Dienstag, 27. Oktober 2020

Das Korsett der Erwartungen

Wenn wir als neue Wesen ins Leben treten, treffen wir auf ein Feld der unterschiedlichsten Erwartungen, zumindest die unserer Eltern und Großeltern, gespeist aus unerfüllten Ambitionen, gesellschaftlichen Normen und vielen anderen Projektionen. Ist das Kind nicht willkommen, entsteht zusätzlich eine schwere Belastung, die wie ein Schatten über die Seele des unschuldigen Wesens gebreitet wird. Falls das Kind willkommen ist, herrscht Freude, aber unterschwellig werden immer Erwartungen an den Nachkommen wirken, die es spürt und innerlich verarbeitet.  

Es braucht für diese Einflüsse einen Ausgleich: Die unbedingte Akzeptanz der Individualität und Einzigartigkeit, die jedes Kind mitbringt, durch die mitmenschliche Umgebung. Für ein gutes seelisches Gedeihen, für eine Balance zwischen Innen- und Außensteuerung ist ein Fließgleichgewicht zwischen lenkenden und bestätigenden Außeneinflüssen notwendig. Gibt es nur Bestätigungen, so entwickelt das Kind ein unmäßiges Größenselbst, das sich mit der Kontrolle der eigenen Bedürfnisse und den Grenzen von Mitmenschen schwer tut. Die Innenbeziehung ist so mächtig, dass sie jede Außenbeziehung dominieren will.  

Gibt es andererseits nur Lenkungen und Vorgaben, die oft über gar nicht ausgesprochene, aber spürbare Erwartungen zur Wirkung kommen, dann bleibt die Selbstbeziehung auf der Strecke. Es wird nicht das Äußere ins Innere übersetzt, sondern als Ersatz des Inneren einfach übernommen. 

In diesem Fall bleibt nur eine Wahl, nämlich die Anpassung an die Außenerwartungen, die mit einer systematischen Selbstverleugnung einhergeht. Denn das eigene Überleben scheint nur sicher, wenn es gelingt, die Erwartungen zu erfüllen, die vorherrschen und den Platz vorzeichnen, den das neue Wesen in der Welt einnehmen soll, die Normen und Werte, die es vertreten soll, und die Charakterzüge, die ins Erwartungsschema passen. Das eigene Innere kann sich nur eingeschränkt entwickeln, im vorgefertigten Rahmen. Alles, was darüber hinausgeht oder nicht hineinpasst, muss unterdrückt werden und kann sich höchstens in der Fantasie oder über Ausweichgefühle ausleben. Ein Korsett wird angelegt, das die freie Entfaltung einklemmt und der kreativen Lebensgestaltung die Energie nimmt. 

Menschen, die gelernt haben, mit diesem Anpassungsdruck aufzuwachsen, entwickeln eine Wachsamkeit für die Reaktionen der Umwelt, Antennen, die immer ausgefahren sind, um die Stimmung der Umgebung zu registrieren. Das eigene Verhalten wird genau danach ausgerichtet, was von außen erwartet wird und in den Rahmen des Erwünschten passt. Sie verhalten sich wie Marionetten an den Schnüren ihrer Mitmenschen. 

Selbst die eigenen Gefühle müssen unterdrückt bleiben, damit die Anpassung gelingt. Vor allem die Wut, die zur Selbstbehauptung führen könnte, darf nicht gezeigt werden. Mit der Zeit wird sie von der Scham zugedeckt, die das nicht verwirklichte Selbst auslöst. Erst wenn der Körper rebelliert oder die Seele auf depressiven Rückzug geht, wird ein Ausweg aus der Abhängigkeit von außen gesucht. 

Das Eigene und das Fremde 

Erwartungen sind äußere Inhalte, die für das eigene Innere fremd sind. Ein reflektiertes Erwachsenen-Ich kann solche Erwartungen prüfen und entscheiden, ob es ihnen folgt oder nicht. Ein Kind hat diese Unterscheidungsfähigkeit noch nicht und erlebt solche Erwartungen, wenn sie in einer Atmosphäre der Anspannung gespürt werden, als richtig und berechtigt, weil es keine Maßstäbe zur Prüfung hat. Ihre Unausweichlichkeit wird zugleich als Druck wahrgenommen. Daraus entsteht die zwingende Notwendigkeit, diese Inhalte ins eigene Innere zu übernehmen, obwohl sie fremd sind.  

Solche Erwartungen wirken umso stärker, je weniger sie explizit ausgedrückt und konkret erläutert werden. Denn vage Erwartungen werden im Inneren des Kindes generalisiert. Erfährt ein Kind von einem Elternteil, dass es Arzt werden sollte, weil das ein angesehener Beruf ist, dann hat das Kind die Möglichkeit, sich innerlich mit dieser Erwartung auseinanderzusetzen. Wenn das Kind fortgesetzt bemerkt, dass die Eltern mit ihm nicht zufrieden sind und immer wieder nörgeln und kritisieren, wird es eine Meisterschaft darin entwickeln, die Reaktionen der Eltern im Vorhinein abzufangen und abzuwiegeln, indem es das macht, was von ihm erwartet wird. Es entwickelt vielleicht ein Leistungsstreben, dass Erfolge um jeden Preis errungen werden müssen. 

Unbewusst wirkende Erwartungen werden ungeprüft inhaliert und oft schon über die Nabelschnur aufgesogen. Sie führen dazu, dass es zur vordringlichen Lebensaufgabe wird, das eigene Verhalten so auszurichten, dass es in das von außen vorgesetzte Raster hineinpasst. Schließlich wird ununterscheidbar, was vom eigenen Selbst kommt und was von außen, was also das Eigene ist und was das Fremde. Das Selbst ist durchlöchert und das Äußere übermächtig. 

Erwartungen – sofern sie nicht ausreichend mit Akzeptanz und Bestätigung ausgeglichen werden – stören den Aufbau einer wachstumsfähigen Selbstbeziehung, mit der sich das eigene Potenzial in Auseinandersetzung mit der Umgebung entwickeln kann. Die Außenachse korrumpiert die Innenachse, statt als zweiter Pol die Entwicklungsdynamik zu befruchten. Die Einflüsse von außen, also die Erwartungen der relevanten Bezugspersonen, nehmen den Hauptraum ein und bestimmen die Selbstbeziehung, die sich danach richten muss. Sie üben eine Macht aus, der das Innere nichts Adäquates entgegensetzen kann, weil es von früh an mangels Achtung und Respekt geschädigt und geschwächt wurde. Es ordnet sich unter und verbiegt sich, um den Ansprüchen soweit zu genügen, dass das eigene Überleben und die dafür notwendige Liebe gesichert ist – ein Leben für die anderen ist vorgeprägt. 

Verinnerlichte Erwartungen legen sich wie ein Korsett um die eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Ideale. Die Wiedergewinnung der Selbstbeziehung und mit ihr der Eigenautonomie und Selbstverantwortung führt aus dem Gespinst der Abhängigkeiten heraus, die durch die Verinnerlichung der Erwartungen entstanden sind. Der Weg dahin erfordert die Unterscheidung des Eigenen und des Fremden und die Rückgabe der verinnerlichten Erwartungen an diejenigen Personen, von denen sie übernommen wurden. 

Sonntag, 25. Oktober 2020

Die Wurzeln der Gewalt

Frühe Erfahrungen als Opfer von Gewalt, die auch rein emotional sein kann, prägen einen Ablauf ein, der im späteren Leben mit hoher Wahrscheinlichkeit wiederholt wird. Als Beispiel nehmen wir die emotionale Gewalt, die in der Anklage eines Elternteils stecken kann: Du hast mein Leben verpfuscht, wegen dir konnte ich mein Leben nicht leben, wie ich es wollte, wärest du nicht gekommen, hätte ich etwas aus meinem Leben machen können usw. Dem Kind wird eine massive Schuld auferlegt und eine massive Beschämung bereitet. Es reagiert zunächst mit einer inneren Erstarrung und Lähmung auf diesen Angriff, einem Totstellreflex, der die eigene Existenz, die so fehl am Platz ist, auslöschen möchte. Wenn sich die Schockstarre löst und die Kräfte wieder kommen, ist es die Gelegenheit für die Wut, an die Oberfläche zu kommen. 

