Freitag, 22. Mai 2020

Der Narr

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Der Archetyp des Narren hat eine besondere Stellung unter den verschiedenen Gestalten des kollektiven Unterbewusstseins. Nicht zufällig rangiert er als die Karte Null im Tarot. Die Null steht für das Nichts, die Leere und das Unbestimmte. Die Null steht auch für den Anfang, und deshalb muss der Narr etwas mit unserem eigenen Anfang zu tun haben.

Der Narr ist jemand, der nicht ganz zurechnungsfähig ist, dem es also an der allgemeinmenschlichen Vernunft mangelt. Er weiß auch nicht über die gewohnten Regeln des Zusammenlebens Bescheid oder kümmert sich nicht darum. Deshalb genießt er die Narrenfreiheit und beansprucht damit eine Sonderstellung in der Gesellschaft.

Diese Sonderstellung gleicht der des ungeborenen Wesens und des Kleinkindes. Aufgrund der mangelnden Kompetenzen in fast allen Bereichen benötigen die kleinen Erdenbürger diese spezielle Position, sonst können sie nicht wachsen und gedeihen. Die Menschen werden ja im Vergleich zu anderen Säugern viel zu früh geboren und brauchen viel Zeit, um selbständig lebensfähig zu werden. Durch die Entwicklung der Zivilisation hat sich diese Zeit noch weiter verlängert, nachdem immer mehr schulische Bildungsvorgänge zur gesellschaftlichen Überlebensfähigkeit notwendig sind.

In der Schonposition, die Kinder und Jugendliche für ihre Anfänge brauchen, kann vieles ausprobiert und als Fehlern gelernt werden. Spielerisch wird die Welt Schritt für Schritt erschlossen. Der „Ernst des Lebens“ ist noch weit entfernt. Auch wenn die Kinderseele Dramen und Traumen überleben muss, ist es wichtig, zur Leichtigkeit und Spielfreude zurückkehren zu können. Das Närrische auszuleben, ohne starre Regeln und fixierte Gewohnheiten ist ein Privileg der Kindheit.

Pränatale Hilflosigkeit und Weisheit


Die pränatale Wurzel des Narren liegt in der Naivität des winzigen Wesens, das von nichts eine Ahnung hat, was für die Großen so wichtig ist. Und dennoch weiß es ganz genau, was stimmt und was nicht, was es braucht und was fehlt. Es weiß, wie die Ordnung beschaffen sein sollte, in die es hineingeboren werden wird. Es hat allerdings keine Möglichkeiten, das, was stimmt, zu fördern und das, was nicht stimmt, abzustellen. Es ist den Umständen machtlos ausgeliefert und trachtet danach, wie es sich in die vorgegebenen Bedingungen einpassen kann, so gut es eben geht.

Der Fetus verfügt über eine einfache und doch universell gültige Wahrheit über das zentrale Thema: Was Menschsein bedeutet und wie es gestaltet werden muss. Es geht dabei um die Kraft der Liebe, der Verbindung zwischen den Menschen, des Verstehens und des einander Dienens. Das ist seine Weisheit, die im Prozess des Erwachsenwerdens meistens verloren geht und in der komplexen Welt der Moderne zum Randphänomen verkümmert.


Das Abbild des Kindlichen


Der Narr ist das Abbild des Kindes im Erwachsenen. Er vertritt beides: Die naive Unvernunft und die Weisheit. Er lebt also die Ambivalenz aus und nutzt sie, um die Denkgewohnheiten und Erwartungen der Menschen zu verwirren. Selber durcheinander, irritiert er die erstarrten und betonierten Strukturen der Erwachsenenwelt, die sich so vernünftig und verantwortungsbewusst gibt. 

Das ist seine Gabe: Die Mitmenschen aus ihrer Lethargie und ihren Mustern herauszuholen und in ihrem Selbstverständnis zu erschüttern. Wenn er sich der frühen Wurzeln seiner Aufgabe bewusst ist, nutzt er seinen Narrenstab, um an die Grundweisheiten des Menschseins zu erinnern, aber nie mit dem besserwisserischen Lehrerstock und nie mit plakativen Phrasen. Vielmehr zeigt er in seiner Verrücktheit, was alles zurechtgerückt gehört, und zeigt mit dem Finger dorthin, wo die Menschen vergessen haben, dass sie selber oder die anderen Leute Menschen sind.

