Samstag, 30. März 2019

Das Mitgefühl zwischen Helfersyndrom und Gleichgültigkeit

Das Mitgefühl ist eine Haltung, die in einem tiefen Sinn zu unserer Menschlichkeit gehört. Nach Ansicht vieler Forscher ist sie angeboren und hängt mit der Verfasstheit des Menschen als soziales Wesen zusammen. Wir sind keine Einzelwesen, die erst mit Mühe das Zusammenleben erlernen müssen, sondern sind auf Gemeinschaft, Verstehen und Teilen hin angelegt. Und dafür brauchen wir das Mitgefühl. Doch tun wir uns oft schwer mit dieser Einstellung und vermischen oder verwechseln es mit anderen Formen der zwischenmenschlichen Interaktion.

Das Mitgefühl ist die Antwort auf die menschliche Leidensfähigkeit. Wir Menschen sind Wesen, die immer wieder leiden, natürlich nicht nur das und nicht immer das, sondern auch vieles anderes. Aber jeder Mensch hat einen Grundbezug zum Leiden, der auch das Motiv liefert, warum sich Menschen mit religiösen Systemen beschäftigen, die die Erlösung vom Leiden versprechen. Natürlich liegt auch die Ursache für das Entstehen Medizin und der Psychotherapie in der Vielfalt menschlichen Leidens.

Es gibt Leidenszustände, für die wir verantwortlich und zuständig sind und wo wir aufgerufen sind, etwas zu tun. Ein Baby leidet an Magenkrämpfen und die Eltern müssen sich bemühen, Abhilfe zu verschaffen. Wir haben einen Parkschaden verursacht und sorgen dafür, dass der Schaden wieder gutgemacht wird. Wir haben jemanden beleidigt und entschuldigen uns.

Es gibt andererseits menschliche Leidenszustände, für die wir keine persönliche Verantwortung tragen, mit denen wir aber dennoch in Kontakt kommen, wie z.B. die Krankheit oder Armut anderer Menschen. Jedes menschliche Leid verdient unser Mitgefühl, aber nicht jedes menschliche Leid können wir lindern. Es wäre eine anmaßende Überforderung, sich um alles Leid zu kümmern, das um uns herum sichtbar ist; wir kämen kaum bis zur nächsten Straßenecke.

Das neurotische Helfen


Doch manche Menschen neigen zu dieser Überforderung und ziehen wie magisch Menschen an, die ihnen ihre Probleme umhängen, für die sie sich dann zuständig fühlen. Das Helfen wird zwanghaft, und das hat nichts mit Mitgefühl zu tun. Die neurotische Helferin missachtet die eigenen Belastungsgrenzen und sieht sich, getrieben von inneren Zwängen, verpflichtet, jeder Not, die sich in der eigenen Umgebung zeigt, abzuhelfen. Sie beutet sich selbst aus, um vor den anderen und vor sich selbst als gute Person dazustehen. Sie sieht ihre Existenzberechtigung darin, jederzeit für andere da zu sein und scheinbar für sich selbst nichts zu brauchen.

Die Wurzeln dieser Haltung liegen wahrscheinlich in einer Rolle, die in der Kindheit angenommen wurde, um in einem mangelhaften Familiensystem überleben zu können. Die karge Liebe, die zur Verfügung stand, war an die Bedingung geknüpft, selbstlos für andere da zu sein. Solche Bedingungen werden oftmals gar nicht offiziell verkündet, sondern von den überforderten Eltern unbewusst als Auftrag an die Kinder weitergegeben, die sich dann entweder die Aufgabe teilen oder unterschiedliche Rollen einnehmen. Da kann es dann passieren, dass die Rolle des Helfers und Unterstützers an einer Person hängen bleibt. Die Grundlage für eine lebenslange Belastung durch eine giftige Kombination aus Selbstausbeutung und schlechtem Gewissen ist gelegt und ins Unbewusste der Seele eingepflanzt.

Der neurotische Helfer ist nicht durch Mitgefühl angetrieben, sondern durch den Wunsch, an anderen gutzumachen, was an ihm selber schlecht gelaufen ist. All das, das er nicht gekriegt hat, ist er anderen schuldig. Wenn ihr Leid gemildert ist, ist auch das eigene Leid weniger. Es liegt auf der Hand, dass sich die Rechnung nie ausgeht, es tritt immer wieder Leid auf, das nach Abhilfe verlangt. Zudem bleibt das eigene Leid auf der Strecke und meldet sich irgendwann in chronischem Stress und Burn-out-Symptomen.

Abgrenzung der Verantwortung


Wo das Mitgefühl statt dem Helferzwang Platz greifen soll, müssen die Verantwortungsbereiche klar abgegrenzt sein: Die Hauptzuständigkeit für das Leiden liegt bei der leidenden Person. Die mitfühlende Person trägt keine Verantwortung für das Leid, außer sie hat es zugefügt. Immer jedoch trägt sie die Verantwortung für die eigene Haltung und Einstellung, für das Zuwenden oder Abkapseln in Bezug auf das Leid.

Auch wenn es eine klare Abgrenzung der Verantwortungsbereich gibt, wird im Mitgefühl nicht zugleich die menschliche Verbindung gekappt. Wir können uns vom Leid anderer Menschen berühren lassen, ohne für die Umstände die Verantwortung zu übernehmen. Wir können dieses Berührtsein durch die Wahrnehmung eines belasteten Lebens stehen lassen, ohne etwas zu tun zu müssen. Vielleicht ergibt sich aus dem Kontakt mit dem Leid eine helfende Handlung, vielleicht auch nicht. Wir lassen das Elend an uns heran, so dass es an unseren Grenzen ankommt, ohne dass es in unser Inneres eindringt und uns überrollt. Wir haben keine Angst vor dem Leiden der anderen Menschen und sind frei von jeder Last durch irgendeine Pflicht oder Verantwortung.

Ein Mensch sitzt weinend auf einer Parkbank. Wir gehen vorbei und nehmen das Leid wahr und wünschen der Person in Gedanken, dass es besser wird, oder wir setzen uns dazu, um zu trösten oder einfach nur, um da zu sein. Was immer geschieht, ist nebensächlich; wichtig ist die Haltung und die Einstellung, ob es Gleichgültigkeit oder Betulichkeit oder eben Mitgefühl ist. Das macht den Unterschied zwischen der Selbstbezogenheit und der Menschlichkeit, die es nicht ohne Mitmenschlichkeit gibt.