Diese Gelegenheit kann nur ergriffen werden, wenn die Ressourcen dafür ausgebildet sind und nicht schon derart ausgeleert wurden, dass die Energien zur Selbstverteidigung erschöpft sind. Die Wut nährt sich aus der Täter-Opfer-Dynamik: Die Elternperson, die die verdammende Anklage ausstößt, versetzt sich in die Opferrolle, obwohl sie dem Kind gegenüber zur Gewalttäterin wird. Das Kind bekommt die Rolle des Täters, ohne dass es mehr getan hätte als einfach nur zu existieren. Mit dieser Rolle erhält es eine Imprägnierung mit Macht, die nicht real ist, aber eine verhängnisvolle Symbolkraft enthält. Die Botschaft lautet: Du, kleines Wesen, bist durch dein Dasein so mächtig, dass du mein erwachsenes Leben des Sinns beraubst. 

Diese zugeschriebene (vom Elternteil projizierte und vom Kind introjizierte) Macht gibt der Wut eine zerstörerische Richtung und nimmt zugleich die Gestalt einer anmaßenden Selbstüberschätzung an, aus der sich der Hass nährt und seine Objekte sucht. Die Logik der Projektion-Introjektion-Projektion ist ganz linear: Elternteil: Du hast mir durch deine Existenz Gewalt angetan. Kind: Ich bin der Gewalttäter. Ich kann nicht anders, weil ich dadurch, dass ich existiere, gewaltsam bin. Ich habe nur die Wahl, die Gewalt gegen mich selbst zu richten oder gegen andere. Den Hass, den ich erfahren habe, gebe ich jetzt nach außen weiter, in eine Welt hinein, die voll von Hass auf mich ist.

Die Projektion des Elternteils trifft das Kind voll, da es die Gefühlsabwehr dahinter nicht erkennen kann, sondern für eine berechtigte Wahrheit hält. Es kann dann nicht anders, als selber wieder zu projizieren und im Extremfall die gesamte Außenwelt für bedrohlich zu erklären, der mit Gewaltbereitschaft begegnet werden muss.

Die Rechtfertigung von Gewalt

Die unbewusste Rechtfertigung für die eigenen Gewaltfantasien oder Gewalthandlungen liegen in der erlittenen Gewalterfahrung, die in der massiven Ablehnung der eigenen Existenz enthalten ist. Die Gewalt besteht ja ursprünglich darin, dass dem Kind Gewalttätigkeit unterstellt wird. Zugeschriebene Gewalttätigkeit kann sich unter entsprechenden Bedingungen in gewalttätige Impulse verwandeln, die sich auf der unbewussten Ebene dadurch begründen, dass sie gewissermaßen von außen eingeflößt wurden, also gar nicht zu einem selber gehören. Sie entziehen sich damit der korrigierenden Wirkung des Gewissens.

Bei Fanatikern, die Terroranschläge verüben, liegt die Rechtfertigung meist in einer Ideologie. Der Fanatiker unterwirft sich dem religiösen oder politischen Konstrukt, weil es Gewalt verherrlicht und damit auch ihre Weitergabe, in dem Fall von den Eltern zu oft beliebigen Opfern. So wie gemäß den eigenen Kindheitserfahrungen Konflikte nur mit Gewalt überwunden werden konnten, scheint es auf gesellschaftlicher oder globaler Ebene auch nicht anders zu gehen. Häufig gibt es in diesen Ideologien den Verweis darauf, dass von den Gegner der Ideologie Gewalt verübt wurde und wird und dass deshalb nur Gegengewalt zu einer Verbesserung führen kann. Die Gewaltspirale geht weiter, aber Individuen fallen nur dann auf diese primitiven Konzepte herein, wenn sie früher Gewalt imprägniert sind.

Die Urscham und die Gewalt

Die Urscham, an der Wurzel der eigenen Existenz in Zweifel gestellt zu werden, wird bei jeder Form der Bezweiflung der eigenen Existenz aktiviert. Sie kann nach innen gerichtet schwere Depressionen bis zum Suizid auslösen und sich nach außen gerichtet in Gewalthandlungen Ausdruck verschaffen. 

Das oft irritierende Bild des reuelosen Täters wird aus dem Verständnis dieser inneren Dynamik nachvollziehbar. Wie sollte jemand, in dessen Selbstbild die Gewalttätigkeit eingebaut wurde, anders sein als gewalttätig? Aus dem übertragenen Selbstbild wird ein Selbstverständnis. Es wäre, als würde das eigene Wesen verleugnet, wenn die Gewalttätigkeit ausbleibt. Natürlich geht es dabei nicht um das Wesen im tiefsten Sinn der Menschlichkeit, sondern um eine Abwehrschicht, die aufgebaut wurde, um vor der Scham und dem Schmerz der erlittenen gewaltsamen Ablehnung zu schützen. Auf der Ebene der Abwehr und der aus ihr abgeleiteten Überlebensstrategie ist die nach außen orientierte Zerstörung ein folgerichtiges Handeln, das keiner ethischen Bewertung unterliegt, weil es unter subjektiven Extrembedingungen stattfindet. Ethik gelte dann nur für Menschen, die sich den Luxus einer an der Basis abgesicherten Existenz erfreuen können. 

Die Dynamik verstehen

Das Verständnis dieser Dynamik ermöglicht einen geänderten Blick auf die Gewalttäter, denen wir gerne mit Verachtung und moralischer Verdammung begegnen. Es gibt keine ethische Rechtfertigung für Gewalttaten, sie müssen verurteilt und bestraft werden. Aber es gibt ein Verständnis für die Täter, das vor den selbst wieder gewaltgetränkten Bildern von Monstern und Tötungsmaschinen bewahrt.

Gelingt es einem Täter, zu diesem Verständnis vorzustoßen, kann das zu einer inneren Kehrwende führen. 

Für alle, die mit Kindern zu tun haben, ist es wichtig, diese Zusammenhänge zu bedenken und das eigene Verhalten danach auszurichten, um keine Gewaltspiralen mit unabsehbaren Folgen anzulegen.


Montag, 19. Oktober 2020

Von der Ungewissheit zur Mystik

Peter Sloterdijk spricht in seinem Buch Kritik der zynischen Vernunft in Bezug auf die Entwicklung der christlichen Theologie von „Dimensionen von unvermeidlicher Ungewissheit, die durch Dogmatisierung in Gewissheit umgelogen werden“ (S. 518) Er deutet in dem Text auch an, dass mit dieser Form der Wahrheitsmanipulation, die zugleich eine Selbstmanipulation darstellt, eine Tradition der Verlogenheit begründet wurde, die bis heute nachwirkt: „Es gibt auf unserem Kulturboden eine Tradition, die das per se Ungewisse im Habitus der ‚Überzeugung‘, das Geglaubte als das Gewusste, die Konfession als Kampflüge vorzutragen lehrt.“ (520) 

Ich möchte diese Überlegungen weiterspinnen und auf die aktuelle Diskurssituation anwenden. Denn was Sloterdijk vor fast 40 Jahren zur Theologie geschrieben hat, lässt sich eins zu eins auf die Hintergründe der aktuellen Debatten übertragen: „Die christliche Theologie bedeutet den so unermesslichen wie gespenstischen Versuch, Gewissheit gerade dort zu suchen, wo sie der Natur der Dinge nach nicht sein kann.“ (519)

Die Anfälligkeit für Autonomieverzicht

Ungewissheit ist der Nährboden für die Entwicklung von Glaubenssystemen, weil es so schwer fällt auszuhalten, dass wir nur ein begrenztes und fehleranfälliges Wissen zur Verfügung haben. Wir wollen ein sicheres Wissen und laufen deshalb Menschen nach, die ein solches anbieten. 

