Montag, 26. Juni 2017

Friedrich Nietzsche und die Weisheit des Körpers

Friedrich Nietzsche, der einflussreiche und vieldeutige Denker und Schriftsteller, hat ein Kapitel seines bekannten Buches „Also sprach Zarathustra“ der Preisung des Körpers gewidmet. Konträr zu vielen spiritistischen und spiritualistischen Anschauungen seiner  und unserer Zeit hat er die Leiblichkeit des Menschen ins Zentrum seiner Lehre gestellt. „Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für etwas am Leibe.“

Nietzsche stellt damit eine selbständige Existenz der Seele in Abrede. Es gibt keine Seele ohne den Körper, eine Einsicht, die auch die zeitgenössische Biologie und Neurowissenschaft nahelegt. Es gibt nichts, was wir als seelisch erleben, das nicht mit einem körperlichen Vorgang verbunden ist und ohne diesen nicht möglich wäre. Ist das eine Kränkung für den stolzen menschlichen Geist, der sich so weit über die Materie erheben kann und ihr offenbar dennoch nicht entkommt?

Der Leib ist eine große Vernunft


 „Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne (…). Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du »Geist« nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft.“ In dieser Rangordnung sind wir entstanden: Die organischen Vorgänge unserer Zeugung und Embryonalentwicklung, die von einer großartigen Intelligenz in der Steuerung und Abstimmung verraten, stehen am Anfang, und erst in deren Rahmen entfaltet sich langsam das, was wir als „Geist“ bezeichnen, die bewusste Wahrnehmung, Lenkung und Reflexion. Ohne die organischen Prozesse gibt es keine geistige Aktivitäten, zumindest insoweit wir davon Kenntnis und Erkenntnis haben; und auch die Geister, die von einer von den körperlichen Aktivitäten unabhängigen geistigen Tätigkeit oder Existenz reden, tun dies mit Hilfe ihrer intakten Körperfunktionen – sobald diese aussetzen, kommen auch solche Aussagen nicht mehr zustande.

Weiters ist zu bedenken, dass die hohen Funktionen des Geistes, also seine bewusste Verwendung für das Nachdenken, für mathematische Problemlösung und technische Erfindungen, die große Ausnahme darstellen, während wir uns in der Regel in unserem Alltagsleben mit einfacheren geistigen Abläufen zufriedengeben, wenn wir nicht überhaupt Tagträumen nachhängen. Alle diese kognitiven Prozesse werden direkt von Körpervorgängen gestaltet und gesteuert. Wir brauchen nur einmal darauf darauf achten, wie ein Gedanke entsteht, und merken dabei, dass dieser von irgendwo „aufsteigt“, nicht aber, dass wir ihn „erschaffen“, d.h. selbst das Nachdenken ist ein weitgehend passiver Vorgang, weit von Autonomie und bewusster Steuerung entfernt, und noch weiter sind die anderen, weniger strikten oder kontrollierten Denkformen der bewussten Einflussnahme entzogen. In dem „Aufsteigen“ von Gedanken in unserem Kopf zeigt sich die neuronale Aktivität im Gehirn, die bestimmten organischen Abläufen eine spezielle Qualität hinzufügt, die sie uns allmählich bewusst werden lässt.

„Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe als in deiner besten Weisheit,“ so schreibt Nietzsche weiter. So viele Stoffwechselprozesse müssen in unserem Organismus in Balance sein und optimal arbeiten, damit auch nur ein vernünftiger Gedanken zustande kommen kann. All diese Prozesse regeln sich selbsttätig, ohne bewusste Lenkung, allein durch die Vernunft des Leibes. Deshalb brauchen wir wesentlich mehr von dieser Intelligenz für unser Leben, und unsere gesamte Gelehrsamkeit nützt uns nur wenig, wenn diese Intelligenz ihren Dienst verweigert. In jedem Fall sind unsere besten Weisheiten ursprünglich nichts als Emanationen der leiblichen Vernunft, also von neuronalen Regelkreisen, die ihrer eigenen Logik und ihren eigenen Absichten folgen.

Das stolze Ich


„»Ich« sagst du und bist stolz auf dies Wort. Aber das Größere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber tut Ich.“ Viel bilden wir uns ein auf diese unsere Vernunft und auf das Ich-Bewusstsein, mit dem sie verknüpft ist. Aber auch hier verweist Nietzsche auf den Konstruktionsvorgang, in dem das Ich aus der Vernunft des Leibes erschaffen wird, ohne dass dafür irgendeine sprachliche Aktivität notwendig wäre. Unser Geist hat die Eigentümlichkeit, die Urheberschaft des eigenen Denkens im Dunkeln zu belassen und sich selbst zuzuschreiben. Aus dieser Verschleierung erwächst das stolze Ich, das sich so viel auf sich selbst einbildet, während die Körperprozesse fortwährend die ganze Grundlagenarbeit leisten.

Die Grenzen der leiblichen Vernunft


Es gilt allerdings, eine wichtige Ergänzung zu dieser Geistkritik Nietzsches anzuführen. Neben der Weisheit, über die unser Körper verfügt und mittels derer er jeden Moment unserer Existenz ermöglicht, ist er auch der Speicher unserer Traumatisierungen. Die belastenden Erfahrungen unserer Lebensgeschichte haben ihre Spuren in den Geweben und Organen hinterlassen, bis auf die Zellebene. Unsere emotionalen Leidenszustände sind auch unserem Körper und seinen Angstgedächtnissen zuzuordnen, sodass wir oft im Leben fern von Vernunft und Weisheit agieren, gesteuert von Impulsen aus unserer Physiologie, die aus Überlebensprogrammierungen stammen.

Insoferne wirkt jede Idealisierung des Körpers realitätsfern und naiv, allerdings bietet sie einen eindrucksvollen Kontrapunkt zu allen dualistischen Konzepten, die das Seelische und Geistige vom Körperlichen trennen, um es diesem überordnen zu können. Solche Anmaßungen und Selbstüberhöhung des Menschengeistes hat Nietzsche mit Vehemenz zu bekämpfen verstanden.