Bei sich und verbunden bleiben


Diese Unterscheidung ist grundlegend für die Haltung des Mitgefühls: Dein Leid bleibt dein Leid, auch wenn ich es wahrnehme und erkenne. Wir tragen nicht das Leid gemeinsam, das kannst nur du, weil es deines ist. Aber wir teilen unser Menschsein und damit unsere Leidensfähigkeit. Wir wissen um die Zerbrechlichkeit unseres Seins, die wir alle in uns haben und die uns verbindet.

Im Mitgefühl sind wir offen und konfrontieren uns mit allem, was die Welt an uns an menschlichen Möglichkeiten heranbringt: Hässlichkeiten, Ekelhaftigkeiten, Erbärmliches, Verkommenes, Hoffungsloses. Wir wissen oder ahnen, dass wir all das auch in uns tragen. Es ist uns nicht fremd, sondern als Teil von uns bekannt und vertraut. Darum können wir uns nicht über diese Formen des Menschseins stellen oder besserwisserisch oder verachtend darüber urteilen. Vielmehr lässt uns das Mitgefühl bescheiden und demütig an die Leidensweisen der Menschen herangehen und mit ihnen in Kontakt kommen.

Obwohl wir all das, woran Menschen leiden können, von uns kennen oder kennen sollten, müssen wir nicht in das fremde Leid eintauchen. Wir bleiben nur im Mitgefühl, wenn wir uns selber in unserem Wesen zeigen, wenn wir dem Leid ein andersartiges Gegenüber bieten, das wir jetzt gerade sind. Denn der mitfühlende Kontakt besteht nicht im Anpassen oder Unterwerfen an den Zustand der anderen Person, sondern in einem kontrastierenden Angebot, das aus der eigenen Kraft und Klarheit stammt. Wir treten einander gegenüber, mit durchlässigen und fließenden Grenzen. Nur so kann sich ein interaktives Spiel entwickeln, das für das Mitgefühl kennzeichnend ist und das leicht und zugleich schwer sein wird. Auf diesem Weg entsteht die wirkungsvollste Hilfe für leidende Menschen.

Im Mitgefühl bleiben wir bei uns und sind zugleich offen für das Leiden der anderen Menschen. Wir lassen zu, dass wir berührt werden und sind zugleich präsent und in Verbindung mit uns selbst. Wir können uns klar von der leidenden Person unterscheiden und ihre Last und ihr Problem bei ihr lassen. Wir vertrauen darauf, dass sie die Herausforderung meistern kann, unter Einsatz eigener Kräfte, die sich auch darin äußern können, um Hilfe zu bitten. Wir schauen auf das Leid, erkennen es und verschließen uns nicht davor. Zugleich lassen wir die Verantwortung dort, wo sie hingehört, und sehen uns nicht in der Pflicht und alleinige Aufgabe, das Leid zu tilgen.

Mitgefühl und Passivität 


Wenn wir bloß aus sicherer Distanz das Leiden im Außen wahrnehmen und uns einreden, dass wir nichts tun können, sind wir nicht im Mitgefühl, sondern in der Abwehr des Leidens. Denn das Mitgefühl steht nicht im Gegensatz zur Aktivität noch zur Passivität. Wir werden aus Mitgefühl aktiv, wenn es das Mitgefühl erwirkt und nicht wenn es das schlechte Gewissen oder das Pflichtbewusstsein befiehlt. Wir bleiben passiv, wenn es die Situation erfordert. Mitfühlend können wir etwas tun, eine Hilfestellung oder einen Rat anbieten, Trost spenden, Verständnis zeigen. Es wirkt aber kein Müssen, kein Zwang, keine Notwendigkeit, sondern das Tun erfließt frei aus dem Mitgefühl.

Es ist ein Tun, das aus Selbstverständlichkeit, Natürlichkeit und menschlichem Teilen geschieht. Wenn es für die andere Person nicht passt, hören wir sofort auf und reagieren nicht mit Ärger, wenn die Hilfe nicht angenommen wird. Das Handeln aus dem Mitgefühl ist durch Leichtigkeit gekennzeichnet. Sobald sich etwas schwer und mühsam anfühlt, wissen wir, dass wir nicht im Mitgefühl sind.

Mitgefühl und Menschenwürde


Im Mitgefühl würdigen wir den anderen, leidenden Menschen, in seinem Leid und auch in seiner Fähigkeit, das Leid zu überwinden. Wenn es passt, reichen wir eine Hand, wenn nicht, bleiben wir in der mitfühlenden Präsenz. Auf diese Weise stärken wir die innere Kraft, die das Leiden überwinden will, und zehren uns selbst nicht aus, getrieben vom uneinlösbaren Wunsch, all die Leiden der Welt zu lindern. Im Mitgefühl bleiben wir in unserer Klarheit und in unserem Vertrauen und geben damit die wirksamste Unterstützung für das Leiden der anderen.

Wenn wir mit einem Bettler auf der Straße Mitleid haben, geben wir ihm Geld und gehen schnell weiter; wenn wir Mitgefühl haben, geben wir ihm seine menschliche Würde zurück. Im Mitgefühl sind wir Bettler wie er.

Mitgefühl und Empathie


Mitfühlen (Empathie) ist nicht das Gleiche wie Mitgefühl, das erstere ist aber eine wichtige Komponente des zweiteren. Wenn wir nur empathisch sind, kann es passieren, dass wir von den Leidenszuständen der anderen Menschen überlastet werden und uns ausgebrannt fühlen. Wir spüren unsere eigene Unfähigkeit, das vielfältige Leid zu lindern, und leiden selber daran. So wird das Mitfühlen schnell zum Mitleid(en).

Am Rand der Empathie gibt es zwei Möglichkeiten: Wir können unser Bewusstsein erweitern und kommen ins Mitgefühl, oder wir folgen einer Konditionierung und landen im schuldbeladenen Mitleid. Es ist wichtig, diesen Unterschied in sich selbst zu erkennen und diese Erkenntnis zu festigen, damit wir nicht in einem von alten Programmierungen gesteuerten vermeintlichen Mitgefühl hängen bleiben.

Der bekannte Spruch: "Geteiltes Leid ist halbes Leid" erscheint in diesem Licht als doppeldeutig. Wenn wir annehmen, dass wir einem anderen Menschen die Hälfte seines Leides abnehmen müssen, geraten wir in die Helferfalle. Wenn wir uns darauf einstellen, mit der leidenden Person zu sein und zu verweilen und in diesem Sinn das Leid zu teilen, bleiben wir im Mitgefühl.

Beim Mitgefühl nehmen wir Bezug auf die andere Person als Ganze, nicht nur auf ihr Leid. Dabei erkennen wir sofort, dass sie mehr ist als ihr Leid und auch mehr in ihrem Leben vermag. Wir sehen die verletzten Seiten und die gesunden. Mit diesem geweiteten Blick können wir genauer abstimmen, welche Handlungen unsererseits hilfreich und welche kontraproduktiv sind.