Wir brauchen uns dann keine Mühe mehr machen, das Wissen zu überprüfen, denn die Person, die uns Sicherheit durch ihr überzeugendes Auftreten vermittelt, bürgt dafür. Schon haben wir unser eigenes Denken abgegeben, schon sind wir Meinungsuntertan geworden. Um die Scham, die mit diesem Autonomieverzicht verbunden ist, nicht spüren zu müssen, suchen wir uns weitere Bestätigungen für die Scheinsicherheit, die wir gewonnen haben – Gleichgesinnte, die die selbe Autorität nachbeten, oder andere „Experten“, die die von uns verehrte Autorität bestätigen.

Unsicherheiten sind uns unbehaglich und lösen Ängste aus, die wir nicht mögen. Also suchen wir uns Ankerpunkte im Außen, die uns Sicherheit versprechen und fallen leicht auf den äußeren Schein herein, vor allem, wenn die Ängste im Hintergrund mächtig wirken. Wer es vermag, Sicherheit auszustrahlen, durch kraftvolles Auftreten, Gefühlspräsenz, Eloquenz oder Sachlichkeit, wird zum Garanten für Sicherheit erklärt, mit dem Vorteil, dass der Vertrauensvorschuss weitere Nachforschungen erspart – das Rattenfängersyndrom.

Wahrheiten umlügen

Interessant im Zitat von Sloterdijk ist der Ausdruck „umlügen“. Zunächst geht es darum, dass durch die Absolutsetzung einer relativen Aussage (z.B. „Nasen-Mundschutzmasken sind wirkungslos und gefährlich“ oder „Nasen-Mundschutzmasken sind der einzige Schutz vor Ansteckung“) ein Dogma fixiert wird, das jeder Infragestellung entzogen ist. In der katholischen Theologie war ein Dogma durch den Nachsatz festgeschrieben, dass jeder, der anderes glaubt, ein Ketzer ist, also ein vogelfreier Außenseiter der Gesellschaft, der sein Lebensrecht verwirkt hat. 

Das Lügen, das bei dem Vorgang des Absolutsetzens geschieht, ist zumeist ein unbewusster Vorgang. Was bewusst geschieht, ist der Vernunftverzicht des Gläubigen („sacrificium intellectus“, er bringt also seine Intelligenz als Opfer für die Scheinsicherheit dar). Er ist getrieben von der Angst der Verunsicherung und Ungewissheit. Er unterschreibt eine Wahrheit, die keine Wahrheit sein kann und täuscht sich damit selber eine Sicherheit vor, die es nicht geben kann. Er belügt sich selbst, um ein bisschen Frieden im Meer der Angst zu finden. 

Zur aktiven Lüge wird dieser Schutzvorgang, wenn das Dogma wider besseres Wissen weiter propagiert wird, um andere zu überzeugen und sich selber als Wahrheitsbringer wichtig zu machen. Eine Schar Gleichgläubiger bestätigt die eigene Überzeugung. Mit diesem Schritt wird allerdings die Wahrheit bewusst geopfert und die Absicht bekräftigt, andere zum Irrtum zu verführen. Das Festhalten am Dogma wird zum Selbstzweck.

Das Ausmaß an Glaubensüberzeugungen und Ideologien, für das eine Person oder eine Gesellschaft anfällig ist, spiegelt das Ausmaß an innerer Angstbelastung wieder. Es geht um das subjektive Erleben des Bedrohtseins, das nach Erklärungen und Lösungen sucht, die umso einfacher sein sollen, je höher das innere Anspannungsniveau ist. Mit steigendem Stress wird die Außenwelt immer unwichtiger und das Blickfeld immer enger. Die höheren Denkfunktionen und Reflexionsfähigkeiten werden stillgelegt, individuell wie kollektiv. Das umsichtige Handeln und die Entwicklung langfristiger Perspektiven werden erschwert.

Wachsen in und an der Ungewissheit

Wollen wir die aktuelle Unsicherheitssituation zum Wachsen im Bewusstsein nutzen und nicht in eine Angsthypnose oder Schockstarre verfallen, dürfen wir nicht auf unsere höher entwickelten Fähigkeiten der Realitätserfahrung verzichten. Die Basis für eine Ideologieimmunisierung und Entdogmatisierung liegt in der Ungewissheitsresilienz. Als Ungewissheitsresilienz bezeichne ich die Fähigkeit, die unvermeidlichen Grenzen des Wissens auszuhalten und mit vorläufigen Wahrheiten leben und handeln zu können. 

Die Resilienz gegen Unsicherheiten stellt eine Erweiterung der Ambivalenztoleranz dar, der Fähigkeit, Widersprüche aushalten zu können. Widersprüche erzeugen eine innere Spannung, die unangenehm ist. Aber es ist in Fällen der Unsicherheit und Ungewissheit besser, sie bestehen zu lassen als sie um den Preis der Wirklichkeitsverzerrung zu verringern. Denn der einseitige Zugang zur Wirklichkeit, der wichtige Aspekte ausblendet, erzeugt eine viel belastendere Spannung – eine Spannung zwischen dem Innen und dem Außen. Wenn das Innen und das Außen keinen kommunikativen Fluss zustande bringen, tun wir uns überall im Leben schwer.

Unvermeidliche Spannungen aushalten

Es geht im Leben viel um Entspannung; die andere Ausrichtung jedoch, die wir brauchen, zielt auf das Aushalten von Spannungen, die nicht auf eine Seite hin weggekürzt werden können. Was in der Realität in Spannung ist, also Uneindeutigkeiten und Ungewissheiten, können wir zur Kenntnis nehmen und brauchen es nicht mittels Selbstüberlistung verdrängen, indem wir die Realität durch Fantasie ausblenden.

Die Lebenskompetenzen der Spannungstoleranz werden von der aktuellen Situation besonders herausgefordert. Sie sind in einer Welt, in der immer mehr Eindeutigkeiten und scheinbar felsenfeste Sicherheiten produziert wurden, immer unnotwendiger geworden und verkümmert. Wir haben es uns bequem gemacht in einer rundum abgesicherten Welt, und dann kommt ein Virus und schmeißt alles über den Haufen.

Doch deshalb müssen wir nicht gleich auf einen mittelalterlichen Bewusstseinszustand zurückfallen. Denn die Corona-Panik hat ganze Dogmatisierungsschleudern in Gang gesetzt. Überall schießen Prediger aus dem Boden wie zu Zeiten der Pest, nur wollen sie nicht die Menschen zu einem moralischeren Leben bringen, sondern die Politiker zum Einschwenken auf das eigene Fürwahrhalten, oft mit hintergründigen und handfesten Eigeninteressen. Dazu bedienen sich viele der Absolutsetzung ihrer relativen Einsichten, um mehr Gehör zu finden und mehr Gläubige um sich zu versammeln. Sie müssen auch die Wissenschaften bekämpfen, weil diese nicht auf dem Prinzip von Dogmen und Verabsolutierungen funktionieren, sondern nur relative Erkenntnisse hervorbringen. 

Der Zivilisationsprozess der Menschheit hat die Elimination von Unsicherheiten und Ungewissheiten und das Erschaffen von Eindeutigkeiten als Ziel; ironischerweise produziert jeder Schritt im Fortschritt der Absicherung neue Unsicherheiten, die dann mit vermehrtem Aufwand wieder abgesichert werden müssen. Dazu kommt, dass sich mit jeder zivilisatorischen Weiterentwicklung die Ansprüche und Erwartungen an Sicherheit und Komfort steigern, sodass trotz des objektiven Fortschritts in der Sicherheit das subjektive Sicherheitsgefühl nicht vermindert wird. 

Die Angstbelastung bleibt und verführt uns zu Glaubenssystemen und Ideologien, solange wir sie nicht in unserem Inneren konfrontieren und durch Bewusstheit auflösen. Dann öffnet sich der Blick auf die Realität, die, obwohl sie mit vielen Ungewissheiten behaftet ist, ihre wunderbaren und zauberhaften Seiten zeigt. An die Stelle der Unsicherheiten tritt die Magie und Mystik des Augenblicks.

Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983


Freitag, 16. Oktober 2020

Selbstbescheidung angesichts der ökologischen Engpässe

Das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten ist nach vielen Berechnungen unter den Bedingungen des gegenwärtigen Ersten-Welt-Konsumniveaus, das die anderen Weltteile mit Recht zunehmend für sich beanspruchen, nicht mehr lange möglich. Wir wissen nur nicht, wann und auf welche Weise sich ein Kollaps abspielen wird (beim Klima, bei der Luftqualität, bei der Wassergüte oder in anderen Bereichen) und was seine Auswirkungen sein werden.