Dort allerdings, wo der „Philosoph mit dem Hammer“ eine Gegen-Idealisierung predigt, indem er Einschränkungen und Verzerrungen der Weisheit des Körpers übersieht (die ihn selber die letzten Jahre seines Lebens vollständig der Schaffenskraft beraubt haben), gilt es, von der Kritik von Einseitigkeiten zu einer integrierten Sicht des Menschlichen zu kommen. Das Zusammenspiel von Körperprozessen und geistigen Aktivitäten, die Entstehung des Bewusstseins aus dem Unterbewussten und die interaktiven Abläufe dazwischen führen uns näher zu dem Geheimnis dessen, was wir sind, wenn wir mit Achtsamkeit lauschen, was sich da in jedem Moment abspielt. Dann ist der Geist der Freund, Begleiter und dankbare Helfer des Körpers.


Zitate aus: Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Kapitel 15

Dienstag, 20. Juni 2017

Beklagen – selbsterzeugte Gehirnwäsche

Ein Zitat aus unbekannter Quelle sagt: “Das Heute dafür zu verwenden, um das Gestern zu beklagen, macht das Morgen um nichts besser."

Die Wissenschaftler unterscheiden Typen beim Klagen und Jammern. Da gibt es den Dampfablasser, eine unzufriedene Person, die dauernd ihre Klagen auf die Umwelt verteilt, aber keine Lösungen hören will, wie toll auch immer diese wären. Dann gibt es die Sympathiesucher, die das Motto verbreiten, dass es einem selbst immer schlechter geht als den anderen, wofür man sich ausreichend Trost erwarten kann. Die chronischen Jammerer, die also in einem Zustand des Klagens leben, sind grübelnde Wiederkäuer – sie fixieren sich auf ein Problem und beklagen sich immer wieder darüber. Sie pflegen ihre Sorgen und verschlimmern durch das ständige Klagen ihren Zustand noch weiter.

Beklagen erzeugt Beklagen


Die Hirnforschung spricht von erfahrungsabhängiger Neuroplastizität und meint damit, dass das, was wir dauernd denken, unser Gehirn so verformt, dass wir das Gleiche umso öfter wie von selber denken. Die berühmte Phrase dazu lautet: „neurons that fire together, wire together“ (Neuronen, die gemeinsam feuern, schließen sich zusammen). Beim repetitiven Denken lernt das Gehirn, die gleichen Neuronen immer gleichzeitig zu aktivieren. Ein zu beklagendes Objekt in der äußeren Wirklichkeit wird angeklagt, und durch das Wiederholen der Klage wird das Objekt untrennbar mit der Klage verbandelt, sodass wir gar nicht mehr an das Objekt (den Menschen) denken können, ohne dass die Klagen aufsteigen, bis schließlich auch alle ähnlichen Objekte die Klagereaktion auslösen können.

Übrigens haben die sozialen Medien, z.B. facebook dieses Prinzip übernommen und in ihre Algorithmen übersetzt, und deshalb werden wir auch dort mit ähnlichen Nachrichten gefüttert, sobald wir etwas geliked haben. Unser Nervensystem ebenso wie unser virtuelles Sozialsystem erzeugt zwecks Vereinfachung und Ökonomisierung stereotype Strukturen, die unser Denken und unsere Wirklichkeitsauffassung prägen. Die Realität wird in vorgefärbte Bilder verwandelt, und wir befinden uns in einer Blase, die wir für die Wirklichkeit halten. Wir sehen alles grau oder rosa, was wir schon mal grau oder rosa beleuchtet haben, und es wird grauer und stärker rosa, je öfter wir das wiederholen.

Über das Beschweren


Manchmal beschweren wir uns, wenn uns Übles widerfährt. Das ist ja auch wichtig, damit andere Menschen ihr Verhalten verbessern können. Aber das Wort ist verräterisch: Das Beschweren beschwert uns, vor allem dann, wenn wir es mit nachträglichem Klagen verbinden: Ach, wie gemein, ach, wie schlimm, ach, wie unmöglich sind die anderen Menschen, ach, wie ungerecht meint es das Schicksal mit mir, ach, wie boshaft straft mich das Karma usw. Auf diese Weise machen wir unser Leben schwerer und denken dabei, dass es das Leben ist, das so auf uns lastet. Aber, auch wenn es uns weniger passt, wir beschweren uns selber.

Die Klagereaktion


Jedes Beklagen zeugt neue Klagen. Denn wir binden uns an Negatives, an das, was uns nicht passt. Schon sind wir Verbündete dessen, was wir am liebsten loswerden würden. Unser Gehirn  verstärkt die Einprägung, die Spuren des Negativen verdichten sich. Selbst die scheinbare Entlastung durch das Dampfablassen, das wir nach ausgiebigem Jammern erleben mögen, hinterlässt Nachwirkungen in unserem Wahrnehmungsapparat, der nach einstellungskonformen Objekten sucht und sie in jedem Objekt findet, dem sich die Maske überziehen lässt, die zum Jammern motivieren.

Wir ersetzen die konstruktive Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit durch automatisierte Reaktionen, wenn wir den reflexiven Hiatus, die achtsame Unterbrechung zwischen der Wahrnehmung und ihrer Bewertung vergessen. Wir beginnen, die Wahrnehmung mit ihrer Bewertung zu verwechseln und meinen konsequenterweise, dass die Realität, z.B. die anderen Menschen, die Ursache für unsere beklagenswerten Zustände sind und nicht unsere Bewertungen. Wir bauen uns ein standardisiertes Weltbild auf, das sich mit jeder Klage selbst bestätigt. Mehr und mehr werden wir zur Robotern, die zwar lernfähig sind, aber immer wieder nur für das Verfestigen des Gleichen.

