn Eltern oder Erziehungspersonen die physischen oder emotionalen Grenzen des Kindes nicht respektieren z.B. durch Gewalt oder Bedürfnismanipulation, wird es schwierig für das Kind, ein realitätsgerechtes Gefühl für die eigenen Grenzen zu bilden. Sie werden zu durchlässig und schwammig. Aus den unklaren, konfluenten Grenzen entsteht die Grundlage für Unterstellungen, die sich als Gefühls- und Gedankenlesen ausgeben: So wie meine Grenzen überschritten wurden, überschreite ich sie jetzt. Die eigene Sphäre dehnt sich nach Belieben aus, weil sie von der Sphäre des anderen nicht unterschieden ist. Deshalb weiß ich besser als du selber, was in dir abläuft.

Alle Unterstellungen, die mit Projektionen arbeiten, stammen also aus erlittenen Grenzverletzungen. Häufig geschieht dies durch Fehlinterpretationen der eigenen Bedürfnisse: Eltern „lesen“ die Bedürfnisse ihrer Kinder falsch und geben ihnen, was sie nicht brauchen, während sie ihnen das vorenthalten, was sie bräuchten. Kinder leiten aus solchen Erfahrungen ab, dass sie selber falsche Bedürfnisse haben und dass sie die Unterstellungen ihrer Eltern zu den richtigen Bedürfnissen führt. Sie verlernen dabei, ihrem eigenen inneren Sinn zu vertrauen und können deshalb auch dem inneren Sinn von anderen nicht vertrauen. Sie lernen, stellvertretend zu fühlen, statt sich selber. Denn sie müssen auch lernen, die Eltern zu manipulieren, um zumindest einige der Eigeninteressen durchbringen zu können.

Die Beschämung, die mit dem Prozess der Uminterpretation der eigenen Bedürfnisse einhergeht, wird dann später anderen durch den Vorgang der Unterstellung zugefügt. Da die eigenen Grenzen nicht geachtet wurden, gelingt es später nicht, die Grenzen anderer zu achten. Es besteht kein klares Gefühl dafür, was ein respektvoller Umgang mit Grenzen sein könnte. Im Ernstfall, wenn es zu kommunikativen Spannungen kommt, wird das Grenzüberschreiten mittels Unterstellungen zur Waffe. Ich dringe in die Innenwelt des anderen ein, so wie in meinen Innenraum eingedrungen wurde. So, wie andere besser wussten als ich selber, was in mir ist , weiß ich jetzt besser, was in anderen ist, als sie selber.

Wie können wir mit Unterstellungen umgehen?

Zunächst sollten wir in uns selber überprüfen, ob die Aussage, die die Person über uns trifft, zutrifft oder nicht. Ist uns klar, dass wir nicht fühlen, denken oder beabsichtigen, was uns angedichtet wird, sollten wir uns klar und unmissverständlich dagegen abgrenzen: „Ich sehe – erlebe – fühle es so und nicht so. Ich habe diese Absichten und nicht jene.“ Wir sind die Experten für unsere eigene Innenwelt, wir wissen, was da stimmt und was nicht. Wir verfügen über die Fakten, die andere Person hat nur ihre Fantasie.

Jedenfalls sollten wir alles, was uns als Unterstellung erscheint, nicht einfach übergehen. Denn das könnte die unterstellende Person in ihren Meinungen über uns befestigen und unseren Ruf und unser Ansehen schädigen. Es ist wichtig, auf die Klärung der Faktizität und Authentizität zu dringen, um uns selbst und den Kommunikationsraum frei zu halten von Projektionen und manipulativer Machtausübung. Wir dürfen uns auf keinen Fall die Oberhoheit über unseren Innenraum streitig machen lassen und sollten alles, was da hinein interpretiert wird, ruhig und entschieden zurückweisen. Wir sind für unseren Grenzschutz zuständig und

Ein freundlich und unterstützend gemeintes Feedback stellt ein anderes Kaliber dar als offen oder versteckt aggressive Unterstellungen mit Vorwurfsgehalt und Änderungsappellen. Es ist die Absicht, die den Unterschied macht. Und wir sollten uns immer vergewissern, welche Absicht die andere Person hat, indem wir rückfragen. Denn aus unserem eigenen Spüren heraus wissen wir nur, was in uns selber los ist; für das Außen brauchen wir andere zusätzliche Quellen, um zur Gewissheit zu gelangen.