Im Mitgefühl spüren wir also das Leid der anderen Menschen, ohne selbst zu leiden – aber auch ohne uns selbst besser fühlen zu müssen. Deshalb stärkt uns das Mitgefühl, während die mit alten Programmen verknüpfte Empathie zur Erschöpfung führen kann.

Die Wirkung der Präsenz


Viele Leidenserfahrungen stammen aus Verletzungen auf der Beziehungsebene. Wie wir ganz klein waren, waren wir völlig von anderen Menschen abhängig, und viele der Irritationen in diesen Beziehungen waren für uns existentielle Bedrohungen, die sich im späteren Leben in wichtigen Beziehungen widerspiegeln können. Zum Beispiel können wir bei unvorhersehbaren Trennungen oder bei der Enttäuschung von Erwartungen überreagieren. Das alte Drama wiederholt sich, und die alten Gefühle überschwemmen uns.

Die mitfühlende Präsenz eines Menschen ist uns deshalb oft so wertvoll, weil sie solche Verletzungen und Mängel ausgleicht. Ist eine andere Person über die empathische Ebene mit uns verbunden und mit uns im Gefühl da, so fühlen wir uns nicht nur sicher in unserer Existenz, sondern auch in unserem Wesen, also in der Art und Weise, wie wir als Personen sind. Wir können so sein, wie wir sind.

Allmenschliches Mitgefühl


Die buddhistische Lehrerin Pema Chödrön schreibt: „Mitgefühl wird dann real, wenn wir uns unseres gemeinsamen Menschseins bewusstwerden.“ Im Mitgefühl heben sich alle Rangunterschiede und Statusdifferenzen unter den Menschen auf. Wir sind alle gleich – gleich reich und arm, gleich glücklich und unglücklich. Wir sind alle gleich wertvoll. Wir alle haben zu tragen, die einen ein wenig mehr und die anderen ein wenig weniger. Dementsprechend bezieht sich die buddhistische Symbolfigur des Bodhisattva auf einen Menschen, der mit der eigenen Befreiung die Befreiung aller anderen fühlenden Wesen verbindet, also jemand, der sich bewusst ist, dass ohne die Erlösung aller keine individuelle Erlösung möglich ist.

Das Mitgefühl bewahrt uns also vor jeder Form von Überheblichkeit, Arroganz und Stolz. Wir erkennen unsere Kleinheit, Beschränktheit und Hinfälligkeit. Mitfühlend sind wir auf der gleichen Stufe wie das leidende Wesen.

Die Praxis des Mitgefühls


Die Haltung des Mitgefühls erfordert Übung, damit sie uns in Fleisch und Blut übergeht. Hier folgt eine Form der buddhistischen Metta-Meditation, der Meditation des Mitgefühls: „Mögest du frei sein von Leid und von den Ursachen des Leidens. Mögest du glücklich sein und dich der Ursachen des Glücks erfreuen. Mögest du Heilung finden. Mögest du zu Gleichmut und Frieden gelangen. Möge es dir wohlergehen und mögest du zum Wohlergehen anderer beitragen.“

Donnerstag, 14. März 2019

Die Verharmlosung von Diktatoren und die Demokratie

Der Präsident des Europäischen Parlaments, Antonio Tajani, wird aktuell gerade kritisiert, weil er über den faschistischen italienischen Diktator Mussolini, gesagt hat: „Wenn wir ehrlich sein wollen, hat er Straßen, Brücken, Gebäude, Sportanlagen gebaut. … Wenn man ein historisches Urteil fällt, muss man objektiv sein.“ (So das Zitat im Standard). 

Zunächst fällt auf, dass es sich um eine typische Verherrlichung von Machthabern handelt, wenn gesagt wird, „er“ hat alles mögliche gebaut. Damit wird die Person des Herrschers überhöht und in ein besonderes, übermenschliches Licht getaucht. In einer funktionierenden Demokratie braucht es keine solche heiligenmäßige Symbolisierungen, da ist klar, dass die Arbeit und das Geld für alle öffentlichen Investitionen von den Bürgern eines Landes kommen und der Beitrag der Politiker dazu ein relativ geringer ist. Es würde niemand auf die Idee kommen zu sagen, Präsident Van der Bellen – oder Kanzler Kurz oder Verkehrsminister Hofer – hat die Umfahrung Drasenhofen gebaut, und es würde einem seltsam anmuten, wenn in einem Nachruf zu diesen Personen gesagt würde, sie hätten diese oder jene Brücke gebaut. 


Heimliche Diktatorenverehrung


Bei Diktatoren hingegen kommt es immer wieder zu solchen Aussagen, die sie in ein besseres Licht rücken sollen, unter dem scheinbar toleranten Motto: Niemand ist nur schlecht. Damit werden allerdings die schlechten Taten relativiert, der Bösewicht ist dann nicht mehr ganz schlecht, und der Beschöniger fühlt sich auch noch im Recht, wenn er mit seiner „ausgewogenen“ Sicht menschlicher erscheint als die Schwarz-Weiß-Maler.

Die Dikatorenverehrer nutzen gerne solche rhetorischen Figuren, offensichtlich um unter dem Deckmantel einer scheinbar harmlosen Aussage die Botschaft verstecken, dass wir uns nicht allzu sehr vor Diktatoren oder vor den Bestrebungen, ein autoritäres Regime zu errichten, fürchten sollten, weil ja dort weiterhin schöne Gebäude oder vielleicht noch schönere als ohne Diktatur gebaut werden.

Es wird schon sein, dass Mussolini angeordnet hat, dass Sportanlagen oder Brücken gebaut werden – und das gehört auch zu den normalen Aufgaben von Herrschern, und es wäre eine Schande gewesen, wenn unter Mussolini in den 21 Jahren seiner Gewaltherrschaft keine Straßen oder Gebäude gebaut worden wären. Es ist also ein Nona, das da hinausposauniert wird, noch dazu dekoriert mit der personalisierten Note des Alles-Machers („Er, der Übermächtige, hat gebaut und gebaut und gebaut…“). 