Das Üben der Achtsamkeit


Wie kommen wir heraus aus dieser Form der Selbstverkapselung, der Selbstdestruktion, die sogar Suchtcharakter annehmen kann? Bei der Anwendung der Achtsamkeit auf die Gewohnheiten des Klagens verlangsamt sich der Reaktionsmechanismus, indem er bewusst verfolgt wird. Was läuft gerade ab im eigenen Denken und Reden? Diene ich mir und der Welt damit oder nicht?

Damit können wir zwischen dem Außenreiz und seiner inneren Verarbeitung eine Unterbrechung einbringen, die uns klar macht: wir sind es jetzt gerade, die einen Aspekt der Außenwelt nicht so akzeptieren können, wie er eben ist. Stattdessen hängen wir ihm ein hässliches oder schädliches Mäntelchen um und beschweren uns gleich über seine Unansehnlichkeit und Widrigkeit. Wir haben wieder etwas zum Beklagen.

Mit der Achtsamkeit ertappen wir uns selbst: Wir haben den Blödsinn selber angestellt, über den wir uns so lautstark beklagen. Wir sind es, die damit aufhören können, sofort, jetzt, in diesem Moment. Und wir sind es ganz allein, die den Schlüssel in der Hand haben, wenn es darum geht, ob wir in einer schrecklichen oder in einer annehmlichen Welt leben.

Das Üben der Dankbarkeit


Wir können nicht zugleich klagen und dankbar sein. Das Klagen bezieht sich auf etwas, das wir aus unserem Leben entfernen wollen, während das Danken etwas meint, was bleiben und sich vermehren soll. Also ist das Üben der Dankbarkeit ein Gegenmittel gegen das Klagen und Jammern. Wofür kann ich jetzt gerade dankbar sein? Was gibt mir jetzt gerade Grund für Freude an meinem Leben? Sobald ich mich in diese Richtung orientiere, hört meine klagende Einstellung zum Leben auf. Unser Gehirn lernt neue Regelkreise und freut sich daran. Von allem, woran es sich freut, will es mehr. Es spielt dabei keine Rolle, ob wir uns über einen Lottogewinn, einen Sonnenstrahl zwischen den Wolken oder über eine besondere Wolkenformation freuen und diese Freude mit Dankbarkeit verbinden. Wir brauchen nichts Exorbitantes, nicht einmal Überraschendes, um Dankbarkeit zu üben. Es genügt, das Augenscheinliche in seiner Besonderheit zu sehen und damit besonders zu würdigen.

Mit der Einstellung der Dankbarkeit unterbrechen wir unsere Reaktionsmuster, die uns zum Klagen und Jammern verleiten. Wir verbinden uns aktiv mit der Wirklichkeit, indem wir sie bewusst anschauen, ihr also unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Gleich zeigt sich diese Außenwelt in anderer Gestalt, präsentiert sich für uns mit anderen Facetten, und plötzlich erkennen wir, dass sie uns mag. Wenn wir gemocht werden – worüber sollen wir dann noch klagen?

Dieser Text ist durch einen Artikel von Annie Wood motiviert, der hier nachgelesen werden kann.

Hier zu Information und Anmeldung für den nächsten Achtsamkeitskurs.

Zum Weiterlesen:
Dankbarkeit - die hohe Schule der Lebenskunst

Montag, 19. Juni 2017

Die Befreiung vom Sorgenmachen

Wir machen uns Sorgen. Bedanken wir uns bei der deutschen Sprache, die uns darauf aufmerksam macht, was es mit dem Sorgenmachen auf sich hat. Wir sind es, die Sorgen machen; niemand sonst in der Welt kann Sorgen erzeugen und erleben, nur wir selber. Es gibt keine Sorgen in der äußeren Welt, das sind Phänomene, die wir allein aus unserem Inneren kennen. Wenn uns andere von ihren Sorgen erzählen, können wir aus unserer inneren Bekanntschaft mit dem Sorgenmachen nachvollziehen, was die anderen damit meinen und wie es ihnen im Zustand des Besorgtseins geht.

Die Sprache hat die Sorge in dieser Phrase mit Reflexivität versehen:  Sorgen sind immer rückbezüglich und selbstreferentiell. Im Sorgenmachen sind wir Subjekt und Objekt in einem. Ich kann niemand anderen in Sorgen versetzen, nur mich selbst.

Wir reden gerne über unsere Sorgen. Wenn wir sie teilen, erwarten wir die Entlastung von unseren Gesprächspartnern. Sie sollen uns zumindest verstehen und bestätigen, wie sehr wir unter der Last der Sorgen leiden. Sie sollen uns trösten und uns überzeugen, dass alles nicht so schlimm ist und kein Grund zur Sorge besteht. Sie sollen uns für andere Perspektiven öffnen, die zeigen, dass die Welt nicht in dem Maß gefährlich und bedrohlich ist, wie wir in unserer Sorge glauben.

Jedoch können wir uns im Grund nur selbst entsorgen, von der Sorge entlasten. Wir haben die Sorge gemacht, wir müssen sie wieder entfernen. Wir haben ihr Macht über uns und unser Innenleben gegeben, wir müssen diese Macht wieder zu uns zurückholen, wenn wir einen dauerhaften Schaden durch die Last der Sorgen vermeiden wollen.

Die Sprache, die uns darauf aufmerksam macht, dass wir die Macher unserer Sorgen sind, führt uns zurück zur Selbstverantwortung. Mit jeder Sorge fühlen wir uns als Opfer übermächtiger Umstände. Wir wissen nicht, wie wir mit etwas, das gerade unser Leben beeinflusst oder in Zukunft beeinflussen könnte, umgehen sollen, ob wir damit zurecht kommen oder ob es mächtiger ist als unsere eigenen Kräfte.