Neben gesetzlichen Regulierungen, die auf der politischen Willensbildung beruhen, gibt es die Ebene der individuellen Verantwortung. Der ökologische Engpass, auf den wir zusteuern, ist eine Folge von unzähligen Einzelentscheidungen von Individuen, darunter wir selbst. Hier sind wir und niemand anderer gefragt, zu ändern, was zu ändern ist.

Es steht also jedem von uns offen, den eigenen ökologischen Fußabdruck zu verringern und damit den notwendigen und unverzichtbaren Beitrag zu dieser persönlichen Verantwortung zu leisten. Dabei wird es nicht ohne Luxusverzicht und Konsumeinschränkung gehen – auf einem ohnehin sehr hohen Niveau, auf dem wir uns schon befinden. Um diese Verantwortung wahrnehmen zu können, brauchen wir die klare Bereitschaft für eine Willensentscheidung, die von innen kommt und bewusst getroffen werden muss. Sie bezieht sich auf das Einschränken und Zurücknehmen von nicht nachhaltigen Verhaltensweisen und Lebensformen und auf die Änderung der entsprechenden Gewohnheiten.

Die Selbstzurücknahme in der rechten Form zu vollziehen, erfordert eine gute Kenntnis der Ego-Grenzen: Wo sind es die vielfältigen Muster eines unersättlichen Egos, die das Mehr und das Weniger verlangen, die gierig nachfassen, – und wo ist die Sättigung schon erreicht, wo ist es also in Wirklichkeit schon mehr als genug – nach den Maßstäben des freien inneren Fließens von organischen und geistigen Bedürfnissen und Befriedigungserlebnissen. So oft schon haben wir die Grenzen, die unser Organismus genau kennt, durch unsere unbewusst gesteuerten Zwänge überschritten, dass wir nur mehr über eine vage Ahnung von ihnen verfügen. Ja, ja, ich sollte jetzt aufhören zu essen, ja, ja, ich sollte jetzt nichts rauchen, ja, ja, ich sollte auf dieses Gläschen verzichten, aber etwas in mir ist stärker als dieses Wissen. Unser verzweifelter Körper hat schließlich keine andere Wahl, um sich gegen das zur Wehr zu setzen, was wir ihm aufzwingen, als mit schmerzhaften Symptomen zu reagieren. So wachen wir erst dann auf, wenn die Missachtung schon passiert ist und uns die Folgen zu schaffen machen, indem z.B. unser Verdauungssystem nach einem Überkonsum rebelliert oder unser Herz-Kreislaufsystem wegen der beständigen Überlastung schlapp macht.

Konditionierungen haben sich von früh an in unseren Gehirngängen verankert und geradezu unentwirrbar in die organische Selbststeuerung eingewoben. Babys brauchen eine konkordante Form der Bedürfnisbefriedigung, um die Integrität der körperlich-seelischen Bedürfnisstruktur aufrechterhalten zu können. Mit Konkordanz ist gemeint, dass die jeweiligen auftauchenden Mangelzustände von den Betreuungspersonen in stimmiger Weise beantwortet werden, sodass ein aus dem Organismus aufsteigendes Bedürfnis stimmig befriedigt wird, z.B. wenn Hunger auftritt, wird etwas Essbares angeboten, wenn Durst gemeldet wird, gibt es etwas zum Trinken, wenn Unterhaltung gewünscht ist, ist jemand zur Stelle, der gerade spielen will. Bei der Konkordanz sind die Herzen aufeinander abgestimmt und die durch Mangelerlebnisse auftretenden offenen Gestalten werden durch die passenden Angebote wieder geschlossen. Zufriedenheit setzt ein. Durch dieses konkordante Pulsieren von Wunsch und Erfüllung entwickelt und stabilisiert sich die organische Weisheit als Grundlage für eine Persönlichkeit, die echte Bedürfnisse von konditionierten Reaktionen unterscheiden kann.

Der Klassiker unter den früh geprägten Korruptionen der organischen Weisheit ist der Ersatz von Liebesbedürfnissen durch Essbares. Das Kind wünscht sich emotionale Aufmerksamkeit und Zuwendung und erhält statt dessen Nahrung. Die Betreuungsperson interpretiert das Bedürfnis des Kindes falsch und reagiert aufgrund dieser Interpretation mit der Überzeugung, das Richtige zu tun. Das Kind ist enttäuscht, weil es nicht bekommt, was es eigentlich braucht, aber auch erfreut, weil das Essen schmeckt. Die erwachsene Person freut sich, weil scheinbar das Bedürfnis befriedigt ist, und diese emotionale Bestätigung verstärkt die Konditionierung bei ihr wie beim Kind: Das Bedürfnis nach Liebe kann durch Essen gestillt werden.

Auf diese Weise wird nicht nur eine Grundlage für spätere Ess- und Suchtstörungen gelegt, sondern dazu noch das Vertrauen in die organische Selbstregulation und in die Bedürfnisstrukturen des eigenen Körpers geschwächt. Einfache organische Bedürfnisse werden in komplexe emotionale Regelwerke übersetzt, aus denen sich Erwartungskoglomerate und Identitäten ableiten. Wir können nicht mehr spüren, was uns guttut und was uns schadet. Wir haben keinen inneren Sinn für die Grenzen, an denen wir ein bestimmtes Konsumverhalten beenden sollten. Die Selbstentfremdung und innere Selbstverwirrung wird zum Normalzustand, in den sich die Ansprüche und Angebote der Konsumwirtschaft ohne Gegenwehr einnisten können, um die Illusion immer wieder zu bestätigen, dass mit einem stetig ansteigenden Konsum alles immer besser wird. Schon längst haben sich verschiedene Selbstaspekte in uns gebildet, Persönlichkeitssektionen, die sich dafür verantwortlich erklärt haben, die die Körperempfindungen und Gefühle an die vielfältigen äußeren Erwartungen anzupassen.

 

Solange wir uns in diesem Kontext befinden, kann eine bewusste Selbstzurücknahme nur als Selbstaufopferung oder als Selbstidealisierung verstanden werden. Beides ist mit starken inneren Widerständen verbunden. Die Konditionierungen sind zu fixen Bestandteilen der Ego-Struktur geworden, die sämtliche Abwehrmechanismen zu ihrer Verfügung hat. Das Gespür dafür, wo irrationale Ängste, die hinter jeder Form von Gier und Statussucht stecken, Bedürfnisse erzeugen – und wo das Leben in uns aufzeigt, was es zu seinem Wachsen und Gedeihen braucht und was es dabei behindert und schädigt, ist verloren gegangen. Denn der Kontakt zum Lebensprozess und seinen inneren Zusammenhängen ist durch Störgeräusche überlagert, sodass die Botschaften nur verzerrt übermittelt werden.

Jede Form von Selbstkasteiung, die die Grundbedürfnisse übergeht, führt zum inneren Kampf und Krampf, wodurch wiederum nur Ego-Ängste gegen den Organismus und seine Bedürfnisse angefacht werden. Die Beschränkung, die einem Ideal entspringt, das in der Gruppe oder in der Gesellschaft vorherrscht, wird bekämpft, bis dieses verkümmert. Diese Beschränktheit kann sich im maßlosen manischen Konsum ebenso äußern wie in der militanten Konsumverweigerung (die manchmal zusätzlich noch mit der moralischen Keule auch von anderen Mitmenschen den gleichen Entbehrungsweg einfordert).

Doch bringen wir den Ausweg nur zustande, wenn wir an einer der Grenzen eine klare Entscheidung fällen, die bereit ist, mit den Mustern zu brechen und die Konsequenzen zu tragen. Muster können nur durch Disziplin und beständiges Dranbleiben überwunden werden. Außerdem wirken solche Schritte nur dann nachhaltig, wenn die Disziplin von innen kommt, also in keiner Weise von außen aufgezwungen ist, wie z.B. durch die Erwartungen anderer Personen, durch gesellschaftliche Normen oder Idealvorstellungen. Dazu ist es erforderlich, die inneren Zwänge und die in ihnen enthaltenen Ängste aufzuarbeiten und aufzulösen, die die Verhaltensmuster aufrechterhalten.