Manchmal heißt es auch: „unter“ dem Diktator ist dies oder jenes geschehen. Es wird damit ausgedrückt, dass eine Person oben ist und alle anderen darunter. So wähnen sich Diktatoren, und diese Sichtweise unterstützen wir mit der Redewendung. „Unter Hitler hätte es dies oder jenes nicht gegeben“, „unter Hitler hat es eine ordentliche Beschäftigungspolitik gegeben“; solche Aussagen tauchen immer wieder auf, und neben der obskuren Sehnsucht nach der Führerfigur drücken sie auch die Ohnmacht der Untertanen aus. Unter Hitler geschah nur, was Hitler wollte. All die anderen Mitwirkenden haben dann keine Verantwortung und keine Schuld an den Gräueltaten, aber auch keinen Ruhm an den Errungenschaften und errichteten Bauwerken. Sie haben ja nur „unter“ dem Diktator, also mit minderer Verantwortung gehandelt – oder nicht einmal das: Sie haben Befehle ausgeführt. Oben wirkt ein starker Wille, und alles unterhalb führt aus, was der Wille befielt. 


Unterminierung der Demokratie


In einer Demokratie haben diese und ähnliche Meldungen keinen Platz. Es muss nicht jeder, der in einer Demokratie lebt, diese gutheißen, aber wenn jemand dem zentralen gesetzgebenden Gremium der EU vorsitzt, muss man davon ausgehen können, dass diese Person die Demokratie ganz grundsätzlich vertritt und zu ihr steht. Und das wird mit solchen Aussagen zweifelhaft.

Politiker verfolgen mit ihren Aussagen bestimmte Kalküle, sie reden, was bestimmte Wählergruppen von ihnen hören wollen. Rechtsgerichtete Politiker spekulieren, dass sie mit Aussagen, die vergangene Diktaturen verherrlichen oder zumindest relativieren, Wähler anziehen, die sich solche Regierungsformen wünschen. Dann muss aber öffentlich klar gestellt werden, dass sie sich damit gegen die Demokratie richten und dass sie deshalb in einer Demokratie kein Amt bekleiden dürfen, das sie mit der Macht ausstattet, an der Abschaffung der Demokratie selber zu arbeiten. Das wäre ein Selbstmord der Demokratie, und deshalb bedarf es des kritischen Diskurses, um solche Tendenzen aufzudecken und abzustellen. 


Die Geschichte und das moralische Urteil


Dies gesagt, möchte ich auf eine weitere Frage eingehen, die oft mit solchen Aussagen verquickt wird. Man muss ja Gerechtigkeit walten lassen, so heißt es, es war nicht alles schlecht, bloß weil einiges schlecht war. Tajani spricht von einem „objektiven“ historischen Urteil und meint damit offensichtlich eine Nebeneinanderstellung des „Guten“ und des „Bösen“ im historischen Rückblick auf das Wirken eines Menschen. Objektives Wissen dieser Art ist relativ belanglos, weil dann sofort die Frage auftaucht, in welchem Verhältnis beides zu gewichtigen wäre. Da hat jemand den Bau von Kindergärten angeordnet und Kinder von Juden ermorden lassen. Was wiegt schwerer? Kann das Gute das Böse aufwiegen? Offensichtlich nicht, jedes moralische Gefühl würde sich gegen diese Möglichkeit sperren. Es ist und bleibt abgrundtief böse, die Ermordung von Kindern anzuordnen und gutzuheißen, gleich wievielen anderen Kindern der Täter ein Lächeln oder ein Spielzeug geschenkt hat.

Wir kommen bei der Betrachtung der Vergangenheit nicht um ein moralisches Urteil herum, die „objektiven“ Fakten liefern dafür keinen Maßstab. Sie können keine Schuld ausgleichen oder sühnen. Es trägt nichts zur Objektivierung der Vergangenheit bei, Gutes gegen das Böse zu stellen. 

Keine Person ist in sich lückenlos böse, Menschen können Unmenschen werden, aber nie zur Gänze, sondern in weiten Bereichen ihres Handelns. Selbst im Bösesein können Menschen keine Vollkommenheit erlangen. Zu dem kommt, dass viele Bösewichter meinen, sie würden mit ihren Taten eigentlich dem Gutem zum Durchbruch verhelfen. Sie wähnen sich also subjektiv auf der guten Seite.

Bei der Erforschung der Geschichte brauchen wir moralische Urteile, weil die Geschichte unsere Gegenwart beeinflusst. Alles, was in der Geschichte nicht durch die Klärung der Faktenlage, der Beleuchtung der Zusammenhänge, der Zuordnung von Verantwortung und der moralischen Bewertung aufgearbeitet wurde und der Öffentlichkeit bewusst gemacht wurde, wirkt unterschwellig weiter und arbeitet auf dieser Weise, wie innerpsychisch das Verdrängte, auf seine Wiederholung hin. 

Das moralische Urteil, das in der historischen Reflexion unabdingbar ist und das wir der Weiterentwicklung der Freiheit und gesellschaftlichen Offenheit schuldig sind, hat eine Grenze, wenn es um die Person selbst geht. Das historische Urteil erstreckt sich auf alle Taten und Unterlassungen, die einer Person zugeordnet werden können. Sie müssen gemäß dem kategorischen Imperativ daraufhin untersucht werden, ob sie als Grundlage eines demokratischen Gemeinwesens dienen können oder nicht. Doch ist die Person noch einmal von ihren Handlungen zu unterscheiden. Eine Person als solche zu beurteilen oder zu verurteilen, so schlimm und abgründig deren Handlungen sein mögen, steht uns nicht zu. Wir haben dafür keinen Standpunkt, weil wir uns nicht über einen anderen Menschen stellen können, sondern weil wir fundamental alle gleich sind. Menschsein ist Menschsein, und es gibt kein Mehr- oder Besser-Menschsein. 

In diesem Sinn verdient der elendste Bösewicht einen grundlegenden Respekt, wie verwerflich seine Taten auch immer sein mögen und auch als solche geahndet werden müssen. Erst so werden wir einem Menschen „gerecht“, nicht, indem wir die guten gegen die bösen Taten stellen und irgendeiner Waage anvertrauen, sondern indem wir von seinem Tun absehen und verstehen, wie er in die Tragik des Lebens eingebunden ist, die ihn einmal zum Opfer und dann zum Täter gemacht hat. 

Es gibt eine Ebene, die wir für die Gestaltung und Absicherung unseres Zusammenlebens brauchen. Auf dieser Ebene muss es eine klare Zuordnung von Personen und Handlungen geben, und dieser Zusammenhang wird durch Verantwortung hergestellt. So werden Personen „zur Verantwortung gezogen“, wenn sie unverantwortlich handeln. 


Liebe ist größer als Urteilen


Auf einer anderen Ebene sind wir alle gleichermaßen schuldig oder unschuldig. Da spielt das moralische Urteil keine Rolle mehr. Jeder gibt das, wozu er in der Lage ist, vermag manches besser und anderes schlechter. Die Liebe, die wir einander schulden, darf dort nicht haltmachen, sondern wirkt eigentlich erst dann im vollen Sinn, wenn sie vom Guten und Bösen absehen kann und den Menschen meint, der hinter allem Tun steckt. 