Indirekt erkennen wir jedoch: Was wir machen, dem geben wir unsere Macht, und diese fehlt uns dann, sodass wir uns ohnmächtig fühlen. Dieser Selbstentmächtigung können wir entkommen, indem die Verantwortung zu uns zurückholen und sie in ihrer Radikalität annehmen: Es gibt nichts an unserem Erleben der Welt, das wir nicht selber, in uns, erzeugt haben, bewusst oder unbewusst. Die Wirklichkeit ist immer, wie sie ist, ob uns das passt oder nicht. Wir sind dafür zuständig, wie sie in uns ankommt, wie sie von uns weiterverarbeitet wird, und welche Stimmungen und Gefühle dabei entstehen. Wir brauchen nicht darauf zu warten, dass sich die Wirklichkeit ändert, bis wir wieder entspannen können, wir brauchen nur die Verantwortung zu uns nehmen und die Kraft spüren, die mit diesem Akt verbunden ist. Sie hilft uns, die Ressourcen in uns zu mobilisieren, mit deren Hilfe wir die Herausforderungen des Lebens bewältigen können.

Die Sorgen helfen uns dabei nur insofern, als sie uns vor die Entscheidung stellen, in der Opferrolle zu verbleiben oder aktiv handelnd die Verantwortung zu übernehmen. Wir können sie nutzen, uns bewusst zu machen, dass es nur darum geht, die Urheberschaft und die Macht zu uns selber zurückzuholen. Das ist der beste Weg zum sorgenfreien Leben.

Freitag, 16. Juni 2017

Postmoderne Spiritualität

Ich beziehe mich auf einen Artikel von Susanne Jacobowitz, um das Thema der postmodernen Spiritualität näher zu erörtern.  Der Begriff der Spiritualität hat bis zu seiner aktuellen Verwendung eine Geschichte hinter sich. Zunächst entsteht er zur Bezeichnung einer verinnerlichten Religiosität im traditionellen Rahmen der Kirchen. Er heißt dabei so viel wie Frömmigkeit, später  versteht man darunter eine „existentiell vollzogene Lebenshaltung“ (Johannes Gründel), bis der Begriff dann schließlich der alleinigen Deutungsmacht der Theologie entzogen wird. Spiritualität und Religion werden zu unterschiedenen Sphären, die sich zwar nicht notwendigerweise gegenseitig ausschließen, aber nur mehr teilweise decken, wobei der Trend in die Richtung zu gehen scheint, dass der Überschneidungsbereich zunehmend kleiner wird.

Wenn man sich ein Kontinuum im Verhältnis von Religion und Spiritualität vorstellt, so reicht das von Positionen, die jeden Einfluss von Religion auf die Spiritualität als irreführend und schädlich verstehen, bis zu Positionen auf der anderen Seite, die alle Formen von Spiritualität ohne Religion als fehlgeleitet und illusionär einschätzen, mit Tendenzen, dass die letztere gegenüber der ersteren Position schwächer wird. Immer mehr Menschen definieren sich selbst als spirituell, aber nicht als religiös im Sinn der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft bzw. im Sinn der Anerkennung von deren Lebensregeln und Glaubensartikeln.

Diese Tendenz wäre auch deshalb nicht verwunderlich, weil sie dem übergeordneten Trend zur Säkularisierung entspricht, zum Bedeutungs- und Deutungsverlust der Religionen im Zug der Modernisierung und erst recht der Postmoderne. Die Wende zum Subjekt und zur subjektzentrierten Vernunft läuft den vorgefassten, traditionsbasierenden Strukturen entgegen, sodass vorgegebene, von der religiösen Autorität verkündete Glaubensinhalte ohne entsprechende subjektive Erfahrungen keine Deutungsmacht mehr beanspruchen können. Religiöse Autoritäten können sich nicht länger allein kraft ihres Amtes legitimieren, sondern werden vor allem aufgrund subjektiver Authentizität, also aufgrund ihrer persönlichen Spiritualität anerkannt. Der Dalai Lama hat sich weltweiten Respekt durch seine offene und authentische Art verschafft, auch und gerade bei Menschen, die wenig mit Religionen am Hut haben. Vielen gilt er weniger als Vertreter der buddhistischen Lehre, sie fühlen sich mehr durch die Religionen übergreifende Spiritualität und spirituelle Lebenspraxis angesprochen, die der Dalai Lama verbreitet.

Der Trend zur subjektivierten Spiritualität hat also längst auch schon die etablierten Religionen erreicht. Eine aktuelle österreichische Studie weist nach, dass diese Entwicklung die moselmische Glaubensgemeinschaft erreicht hat. Und es wundert auch nicht, dass in der katholischen Kirche ein Papst gewählt wurde, der besonders durch seine glaubhafte Weise, einen spirituellen Alltag zu leben, viele über die Grenzen der Religionsgemeinschaft hinaus erreichen kann.

Auf der Strecke bleiben die Dogmen und die autoritären Strukturen. Der moderne Mensch, dessen Selbstbewusstsein auf den Errungenschaften der Befreiungsbewegungen und Emanzipationsbestrebungen beruht, vermeidet starr vorgegebene Regelwerke und Systeme, die die Unterwerfung des Individuums verlangen, wie der Teufel das Weihwasser, um diese religiöse Metapher in diesem Zusammenhang ironisch zu gebrauchen. Und der postmoderne Mensch hat nicht einmal mehr ein Problem damit, dass es Kirchen für ihre Anhänger gibt. Sie sollen allerdings sich tunlichst aus den Belangen des Staates heraushalten und können im öffentlichen Diskurs keine privilegierte Rolle mehr beanspruchen. Jeder soll seinen eigenen Weg zum Geist- und Seelenheil suchen und gehen.

Die integrale Lebensweise und Praxis, die ein Produkt der Postmoderne ist, legt wert auf das Einschließen aller Dimensionen des Menschlichen, die alle von Begrenzungen und Behinderungen befreit werden sollen. Dabei nimmt auch die Spiritualität einen ganz wichtigen Stellenwert ein, allerdings eben nicht in Form einer durch Traditionen und Lehrsätzen eingeengten Religiosität, sondern in der möglichst weiten Freiheit für die eigene Sinnsuche und Sinngebung.