Auf diese Weise gelingt es, die alten Konditionierungen aufzubrechen und damit die Kommunikation mit der organischen Weisheit wieder herzustellen, sodass der Kontakt zu den Selbststeuerungs- und Selbstheilungskräften des Körper-Seele-Systems ins Fließen kommt und zur Selbstverständlichkeit wird. Das ist die Grundlage für jene Formen der Selbstzurücknahme, die autonom entschieden werden, unter Berücksichtigung der genuinen körperlichen Bedürfnisse, und nach der Entmachtung der künstlichen Konditionierungen. All dies steht im Dient der Wiederherstellung unserer körperlich-seelischen Einheit, ein anderes Wort für Gesundheit in einem umfassenden Sinn.

Zum Weiterlesen:
Über das Reduzieren von Ansprüchen und Idealen

Großprobleme und der Drang zum Irrationalisieren

Sonntag, 11. Oktober 2020

Die Scham, das geheimnisvolle Gefühl


Die Scham ist eines von den ganz wichtigen Gefühlen in unserem Inneren. Sie ist freilich ein recht geheimnisvolles Gefühl, das sich in vielen anderen Gefühlen versteckt und gerne im Verborgenen unserer Seele bleibt. Das Schämen selbst ist nämlich mit dem Impuls des Verschwindenwollens verbunden: Wir hoffen, vom Erdboden verschluckt zu werden. Deshalb zeigt sich die Scham so ungern.

Mit diesem Buch möchte ich Wege zeigen, sie besser zu verstehen und als Freundin gewinnen. Dann können wir ihr einen gebührenden Platz in unserem Leben einräumen.

Die Scham spielt viele Rollen im Inneren wie im Äußeren. Die wachsame Scham macht uns auf Grenzverletzungen, die wir anderen antun, aufmerksam. Die beschwerende Scham ist eine aus frühzeitigen Beschämungserfahrungen übernommene Last. Die eine weckt uns auf, damit wir unsere Achtsamkeit schärfen. Die andere löst sich auf, wenn wir ihre Wurzeln erkennen. 

Die Scham regelt unseren Selbstwert und zugleich unser Sozialverhalten.  

Dazu ein kleines Beispiel:

Wenn wir uns arrogant über andere Menschen drüberstellen, meldet sich die Scham mit dem Hinweis, uns selber nicht zu überschätzen,  vorausgesetzt, wir hören ihre Signale. Wenn wir uns zu klein machen und selber abwerten, sagt uns die Scham, dass wir zu unserem Selbstwert stehen sollten.

Die Scham kann aber auch zu einer der unangenehmsten Emotionen werden, von der wir uns schwer befreien können.  Das passiert, wenn wir von alten Beschämungserfahrungen überrollt werden. Manche Menschen drängt sie ins gesellschaftliche Out, in Extremfällen bis in den Selbstmord.

Die Scham kann giftig werden, wenn sie im Unbewussten wuchert. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns ihr Wirken bewusst machen.

Das Buch zeigt viele Möglichkeiten auf, um die Netze der Scham durchschauen zu lernen und sich ihrer Übermacht  zu entziehen. Es werden die unterschiedlichen Formen der Scham und der Schamabwehr erläutert und verständlich gemacht. Wir können verstehen, dass viele Verhaltensweisen und Charakterzüge den Sinn haben, die Scham nicht spüren zu müssen. Sie motiviert z.B. zu Gier und Geiz, sie steckt hinter Neid und Eifersucht.  Aber auch Haltungen wie Zynismus, Verachtung, Überheblichkeit und Heuchelei haben mit der Scham zu tun. Und natürlich gehört auch die Unverschämtheit in den Kreis der Schamprägungen.

Selbst geschätzte Tugenden wie Ehrgeiz und Disziplin können ihren Antrieb aus der Scham holen und dann das eigene Leben übermäßig dominieren, was zu einer Stressüberlastung führt. 

Ich beschreibe weiters, wie die Scham entsteht, von sehr früh an, und wie sie in unser Leben hineinwirkt, bis ins hohe Alter. Die pränatale Geschichte der Scham bildet einen spannenden Schwerpunkt des Buches.

Aktuelle und gesellschaftspolitische Einblicke vervollständigen das Bild dieses geheimnisvollen und vieldeutigen Gefühls. So wird z.B. der Zusammenhang zwischen Scham und Konsum erklärt.

Im Buch finden sich viele Anregungen und Übungen, mit denen wir uns aus den Fängen von krankmachenden und belastenden Schamprägungen befreien können. 

Wo die Scham wacht, achten wir die Würde unserer Mitmenschen. Wo die übermäßige Scham weicht, tritt unsere eigene Würde in ihr Recht und bringt uns zurück zu unserer Kraft und Lebensfreude. 


ISBN: 978-3-347-10606-2 (Paperback) € 24,99
ISBN: 978-3-347-10607-9 (Hardcover) € 29,99
ISBN: 978-3-347-10608-6 (e-Book) € 15,99

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Zwei Videolinks:
Buchvorstellung
Ein Lehrstück der Scham: Fräulein Else (Arthur Schnitzler)


Donnerstag, 8. Oktober 2020

Das duale Weltbild und seine Grenzen

Ich habe mit Carsten Rachow in den letzten Tagen einen kleinen Austausch gepflogen, im Zuge dessen das Thema der dualen Weltsicht zur Sprache gekommen ist.

Carsten Rachow schreibt dazu in einem Kommentar zum Thema Fakeisten gegen Objektivisten: „Einen besonders wichtigen Wert sehe ich in der Rolle der Fakeisten als ‚Kontrastmittel‘ – sie stärken durch ihre Fakes, durch ihre erfundene Objektivität, durch ihre Unwahrheiten, die Gegenseite ... Wie das Sinnvolle durch die Sinnlosigkeit gestützt wird, wird das Nützliche durch das Unnütze gestützt. Je lauter Fakeisten ihre abstrusen Theorien verkünden, desto besser für die Wissenschaftler – und für uns alle, denn ‚Nützlichkeit‘ ist ein wichtiges Merkmal, wenngleich nur eines unter vielen.“ 

Das sind Gedankengänge, die immer wieder auftauchen, oft im Kontext der dualen Weltsicht, in der sich die Gegensätze gegenseitig fordern, stärken und schwächen. Alles, was ist, hat sein Gegenteil, von dem es lebt, aus dem es seinen Sinn zieht und dem es Sinn gibt.

Unnützes schadet dem Nützlichen

Können wir dieses Weltmodell auf die obigen Beispiele anwenden? Es zeigen sich Schwierigkeiten: Nützliches wird durch Unnützes nicht nützlicher, vielmehr kann das Unnütze den Wert des Nützlichen mindern. Es wird immer Leute geben, die das Unnütze zu schätzen beginnen, sobald es als etwas Nützliches propagiert wird und die dann das Nützliche verachten – eine wichtige Aufgabe der Werbewirtschaft. Es braucht dann zusätzliche Anstrengungen, um das Nützliche in dem Platz, den es eigentlich schon immer hat, zu sichern und zu festigen. Die Folge ist, dass sich die Welt zunehmend mit unnützen Dingen füllt (ganz abgesehen von den vielen unnützen Gedanken, die in unsere Köpfe eingelagert werden).

Ebenso bringt uns ein Mehr an Unwahrheiten nicht weiter. Je mehr von ihnen verbreitet wird, desto mehr Unsicherheit und Skepsis gegenüber den bisherigen Sicherheiten, die in diesem Fall von den Wissenschaften aufgebaut wurden, entsteht. Durch erfundene Fakten wird jede verantwortungsvolle Form des Wissenserwerbs diskreditiert, sodass mehr und mehr Menschen nicht mehr wissen, wem sie Glauben schenken sollen.