Das ist die Ebene, die wir nur mit äußerster Vorsicht und Achtsamkeit betreten dürfen. Auch sie kann missbraucht werden, indem jemand in der Öffentlichkeit mit dem Pathos der „Gerechtigkeit“ auftritt und in Wirklichkeit eine politische Absicht damit verfolgt. Sobald wir anfangen, die zwei genannten Ebenen durcheinander zu bringen, stiften wir Verwirrung und Verunsicherung, die günstigsten Bedingungen für Manipulation und Machtspiele. Wir brauchen also ein klares Urteil und eine Liebe, die größer ist, und die Kraft der Unterscheidung, was wann notwendig ist.

In diesem Zusammenhang hier das noch immer lesenswerte Gedicht von Bert Brecht:

Fragen eines lesenden Arbeiters 

Wer baute das siebentorige Theben?  
In den Büchern stehen die Namen von Königen.  
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?  
Und das mehrmals zerstörte Babylon,  
Wer baute es so viele Male auf ? In welchen Häusern  
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?  
Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war,  
Die Maurer? Das große Rom  
Ist voll von Triumphbögen. Über wen  
Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz  
Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis  
Brüllten doch in der Nacht, wo das Meer es verschlang,  
Die Ersaufenden nach ihren Sklaven.  
Der junge Alexander eroberte Indien.  
Er allein?  
Cäsar schlug die Gallier.  
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?  
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte  
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?  
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer  
Siegte außer ihm?  
Jede Seite ein Sieg.  
Wer kochte den Siegesschmaus?  
Alle zehn Jahre ein großer Mann.  
Wer bezahlte die Spesen? 
So viele Berichte,  
So viele Fragen.

Mittwoch, 13. März 2019

Das Enneagramm und die Entstehung des Lebens

Das Enneagramm, ein Modell zur Einteilung von Persönlichkeitstypen, findet immer mehr Verbreitung. Beim Enneagramm werden neun Typen unterschieden, die in einem anderen Artikel auf dieser Seite dargestellt wurden. Zu jedem Typ gibt es nach einer Weiterentwicklung des Modells jeweils drei Untertypen: sozial, selbsterhaltend und zweisam. 

Der letztere Untertyp wird auch als „sexuell“ bezeichnet, wobei diese Zuordnung für Erwachsene Sinn macht, aber nicht für Kinder, geschweige denn für Ungeborene. Doch besagt die Theorie des Enneagramms, dass jeder Mensch seine Persönlichkeitsprägung „von Anfang an“ trägt, dass sie also nicht durch bestimmte hochwirksame Einflüsse in der psychosozialen Entwicklung entstanden sind. Deshalb bevorzuge ich bei der Untertypen-Einteilung die Bezeichnung „zweisam“ oder „eins-eins“, weil es darum geht, dass sich dieser Untertyp mit einer zweiten Person am wohlsten fühlt, während der selbstversorgende Typ am besten mit sich selbst zurechtkommt und der soziale Untertyp viele Beziehungen braucht, um sich sicher zu fühlen.

Aus der folgenden Betrachtung kann auch besser verständlich werden, wie die Kräfte und Energien der einzelnen Untertypen zusammenwirken und aufeinander angewiesen sind, um die Entwicklung des Lebens und der Individuen zu fördern.

In diesem Artikel möchte ich die Zusammenhänge unserer Frühentwicklung, und hier insbesondere die Empfängnis, mit den Enneagramm-Untertypen beleuchten. In der Bewältigung der zentralen Entwicklungsereignissen spielen alle Unter-Orientierungen eine Rolle, und es kann sein, dass Schwierigkeiten mit einem der vielfältigen Aspekte, die bei diesen Geschehnissen wichtig sind, zur Festlegung des Untertyps führen; es kann aber auch umgekehrt sein, dass der schon vorliegende Untertyp bewirkt, dass diese Schwierigkeiten als besonders gravierend erlebt wurden. Es handelt sich also um eine Henne-Ei-Frage, auf die es keine überzeugende Antwort, sondern nur modellhafte, im Grund willkürliche Festlegungen auf die eine oder die andere Variante gibt.

Die soziale Orientierung


Welche Elemente des Empfängnisgeschehens enthalten einen sozialen Schwerpunkt? Damit es zur Befruchtung kommen kann, muss sich eine Eizelle aus dem Verband und der Gemeinschaft der anderen Eizellen lösen, in der sie sich schon lange Zeit befunden hat. Sie muss alleine den Eisprung wagen und sich auf den Weg in den Eileiter begeben. Es kann also der Verlust der Gemeinschaft und die Aufgabe, es alleine schaffen zu müssen, bedrohlich, schockierend oder belastend wirken. 

Auf der Seite der Samenzelle erfolgt die Abschiedsszene im dramatischen Geschehen vor der Ejakulation, indem die gewohnte Umgebung der Hoden hinter sich gelassen werden muss. Allerdings beginnt die Reise ins Unbekannte mit Millionen Gefährten. Erst am Ende der Reise, bei der Annäherung an die Eizelle muss die Entscheidung fallen, welche Samenzelle als einzige in die Eizelle eindringen kann, während alle anderen zurückbleiben und zugrunde gehen.

Das Empfängnisgeschehen symbolisiert die Wiedergewinnung einer Gemeinschaft. Sie setzt allerdings die völlige Selbstaufgabe der Samenzelle voraus, von der nur die Chromosomen übrigbleiben, während der Rest von der Eizelle verschluckt wird. 

An diesen Elementen zeigen sich die Ressourcen für die soziale Orientierung: Die Offenheit für das Gemeinsame, die Kraft aus der Verbindung mit anderen und mit einer Gruppe schöpfen, die Vielfalt der Beziehungen wertschätzen und fördern. 

Wurzeln für Traumatisierungen gerade für die so essentielle Ausrichtung auf die anderen und die Gemeinschaft können aus dem Verlust der Gemeinschaft und der sicheren Verbindung beim Abschied aus dem Eierstock oder aus dem Hoden stammen. Plötzlich geht es darum, das Überleben alleine schaffen zu müssen. Der Schritt zur Individualisierung ist herausfordernd und mit dem Verlust von sozialer Sicherheit verbunden. Unsicher ist, ob sich die Art von intimer und vertrauter Gemeinschaft, wie sie vorher bestanden hat, jemals wieder finden wird. Andererseits ist klar, dass sich jeder soziale Körper nur dann dauerhaft am Leben erhalten kann, wenn er ab und zu auseinanderfällt und sich dann neu formiert.