Zum Weiterlesen:
Psychologisieren - eine moderne Untugend

Grenzen und Durchlässigkeit

Krieg und Propaganda

Wenn Fiktion zum Faktum wird

Mittwoch, 6. Oktober 2021

Machtmissbrauch und Scham

Macht ist ein Begriff, dem wir eher mit Widerwillen und Misstrauen begegnen. In wikipedia z.B. wird der Begriff folgendermaßen beschrieben: „Macht bezeichnet die Fähigkeit einer Person oder Gruppe, auf das Denken und Verhalten einzelner Personen, sozialer Gruppen oder Bevölkerungsteile so einzuwirken, dass diese sich ihren Ansichten oder Wünschen unterordnen und entsprechend verhalten.“ Macht besteht also darin, Herrschaft über andere auszuüben, nämlich über jene, die über weniger Macht verfügen. Damit ist klar, dass die Macht nur angenehm für jene ist, die sie haben, und unangenehm für jene, die sich ihr fügen müssen. 

Das Ausüben von Macht geschieht notgedrungen in jeder Form menschlichen Zusammenlebens. Macht ist ein „Lebensmittel“ von sozialen Systemen, ein wichtiges und unverzichtbares Ingredienz von sozialer Dynamik. Menschen üben aufeinander Einflüsse aus, die vom Eigenwillen gesteuert sind. Ich will, dass du heute Abend mit mir ins Kino gehst. Weil es mir ein wichtiges Anliegen ist, setze ich meine Macht ein, um mein Ziel zu verwirklichen. Es kann sein, dass ich auf eine Gegenmacht stoße, indem die angesprochene Person sagt, dass sie lieber zuhause bleiben möchte. Macht stößt auf Macht, und es wird sich weisen, ob sich eine Seite durchsetzt, ob es einen Kompromiss gibt oder eine andere Form des Ausgleichs.

Das Machtthema ist immer präsent, wenn Menschen mit unterschiedlichen Intentionen etwas Gemeinsames erschaffen wollen. Im günstigen Fall sind beide Seiten einer Meinung, und die Machtfrage ist erledigt. In anderen Fällen, wenn sich eine Seite unterlegen fühlt, während die andere dominiert, ist damit zu rechnen, dass es zu Racheaktionen kommt. Der Machtausgleich wird dann auf indirekte, versteckte oder unbewusste Weise gesucht. Z.B. geht jemand mit ins Kino, obwohl er eigentlich nicht will und äußert sich im Lauf des Films unmutig und kritisch über die Handlung oder die Schauspieler oder die Musik, und die andere Person fühlt sich um das Vergnügen des Kinobesuchs gebracht.

Die Frage der Machtverteilung und Machtflexibilität

Probleme mit der Macht ergeben sich nicht dort, wo Machtansprüche erhoben werden, sondern dort, wo die Verfügung über die Macht ungleich verteilt ist, diese Verteilung keine nachvollziehbare Grundlage hat und nicht geändert werden kann. Der Machtmissbrauch beginnt an dem Punkt, an welchem dem oder den Adressaten des Machtanspruchs keine oder nur untergeordnete Möglichkeiten zur Behauptung der Eigenmacht zugestanden werden. In diesen Fällen ist die Machtbeziehung unsymmetrisch, eine Seite hat mehr davon als die andere. Für solche Fälle bräuchte es eine Begründung und eine zeitliche Begrenzung, damit eine stabile Ordnung erhalten bleiben kann. Z.B. haben Eltern mehr Macht über die Gestaltung der Lebensumstände als die Kinder. Die Begründung ist, dass die Kinder noch nicht über genug Erfahrung, Wissen und Einsicht verfügen, um die Wahl des Wohnortes zu bestimmen. Diese Macht der Eltern endet mit dem Erwachsenwerden der Kinder, die dann selbst über ihren Wohnort bestimmen. Oder eine Regierung beschließt freiheitseinschränkende Maßnahmen, um einer Epidemie Herr zu werden; sobald die Krankheit eingedämmt ist, müssen die Freiheiten wiederhergestellt werden.

Ein höheres Maß an Macht ist ein von der Gemeinschaft geborgtes Gut. Es wird Personen im besonderen Maß zugebilligt, die mehr Verantwortung für die Gemeinschaft tragen, z.B. dem Anführer eines Stammes, dem Klassensprecher in der Schule oder dem Chef eines Unternehmens. Es kann prinzipiell immer entzogen werden, sobald der Träger der Macht die Verantwortung schuldig bleibt. Der Anführer, der sich nicht bewährt, wird durch jemand anderen ersetzt; die Klassensprecherin, die sich zu wenig für die Klasse einsetzt, wird abgewählt. In der Wirtschaft ist es der Gedeih oder Verderb des Unternehmens. Über die Beobachtung, wie die mit der Macht verknüpfte Verantwortung ausgeübt wird, kontrolliert die Allgemeinheit die Machtträger.