Eine Form zu dieser Destabilisierung können wir beobachten, wenn Wissenschaftler in den Medien gegeneinander in Stellung gebracht werden und dann nach außerwissenschaftlichen Extrapolationen oder Einschätzungen befragt werden, in die dann unweigerlich subjektive Elemente einfließen. Hier scheiden sich die Geister: Die einen glauben dem, was gesagt wird, als wäre es ein Dogma, obwohl es nur eine subjektive Sicht widergibt, die anderen nehmen die subjektive Einschätzung als Beleg dafür, dass alles, was von der Wissenschaft kommt, subjektive Erfindung ist.

Regression in die Naivität

Es gibt auch manche Wissenschaftler, die mit dem Pathos der letztgültigen Welterklärung auftreten oder in fachfremden Gebieten ihre Autorität ohne ausreichende Kenntnisse ausspielen (wie z.B. ein US-Klimawandelleugner, der in den 90er Jahren einen Nobelpreis in der Informationstechnologie erhalten hat) und damit ihre Integrität als Forscher missachten. Sie tragen dazu bei, dass Faktenfragen in Glaubensfragen umfunktioniert werden. Jeder Gegenhalt gegen die Gleichsetzung von Meinung und Wahrheit wird für obsolet erklärt, und wir können uns nur mehr dafür entscheiden, dass wir den rechten Glauben haben und die anderen den Aberglauben. Wir sind in die vorwissenschaftliche naive Welt der Fantasien regrediert.

Es erfordert viel Klärungs- und Erklärungsaufwand, die Dinge, die durcheinandergebracht wurden, wieder auseinanderzulegen und Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden, ähnlich wie es mehr Arbeit erfordert, Unordnung in Ordnung zu verwandeln als umgekehrt. Ein Teller ist schnell zerschmettert, und es braucht viel Zeit, um ihn wieder zusammenzukleben. Falschmeldungen, ausgestreute Lügen, angemaßte Fachkompetenz sind ganz einfach Phänomene, die der Allgemeinheit Schaden zufügen, die es mühsamer machen und nicht erleichtern, der Wahrheit näher zu kommen. Am Land würde man sagen: „So notwendig wie ein Kropf.“

Mit den Mitteln der sozialen Medien kann heute jeder Computer- und Tastaturbesitzer, der irgendeinen Verdacht, irgendeinen Einfall, irgendeinen Zweifel hat, diesen in die weite Welt schicken mit der missionarischen Glaubensüberzeugung, eine wichtige Wahrheit zu verbreiten, und schon ist Zwietracht gesät, schon sind Ängste erzeugt, schon sind die Unsicherheiten vermehrt.

Wenn durch die Außenbedingungen Zustände von Ungewissheit entstehen, wie es jetzt der Fall ist, werden viele dazu verleitet, sich möglichst einfache Erklärungsmodelle zurechtzuzimmern oder sich anderen mit solchen Modellen anzuschließen, die Gewissheit garantieren sollen. Solche Modelle brauchen keine Basis in der Realität, weil das Vergleichen der eigenen Konstrukte mit der Wirklichkeit Arbeit und Mühe erfordern würde und weil sich gerne der Wunsch nach Einfachheit mit dem nach Bequemlichkeit paart.

Lügen haben lange Beine

Die Wahrheit wird nicht deutlicher, wenn sie durch Lügen infrage gestellt wird. Sie muss sich noch lautstärkerund umfangreicher artikulieren, und das ist im Grund ein unnützer Energieverbrauch. Das Dementi zur Falschmeldung, die vielleicht aus Unwissenheit oder aus Bosheit lanciert wurde, kommt immer zu spät. Es trägt nicht wirklich zur Stärkung der Faktizität bei, weil der Schatten von Unsicherheit bleibt – was, wenn die Falschmeldung doch richtig wäre?

Die meisten Menschen kommen erst durch Falschmeldungen auf die Idee, dass etwas falsch sein könnte, und entwickeln neue Ängste und Sorgen. Aktuelles Beispiel: Irgendjemand bringt das Gerücht auf, dass Kinder durch Maskentragen gestorben sind. Für die virale Verbreitung ist gesorgt, denn das Leben von Kindern ist uns ein wichtiges Anliegen. Die Entwarnung folgt verspätet und dringt möglicherweise nicht zu jenen durch, die sich schon in einem Staat wähnen, der das Leben von Kindern durch unsinnige Maßnahmen aufs Spiel setzt.

Durch jede Falschmeldung werden wir gezwungen, uns mit Dingen auseinanderzusetzen, die uns sonst nicht beschäftigen würden. Aber wir haben dann nur die Alternative, alles zu glauben, was uns vorgesetzt wird, oder alles, was an Informationen herumschwirrt, für manipuliert zu erklären und damit völlig orientierungslos zu sein.

Die wachsende Komplexität und die innere Einfachheit

Die Welt wird von sich aus permanent komplexer; Lügengespinste, Wahrheitsverzerrungen und Falschmeldungen sind künstliche und willkürliche Beiträge, die zusätzlich den Komplexitätszuwachs steigern, ohne einen Erkenntnisgewinn zu liefern und ohne dass sie Anleitungen mitliefern, wie wir die Komplexität reduzieren könnten. Ordnungsstrukturen, Klassifikationen, Systematisierungen etc., die von den Wissenschaften erarbeitet werden, helfen uns bei der Verarbeitung von Information, helfen uns bei der inneren Komplexitätsreduktion. Ohne sie würden wir hilflos durch das Chaos einander widersprechender Informationen taumeln.

Insoferne können wir diese Ordnungsstrukturen als Unterstützung verstehen, die unser Innenleben braucht, wenn es die Erfahrung der Einfachheit des Daseins in sich kultivieren will. Denn wir brauchen diesen Gegenpol zur sich rasend entwickelnden Informationsflut, damit wir im Frieden bleiben können, wenn scheinbar das Äußere in der Unübersichtlichkeit zu zerfallen droht.

 Zum Weiterlesen:

Zwischen Wissenschaft und Lügenproduktion
Die Anhänglichkeit an die Dualität
Polaritäten - Ursprünge und Folgen

 

Montag, 5. Oktober 2020

Zwischen Wissenschaft und Lügenproduktion

In einem Kapitel des Buches „Die IBA-Botschaft“ vergleicht Carsten Rachow die Objektivisten und die Fakeisten, also jene, die Fake-News produzieren. Die Objektivisten sind jene, die möglichst objektive Fakten präsentieren wollen. Zwischen beiden Gruppen tobe ein “seltsamer Meinungskampf” bei den aktuellen Pandemiediskursen. Als Objektivisten werden die „Experten, Virologen und Epidemiologen“ identifiziert, die Fakeisten braucht man nicht extra zuordnen. Der Text läuft darauf hinaus, beiden Seiten ihre Subjektivität nachzuweisen, also die Beliebigkeit ihrer Konstruktionen. In diese fließen „eigene Ängste, Sorgen, Anpassungstendenzen und Weltbilder, aber auch persönlicher Ehrgeiz und die Beeinflussung durch andere Menschen” ein.

Wenn wir einer systemischen Sichtweise folgen, ist unbestritten, dass Wissen immer Konstruktion ist, eine bestimmte Weise, die äußere Wirklichkeit in eine innere Wirklichkeit zu übersetzen. Der maßgebliche Unterschied besteht allerdings in der Weise der Übersetzung. Wissenschaftliches Wissen beruht auf völlig anderen Übersetzungsvorgängen als willkürlich zusammengebastelte oder frei erfundene „alternative Fakten”. Denn die Wissenschaften sind selbstreflektierend und überprüfen sich dauernd selbst, mit Verfahren, die sich über Jahrhunderte ausgebildet und verfeinert haben. 

Inzwischen spielt der Begriff der Objektivität in den Wissenschaften keine Rolle mehr, weil klar ist, dass sich das Wissen ständig weiterentwickelt. Vielmehr geht es mehr um das von Karl Popper formulierte Prinzip der Falsifizierbarkeit, d.h. Theorien so zu formulieren, dass sie prinzipiell widerlegbar sind. Es gilt jeweils die beste der bestehenden Theorien, solange es keine bessere gibt. Insofern versteht sich wissenschaftliches Wissen immer als vorläufig und relativ. Es steht beständig am Prüfstand durch die Forschergemeinschaft. 