Die Selbsterhaltungsorientierung


Hier steht der Aspekt des Selber-Schaffen-Müssens im Vordergrund, aus dem Kraft und Entschlussfreude geschöpft wird. Die Eizelle macht sich auf dem Weg, um einer Samenzelle zu begegnen, die eine noch viel längere Reise auf sich genommen hat. Aus der Sicht der sozialen Orientierung wird gewissermaßen die Not in die Tugend umgewandelt: Die Sicherheit wird aufgegeben, um ein spannendes, aber auch sehr riskantes Abenteuer zu erleben. 

In diesen Akten tritt die Individualität der Gemeinschaft entgegen und eröffnet ein kreatives Spannungsfeld. Ohne die Aufbruchs- und Ausbruchsimpulse fehlt der Gemeinsamkeit das Wachstums- und Veränderungsmotiv. Die etablierte Ordnung gerät dadurch in ein Chaos, um sich zu einer neuen Ordnung transformieren zu können. 

Die besonderen Kräfte dieser Orientierung zeigen sich in der fokussierten Kraft des Vorwärtsstrebens hin zum Risiko und zum Aufbruch ins Unbekannte und Unsichere. Es geht um die Vorwärtsbewegung in eine Region, in der es nur zwei Möglichkeiten gibt, unterzugehen oder im äußerst unwahrscheinlichen Fall eine Ekstase der Schöpfung zu ermöglichen. Die Bereitschaft zu solchen Schritten und das Einlassen auf das damit verbundene Risiko des totalen Scheiterns ist ein Grundkennzeichen des Lebens und konstitutiv für dessen Weiterentwicklung.

Die Selbsterhaltungsorientierung kann bei einigen Ereignissen im Rahmen des Befruchtungsgeschehens traumatisch belastet werden, so bei der Abtrennung des Samenschwanzes kurz vor dem Eindringen in die Eizelle und bei der darauffolgenden Auflösung des Spermienkopfes  - die in der zur Befruchtung strebenden Samenzelle enthaltene Selbsterhaltungsorientierung hat im Dienst des Lebens alles daran gesetzt, damit sich die Samenzelle mit der Eizelle vereinen kann, und muss sich nun vollständig aufgeben. 

Die Zweisamkeitsorientierung


Dieser Untertyp versöhnt in gewisser Weise die Spannung zwischen der sozialen und der selbsterhaltenden Orientierung. Die gemeinschaftliche Ordnung bereitet die Weitergabe des Lebens vor, die nur durch ihr Aufbrechen geschehen kann, die die individualisierende Ordnung übernimmt. Das neue Leben entsteht als Vereinigung von Zweien.

Die vorwärtsdrängenden Kräfte der Eizelle und der Samenzelle sind durch die Hoffnung auf Zweisamkeit ausgerichtet und angetrieben. Die Samenzelle strebt zur Eizelle und wird von dieser eingeladen und erwartet. Die selbstorganisierte Bewegung führt von der Gemeinschaft weg hin zur Begegnung mit dem Anderen, das Männliche trifft auf das Weibliche. Die Anziehung geschieht durch die Verschiedenheit. 

Dieser Orientierungstyp ist mit traumatisierenden Herausforderungen beim Eindringen in die Eizelle und bei der Chromosomenpaarung konfrontiert. Die Zweisamkeit muss sich, kaum gelungen, schon wieder in der Verschmelzung, also in einer neuen Einheit verlieren, die die Erbanlagen beider Seiten zusammenfügt und ein Individuum schafft – das sich dann gleichwohl nach einiger Zeit wieder teilen muss. 

Der Zweisamkeitstyp repräsentiert die besondere Qualität, die in der Anbahnung und Herstellung einer Zweier-Beziehung liegt, die eine besonders intensive Form der Kommunikation und des Austauschs ermöglicht. Das Vertrauen, das in einer Zweierbeziehung aufgebaut werden kann, erlaubt besonders viel emotionale, geistige und materielle wechselseitige Unterstützung.

Grundzyklen des Lebens


Wir erkennen hier einen Grundzyklus des Lebens im Wechsel von Ordnung und Chaos, von größeren Verbänden zu kleineren zu Einzelwesen. Bei dem hier besprochenen Prozess steht die Gemeinschaft der Eizellen und der Samenzellen am Anfang, gefolgt vom Zerfall und dem Heraustreten des Einzelnen, um dann als Paar zusammenzukommen und eine neue Einheit zu formen, eine neue Ordnung, die dann sich wieder zum Chaos auseinanderfaltet. Jeder Zustand ist ein Übergang zum nächsten. Zum Gelingen des Ganzen ist jede der Orientierungen mit ihren eigenen Qualitäten gefragt und das organische Zusammenwirken all dieser Kräfte erst erlaubt Wachstum und Entfaltung. Dieser Prozess im Inneren des mütterlichen Organismus findet seine Entsprechung und Voraussetzung in der Umgebung, indem zwei Einzelwesen, Vater und Mutter, als Paar zusammenkommen, sich in der Sexualität vereinigen und daraus ein neues Einzelwesen entsteht, das die Paarbeziehung zu einer Dreierbeziehung, einer neuen sozialen Ordnung erweitert. 

Auch im täglichen Leben gehen wir immer wieder durch diesen Zyklus. Wir treffen uns mit einer zweiten Person, sind mit Gruppen zusammen und verbringen dann wieder Zeit alleine. Es scheint, dass wir Menschen jede dieser Sozialformen brauchen und darunter leiden, wenn eine auf Dauer fehlt oder unterbelichtet ist. Unterschiedlich ist dagegen das Ausmaß, das die Bedürfnisse steuert, die einen, die das Alleinesein besonders schätzen, die anderen, die viel Zeit in Gruppen verbringen wollen und die dritten, die zu zweit am meisten Gewinn erfahren.

Jeder der drei Enneagramm-Untertypen repräsentiert einen Aspekt, eine Koordinate, eine Triebkraft dieses Geschehens.  Nach der Enneagramm-Theorie zeigt sich in jedem Menschen eine der Aspekte besonders stark ausgeprägt, was den Sinn haben könnte, dass auf diese Weise die Gesellschaft optimal zusammenarbeiten kann. Denn alle diese Kräfte sind notwendig, und die beste Form der Kooperation ist gegeben, wenn alle Orientierungen in gleicher Weise zum Ausdruck kommen und ihre Wirkung entfalten. 