In Demokratien gilt der Grundsatz, dass jedem Akt der Machtausübung eine Kontrolle übergeordnet ist, die ihren Missbrauch verhindern soll. Gesetze, die von der Mehrheit in der Volksvertretung beschlossen wurden und für alle gelten, können durch den Verfassungsgerichtshof außer Kraft gesetzt werden. Regierungen, die Maßnahmen durchsetzen, können von der Volksvertretung abgesetzt werden. Usw.

Wo es allerdings den Machtträgern gelingt, die Macht bei sich festzuschreiben, also sich das geborgte Gut anzueignen, wird die Kontrolle ausgehebelt. Damit eröffnet sich ein Spielraum für individuelle Willkür, denn die Machtträger können selber bestimmen, inwiefern sie ihre Macht im Sinn der Gemeinschaft oder für ihre eigenen Zwecke ausüben. Die Macht wird dann missbraucht, wenn sie ohne Verantwortung für die Gemeinschaft, die die Macht verliehen hat, und stattdessen willkürlich praktiziert wird. 

Die Scham als Machtregulatorin

Machtmissbrauch ist mit Scham verbunden. Immer dort, wo ein soziales Gefälle offenbar wird, das durch individuelle oder kollektive Willkür entstanden ist, meldet sich die Scham bei denen, die dafür verantwortlich zeichnen. Wir wollen miteinander gleichrangig sein und uns auf Augenhöhe begegnen. Wenn wir andere durch das Behaupten der eigenen Macht herabstufen und zurücksetzen, macht uns die Scham auf die soziale Grundausrichtung aufmerksam: Die wechselseitige Achtung in der Gleichrangigkeit. Ungerecht ausgeübte Macht erzeugt Schuld- und Schamgefühle. 

Warum gibt es dann überhaupt solche Phänomene? Müsste nicht die Scham dafür sorgen, dass sich Machtgefälle ausgleichen? Die Menschen haben wirksame Gegenmittel gegen das lästige Schamgefühl ersonnen oder erspürt. Um es nicht wahrnehmen zu müssen, stehen verschiedene Formen der Schamvermeidung und Schamabwehr zur Verfügung. Machtmenschen, also solche, die gerne die Macht an sich ziehen und zu Machtmissbrauch neigen, müssen gut in diesen Formen bewandert sein. Denn sonst würde sie die Scham zurückpfeifen, sobald sie die Grenzen zum Machtmissbrauch überschreiten.

Solche Abwehrformen der Scham sind z.B. die Arroganz, mit deren Hilfe man sich einreden kann, etwas Besseres zu sein und deshalb auch besser zu wissen, was für andere gut ist, oder die Gier, die einen Überlebensimperativ über die Moral stellt und die Macht zur Erreichung der eigenen Ziele in Dienst nimmt, oder die Angst, dass ohne die eigene Machtausübung alles schlechter wird. 

Schamverlust und Machtmissbrauch

Es ist also der Verlust der Schamsensibilität, der den Machtallüren Tür und Tor öffnet. Ohne Schamkultur gibt es keine Bändigung von überschießenden und respektlosen Machtansprüchen. Ohne Scham gibt es keinen Rechtfertigungsdruck auf die Machtmenschen. Sie könnten tun und lassen, was sie wollen, wenn sie einmal die Macht an sich gerissen haben, wofür es ja jede Menge an Beispielen aus Geschichte und Gegenwart gibt. 

Schamsensibilität kann auch als soziales Gewissen bezeichnet werden: Ein Gespür dafür, wie das soziale Gebilde in Hinblick auf die Machtausübung beschaffen sein muss, um allen ihren Mitgliedern Sicherheit und Akzeptanz zu geben, im speziellen, welche Begrenzungen die Macht braucht und wie sie durchsetzbar sind. Dort, wo Macht zur Willkür wird, weil sie keiner sozialen Kontrolle unterliegt, entsteht Unsicherheit und Instabilität, die schließlich zur Desintegration des Sozialgebildes führt. 