Die Fake-News-Produzenten hingegen verkaufen und propagieren ihre Ideen sofort als Wahrheit, manchmal sogar als absolute, zu der es keine Widerlegung oder Verbesserung gibt oder braucht. Sie appellieren also an die (Gut-)Gläubigkeit der Menschen und nicht an ihre Vernunft. Sie nutzen die Lüge oder kümmern sich fahrlässig nicht um eine Überprüfung, bevor sie Falschmeldungen verbreiten.

Das Unbewusste und die Wissensproduktion

Die Psychologisierung der Erkenntnistheorie („Die Wirklichkeitskonstruktion ist geleitet von Ängsten und Sorgen“) trifft sicher auf die Fakeisten zu und könnte sie interessant, falls sie ihren Fokus darauf lenken würden, wie sie zu ihrem Wissen kommen und welche Gefühle und Interessen dabei wirksam sind. Diese Reflexion widerspricht aber den eigenen Grundannahmen und Intentionen.

Die Wissenschaften hingegen verfolgen diesen Prozess schon seit ihren Anfängen und sind laufend damit beschäftigt, Wissen von subjektiven Zutaten zu reinigen, also eine Form des Wissens zu gewinnen, das von Subjekten, ihren Interessen und Vorlieben, weitestgehend unabhängig ist. Es geht darum, Forschungsergebnisse zu erreichen, bei denen jedes Subjekt potentiell zu den gleichen (oder im Fall der Geisteswissenschaften – zu vergleichbaren) Erkenntnissen gelangen kann. Insoferne rennt die psychologische Deutung, dass es in den Wissenschaften subjektive Elemente gibt, offene Türen ein.

Die Gleichstellung von Lüge und Wissen

Im Text heißt es: “Beide Seiten erzeugen, beide Seiten glauben, und beide Seiten halten sich ihre geglaubten Konstrukte vor Augen - doch weil die einen sich hinter ihrer historisch gewachsenen wissenschaftlicher Objektivität verstecken und die anderen hinter ihrer blassen Fake-Objektivität, kommen die eigentlichen Akteure nicht zum Vorschein.”

Was der Text verwischt: Die Formen der Wirklichkeitskonstruktion werden individualisiert, so, als wären alle Wissenschaftler von der gleichen Gefühlslage geprägt, wenn sie ihre Forschungen betreiben. Es geht aber nicht um zwei Individuen, die sich gegenüberstehen.  Individuen haben immer einen Schatten und ungeklärte Ecken in der Gefühlslandschaft. Vielmehr geht es um den Gegensatz zwischen der Tradition der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung mit ihrem Streben nach verbindlichem Wissen und dem subjektiven Fürwahrhalten. Die eigentliche Frontlinie verläuft  zwischen Reflexionsfähigkeit und interaktiver Theoriebildung auf der einen Seite und Reflexionsverweigerung auf der anderen Seite.

Der Gleichstellung zwischen Fakeproduzenten und Wissenschaftsproduzenten, wie sie hier vorgenommen wird, fehlt die sachliche Grundlage. Es kommt immer wieder vor, dass manche Vertreter der Wissenschaft, die in der Öffentlichkeit auftreten, dort ihre Meinung zu bestimmten Themen, z.B. aktuell zu Corona-Maßnahmen, kundtun. Das ist ihr Recht als Staatsbürger, wie für alle anderen auch. Die Meinungen, die sie in diesem Rahmen verbreiten, sind subjektiv. Sie können durch wissenschaftlich erzeugte Fakten abgestützt und belegt sein, aber sobald es um Einschätzungen von künftigen Entwicklungen oder zum Abwägen verschiedener Methoden der Krisenbekämpfung geht, wird das Terrain der Faktizität schnell verlassen. Dann handelt es um subjektive Meinungen, die mit der individuellen Gefühlslage zusammenhängen.

Faktisch kommt es immer wieder zu Streitgesprächen, in denen sich Individuen, die auf die Wissenschaft pochen und anderen, die auf esoterische oder andere undefinierte Quellen zurückgreifen, gegenüberstehen. Solche Debatten führen häufig auf keinen grünen Zweig, weil die Diskursformen nicht zusammenpassen. Der Versuch aber, die Hintergründe und Motivationslagen einzuebnen durch die Feststellung, dass die wissenschaftliche Position um nichts besser, wertvoller oder orientierungsgebender als die der Lügenpropaganda wäre, ist insofern gefährlich, weil eben die Lüge als Mittel der Wahrheitsfindung legitimiert wird. Ist es gleich-gültig, ob ein Wissen aus einem wissenschaftlichen Forschungsprozess kommt oder aus absichtlichem Lügen oder naivem Nacherzählen von Lügen, dann gerät die Gesellschaft auf eine unsichere Ebene. 

Die Psychotisierung der Gesellschaft

Psychologisch betrachtet, ist die Ununterscheidbarkeit von Lüge und Wahrheit Ursache für Psychosen, wie schon Pawlow in Tierversuchen nachweisen konnte. Wenn wir nicht mehr wissen, woran wir sind, ob das, was uns an Fakten präsentiert wird, wirklich ist oder eine Erfindung, werden wir orientierungslos und verwirrt und enden schließlich dort zu sagen, dass man doch niemandem vertrauen kann.

Und genau das ist das Ziel der Fake-Produzenten: Menschen, die nicht mehr unterscheiden können, was wirklich und was unwirklich ist, und die dann nur mehr auf Gefühlsebene Entscheidungen treffen können. Gefühle können herrlich von außen beeinflusst werden, der großflächigen Manipulation ist Tür und Tor geöffnet.

Es ist also äußerst gefährlich in Hinblick auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung, von einer Metaposition die Fakisten und die Wissenschaftler psychologisch auf eine gleiche Stufe zu stellen. Fake-Produzenten wollen nichts anderes als die völlige Relativierung der Wahrheitsfindung. Fantasien und Hirngespinste hätten dann den gleichen Wert wie die Relativitätstheorie oder das thermische Grundgesetz. Das geht sich zwar praktisch nicht aus, weil jedes bisschen Technik, das wir nutzen, voll von wissenschaftlicher Forschung ist, die sich als tauglich erwiesen hat, während Fakenews keinen einzigen Fernsehapparat hervorbringen können, sondern höchstens Verwirrung in den Köpfen. Aber verwirrte Menschen können an keinem sinnstiftenden gesellschaftlichen Diskurs teilnehmen. Wir müssen uns entscheiden, ob wir verwirrte Menschen und damit eine verwirrte Gesellschaft wollen oder nicht. Wenn nicht, gilt es der Psychotisierung der Gesellschaft, die mit dem Produzieren und Verbreiten von Fakenews angebahnt wird, auf allen möglichen Ebenen entgegenzuwirken. 

Zusätzlich sei angemerkt: Wenn die Standards der historischen Forschung durch die Gleichstellung mit Lügenproduktionen weggeworfen werden, dann haben die Holocaustleugner genauso recht wie die Historiker, die die Fakten über die Massenvernichtungen gesammelt haben - es sind ja nur zwei Formen des „Unbewussten“, die da unterschiedlicher Meinung sind.

Demgegenüber ist festzuhalten, dass wissenschaftliches Wissen und falsche Fakten nichts gemeinsam haben und auch auf psychologischer Ebene nicht miteinander verglichen werden können. Außerdem kann es verheerende Folgen haben, wenn dieser Unterschied nicht mit aller Konsequenz aufrechterhalten wird.

Hier zum Text von Carsten Rachow

Zum Weiterlesen:

Absolute Wahrheiten existieren im Moment
Das Absolute im Beschränkten

Die Ko-Produktion der Wirklichkeit und das Absolute
Faktizität und Bullshit


Freitag, 2. Oktober 2020

Die bittersüße Sehnsucht

Goethe dichtete, von Schubert genial vertont: „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!“ Was ist das für ein Leid, und aus welchen Gründen tun wir es uns an?