Für die Selbsterforschung und -entwicklung gilt, dass die besondere Stärke der eigenen Grundorientierung zu nutzen, um die Ressourcen der anderen Orientierungen nutzbar zu machen und damit deren Potenziale besser für das eigene Leben einsetzen zu können. Das Enneagramm mit seinen Typenbeschreibungen und -zuordnungen dient als Ausgangspunkt für die Entwicklung zur Ganzheit. Ein Blick auf die möglichen, durch Traumatisierungen im Rahmen des Empfängnisprozesses entstandenen Hemmungen und Blockaden kann dabei sehr hilfreich sein.

Zum Weiterlesen:
Das Enneagramm und frühe Prägungen
Die Typenwahl und das Enneagramm
Reaktionsweisen auf die Scham nach dem Enneagramm


Donnerstag, 7. März 2019

Die Dimensionen der Verzweiflung

Die Verzweiflung ist wie eine Halbschwester der Traurigkeit. Sie taucht dort auf, wo der Ausweg aus dem seelischen Schmerz verbaut erscheint und alles Helle und Lichte im eigenen Leben verschwunden ist. Es ist, als wären wir ganz auf uns selbst zurückgeworfen, als gäbe es keine Hilfe und keine Rettung und als müsste das aktuelle Leid für immer fortdauern. Es gibt keinen Grund mehr für Hoffnung, alle Tore aus der schwierigen Situation scheinen versperrt. Verzweifeln heißt auch, dass wir das Grundvertrauen ins Leben verloren haben. All das, was uns Angst macht und Schmerz bereitet, hat sich über und in uns zusammengeballt, und wir haben die einzige Gewissheit, dass es keine Lösung und Befreiung gibt. Außer dieser Einsicht in die eigene Hilflosigkeit und das eigene Ausgeliefertsein gibt es nichts, was sicher ist und Halt geben könnte.  


Gefühl und Denken


Verzweiflung ist nicht nur ein Gefühl; dieser Zustand ist häufig mit geistiger Irritation oder Verwirrung verbunden. Darum ist sie nur eine Halbschwester der Traurigkeit. Es gibt also eine mentale Komponente, die mitspielt, wenn wir uns verzweifelt fühlen. In der Verzweiflung steckt der Zweifel, die gedankliche Infragestellung dessen, was ist. Wenn der Zweifel überhandnimmt, trennt er sich von allem ab, was ist, einschließlich von sich selbst.  

Auf diese Weise schwindet jede mentale Stärke, die der Verzweiflung abhelfen könnte. Wer fest an sich selber glaubt und sich die eigenen Fähigkeiten im Geist vergegenwärtigen kann, braucht nicht zu verzweifeln. Wenn allerdings selbstvertrauensschwächende Gedanken vorherrschen, vertieft das Denken die Verzweiflung. Das können Gedanken sein wie: „Ich schaffe das nie, es wird nie wieder besser, es gibt keinen Ausweg, ich weiß nicht, was ich tun soll, alles ist vergeblich“ usw.  

Das Verstandesdenken ist Meister im Verallgemeinern: Der momentane Zustand wird zum Ganzen erhoben: Statt „Jetzt sehe ich keinen Ausweg, jetzt habe ich keine Hoffnung, jetzt weiß ich nicht weiter“, nutzt das Denken die Formulierungen mit: „Nie (klappt was…), immer (geht alles daneben …), alles (ist umsonst….), nichts (hilft mir ….)“. Damit wird eine Überzeugung hergestellt, die erst recht keine Chance zum Entkommen erlaubt und die Verzweiflung zementiert. Diese Gedanken werden aus früh geprägten Gedankenmustern gespeist und fließen verstärkend in das Gefühl ein.  

Typisch für den Zustand ist, dass wir nicht genau unterscheiden können, ob wir in einem Gefühl oder im Denken sind. Beides wirkt zusammen, und gerade deshalb ist der Zustand so ausweglos. Das Denken kreist in sich selbst, das Gefühl hält uns in unserer Tiefe und Selbstbezogenheit gefangen.  

In der Verzweiflung geschieht die Hingabe – das Aufgeben der Kontrolle und des Besserwissens, der Verdrängung und der Oberflächlichkeit. Hingabe kann nur geschehen; wir können uns nicht für das Hingeben entscheiden, weil das kein Tun ist, sondern eine Haltung, die dann erscheint, wenn unser Ego beiseitetritt und Platz macht. Es gibt nichts mehr, was getan werden könnte. Ich kann mir selber nicht mehr helfen, also braucht es eine andere Hilfe, die ich nicht selber bereitstellen kann, sondern die von irgendwoher kommt oder eben nicht kommt.  

Im Grund ist es unser Ego, das in der Verzweiflung verzweifelt, weil es mit seinen Strategien am Ende ist. Es scheitert in der Verzweiflung und muss eingestehen, dass es keinen Rat und keine Hilfe anbieten kann. Es kann das Überleben nicht mehr sichern, und damit ist seine Hauptaufgabe obsolet geworden. 


Die Verantwortung abgeben 


Solange im Prozess des Verzweifelns andere Menschen beschuldigt werden oder das eigene Schicksal bejammert wird, ist die Verzweiflung noch nicht voll eingetreten. Vielmehr kennen wir alle die Versuche, die Verantwortung und Urheberschaft für unser Leiden an andere abzutreten, indem wir sie beschuldigen. Und selbst wenn wir scheinbar die Verantwortung zu uns zurücknehmen, indem wir feststellen, dass wir es waren, die alles falsch gemacht haben oder die vom Leben so sträflich benachteiligt wurden, verfügen wir noch im Hadern über einen Ankerpunkt, der uns vor dem Absturz in die volle Verzweiflung rettet. Wir halten uns daran fest, das Opfer anderer Menschen oder widriger Umstände, unseres Körpers oder unseres desolaten Inneren zu sein. Wir bleiben mit dem verbunden, was uns als Täter und Verursacher unseres Leidens erscheint. Die Hoffnung bleibt bestehen, dass sich die Ursachen verwandeln könnten, dass das Schlechte oder Böse noch gut werden könnte, und damit bleibt ein Aspekt der Kontrolle erhalten und die Macht der Verzweiflung ist abgeschwächt. Im Anklagen, Jammern und Klagen sind wir aktiv und kämpfen um eine Verbesserung der Lage, wenn auch meistens ohne Aussicht auf Erfolg.  

Mit solchen Strategien schützen wir uns vor der Wucht der vollen Verzweiflung, die uns in unseren Grundfesten erschüttert. Es ist auch notwendig und gut, dass wir über Mechanismen verfügen, die die Überwältigung durch die Verzweiflung abzufedern, denn an der vollen Verzweiflung kann nicht nur das Ego scheitern, sondern auch die Seele zerbrechen. Wenn die Anker und Gerüste der Persönlichkeit nicht nur erschüttert, sondern beschädigt oder zerstört werden, mündet die Verzweiflung in den physischen und/oder psychischen Zusammenbruch. Wenn es soweit kommt, treibt die Verzweiflung die betroffenen Menschen schließlich in den Suizid. 