Deshalb ist die Achtsamkeit auf die eigenen inneren Schamreaktionen von grundlegender Bedeutung für eine funktionierende Gesellschaftsordnung, in ihren kleinen Formen (Beziehungen, Familien) über Organisationen, Firmen, Vereinen bis zu nationalen und übernationalen Gesellschaften. Die Scham ist eine Instanz in den Individuen, sie kann aber durch gesellschaftliche Usancen und Deformationen in den Individuen reduziert oder umgedeutet werden, z.B. über ein Bildungssystem, das soziale Ungerechtigkeiten ignoriert, bagatellisiert oder rechtfertigt, oder über Medien, in denen die Machtrepräsentanten verherrlicht werden, oder über Erziehungsvorgänge, bei denen die Kinder manipuliert oder unterdrückt werden.

Der Verlust oder die Verwirrung des inneren Spürens ist eine der Auswirkungen von Machtmissbrauch, sowohl bei den „Tätern“ als auch bei den „Opfern“. Macht wird missbraucht, um Schamgefühle abzuwehren, und dieser Missbrauch bewirkt seinerseits akute Blindheit und Taubheit gegenüber der Scham. Bei denen, die die Macht in missbräuchlicher Weise ausüben, muss die Scham stillgelegt werden, und das geschieht am besten dadurch, dass die Innenbeziehung reduziert wird, dass also das innere Spüren abgestellt wird. Bei denen, die der Macht unterworfen sind, meldet sich auch die Scham, die wegen der Ausweglosigkeit des Ausgeliefertseins entsteht und mit vielen anderen Gefühlen interagiert, wie z.B. mit der Angst vor dem/der/den Mächtigen, mit dem Schmerz über die schlimme Position und mit der Wut, die die Situation verändern möchte. Je aussichtsloser die Umstände sind, desto mehr gehen die Gefühle im Kreis und verwirren die Betroffenen.

Verwirrte lassen sich leichter regieren als die, die in ihrem Inneren spüren können, was eine gerechte und faire und was eine angemaßte und selbstbesessene Form der Machtausübung ist. In unserem Inneren wissen wir, wie und wann Macht menschengerecht ausgeübt wird und wo sie ihre Grenzen hat. Wir erkennen, wann diese Grenzen überschritten werden. In unserem Inneren finden wir die Schamgefühle, die uns helfen, diese Klarheit zu finden. 

Die Eigenmacht

Wir brauchen zusätzlich noch das Gespür für unsere Eigenmacht, die aus unserer Würde stammt: Das Geburtsrecht, das wir innehaben, geachtet und respektiert zu werden, unseren Platz einzunehmen und unsere Grenzen zu wahren. Mit der Kraft, die aus der Würde erwächst, kommt der Mut, mit dem wir gegen ungerecht und willkürlich aufgezwungene Macht kämpfen und kämpfen müssen. Wo Machtallüren überhand nehmen und Machtansprüche entgleisen, braucht es mutigen Widerstand, der die Verhältnisse wieder zurecht bringt. Ausufernde Macht kann nur mit Gegenmacht eingedämmt werden. Deshalb gilt es, sich der eigenen Macht zu vergewissern, die darin besteht, die eigenen Grenzen zu sichern, die Grenzen der anderen zu respektieren und die Expansionsbestrebungen, die diese Grenzen verschieben wollen, in die Schranken zu weisen.

Auf dem Weg zur Gewaltfreiheit

Die Macht bedient sich verschiedener Mittel zur Durchsetzung, an deren Ende die Gewalt steht. Wenn wir gegen überzogene Machtansprüche unsere Gegenmacht einsetzen, sollten wir Mittel wählen, die auf der Skala zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit näher der letzteren stehen, als die Mittel, gegen die wir uns zur Wehr setzen, d.h. wir sollten gewaltfreiere Wege einschlagen als jene, gegen die wir uns einsetzen. Nur so können wir dazu beitragen, dass einerseits die Macht ihre Grenzen bekommt und andererseits daraus keine eskalierenden Machtkämpfe entstehen. Wichtig ist es also, die emotionale Ladung zu reduzieren und abzupuffern, die uns entgegengebracht wird. Auf diese Weise können wir zur Klarheit in der Grenzziehung und zur Entspannung der Konfliktsituation beitragen. 

Die Reduktion von Gewalt beinhaltet auch die Aufrechterhaltung der Achtung und die Wahrung der Menschenwürde der Person oder der Personen, gegen die wir uns abgrenzen. Je näher ein Konflikt zu Gewaltmaßnahmen kommt, desto schneller gerät die Integrität der Gegner ins Abseits. Das Weiche besiegt das Harte, wie es im Taoismus heißt, allerdings nur wenn es von innerer Festigkeit und Klarheit durchdrungen ist.

Zum Weiterlesen:
Helden ohne Mythos