Die Sehnsucht ist ein vielschichtiges Phänomen. Sie ist ein Konglomerat aus verschiedenen Gefühlen und enthält viele kognitive Elemente. Sie zählt deshalb zu den kognitiven oder abgeleiteten Gefühlen. Sie ist eine Form der Unzufriedenheit, die aber auch eine eigentümliche Spannung mit lustvollen Seiten enthält.

In der Sehnsucht schwelgen

Wir können mit der  Sehnsucht auf zwei Weisen umgehen: Eine, die uns weg führen will aus Umständen, die uns nicht gefallen oder die uns schaden. Die andere, die uns zu etwas hinzieht, was noch nicht da ist. Es gibt also eine reaktive Sehnsucht, die in der Fantasie ungünstige Bedingungen überwinden will und von der Frustration über das, was ist, motiviert ist. In diesem Bereich kann die Sehnsucht in extremeren Fällen krankheitswertige Dimensionen annehmen. 

Wenn wir in die reaktive Falle der Sehnsucht geraten, können wir uns stundenlang oder immer wieder in illusionären Fantasien verlieren und im bittersüßen Geschmack der Sehnsucht schwelgen. Wir genießen die vorgestellte Erfüllung und leiden zugleich an der mangel- und fehlerhaften Realität. Die Sehnsucht ist also fruchtlos und selbstquälend, solange sie nicht in Handlungen mündet: Jemand sehnt sich nach einem liebevollen Partner, tut aber nichts dazu, einen zu finden. Sie Sehnsucht dient als Deckmantel für die Angst vor einer Beziehung. 

Tun statt Fantasie

Die andere Richtung der Sehnsucht wirkt proaktiv, indem sie uns zu Handlungen motiviert, die wir uns als Ziel setzen, um der Erfüllung der Sehnsucht näher zu kommen. In diesem Fall verwandeln wir die Sehnsucht in Motivation und schöpfen daraus die Kraft für die Verwirklichung von Visionen. Sobald wir etwas tun, verschwindet die Sehnsucht und macht der Praxis Platz, die sich an den Anforderungen der Wirklichkeit erprobt.

In jeder Sehnsucht gibt es einen kindlichen Anteil: Der Drang nach Geborgenheit, Nähe, Verstandenwerden, Liebe und Abwechslung, Stimulation durch neue Reize, nach dem Alten und Gewohnten und nach dem Aufregenden und Neuen.

Die rückwärts gewandte Sehnsucht nährt das konservative und nationalistische Weltbild mit dem Zentralthema Heimat, die uns von Fremden und Zuzüglern streitig gemacht wird. Sie treibt aber auch die Eroberer und Erforscher des Unbekannten und ist generell als Antrieb für die eigene Autonomie geeignet. Zum Beispiel kennen wir die pubertäre Erfahrung: Die Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit, nach einem eigenen Leben mit mehr Selbstbestimmung motiviert zum Ausbrechen, über die Grenzen gehen und über die Stränge schlagen. Es geht um die Emanzipation von den Eltern, ihren Bevormundungen und Werten. Die Familie wird als Einengung erfahren, von der man weg will. 

Prominent, viel besungen und beschrieben ist ganz besonders das andere typisch pubertäre Sehnsuchtsthema: Die Sehnsucht nach der romantischen und aufregenden Liebesgeschichte, nach dem Liebespartner der Träume, nach den unvergesslichen Momenten der Verzauberung. In seinem Ursprung in der Adoleszenz kann es gleichwohl zu einem Lebensthema werden, insbesondere bei Menschen mit einem pränatalen Zwillingsthema.

Ein reiferes Thema ist die spirituelle Sehnsucht: Die Sehnsucht nach völliger Befreiung und unerschütterlichem inneren Frieden, welche die spirituelle Suche antreibt. Zugleich bildet sie eine der vielen Fallen auf diesem Weg: Die Sehnsucht führt zwangsläufig aus dem gegenwärtigen Moment heraus, in dem allein nach Ansicht der spirituellen Lehrer die Freiheit gefunden werden kann. Die Versenkung in die aktuelle Erfahrung und ihre Details löscht sofort die Verlockungen der Sehnsucht aus.

Sehnsuchtsforschung 

Am Max-Planck-Institut gibt es eine Forschungsstelle zur Sehnsucht. Dort wurde herausgefunden, dass fast alle Erwachsenen die Sehnsucht kennen. Bei Sehnsüchten geht es in der Regel nicht um etwas Konkretes wie Geld, ein schnelles Auto oder ein Designerkleid. Vielmehr dreht sich dieses Gefühl um grundlegendere Themen im Leben. Die Forscher meinen, dass die Sehnsucht in der Evolution des Menschen entstanden ist, um ihn immer wieder nach neuen Wegen zum Glück suchen zu lassen und damit die Kreativität zu entfesseln. 

Es werden sechs Merkmale der Sehnsucht unterschieden:

1. Die Unerreichbarkeit einer persönlichen Utopie: Viele Sehnsüchte enthalten die Vorstellung von einem „perfekten Leben“, sei es ein grenzenloser Reichtum oder die klassenlose Gesellschaft. Das Leiden besteht in der Diskrepanz zwischen der unvollkommenen Realität und den erträumten Möglichkeiten.

2. Die Unvollkommenheit und Unfertigkeit des eigenen Lebens: Die Fehlerhaftigkeiten und Schwachstellen des eigenen Lebens und der eigenen Persönlichkeit werden durch ein erträumtes Ideal im Außen kompensiert. Zum Beispiel: Wenn ich die große Liebe finde, nach der ich mich sehne, wird mein Leben vollkommen sein. 

3. Der Dreizeitigkeitsfokus: Sehnsucht ist häufig auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft ausgerichtet. So kann zum Beispiel ein Sohn, der sich nach seinem verstorbenen Vater sehnt, die guten Zeiten und Seiten des Vaters erinnern und vermissen, seinen Rat nicht mehr hören zu können. Die Sehnsucht malt zudem eine bessere Zukunft aus, wenn er noch am Leben wäre. 

4. Bittersüße Gefühle: Süß sind die Phantasien vom Ersehnten, von dem, was das Leben perfekt machen würde. Bitter ist die Erkenntnis, dass es nicht real ist. Manchmal ist es das Wissen, dass wir nach etwas Unerreichbarem streben, manchmal bilden wir uns auch nur ein, dass wir ein Ziel der Sehnsucht nicht verwirklichen können. 

5. Rückschau und Lebensbewertung: Sehnsüchte dienen auch zur Bewertung des eigenen Lebens. Bin ich auf dem richtigen Weg? Was fehlt in meinem Leben? Wohin soll es gehen? Werde ich meinen Idealen gerecht? Manchmal ist dieser Aspekt der Sehnsucht in die Frage gekleidet: Wie werde ich auf meinem Totenbett auf mein Leben zurückschauen? Wir erwarten mit dieser Frage, dass wir in unserem Todesprozess an den Punkt kommen werden, an dem wir über unser ganzes Leben sinnieren und dass wir dann eine rückwärts gewandte Sehnsucht entwickeln, wie es gewesen wäre, unser Leben anders zu leben, als wir es gelebt haben, z.B., wie es in einem bekannten Text heißt, wenn wir mehr Eis geschleckt hätten. 

6. Der Symbolcharakter: Häufig stehen Sehnsüchte für etwas anderes.  Man sehnt sich nach einem schnellen Sportauto und erwartet sich einen flotten Eindruck beim anderen Geschlecht oder die Erfahrung von Unabhängigkeit, Freiheit und Unbeschwertheit. Statt uns auf diese Qualitäten zu besinnen und zu trachten, sie mehr in unser Leben zu bringen, glauben wir, sie mit einem Konsumgut erreichen zu können. Diese Neigung ist Wasser auf die Mühlen der Werbewirtschaft.

Das Ende der Sehnsucht

Jede Sehnsucht endet im bewusst erlebten Moment. Sie hat sich darin gewissermaßen von selbst erledigt. Denn jeder dieser Momente enthält alles, was wir brauchen und was uns erfüllt. Das besagt der meditative Weg, der beste Ausweg aus allen Qualen der Sehnsucht und der mit ihr verbundenen Leiden.

Zum Weiterlesen: