Samstag, 23. Dezember 2023

Die pubertären Wurzeln der Ideologien

Die Zwischenzeit der Adoleszenz besteht darin, eine Antithese zur Kindheit zu bilden. Adoleszente wollen keine Kinder mehr sein und lehnen deshalb alles Kindliche ab. Sie orientieren sich an Werten, die sie absolut setzen. Sie fordern die Erwachsenen und ihre Ansichten heraus. Sie treten mit neuen Ideen und neuen Programmen auf, die die Gesellschaft verändern und vorantreiben sollen. Sie kritisieren die Widersprüche der von den Erwachsenen eingerichteten Welt und fordern die Widerspruchsfreiheit ein. Sie vertreten ihre Ideale bedingungslos, und sie können das auch, weil sie noch keine Handlungen setzen können und noch keine Verantwortung tragen müssen. Oft werden sie deshalb von den Erwachsenen als Träumer oder als weltfremde Idealisten belächelt. Die Jugendlichen wiederum sehen in den Erwachsenen in ihren Haltungen festgefahren und stur im Festhalten an alten Strukturen und an ihrer Macht. Sie betrachten das Bestehende als Hemmschuh für ihr Fortkommen und bekämpfen es, um Freiräume für eine Neugestaltung zu gewinnen. Die Adoleszenten treten mit vielen Forderungen auf, die sie leicht stellen können, weil sie nicht die Verantwortung für deren Verwirklichung tragen können.

Offenbar dient es dem gesellschaftlichen Fortschritt, dass jede junge Generation mit einem Elan zur Erneuerung und zur Überwindung von alten Verkrustungen antritt. Sie zeigt die Widersprüche zwischen Moral und Praxis, zwischen Idealen und Realität auf und fordert oft radikal eine Kehrwende ein, zurück zu mehr Gerechtigkeit und Offenheit. Denn die Jugend braucht eine offene Welt, in der es viele Chancen gibt, nicht nur für wenige Privilegierte, sondern für alle. Sie wissen noch zu wenig über sich selbst und sind unsicher, ob sie ihren Platz in der Welt finden können. Deshalb neigen sie zu radikaleren Vorstellungen über die notwendigen Veränderungen als viele Erwachsene, die sich eine pragmatischere Sicht auf die Wirklichkeit erworben haben. 

Widersprüchliche Realität

Die Realität ist geprägt von Gegensätzen und Widersprüchen, und das Erwachsenenleben gelingt in dem Maß, in dem diese Widersprüchlichkeit sein darf, ausgehalten wird und den Rahmen für das Handeln bildet. Viele Vorkommnisse sind weder gut noch böse, oder beides, keinesfalls aber eindeutig zuordenbar. Wir täten uns leichter mit der Wirklichkeit, wenn es immer die Täter (die Bösen) auf der einen und die Opfer (die Guten) auf der anderen Seite gäbe. Aber Vereinfachungen haben immer ihren Preis, während die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten bestehen lassen zu können, die Handlungsfähigkeit erweitert. Wir können besser auf die Wirklichkeit und ihre Erfordernisse eingehen, wenn wir sie in ihrer Ambiguität tolerieren. Je mehr Sichtweisen wir entwickeln, desto mehr Optionen haben wir. 

Ideologien sind pubertäre Erlösungsfantasien 

Jede Ideologie stellt einen Versuch dar, Widersprüche auf Kosten der Realität zu harmonisieren. Das scheinbar eindeutige Benennen von einfachen Ursachen für Missstände begeistert viele Anhänger und Parteigänger. Vereinfachungen vermitteln Illusionen der Handlungsfähigkeit, weil sie vorgaukeln, dass mit der Beseitigung des so-genannten Bösen die Probleme gelöst werden und sang- und klanglos verschwinden. Die gesellschaftlichen Probleme sind allerdings immer komplex und können nicht durch ein einfaches Dreinhauen gelöst werden. Meist verstärken einfache Lösungsansätze die Probleme zusätzlich. Ein Beispiel bilden die ökonomischen Maßnahmen, die von vielen rechtspopulistischen Regierungen durchgeführt werden. Sie geben aus dem gesellschaftlichen Füllhorn gern Geschenke für ihre Klientel, die den Staatshaushalt belasten; und den kleinen Leuten wird dann auf andere Weise wieder das Geld aus der Tasche gezogen. Oft reduzieren diese Politiker die Steuern für die Reichen, was den Schlechterverdienern mehr Lasten aufbürdet, aber Geld von den Reicheren in die Parteikassen der Rechtsparteien spült, die damit ihre Propagandamaschinen betreiben können. 

Wir können erkennen, dass die Neigung zu Ideologien pubertäre Wurzeln hat. Jugendliche neigen zu radikalen Sichtweisen und einfachen Lösungswegen, wie sie von Ideologien angeboten werden. Z.B. wird gefordert, riesige Zäune zu bauen, um das Flüchtlingsproblem für das eigene Land zu lösen. Das Problem wird damit in andere Länder exportiert und im eigenen Land kann man sich selbstzufrieden abputzen. Das Problem wurde also nur von den eigenen Leuten und Anhängern weggeschoben, aber nicht gelöst. Echte Lösungsschritte müssen in den Herkunftsländern ansetzen, damit die Bedingungen dort so verbessert werden, dass niemand mehr flüchten will. Aber das sind langwierige und komplexe Bemühungen, die zwar nachhaltig wirken, aber in den Zielländern der Fluchtbewegungen nicht populär sind, weil sie keine unmittelbare Entlastung von den Ängsten bewirken, die durch die Migrationen ausgelöst werden. 