Der Narr steht für sprudelnde Kreativität, aber weniger im Sinn des produktiven Schaffens von Neuem, sondern mehr in der Zerstörung dessen, was nicht mehr tauglich ist. Er nimmt den Menschen die Selbstverständlichkeiten weg, auf denen sie ihr angepasstes Leben gegründet haben und die sie an ihrem Weiterkommen hindern. Er zeigt die Enge auf, in die sich viele Angstgeplagte hineinentwickelt haben, ohne es zu merken. Er nutzt den Spott, um die Lächerlichkeit des Getriebenseins, der Gier und des Geizes anzuprangern.


Die Verführbarkeit


Die Närrin kann nur am Rand sinnvoll existieren. Sobald sie ins Zentrum geholt wird, verliert sie ihren Nimbus. Sie ist nicht geeignet für die reinen Erwachsenenthemen wie Organisation, Machtverteilung, Ökonomie. Sie kann mit Ordnungsstrukturen nichts anfangen, außer auf ihnen herumzuhüpfen.
Die Narren haben auch ihre Anfälligkeiten für den Narzissmus. An den Schalthebeln der Macht sind sie äußerst gefährlich und destruktiv in einem fundamentaleren Sinn als oben angesprochen. Es ist nicht die Zerstörungskraft des Narren, die auf Gewohnheiten bezogen ist, sondern das hilflose und ziellose Agieren aus dem Bauch heraus, das nur mehr wild um sich schlagen kann. Narren an der Macht sind in der komplexen relativen Welt der Sachzwänge und Netzwerke verloren und führen sich dort auf wie Kinder, denen man Vernichtungswaffen in die Hand gegeben hat.

Die Mediengesellschaft hofiert den Narren und bittet sie auf die Bühne, damit sie das Publikum unterhalten. Die guten Narren kommen immer mit einem Spiegel auf die Bühne, den sie den Zuschauern vorhalten. Und sie treten wieder ab, sobald die Show vorbei ist. Die schlechten Narren lassen sich blenden und verführen und genießen den Ruhm, den sie erlangen. Sie ergreifen schnell das Zepter, das jemand liegengelassen hat oder das ihnen angeboten wird. Sie lassen sich verehren und in Machtämter wählen, in denen sie dann mit ihrer Verrücktheit maßlosen Schaden anrichten und Schiffbruch erleiden.


Der Hofnarr


Die Stellung des Hofnarren in der früheren Gesellschaft war prekär. Er war wohlgelitten und leistete seinen Dienst im Ausgleichen der inneren Widersprüche und Emotionen des Herrschers. Er dämmte die Machtallüren seines Herrn ein und erheiterte ihn in dunklen Stunden. Er konnte seine Privilegien genießen, doch wenn er den Bogen überspannte, war er der Willkür des Herrschers ausgeliefert. Seine Kunst bestand also auch im Austarieren des Raumes, den er ausreizen durfte. Maßte er sich zu viel Macht an, agierte er also zu erwachsen, dann konnte ihn das schnell den Kopf kosten.


Der Narr in uns


Der Narr, den wir in uns tragen, braucht auch dieses Augenmaß. Er kann es gewinnen, indem er sich immer wieder auf seine Wurzeln besinnt, auf die tiefe und einfache Weisheit des Menschseins, die wir als Grundkapital in dieses Leben mitbekommen haben, um es weise zu nutzen. Er verliert es, wenn er glaubt, etwas Besseres zu sein als all die anderen Narren. Und er verliert sich selbst, wenn er sich mit Verantwortung und Macht zusammentut.

Die Närrin in uns kann uns als Ort der Rekreation dienen. Die Ernsthaftigkeiten des Lebens mit ihren oft unmenschlichen Forderungen und Erwartungen kosten uns viele Kräfte, und das Närrische ist ein unverzichtbarer Ausgleich dazu. Die kindliche Freiheit und Weisheit, die Unbeschwertheit und Unbekümmertheit, das Losgelöstsein von Zwängen und Pflichten, das sind die wirksamen Gegenmittel zur Eindimensionalität der Erwachsenenwelt, die der Archetyp des Narren beisteuert. 

Hier noch ein Beitrag meines eigenen inneren Narrens - zum Corona-Thema.

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