Die Konjunktur dieser postmodernen Spiritualität ist insofern von Vorteil, dass sämtliche Lebensbereiche spirituell durchdrungen werden können. Damit scheint sich so etwas wie eine Renaissance der mittelalterlichen Religiosität mit ihrer alle Lebensbereiche durchdringenden Wirkung zu entwickeln, allerdings unter religionsfreien, d.h. kirchenunabhängigen neuen Vorzeichen. Das spirituelle Leben ist nicht auf explizit religiöse Räume wie heilige Stätten, Gebetshäuser oder Klöster eingeengt, sondern bewährt sich vor allem „auf dem Marktplatz“, in den verschiedenen Bereichen des profanen Lebens. Es gibt demnach spirituelle Leadership, Pädagogik, Politik und Ökologie, und die spirituelle Dimension nimmt einen wichtigen Platz im Bereich von Therapie und Selbstentfaltung ein. Spiritualität kann in die Kindererziehung ebenso einfließen wie in die Zubereitung von Mahlzeiten oder die Pflege des Gartens und die Reinhaltung einer Wohnung. Das Prinzip der Achtsamkeit kann in jede Form der Tätigkeit eingeflochten werden, sodass es keinen Unterschied mehr zwischen dem sakralen und dem profanen Bereich des Lebens gibt: Alles Tun mit Bewusstheit zu verbinden und jede Kommunikation mit Empathie zu führen.


Besonderheiten postmoderner Spiritualität


Jacobowitz benennt vier Eigenschaften der postmodernen Spiritualität:

  • Privat (Meditationspolster und Gebetsteppiche statt Kirche und Moschee)
  • Erfahrungsbetont (Suche nach persönlicher Erfahrung statt nach dem Halt in einem Glaubenssystem)
  • Individualistisch und selbstbestimmt (individuelle Auswahl aus einem breiten Angebot statt das Bekenntnis zu einer Tradition)
  • Eigendienlich (ausgerichtet auf die eigene Bedürfnisbefriedigung und Lebensverbesserung)

Dazu ein paar Anmerkungen: Die Privatheit postmoderner Spiritualität heißt nicht, dass sie nur im eigenen Kämmerlein praktiziert wird. In vielfältiger Form wird sie in Seminaren und Retreats vermittelt und geübt. Es entstehen Gemeinschaften von Menschen, die einen ähnlichen meditativen Weg gehen, allerdings zumeist in freier und wenig institutionalisierter Form. Deshalb trifft es auch nicht überall zu, dass die Praxis nur eigendienlich ist. Vielmehr beinhaltet der spirituelle Weg für viele die Verstärkung der empathischen und liebevollen Hinwendung zu anderen Menschen. Auch wenn die Suche der inneren Erfahrung dient, wird vielen Menschen deutlich, dass solche Erfahrungen stark mit den Menschen verbunden sind, mit denen sie geteilt werden oder die durch ihre Anwesenheit zur Vertiefung beitragen. In diesem Zusammenhang kann auch die individualistische Auswahlhaltung relativiert werden: Zwar ist die postmoderne Spiritualität ohne persönliche Autonomie nicht möglich, ja setzt diese sogar voraus. Aber das muss nicht zwangsläufig zur Folge haben, dass der spirituelle Weg alleine von Vorlieben oder Abneigungen, frei von allen Traditionen gesteuert ist. Traditionen spielen auch hier eine Rolle, aber nicht mehr im Sinn einer unhinterfragbaren Autorität, sondern im Sinn von Leitlinien, die an die Lebenswelt und die eigenen Erfahrungen angepasst werden.

Der postmoderne spirituelle Weg ist ein Lernweg, und jeder, der ihn geht, weiß oder erfährt, dass er mit Herausforderungen verbunden ist, die vor allem nicht darin bestehen, bestimmte Lehrinhalte oder praktische Übungen anzueignen, sondern darin, innere Widerstände und Blockierungen zu überwinden, die mit den Erfahrungen der eigenen Lebensgeschichte zu tun haben. Es ist also immer auch ein therapeutischer Weg, der sich nicht in der Pflege von angenehmen Zuständen erschöpfen kann.


Engstellen und Fallen


In dem Artikel werden auch einige Gefahren der Entwicklung zur postmodernen Spiritualität benannt:

  • Selbstbedienungsmentalität: ich nehme mir, was mir in den Kram passt und vermeide jeder Herausforderung, wie sie sich stellt, wenn nur ein Weg offen steht
  • Spiritueller Materialismus: Verfolgung persönlicher Ziele (schöne Erfahrungen, geistige Fähigkeiten, beruflicher Erfolg) – Ich-relativierung statt Ich-Bereicherung
  • Spiritueller Autismus: Weltvergessenheit, Weltverlust
  • Spirituelle Hyperreflexion: Verlust an Spontaneität, Faszination für ego-fixierte Inszenierungen

Solange die spirituelle Orientierung in Konkurrenz zu anderen Lebenszielen steht, statt ihr integraler Teil zu sein, besteht die Gefahr, dass Elemente des materialistischen Bewusstseins die Vorherrschaft einnehmen und spirituelle Praktiken in ihren Dienst stellen. Doch, wie Jacobowitz anmerkt: „Der spirituelle Weg (ist) letztlich nichts Kontrollierbares und Verfügbares“. (30) Wenn wir uns auf einen spirituellen Weg einlassen, gibt es keine sicheren Ergebnisse, sondern Risiken, die wir entweder meistern oder an denen wir scheitern, Überraschungen, die uns näher zu uns oder weiter von uns weg führen. Lernen heißt, alles anzunehmen, wie es kommt, oder, wie Nan-tjüan zitiert wird: „Sei weit und offen wie der Himmel, und du bist auf dem Weg.“


Quelle:

Susanne Jacobowitz: Überlegungen zur postmodernen Spiritualität. Besonderheiten, Chancen, Risiken. In: Bewusstseinswissenschaften 1/2017, S. 21 – 31

Donnerstag, 8. Juni 2017

Demokratisches und autoritäres Wissen

Carl Sagan (1934 – 1996), bekannter Wissenschaftler, Wissenschaftspublizist und Schriftsteller, hat neun Grundsätze für das Feststellen von Wissen formuliert:

1. Wo immer möglich, muss eine unabhängige Bestätigung der „Fakten“ stattfinden.
2. Rege eine substantielle Debatte über die Beweise durch bekannte Proponenten aller Gesichtspunkte an.
3. Argumente von Autoritäten haben wenig Gewicht – „Autoritäten“ haben sich in der Vergangenheit geirrt. Sie werden sich auch in Zukunft irren. Vielleicht kann man es besser so ausdrücken, dass es in der Wissenschaft keine Autoritäten gibt; bestenfalls gibt es Experten.
4. Denk dir mehr als eine Hypothese aus. Wenn es etwas zu erklären gibt, denke an alle möglichen Weisen, in denen es erklärt werden könnte. Dann denke dir Tests aus, mit denen du jede der Alternativen systematisch widerlegen könntest. Die Hypothese, die überlebt, diejenige, die in dieser Darwinistischen Auslese inmitten von „multiplen funktionierenden Hypothesen“ der Widerlegung widersteht, hat eine viel höhere Chance, die richtige Antwort zu sein, als wenn du einfach auf die erste Idee, die deine Vorstellungskraft hervorgebracht hätte, abgefahren wärst.
5. Versuche nicht, einer Hypothese übermäßig anzuhängen, bloß weil sie die deinige ist. Es ist nur eine Wegmarke bei der Wissenssuche. Frage dich, warum du die Idee magst. Vergleiche sie fair mit den Alternativen. Schau, ob du Gründe für einen Widerspruch finden kannst. Wenn du es nicht machst, werden es andere tun.
6. Quantifiziere. Wenn was auch immer, das du erklärst, etwas messbares hat, eine numerische Quantität, die dranhängt, wird es dir viel leichter fallen, zwischen konkurrierenden Hypothesen zu unterscheiden. Was vage und qualitativ ist, ist offen für viele Erklärungen. Natürlich müssen wir Wahrheit in den vielen qualitativen Themen suchen, mit denen wir uns konfrontieren müssen, aber diese zu finden ist herausfordernder.
7. Wenn es eine Kette von Argumenten gibt, muss jedes Glied der Kette funktionieren (die Prämisse miteingeschlossen) – nicht bloß die meistern davon.
8. Ockhams Messer. Diese geläufige Faustformel drängt uns dazu, die einfachere von zwei Hypothesen zu wählen, die die Daten gleichermaßen gut erklären.
9. Frage dich immer, ob die Hypothese zumindest im Prinzip falsifiziert werden kann. Annahmen, die nicht überprüft und falsifiziert werden können, haben nicht viel Wert. Bedenke die großartige Idee, dass unser Universum und alles in ihm nichts als ein Elementarteilchen ist – vielleicht ein Elektron – in einem viel größeren Kosmos. Aber wenn wir niemals Informationen von außerhalb des Universums erlangen können, ist dann die Idee nicht ungeeignet zur Widerlegung? Du musst in der Lage sein, Behauptungen zu überprüfen. Hartnäckige Skeptiker müssen die Chance haben, deinen Überlegungen nachzugehen, deine Experimente zu duplizieren und zu schauen, ob sie zum gleichen Resultat kommen.
(Link zur Quelle)

Der verantwortliche Umgang mit Erkenntnissen erfordert einen sorgfältigen Prozess der Wahrheitsfindung, der offen ist für die beständige Überprüfung. In „Zeiten wie diesen“, in denen die  Beliebigkeit des Faktischen zynisch zelebriert wird, wo die Mächtigen ihre Macht zur Durchsetzung ihrer Interessen und Ansichten nutzen und sich dabei auf Fakten berufen, mutet es fast anachronistisch an, wie die Wissenschaften zu ihren Erkenntnissen kommen. Und dennoch ist das die einzig demokratische Form der Absicherung der Wahrheit und des Schutzes vor Manipulation.

Das Finden von Wahrheit ist kein einfacher Vorgang, es genügt nicht, kurz in den eigenen Kopf zu schauen, was der gerade von sich gibt, sondern wir müssen beständig die Hervorbringungen unseres Inneren mit der äußeren Realität abgleichen, mit der materiellen wie mit der sozialen Außenwelt. Und wir müssen uns beständig vor Augen halten, dass unser Wissen vorläufig ist, dass es solange gilt als es noch kein besseres Wissen gibt. Wir lernen weiter, von Erkenntnis zu Erkenntnis, und verbessern unsere Weltkenntnis, ohne auf diesem Weg je bei einer absoluten Wahrheit zu landen. Diese ist für Einsichten anderer Art reserviert.

Jeder, der in der relativen Welt mit dem Anspruch auftritt, die Wahrheit absolut zu setzen, braucht den engagierten Widerspruch und die unerbittliche Diskussion, bis die Relativität der Aussagen klargestellt ist.

Diktaturen beginnen mit der Definition der Wahrheit, also mit ihrer Zementierung und mit dem Unterbinden des Widerspruchs. Darin liegt der Grund, dass Diktaturen über kurz oder lang untergehen, weil sie die Wirklichkeit mit der eigenen Weltsicht verwechseln. Jedes Handeln, das sich von dieser Verwechslung leiten lässt, muss scheitern, weil die Wirklichkeit immer mächtiger ist als unsere Sichtweise von ihr.