Es braucht an diesem Punkt andere Leute, die an uns glauben und uns auch an diesem tiefsten Punkt festen Halt und liebevolle Präsenz schenken. Für viele Menschen ist auch der Kontakt zur Natur eine Stütze. Manchen anderen bleibt nur der Ausweg in eine Form der Ablenkung und Flucht – in Drogen oder andere Abhängigkeiten, die einen Halt vor dem völligen Absturz bieten können, allerdings gegen einen hohen Preis. 


Annehmen, was ist 


Die existenzielle Verzweiflung bleibt solange am Grund der Seele wirksam, solange sie nicht in dieser Tiefe angenommen und durchgestanden ist. Sie wird sich immer wieder melden und das Innenleben überschatten, in den verschiedensten Verkleidungen und Maskierungen. Sie wird die alltäglichen Herausforderungen und Unpässlichkeiten mit einer Note der Bitterkeit versetzen, Meinungsverschiedenheiten in scheinbar unlösbare Konflikte steigern, Krankheiten in seelisches Leiden verwandeln, widrige Welterscheinungen in Grübeleien übersetzen und dem ganzen Leben gegenüber zum Pessimismus neigen. 

Der Seelensucher macht sich dran, die Wurzel der Verzweiflung in frühesten traumatischen Erfahrungen zu finden und dort zu befrieden. Als Ungeborene und Kleinkinder waren die meisten von uns verzweifelt, wenn wir alleine gelassen, nicht verstanden oder lieblos behandelt wurden. Wir haben über so wenige Möglichkeiten verfügt, für unser Überleben zu sorgen, sodass in extremen Situationen nur mehr Verzweiflung und Resignation geblieben sind. 

Mit dem Verständnis, dass wir in der Verzweiflung in einen frühen Erfahrungszustand zurückrutschen, können wir uns bewusst machen, dass wir mit unseren Erwachsenenkompetenzen unser Leben meistern können. Es mag manchmal widrig und überfordernd sein, aber wir haben schon so vieles geschafft und werden auch über diese Hürde hinwegkommen. 


Die Verzweiflung an der Endlichkeit


“In der endlichen Verzweiflung schließe ich mich ein mit dem Endlichen; in der absoluten Verzweiflung schließe ich mich auch für das Unendliche." Mit der Unterscheidung von endlicher und absoluter Verzweiflung weist Kierkegaard auf die spirituelle Dimension der Verzweiflung hin, die ihn in seiner Philosophie und in seinem Leben immer wieder stark beschäftigt hat.  

Auch wenn wir gut mit unserem Leben zurechtkommen, gibt es Herausforderungen, die darüber hinausgehen und die aus anderen Tiefen als die Wunden unserer Kindheit stammen. Denn jedes Leben hat absolute Grenzen, auf die wir immer wieder stoßen. Es sind die kleinen Tode im Leben – Trennungen, Umbrüche durch Übergänge in den Lebensphasen, Krankheiten, Schicksalsschläge, Todesfälle usw., die am Sinn des Lebens verzweifeln lassen.  

Dahinter steht die Unerbittlichkeit der Endlichkeit jedes menschlichen Lebens. Viele Philosophen haben darauf hingewiesen, dass die Tragik des Menschseins mit dem Wissen um die Sterblichkeit verbunden ist. Wir bemühen uns, unser Leben zu meistern und wissen, dass wir irgendwann aus diesem Leben scheiden werden, ohne irgendetwas mitnehmen zu können. Worin soll da der Sinn liegen, fragt die Verzweiflung. Das “Sein zum Tode” oder die “Krankheit zum Tode”, wie die existenzialistischen Philosophen das menschliche Leben charakterisieren, kennzeichnet dieses Sich-der-Unendlichkeit-Verschließen.  

Die radikale Erfahrung der Endlichkeit kann in die Verzweiflung, in die “dunkle Nacht der Seele” (Johannes vom Kreuz) führen. Das Tor zur Unendlichkeit erscheint verschlossen. Tatsächlich wollen wir nicht durchgehen, weil wir nicht wissen, was auf der anderen Seite auf uns wartet. Wir müssten alle Hoffnungen, Illusionen und Erwartungen aufgeben, doch der Mut dazu fehlt. In diesem Sinn ist die Verzweiflung das Verharren auf der Seite der Begrenztheit und Relativität. Allerdings beginnt die eigentliche Suche, die Suche nach dem Absoluten, erst mit dem Durchschreiten dieses Tors.  

Für die spirituelle Sucherin gibt es nur diesen Schritt. Sie lässt sich auf die volle Gewalt der dunklen Nacht der Seele ein und steht sie durch, mit menschlicher Unterstützung oder alleine, und gibt sich ihr ganz hin, bis zur Morgendämmerung, in der das Ego sein Scheitern eingestehen kann und damit seine lebensbeschränkende Macht aufgibt. Hier passt das Zitat von J. Krishnamurti: „Nur ein Bewusstsein, das von Verzweiflung geprägt ist, kann die Wirklichkeit erkennen.“ 

Am Ende des Tunnels 


An diesem Punkt wartet eine neue Form der Freiheit, die sich auf das Vertrauen in das Ganze des Seins gründet. Was könnte noch passieren, was ärger ist als die abgrundtiefe existenzielle Verzweiflung? Die Erfahrung, dass alles, was bisher Sicherheit gab, in Trümmern liegt und dass es trotzdem weitergeht, gründet die innere Sicherheit auf eine Basis, die immer und jederzeit zur Verfügung steht, unabhängig von Umständen und Stimmungen.  

Freiheit heißt dann, von Gegebenheiten und Bedingungen sowohl im Äußeren wie im Inneren unabhängig zu sein. Die Wirklichkeit ändert sich dauernd, unvorhersehbar und unkontrollierbar. Im einen Moment können die Umstände günstig sein und unseren Erwartungen und Wünschen entsprechen. Im nächsten Moment kann das Gegenteil der Fall sein. Wir sind frei, wenn wir uns an dem einen nicht festhalten und vor dem anderen nicht schützen müssen. Die Auseinandersetzung mit der existenzbedrohenden Verzweiflung kann uns lehren, dass die Welt so sein kann, wie sie ist, und dass unsere einzige Aufgabe darin besteht, uns dem, wie sie uns begegnet, immer wieder aufs Neue hinzugeben.