Ein aktuelles Beispiel: Wir können die Meinung vertreten, dass es keinen Klimawandel gibt und dass dieser eine Erfindung von Interessensgegnern ist. Wenn wir unsere Handlungen danach ausrichten und konsequenterweise alle Aktivitäten zum Klimaschutz einstellen, werden wir irgendwann erkennen, dass die Wirklichkeit mehr und mehr Katastrophen produziert, gleich ob wir glauben, ob es einen Klimawandel gibt oder nicht.

Die redliche Wahrheitssuche ist mühsam und langwierig. Aber der Ertrag ist dauerhaft, haltbar und verlässlich. Da solches Wissen so nahe an der Realität ist, wie es zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich ist, lassen sich darauf Handlungen gründen, mit denen die Wirklichkeit in eine gewünschte Richtung weiterentwickelt werden kann. Da das Wissen eine demokratische Struktur hat, also nicht ein Einzelbesitz ist oder auf Privatlegitimation gründet, unterliegt auch seine Verwendung für praktische Zwecke grundsätzlich einer demokratischen Willensbildung.

Solches Wissen entsteht aus einer Kommunikation zwischen dem erforschenden menschlichen Geist und der Wirklichkeit, und nicht in einer Projektion menschlicher Wünsche und Begierden auf sie. Die Wirklichkeit wird als Partner wahrgenommen, nicht als Objekt der Machtausübung.

Diese Art von Wissen erlangen wir nur, wenn wir uns der Herrschaft durch Emotionen entziehen. Viele Emotionen dienen unserem Egoismus, entstehen also aus dem Überlebensmodus. Sie sind nicht dafür geeignet, verlässliches Wissen zu finden, sondern stehen diesem Prozess im Weg. Emotionales Wissen ist nicht allgemeingültig und sozial wertvoll, es ist auch nicht dauerhaft, sondern gilt nur für den Moment seiner Entstehung.

Demokratisches Wissen, dessen Ursprung transparent ist und von jeder Person nachvollzogen werden kann, ist das einzige wirksame Gegenmittel gegen die grassierende Produktion von Schein- und Meinungswissen, die von Emotionen gesteuert wird, und bei der Fakten nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun haben, sondern bloße subjektive Behauptungen sind. Faktum im demokratischen Sinn ist das, was in einem offenen Prozess der Wissensproduktion aus der Wirklichkeit gefiltert wurde, damit es als sichere Basis für unsere Sichtweise der Welt, unser Handeln und unsere Wertsetzung dienen kann. Nur demokratisches Wissen ist dafür geeignet, unsere Möglichkeiten zur Verbesserung des Gemeinwohls zu erweitern.

Dienstag, 6. Juni 2017

Empathie

Die Fähigkeit des Mitfühlens ist zentral für die Vertiefung menschlicher Beziehungen und für das soziale Vertrauen. Mitgefühl bedeutet, Gefühle spüren zu können, die andere Menschen fühlen und mit diesen Gefühlen mitschwingen zu können. Wenn ich zu dieser Fähigkeit, über die Menschen grundsätzlich verfügen, Zugang habe, trete ich in Resonanz mit der anderen Person und bewege mich in ihre Innenwelt hinein. Dann bin ich empathisch: Im Gefühl eins mit der anderen Person.

Die Erfahrung einer empathischen Beziehung gibt uns Sicherheit und Vertrauen: Ich kann spüren, dass die andere Person im Grund das gleiche fühlt wie ich, damit bin ich mit ihr verbunden und fühle mich in der Beziehung sicher.

Wenn wir viele empathische Erfahrungen in unserer frühen Kindheit machen konnten, verfügen wir über ein solides Fundament für diese Fähigkeit und können sie leicht in den Situationen aktivieren, in denen es um gefühlsmäßige Resonanz geht.

Auch wenn die Geschichten unterschiedlich sind, die das Gefühl auslösen, und damit die Details des Gefühls unterschiedlich sind, ist die Verbindung auf einer tiefen Ebene hergestellt.

Empathie heißt nicht: zwei Personen verschmelzen völlig, sondern eine gemeinsame Schwingung wird hergestellt, die mit dem jeweiligen geteilten Gefühl verbunden ist, sodass das Gefühlserleben als solches zwischen den beiden Personen identisch ist: eine Person fühlt Schmerz, die andere ebenfalls. Der Schmerz kann sich in der Intensität unterscheiden; die empathische Person braucht den Schmerz nicht in der Tiefe zu spüren, um die einfühlende Beziehung herzustellen. Die gefühlsmäßige Resonanz ist nicht von der Stärke abhängig, ähnlich wie Töne unterschiedlicher Lautstärke in Harmonie sein können.

Es handelt sich also nicht um Empathie, wenn eine Person in der anderen Person oder in ihrem Gefühl aufgeht. Das wäre nur ein konfluentes Sich-im-anderen-Verlieren. Empathie erfordert zwei voneinander prinzipiell unabhängige Personen, die sich auf der Ebene eines Gefühls treffen und auf dieser Ebene alle Unterschiede aufgeben, sodass nur mehr eines vorhanden ist, das gemeinsam geteilte Gefühl.

Deshalb kann ich mit Personen empathisch sein, obwohl ich deren Lebensgeschichte nicht teile, ja, ich muss diese nicht einmal kennen. Ihr Gefühl mag einen anderen Hintergrund und Auslöser haben, aber ich kenne es als Gefühl aus meiner Geschichte, mit meinem Hintergrund und Auslöser.

Das Fließen der Empathie


Diese Form der Empathie ist nur möglich, wenn die Hindernisse und Blockierungen zu den eigenen Gefühlen abgebaut oder aufgelöst sind. Erst wenn diese Heilungsschritte vollzogen sind, öffnet sich der Zugang zu der Ebene, auf der alle Menschen miteinander verbunden sind: Die Ebene der primären Gefühle, in diesem Fall vor allem der Schutzgefühle von Schmerz und Angst. Auf dieser Ebene spielt es keine Rolle mehr, woher der Schmerz oder die Angst stammen; ausschlaggebend ist das Teilen der emotionalen Erfahrung. Dadurch entsteht auf einer tiefen Ebene Vertrauen und Sicherheit. Denn wir brauchen keine Angst zu haben, wenn wir der gleichen Verletzlichkeit und Ängstlichkeit begegnen, die wir von uns selber kennen. Angst macht uns das Fremde, das Unverständliche und nicht Deutbare. Wenn wir nicht wissen, woran wir mit der anderen Person sind, sind wir misstrauisch, es könnte uns drohen, dass wir wieder verletzt werden. Steigt jedoch die andere Person auf die Gefühlsebene ein, auf der wir uns gerade befinden, fühlen wir uns mit ihr verbunden und können Vertrauen aufbauen.

Auf diese Weise wird in einer gut verlaufenden Psychotherapie der Heilungsprozess in Gang kommen. Vertrauen, das in frühen Phasen des Lebens enttäuscht wird, wird in der aktuellen Situation der Gefühlsresonanz zwischen Therapeut und Klient aufgebaut, sodass die alte Enttäuschung, die zu Misstrauen geführt hat, überschrieben werden kann. Das Vertrauen zu der anderen Person, die sich mit mir auf der Gefühlsebene verbinden kann, stärkt das Vertrauen zu mir selbst, und auf diese Weise löst sich das Misstrauen auf und die innere Freiheit kann wachsen.

Physiologie der Empathie


Aus der Polyvagaltheorie wissen wir, dass sich unser Nervensystem in einem bestimmten Funktionszusammenhang befinden muss, um soziale Kompetenzen anwenden zu können. Sobald Stress entsteht, werden die sozialen Fähigkeiten reduziert und die empathischen Fertigkeiten werden zurückgefahren. Unsere inneren Systeme nehmen an, dass Gefahr im Verzug ist und stellen sich darauf ein, unser unmittelbares Überleben zu sichern. Für diesen Zweck ist die Empathie ein hinderlicher Luxus. Wir sollten nur in der Lage sein zu unterscheiden, von welchen Personen wir Bedrohung erwarten sollten und bei welchen wir uns sicher fühlen können. Dies wird vor allem aufgrund von früheren Erfahrungen und Ähnlichkeitsassoziationen entschieden.

Wenn wir hingegen entspannt sind, sodass der Stressgenerator Sympathikus abgeschwächt ist, kann das neue Vagussystem, das die sozialen Interaktionsprozesse enerviert, zum Tragen kommen. Wir sind also vom generellen Entspannungsniveau unseres Nervensystems abhängig, wenn wir Empathie entwickeln wollen, sodass die Fähigkeit zur Entspannung jeder sozialen Kompetenz vorgeordnet ist.

Die erlernte Empathieblockierung


Sozial ausgerichtete Lebewesen "können" Empathie aufgrund ihrer Veranlagung. Allerdings kann diese Fähigkeit reduziert oder verkümmert sein, wenn sie von Anfang an zu wenig gefördert und genährt wurde. Nehmen wir aus unserer Kindheit unzureichende Erfahrungen mit dem empathischen Einschwingen mit, so mussten wir Überlebensstrategien entwickeln, um mit diesem Mangel zurechtgekommen. Sie beruhen auf Ängsten und dienen dazu, die erlittenen Verletzungen durch das Nicht-Verstandenwerden zu kompensieren.

Wir können zwei Typen der Blockierung der Empathie unterscheiden.

Zum einen gibt es die Verschmelzer: sie haben als Kind gelernt, die Erwartungen anderer zu erfüllen, andere zu verstehen, um Zuwendung zu bekommen. Sie halten sich für empathisch, weil sie die Bedürfnisse und Stimmungslagen anderer gut lesen können und stets auf sie achten. Tatsächlich aber können sie nicht in Resonanz gehen, weil sie ihre eigenen Gefühle gar nicht spüren können. Was ihnen selber fehlt, war nie gefragt und ist ihnen deshalb nicht mehr zugänglich. Sie sind vermeintlich zufrieden, wenn sie andere zufriedenstellen können, bleiben innerlich aber immer hungrig nach wirklichem Verstandenwerden. In der Bindungstheorie findet sich dieser Typ als unsicher-ambivalenter Bindungsstil.

Verschmelzer müssen lernen sich abzugrenzen, indem sie die Empathie auf sich selber anwenden: Sie lernen sich selbst zu lieben, zu achten und sich um sich zu kümmern. Auf diesem Weg begegnen sie den eigenen Schmerzen und Ängsten, und indem sie diese Gefühle bei sich kennenlernen, kommen sie in die Lage, sie auch bei anderen Menschen empathisch mitzuempfinden und dabei die fremden von den eigenen Gefühlen zu unterscheiden. Indem sie sich selber kennen- und lieben lernen, können sie sich dort gut abgrenzen, wo andere ihre Gefühle ausbeuten wollen.

Die zweite Gruppe sind die Vermeider: sie können sich gut abgrenzen, aber können mit Empathie nicht viel anfangen. Sie haben den Rückzug und die innere Abschottung als Überlebensstrategie entwickelt. Die Not wird zur Tugend: Der Mangel an empathischer Verständigung wird resignativ in den Verzicht auf tieferes Verstehen umgewandelt. Besser lebt es sich, wenn die zwischenmenschliche Kommunikation an der Oberfläche bleibt und Gefühle dabei möglichst vermieden werden. Dieser Typ hat übrigens Ähnlichkeiten mit dem ängstlich-vermeidenden Bindungsstil nach der Bindungstheorie.

Der Lernprozess von Vermeidern besteht darin, die Angst vor den eigenen Gefühlen zu verlieren und zu erleben, wie Gefühle das eigene Innenleben und die Kommunikation bereichern können. In dem Maß, in dem sie ihre Innerlichkeit entdecken, können sie sich empathisch für die Gefühle anderer öffnen.