Ideologen und Ideologieanhänger sind in ihrer Weltsicht nicht erwachsen geworden. Sie befinden sich in einer Fundamentalopposition zur Realität, die die objektive Entsprechung der Erwachsenenwelt darstellt. Sie wollen eine Gegenwelt, nicht die Weiterentwicklung der bestehenden. Sie erhoffen sich schnelle Lösungen und übersehen die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit, indem sie die Komplexitäten auf Einfachheit reduzieren und damit alle Details und Zusammenhänge, die dem eigenen Weltbild widersprechen, ausblenden. Deshalb bringen sie im besten Fall Scheinlösungen oder nur kurzfristig wirksame Verbesserungen zustande. Der Verantwortungshorizont reicht nicht aus, um nachhaltige oder langfristig haltbare Maßnahmen zu verwirklichen.

Verantwortungsbewusstes politisches Handeln trägt der Komplexität Rechnung und versucht, verschiedene Interessenslagen zu bedienen. Im 21. Jahrhundert bedeutet das immer auch, dass die Perspektive des gesellschaftlichen Handelns immer auch die Bedürfnisse der Natur und der künftigen Generation mit einschließt – Bereichen, denen sonst nachhaltiger Schaden zugefügt wird. Viele rechtsextreme Politiker vermeiden diese wichtige Sicht, indem sie den Klimawandel leugnen und damit Raubbau an den Ressourcen des Planeten fördern, die auch die Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen einschränken. 

Reifes Erwachsensein

Das reife Erwachsensein besteht nicht in der Negation der Adoleszenz, sondern in einer Integration von Kindheit, Jugend und Erwachsenem. Im Sinn von Georg Wilhelm Friedrich Hegel geht es beim Fortschritt immer um eine Synthese aus These und Antithese, aber nicht um eine reine Negation der Negation. Die Pubertierenden neigen zwar zur Negation von Kindheit und Erwachsenenwelt, aber die Weiterentwicklung führt zur Synthese, zur Verbindung der Kräfte und Energien.

Erwachsene dürfen immer wieder mal kindlich und pubertär sein. Es sind Aspekte der Lebendigkeit, die unterschiedliche kreative Impulse enthalten, die in jedem Erwachsenenleben mitwirken sollten. Das Erwachsensein, das sich nur als Abkehr und Überwindung von Kindheit und Jugendzeit versteht, neigt zur emotionalen Trockenheit und schöpferischen Farblosigkeit. Die Hauptausrichtung der Erwachsenen ist der produktive Umgang mit der Realität und ihren Herausforderungen mit den Mitteln der Rationalität und Pragmatik. „Reine“ Erwachsene sind nur Verwalter der Realität und keine Gestalter. Die Impulse zur Gestaltung kommen aus der Kreativität des Kindes und des Jugendlichen. Sie erfordern die Fähigkeit, die Welt immer wieder ganz anders sehen zu können, als sie ist.  

Die frühkindlichen Wurzeln der Ideologien
Verschwörungstheorien und Normalitätsscham

Donnerstag, 21. Dezember 2023

Über das Leben mit Ungewissheiten

Eine Klientin hat endlich einen Abnehmer für ihr Geschäft, das sie schon lange verkaufen will, weil es ihr viel Anstrengung abverlangt und sie neue Perspektiven für ihr Leben sucht. Der neue Übernehmer ist sehr interessiert, aber die legalen Prozesse brauchen noch Zeit, und erst dann ist der Verkauf sicher. Da immer wieder Interessenten aufgetaucht sind, die dann nach einiger Zeit der Überlegung abgesprungen sind, bleibt sie auch jetzt in einer dauernden Anspannung, solange der Vertrag nicht unterschrieben ist.

Eine andere Klientin sucht schon länger einen Nachmieter für sich und denkt, dass sie niemanden finden wird. Das Problem beschäftigt sie und lässt ihr keine Ruhe. Auch wenn es nicht wirklich dringend ist, braucht sie doch das Geld und fürchtet, dass es viel zu lange dauern wird, bis jemand, der auch passen muss, auftaucht.

Ungewissheit ist ein Zustand, den Menschen schlecht aushalten können. Sie wollen die Zukunft unter Kontrolle haben, um sich in der Gegenwart sicher zu fühlen. Diesem Bedürfnis nach Kontrolle steht die Einsicht gegenüber, dass wir prinzipiell nichts über die Zukunft wissen können. Wir verfügen einzig über Wahrscheinlichkeiten, die uns erlauben, die Zukunft zu planen. Der sprichwörtliche Ziegel fällt vom Dach, während wir gerade vorbeikommen, und alle unsere Planungen sind über den Haufen geworfen. Mit vielem können wir rechnen, eben mit dem, was sich im Wahrscheinlichkeitsspektrum aufhält, aber jenseits dieser Bereiche gibt es immer Räume für Ungewissheiten und Überraschungen. Ungewisses führt zu Unsicherheit, und Unsicherheit löst Angst aus. Diese Angst entsteht schon, wenn unsere Fantasie in die Zukunft schweift und dort eine verschwommene Leerstelle vorfindet. Sobald die Aufmerksamkeit in die Gegenwart zurückkehrt, schwindet diese Angst. 

Aber unsere Gewohnheiten halten oft die Aufmerksamkeit gerade auf dem, was Angst macht, denn da könnte ja eine Gefahr drohen, auf die wir uns einstellen müssen. Lieber mit dem Schlimmsten rechnen, ist die Devise vieler Leute, mit dem Vorteil, dass es meistens doch nicht so arg kommt und damit eine positive Überraschung geschieht, aber mit dem Nachteil, dass die Zukunft mit Sorgen und Ängsten überladen wird und damit die Gegenwart andauernd überschattet und belastet ist. 

Die Schwierigkeiten, mit Ungewissheiten umgehen zu können, stammen oft aus einem mangelhaften Vertrauen ins Leben. Im Moment scheint alles ja ganz gut zu sein, aber es könnte sich schnell verschlechtern. Um die nächste Ecke schon könnte eine Unannehmlichkeit lauern. Also gehe ich lieber vorsichtig um die Ecke, eingestellt auf jedwede unliebsame Überraschung. 

Die Wurzel dafür liegt oft darin, dass die eigenen Eltern eine Unsicherheit in sich getragen haben, die sie auf das Kind übertragen haben. Sie konnten dem neuen Leben nicht vertrauen, das ihnen geschenkt wurde. Ein Kind, das mit dieser Unsicherheit empfangen wird, ist ebenfalls in seinem Lebensvertrauen erschüttert und trägt diese Ängstlichkeit weiter mit sich herum. Sie passt sich an die jeweiligen Umstände an, aber befürchtet leicht, dass leicht etwas Unerwartetes passieren könnte. Es reagiert klammernd und ängstlich, wenn die Mutter weggehen will oder gerät in Panik, wenn sie nicht gleich wieder kommt. Es ist im Kindergarten und in der Schule eher schüchtern und zurückhaltend. Auch im späteren Leben werden oft Gefahren gesehen, wo gar keine sind.

Die Ungewissheiten des Lebens annehmen zu können, weil sie zum Leben gehören, ist eine wichtige Lernaufgabe für jeden Menschen. Sie beinhaltet das Aushalten von Ängsten, verbunden mit der Herausforderung, die eigenen angsterfüllten Fantasien mit der Realität abzugleichen und die Handlungsspielräume auszuloten, die in jeder Situation liegen. Es ist ein kindlicher Anteil, der Ungewissheiten mit Angst verbindet, während der erwachsene Persönlichkeitsteil für die Realitätsprüfung zuständig ist. Kindliche Anteile melden sich oft mit starker emotionaler Ladung, um die ganze Aufmerksamkeit zu bekommen. Erwachsen werden heißt, sich der Macht der Gefühle nicht zu unterwerfen, sondern, ohne sie zu unterdrücken und zu übergehen, den Bezug zur Wirklichkeit aufrechtzuerhalten und aus ihm die innere Sicherheit zu gewinnen.

Das Leben ist ein beständiger Änderungsprozess. Über die Verläufe in der Zukunft können wir nur Vermutungen anstellen. Wir rechnen mit gewissen Wahrscheinlichkeiten, haben aber keine Gewissheit über ihr Eintreten. Wenn wir die Gelassenheit des Erwachsenseins mehr und mehr zulassen können, werden die Ungewissheiten zu Überraschungen und zu Aspekten des Abenteuers, das jedes Leben von Anfang bis Ende ist.

Zum Weiterlesen:
Von der Ungewissheit zur Mystik
Ungewissheit als Chance


Samstag, 16. Dezember 2023

Die individuelle Mobilität und die Klimakrise

Der Motive zum Reisen gibt es viele, und es zählt zu den grundlegenden Sehnsüchten der Menschen, sich von zuhause wegzubewegen und fremde Orte kennenzulernen. Die Reiselust ist eng mit der Abenteuerlust verbunden. Das Reisen führt zur Konfrontation mit anderen Welten, Kulturen und Lebensformen. Es bietet ein Entkommen aus den gewohnten Umständen. Es führt zum Sammeln von Erfahrungen, die mit anderen geteilt werden können. Interessantes aus der Ferne berichten zu können, macht zu einem beliebten Gesellschaftsmenschen. Dazu kommen die Stressmuster aus dem Arbeitsleben, die es schwer machen, die Erholung zuhause zu finden. Die Anforderungen werden nach der Logik des Kapitalismus immer schärfer angezogen, und umso dringender zeigt sich der Wunsch nach einem Kontrastprogramm, das möglichst weit weg gefunden werden soll. 

Die moderne Zeit hat einen enormen Zugewinn an Mobilität erlaubt. Der Erfahrungs- und Lebenshorizont der Menschen in vormodernen Gesellschaften war auf ca. 30 Kilometer im Umkreis beschränkt (die Wegstrecke, die man in einem Tag zu Fuß hin- und retour bewältigen kann). Wer über ein Reitpferd verfügte, kam schon weiter, aber das war das Privileg einer winzigen Minderheit. Und auch diese Reiseform hatte ihre Grenzen. Die grenzenlose Freiheit des Reisens ist also eine Errungenschaft der neuesten Zeit und hat in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg die Massen in den reichsten Ländern erreicht. Im Maß des Wachstums des Wohlstandes in immer mehr Ländern entwickelt sich auch die Reiselust und Reisegier. So leicht und beschwerdefrei wie in unserer Zeit war das Reisen noch nie, die Abenteuer werden immer billiger und uniformer; die Urlaubsdomizilien ähneln sich immer mehr. Mit fortschreitender Vergünstigung des Reisens schwindet der Charakter des Abenteuers kontinuierlich. Die Suche nach der „einzigartigen Erfahrung“ in der Fremde wird deshalb immer aufwändiger.

Reisen und Energie

Die modernen Formen des Reisens beginnen mit den Dampfzügen, betrieben mit Steinkohle aus den Tiefen der Erde. Dann kamen die Autos, und das Erdöl wurde zum flüssigen Gold überall dort, wo es gefördert werden konnte. Später dann wurde mit den Flugreisen die bis dahin ressourcenintensivste Form des individuellen Reisens eingeführt. Heute können sich die Superprivilegierten eine Mondreise leisten, mit der man neue Rekorde im Ressourcenverbrauch und in der klimaschädlichen Gasfreisetzung aufstellen kann. Modernes Reisen ist also ressourcenintensiv und benötigt bislang vor allem fossile Brennstoffe. Reisen zu Pferd oder Segelschiff sind heutzutage nicht mehr als Hobbies von denen, die es sich leisten können. 

Es gab die naiven goldenen Jahren des Schwelgens im grenzenlosen Wachstum, als die Warnungen vor der Begrenztheit der Rohstoffe noch als Spinnereien abgetan werden konnten und der Klimawandel nur einigen Wissenschaftlern aufgefallen war. In diesen Zeiten war das Reisen nur eine Frage des Geldes und nicht auch des Gewissens. Heute wissen wir viel mehr und tun uns immer schwerer damit, dieses Wissen wegzudrücken und so zu tun, als könnten wir weiter unbeschwert tun und lassen, was wir wollen. Wir reden uns gerne ein, dass alles nicht so schlimm ist und dass wir deshalb an unseren Lieblingsgewohnheiten festhalten können. Wir gebärden uns so, als wäre es unser Recht und nicht unser Privileg, in der Art zu reisen, wie wir gerade wollen, solange wir es uns leisten können.

Wir wissen, dass die Ressourcen dieser Erde endlich sind und dass die Verbrennung der fossilen Bodenschätze die Hauptursache für den Klimawandel mit seinen unabsehbaren Folgen ist. Wir wissen, dass wir uns daran beteiligen, wenn wir ressourcenaufwändig reisen. Aber im Zweifelsfall vergessen wir auf unsere moralische Verantwortung und rechtfertigen unsere Reisetätigkeit mit fadenscheinigen Argumenten vor uns selbst und vor anderen. Es gibt keine äußeren Ankläger, die die Verantwortung, die wir der Umwelt und den künftigen Generationen gegenüber haben, einfordern würden. Denn weder die Natur noch zukünftige Erdenbürger gelten als Rechtssubjekte. Unser Rechtsverständnis und unsere Rechtsprechung haben sich noch nicht auf die Gegebenheiten eingestellt, mit denen wir schon seit geraumer Zeit konfrontiert sind. Damit kommen wir ungestraft davon, auch wenn wir anderen Schaden zufügen.

Die moralische Spannung beim Reisen

Es ist deshalb nur ein Anspruch, den wir an uns selber stellen können und müssen, weil wir ja über das Wissen zu den Folgen unseres Handelns verfügen. Jede Reise mit belastender Ökobilanz erzeugt eine moralische Spannung, ob wir das wollen oder nicht, mit der wir umgehen müssen. Die verbreitetste, weil scheinbar einfachste Form, mit der Spannung zurechtzukommen, besteht darin, sie abzuschwächen oder ganz zu leugnen. Aber auch die Bagatellisierung und Verdrängung der Spannung ist belastend erfordert Energie, die oft als Aggression auf jene abgelassen wird, die an die Auswirkungen der Klimakrise erinnern. Es werden diejenigen geprügelt, die einen an das schlechte Gewissen erinnern. Sie sollen zum Schweigen gebracht werden, in der Hoffnung, dass sich dadurch auch das eigene Gewissen beruhigt. Die Überbringer von schlechten Nachrichten hatten nie ein leichtes Los, aber die drastischen Veränderungen des Klimas kümmern sich nicht darum, ob die Menschen Verantwortung übernehmen oder nicht. 

Es gibt trotz der überwältigenden wissenschaftlichen Evidenz leider noch immer viele Leugner des menschengemachten Klimawandels, die zum Teil von Firmen finanziert werden, die an der bisherigen Ressourcenverschwendung profitieren und jede Änderung unterminieren wollen, um ihre Gewinne weiterhin zu sichern. Sie halten sich ein Publikum bei denen, die zwar nichts mit der fossilen Industrie zu tun haben und auch nicht an deren Gewinnen mitnaschen, die aber deren Argumente aufgreifen und verbreiten, um mit ihnen die eigene Gewissensspannung zu beruhigen und über jene richten zu können, die immer wieder an die sich anbahnende Katastrophe erinnern. 

Reisen in der Zukunft

Es ist historisch gesehen ein kleines Zeitfenster, in dem das Reisen zum Massenphänomen wurde und unbeschwert genossen werden konnte. Im Lauf der letzten Jahrzehnte wurde klar, dass wir die Verantwortung für diese Erde gemeinsam schultern und als Folge Einschränkungen im Lebensstil und in den Konsumfreiheiten in Kauf nehmen müssen. Sie betreffen auch das Reisen, das seine Selbstverständlichkeit verliert und als komplexes Problem gesehen werden muss.

Das Reisen wird auch in Zukunft nicht verschwinden, aber es wird seinen reinen Konsumcharakter verlieren müssen und wieder auf die ursprünglichen Bedürfnisse und Motive zurückgreifen, die allesamt auch ohne den Verbrauch von fossilen Brennstoffen erfüllt werden können. Das Erleben des Neuen und das Heraussteigen aus dem Alltag geschieht durch das Wegbewegen von den Gewohnheiten, und dafür, dass es gelingt, ist nicht die Anzahl der Kilometer maßgeblich, die bei Reisen zurückgelegt werden, noch die Geschwindigkeit, mit der die Distanzen überwunden werden.

Zum Weiterlesen:
Die Jagd nach Erfahrung


Sonntag, 3. Dezember 2023

Das Ego in der Meditation

Das Ego mischt sich in alle Themen und Aktivitäten unseres Lebens ein, so natürlich auch ins Meditieren. Es äußert sich schon von Beginn an: Was soll das bringen? Wie mühsam ist es doch, nur dazusitzen und nichts zu tun, so viele Ideen hätte ich, aber jetzt soll ich nur still sitzen bleiben ...  

Aber auch, wenn die ersten Hürden überwunden sind und der Entschluss zum Meditieren zu einer Routine geführt hat, melden sich Widerstände, die unser Ego produziert: Ich komme nicht weiter, es ist nur langweilig, ich bin ja sowieso immer nur in Gedanken etc. Manche resignieren wegen dieser hartnäckigen Widerstände und hören irgendwann mit dem Meditieren auf. Oder sie schaffen es nur, dranzubleiben, wenn sie in einer Gruppe sind. Das Aussteigen aus der Meditationspraxis tut dem Ego einen Gefallen, das sich zufrieden zurücklehnen kann und nicht mehr fürchten muss, die Macht im Inneren zu verlieren. So kann alles beim Alten bleiben, die Muster ändern sich nicht und die Gewohnheiten bestimmen weiterhin das Leben mit seinen vielfältigen Ablenkungen. 

Das Ego und der spirituelle Fortschritt

Das Ego meldet sich aber auch dann, wenn eine Meditation eine herausragend positive Erfahrung war. Hurtig brüstet es sich mit dem Fortschritt einer „gelungenen” Meditation, wenn sie z.B. zu tiefer Entspannung geführt, spezielle innere Räume geöffnet und egofreie Zustände ermöglicht hat. Kaum öffnen wir die Augen, drängt sich das Ego in den Vordergrund und reklamiert den „Erfolg“ für sich: Wie weit bin ich doch schon auf meinem inneren Weg fortgeschritten, das Ziel kann nicht mehr weit sein. Vielleicht präsentiert das Ego auch Vergleiche wie: Früher habe ich noch mit so vielen Widerständen kämpfen müssen, gestern konnte ich mich gar nicht konzentrieren, aber heute habe ich einen tollen Schritt vorwärts geschafft. 

Selbstzufrieden schauen wir auf die Errungenschaft zurück, stolz erzählen wir Freunden davon, um ihre Bewunderung zu ernten. Heimlich reibt sich das Ego seine Hände und freut sich, dass ihm die Meditation nichts anhaben konnte. Denn es sonnt sich in dem Stolz. Plötzlich steht es voll hinter der Meditation, die es als seine Leistung präsentieren kann. Dieses Momentum, wo der Drang nach innerem Vertiefen und das stolzgeprägte Ego zusammenwirken, kann die Meditiererin für sich nutzen und die Konsequenz im Weitermachen stärken. 

Dem Ego geht es zwar nicht um die innere Entwicklung, die tendenziell von seiner Macht wegführt, sondern darum, im sozialen Feld für einen stabilen Stand zu sorgen, an dem die Anerkennung sichergestellt ist. Da es aber erkennt, dass es in seiner Aufgabe, für Sicherheit zu sorgen, durch die Meditation unterstützt wird, verringert es seinen Widerstand dagegen.  

Im Überschwang der „ Fürsorglichkeit” hebt es uns gerne auf ein Podest: Ach, die anderen unbewussten Menschen, die auf den Straßen im Halbschlaf herumlaufen, während ich Bewusstseinsräume kenne und in Sphären unterwegs bin, die sie nicht einmal in den kühnsten Träumen kennenlernen konnten. Sie sind voll in ihren dunklen Prägungen verhaftet und kennen die Freiheit und Glückseligkeit nicht, all die erlesenen Qualitäten, von denen ich schon gekostet habe. 

Wenn allerdings die Meditation nicht „gelungen“ erscheint, wenn zu viele Gedanken oder unangenehme Gefühle den Ablauf bestimmt haben, ist das Ego erst recht in seinem Element. Es sorgt sofort für Kritik und Selbstvorwürfe.  Es vergleicht mit früheren besseren Erfahrungen oder mit anderen Zeitgenossen, die auf diesem Weg viel schneller viel weiter gekommen sind. Statt den Stolz zu füttern, führt es hier zur Scham. 

Stolz und Scham, die Polarität des Egos

Das Ego sucht also in jeder Erfahrung, also auch in jeder meditativen Erfahrung, Anlässe für Stolz, wenn es die Erfahrung positiv bewertet, oder für Scham, wenn es sie negativ eingestuft. Das Ego richtet beständig jede Erfahrung nach seinen gewohnten Maßstäben. Damit verführt es in seine Gefilde, weg von der lebendigen Erfahrung, die in ein lebloses Objekt der Bewertung und Einordnung verwandelt wird. Es überlagert die aktuelle Wirklichkeitswahrnehmung mit seinen konstruierten und rekonstruierten Inhalten aus der Vergangenheit.  

Das Lebenselixier des Egos ist die Angst. Es ist aus Ängsten entstanden und hütet sie im Wunsch, vor ihnen zu bewahren. Es versucht, alle Erfahrungen, die wir machen, mit Angst zu verbinden und aufzuladen. Selbst wenn es sagt: Du brauchst keine Angst zu haben, weil du z.B. so gut meditierst, zeigt es sich als Agent der Ängste: Ich sage dir, wann du Angst haben sollst und wann nicht. Ich mache dich stolz und selbstsicher, aber ich kann dir deine Sicherheit jederzeit wegnehmen. Du verdankst deine Angstfreiheit meiner Umsicht und Wachsamkeit. 

Im Sinn des angstgetriebenen Vermeidens von Ängsten verkauft das Ego jeden Erfolg als eigene Leistung und jeden Misserfolg als persönliches Versagen. Erfolg heißt, dass eine Schonfrist vor der nächsten Angst gewonnen wurde. Misserfolg heißt, dass die Angst vorherrscht. Das demütige Annehmen dessen, was das Leben schenkt, ob es nun angenehm ist oder nicht, ist sein größter Feind oder das, was es am wenigsten verstehen kann. 

Das Erlernen der Distanz von Ego und Wirklichkeit

Meditieren bedeutet, dem Ego und seinen Spielchen zu begegnen und mehr und mehr Erfahrungen darüber zu sammeln, was es alles anstellt. Manchmal wird es ganz ruhig und zieht sich zurück, manchmal taucht es unvermutet hinter jedem Winkel auf: Eine Klientin meinte: „Ich habe mein Ego schon so satt!“ Und gleich drauf: „Sagt mein Ego.“  

Bei jeder Diskrepanz zwischen dem Selbst und der Realität ist das Ego aktiv. Es kritisiert und bejammert das, was gerade ist und sich nicht den eigenen Vorstellungen fügt. Beim Meditieren versuchen wir, anzunehmen, was gerade ist, ohne etwas daran zu bekritteln. Das Ego sperrt sich gegen diese Versuche und will immer wieder seine Agenda durchbringen: Die Realität soll sich gefälligst danach richten, was wir für richtig halten. 

Mit einiger Meditationspraxis und mit fortgeschrittener Fähigkeit im Durchschauen des Egos wird klar, dass es keine guten oder schlechten Meditationen, keine gelungenen oder misslungenen gibt, sondern nur verschiedenartige Erfahrungen. Jede Meditation, auf die wir uns einlassen, ist anders. Manchmal fällt es uns leichter, uns auf den Moment zu konzentrieren, manchmal geht es schwerer. Beide Erfahrungen sind gleich wertvoll. Es geht ja in der Meditation nicht darum, bestimmte Bewusstseinszustände zu erreichen, sondern eine Zeit darauf zu verwenden, die Aufmerksamkeit nur nach innen zu richten und dort alle, was auftaucht, anzunehmen. Es ist also eine Übung im Akzeptieren dessen, was ist.  Sind viele Gedanken da, so ist es das, was zu akzeptieren ist. Sind viele Gefühle da, so werden diese angenommen. Gelingt es leichter, das, was auftaucht, anzunehmen, ist das zu akzeptieren, ebenso, wenn das schwerer fällt. Was immer ist, sollte angenommen werden. Das ist der Königsweg zur Entmachtung des Egos.  

Denn das Ego will nichts in seinem Sosein annehmen, sondern an allem, was auftaucht, seinen Stempel aufdrücken, der es in etwas anderes verändert. Es ist konsequent im Kritisieren dessen, was ist, und reißt deshalb permanent aus dem Fließen von Erfahrung zu Erfahrung: Es kommt eine Erfahrung und dann eine Unterbrechung, ein Riss, in dem sich das Ego breit macht. 

Die Haltung beim Meditieren ist die gelassene Beobachtung, das Seinlassen dessen, was ist. Es kann der Atem beobachtet werden, aber auch Körperempfindungen, Energiephänomene oder die Atmosphäre in der Umgebung. Dabei ist immer auch und vor allem das eigene Ego Gegenstand des Beobachtens, des Wahrnehmens und Erkennens. Denn es bewirkt, ob die Aufmerksamkeit auf dem aktuellen Moment sein kann, auf der Erfahrung, die ins Bewusstsein tritt, oder auf Phänomenen, die vom Ego präsentiert werden, wie Gedanken und Bilder. Je mehr es gelingt, das Treiben des Egos zu identifizieren und dann die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment zurücklenken, desto mehr bleiben wir mit der aktuellen Wirklichkeit verbunden und nicht mit jener synthetischen, die das Ego aufdrängt. Denn was aus dem Ego kommt, ist immer ein Stück Wirklichkeit fast ununterscheidbar mit einem Stück Fantasie kombiniert. 

Meditation ist demnach die Übung, der Wirklichkeit, die im momentanen Erleben zu finden ist, immer näher zu kommen, und dazu ist das Erlernen der Unterscheidung des Erlebens und der Ego-Produktionen notwendig.  Fast immer dominiert das Ego die Erfahrung, vor allem in unserem Alltag; manchmal besteht eine Distanz zwischen ihm und der Instanz, die es beobachtet, und in der Meditation bemühen wir uns methodisch, diese Distanz zu stärken. 

Zum Weiterlesen:
Störungen in der Meditation
Selbst- und Außenbeziehung in Therapie und Meditation
Meditation und Langeweile

Mittwoch, 22. November 2023

Scham und Krankheit

Scham spielt bei Krankheiten eine große Rolle. Krankheiten bringen uns in besorgniserregende Zustände und reißen uns aus der Alltagsroutine heraus. Neben den Beschwernissen, die mit den Symptomen verbunden sind, z.B. Fieber und Schmerzen, kommen auch Lebensumstellungen und psychische Belastungen. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf den eigenen Zustand, während die Mitmenschen als Helfer gebraucht werden. Es ist meist nicht möglich, mehr zu geben außer Dankbarkeit, und es ist notwendig, im Zustand der Hilflosigkeit die Unterstützung anzunehmen. Das ist für Menschen, die von der Bedürfnisscham geprägt sind, eine unangenehme Herausforderung. Sie fühlen sich schnell wertlos, wenn sie nicht für sich selber sorgen können und wollen möglichst alles verhindern, um in sie hineingezwungen zu werden. Oft leugnen und verharmlosen sie ihre Erkrankungen, bis es so schlimm ist, dass sie nicht mehr alleine damit zurechtkommen. Wenn sie einmal in die bedürftige Rolle geraten sind, wollen sie wieder herauskommen, so rasch es nur geht.

Im kranken Zustand ist die eigene Leistungsfähigkeit reduziert oder nicht mehr vorhanden. Menschen, die sich über Arbeit und Leistung definieren, reagieren mit Schamgefühlen, sobald sie aus dem Leistungsgefüge herausfallen. Sie leiden darunter, dass sie die Erwartungen der anderen nicht erfüllen und fühlen sich unwert und nutzlos. Der Anspruch an sich selbst, durch Leistung die Zugehörigkeit zur Gesellschaft zu verdienen, kann nicht eingelöst werden – eine Schande.

Die individuellen Schamreaktionen unterscheiden sich nach Krankheitsart und sind von den vorherrschenden gesellschaftlichen Bewertungen beeinflusst. Es gibt Krankheiten, die als “normal” gelten, weil sie fast alle zu bestimmten Zeiten bekommen, wie Erkältungserkrankungen und grippale Infekte. Bei ihnen ist die Schambelastung gering. Dauern Krankheiten länger als gemeinhin angenommen wird, dann steigen die Schamgefühle. Jemand, der eine Covid-Erkrankung mit geringen Symptomen hatte, wird sich weniger schämen als jemand, der an Long-Covid leidet.

Niemand will kränker oder krankheitsanfälliger als alle anderen sein; jeder mit solchen Dispositionen fühlt sich schnell im Eck der Scham gefangen. Manche brüsten sich mit ihrem scheinbar unüberwindlichen Immunsystem, leiden dann aber doppelt, wenn sie doch eine schlimme Infektion erwischt. Neben der Krankheit müssen sie unter Umständen mit der Häme ihrer Mitmenschen leben und auch schamvoll von ihrer Selbstüberschätzung Abschied nehmen.

Es gibt Krankheiten, die mit sehr viel Angst verbunden sind, z.B. Krebs. Krebsdiagnosen lösen meist starken Stress und Überlebensängste aus. Obwohl es bei vielen Krebsarten inzwischen gute Heilungsaussichten gibt, ist das Wort Krebs nach wie vor von vielen Ängsten besetzt. Wo die Angst herrscht, ist die Scham nicht weit. Es fällt nicht leicht, über diese Krankheit zu reden, denn es ist ein schambesetztes Tabuthema, gerade weil es um eine so gefürchtete Krankheit geht. Das Stigma der Todesdrohung ist schon im Wort enthalten. Krebsdiagnosen konfrontieren mit der Endlichkeit, ob wir es wollen oder nicht. 

Es gibt Krankheiten, die mit einem starken Verlust an Selbstkontrolle verbunden sind, z.B. Parkinson, Demenz oder Inkontinenz. Die Scham steht gewissermaßen im Zentrum dieser Störungen. Denn sie werden von einem selber und von den Mitmenschen erkannt, und die Betroffenen merken, dass den anderen die Störung unangenehm auffällt. Sie fühlen sich in ihrer Inkompetenz bloßgestellt. Sie sind unfähig, die Symptome willentlich abzustellen, die Hilflosigkeit und der Kontrollverlust sind auffällig und peinlich. Auf den Körper ist kein Verlass mehr, er verweigert den Gehorsam und tut, was er will. Die Muskeln und das Gehirn sind mächtiger als das Selbst, das beschämt und ohnmächtig daneben steht. Es ist eine Hilflosigkeit sich selbst gegenüber, die neben dem Angewiesensein auf Hilfe die Schambelastung bewirkt. Die aktuelle Unfähigkeit wird mit der früheren Fähigkeit verglichen, und der Vergleich endet immer in einer Beschämung. Was doch früher alles so selbstverständlich gut gelaufen ist und funktioniert hat, geht jetzt überhaupt nicht mehr.

Schwere und chronische Krankheiten erfordern eine Änderung der eigenen Identität, die in ihrer Fragilität, und manchmal sogar in ihrer Endlichkeit anerkannt werden muss. Die Identität als gesunde Person muss ersetzt werden durch die Identität einer kranken oder behinderten Person. Es sind wiederum Schamgefühle, die die Anpassung des eigenen Selbstempfindens an die Krankheitssituation erschweren. Wie soll ich weiterleben, wenn ich bisher ein funktionstüchtiges Mitglied der Gesellschaft war und mich über meine Leistungsfähigkeit und zuverlässige Pflichterfüllung definiert habe? Bin ich noch wer, wenn ich hauptsächlich ein kranker Mensch bin? 

Chronisch kranken Menschen bleibt nichts anderes übrig, als sich in ihr missliches Schicksal zu fügen. Häufig gehen sie durch verschiedene Gefühlsstadien. Von Frustration, Ärger und Angst über Verzweiflung und Resignation gelangen sie manchmal zu einer gleichmütigen Annahme der Lage und finden vielleicht sogar zurück zum Humor. Wenn dieser Schritt gelingt, steht ein wirksames Mittel gegen die Scham zur Verfügung, das das schwere Los erleichtert.

Ein anderes Beispiel für die Aktivierung von Scham bei Krankheiten bieten äußerlich sichtbare Krankheiten, wie Hautkrankheiten. Sie können bei den Betroffenen unangenehme Gefühle auslösen, von den anderen scheel oder abfällig betrachtet zu werden und sich wie ein Außenseiter zu fühlen. Mit solchen Krankheiten sind fast automatisch Ekelgefühle verbunden, die das Gefühl des Ausgegrenztseins verstärken. Zur Krankheitsscham kommt noch eine Körperscham, eine abwertende Reaktion auf den eigenen Körper. In früheren Zeiten wurden bekanntlich die Aussätzigen wegen der Ansteckungsgefahr streng abgesondert und auch sozial stigmatisiert. Deshalb melden sich auch heute noch uralte kollektive Ängste, an etwas zu leiden, das zu sozialer Ausgrenzung führt. 

Psychisches Leiden

Jede Krankheit verändert den Körper und das Selbsterleben. Es gehen Möglichkeiten der Lebensgestaltung verloren. Die reduzierte Leistungsfähigkeit ist häufig von Schamgefühlen begleitet. Besonders psychische Leiden sind schambesetzt. Sie gelten als ein persönlicher Makel, den die betroffene Person zu verantworten hat. Körperliche Leiden gelten bei vielen als Schicksal, während psychisches Leid häufig als selbstverursacht angesehen wird. Psychisch Kranke wären unfähig oder unwillig, „sich am Riemen zu reißen“. Sie seien nicht von einem unwägbaren Schicksal betroffen, sondern von einem Mangel an Willenskraft, für den sie selber verantwortlich sind, so eine noch immer wirksame Auffassung. Deshalb tun sich viele Menschen schwer, über ihre psychische Krankheit zu reden, weil sie sich dafür schämen und weil sie befürchten, dafür beschämt zu werden.

Die Scham, einem psychischen Leiden ausgesetzt zu sein, wird durch die Übernahme solcher Vorurteile zum Teil der Krankheit. Die Unfähigkeit, Verhaltensweisen oder Stimmungen in den Griff zu bekommen, was anderen scheinbar so leicht fällt, verstärkt die Scham und verschlimmert die Krankheit. Die Hilflosigkeit, trotz besseren Wissens und trotz Einsicht die eigene Innenwelt nicht zu beherrschen, sondern von ihr beherrscht zu werden, legt die nächste Schicht der Scham über das jeweilige Symptom und macht es noch mächtiger. 

Der Ausdruck „Geisteskrankheit“ trägt die Scham schon begrifflich in sich. Es ist nicht die Rede von Störungen des Gehirnstoffwechsels oder der hormonellen Abläufe, die die psychischen Störungen bewirken, sondern von einer Erkrankung des Geistes. Da gemeinhin unter dem Geist das Höchste und Wertvollste im Menschen verstanden wird, bedeutet eine Krankheit dieser Instanz die Gefährdung und Einschränkung dessen, was den Menschen zum Menschen macht. Die Bezeichnung „geisteskrank“ enthält einen Würdeverlust, und die Integrität der Person wird in Frage gestellt. Niemand würde annehmen, dass jemand, der an einer Blinddarmentzündung erkrankt, deshalb in seiner Würde geschmälert wäre; ist aber jemand in einem „geistig“ abnormen Zustand, so wird er von vielen nur mehr in einem eingeschränkten Sinn als Mensch geachtet. Das ist auch ein Grund, warum sich die Nationalsozialisten angemaßt haben, Menschen mit psychischen Störungen als „lebensunwertes Leben“ zu brandmarken und sie deshalb in den Tod zu schicken. 

Psychologisiertes Krankwerden

Ein moderner Zusammenhang zwischen Scham und Krankheit eröffnet sich durch die Psychologisierung von Krankheiten, also durch die Zuschreibungen von psychischen Ursachen und Charakterschwächen für jede Form von Leiden, körperlichen wie seelischen. Es gibt alle möglichen populären Ratgeber, die jede erdenkliche Krankheit mit bestimmten psychologischen Schwächen in Verbindung bringen. Sie wollen den Menschen helfen, die seelischen Hintergründe ihrer Krankheiten zu verstehen und verbreiten den Glauben, dass durch die Auflösung der psychischen Konflikte die Krankheit geheilt werden kann. Das Wissen um die Psychosomatik, also um die Zusammenhänge zwischen körperlichen und seelischen Störungen, ist in die Alltagspsychologie eingedrungen und hat dort nicht nur Gutes bewirkt, sondern auch in mancherlei Hinsicht zu mehr Schambelastung geführt. Denn die Auffassung von Krankheit als Los wurde ergänzt oder ersetzt durch die Eigenverantwortung für die Gesundheit und deren Versagen im Fall von Krankheit. Wer krank ist, hat versagt, so die Kurzformel. 

Im Zug dieser Entwicklung hat sich das Gewicht vom Schicksal auf die Verantwortung verschoben: Gesundheit ist keine Gnade und Krankheit kein Schicksal, gesund sind wir als Ergebnis von Bemühungen und Einsatz; wer krank ist, hat in dieser Hinsicht versagt und trägt dafür die Verantwortung. Er kann sich nicht mehr ausreden – auf einen ungnädigen Gott, auf die Gene oder die stressigen Lebensumstände. Eine Flut von Ratgebern füllt die Buchläden, die Zeitschriften bersten von unterschiedlichen Gesundheitstipps, der Markt an alternativen Heilmethoden boomt. So viele Möglichkeiten gibt es, für die Gesundheit vorzusorgen, und wer dennoch krank wird, muss etwas falsch gemacht haben und muss mit dem Vorwurf rechnen, sich nicht genügend um sich selbst gekümmert zu haben. Er entkommt der Scham nicht, die mit der mangelnden Verantwortungsübernahme verbunden ist.

Häufig versteckt sich hinter den scheinbar fürsorglichen psychologischen Erklärungen für die Krankheitsursachen die Angst vor der Ungewissheit des Schicksals, das jeden einmal treffen kann. Wenn eine Erklärung für das Unerklärliche gefunden wird, mindert das die Angst und holt ein Stück Macht über das Schicksal zurück. Zugleich erspart das Psychologisieren die Empathie mit dem Leiden und das Eingehen auf die leidende Person. Sie wird zum Fall für eine Diagnose.


Freitag, 3. November 2023

Die zweigeteilte Welt und der Nahostkonflikt

Die unterschiedlichen, quer durch die Welt und die Gesellschaften gehenden Parteinahmen in der aktuellen Phase des Israel-Palästina-Konflikts spiegeln die Teilung der Menschheit in zwei Welten wieder. In der einen Welt leben die Menschen in ziemlichem Wohlstand und Luxus, in der anderen Welt am Subsistenzminimum, in einer Spannbreite zwischen Elend und Hunger einerseits und prekärem Wohlstand andererseits. Die eine Welt, geografisch ungenau, der Westen, die andere, ebenso ungenau, der Süden. Diese Ungenauigkeit stammt aus einer nach wie vor dominanten eurozentrischen Sichtweise, so, als gäbe es einen archimedischen Punkt, von dem aus die Sicht auf die Welt erfolgt und von dem aus die Regionen eingeteilt werden, und dieser Angelpunkt befindet sich in der Mitte des angehäuften materiellen Reichtums.

In dem Konflikt identifizieren sich die einen mit der Wohlstandsnation Israel, der sie ihre Solidarität gegen Überfälle und Terror zusichern. Sie geben ihre Hilfe, damit die Grenzen der Wohlstandsoasen an der vordersten Front gegen Grenzüberschreitungen verteidigt werden. Aggressionen von außen müssen mit massiver Gegenaggressivität bekämpft werden, damit sie nie wieder zu einer Gefährdung der Privilegien, die sich im Lauf der Zeit angehäuft haben, werden können.

Die anderen fühlen sich solidarisch mit den Armen und Unterdrückten, weil sie ihre eigene missliche Lage darin wiedererkennen und weil ihre Wut auf die Reichen und Satten ein Objekt bekommt, an dem sie sich entladen kann. Sie soll die Ohnmacht und Aussichtslosigkeit kompensieren, die die Lebenssituation auf dieser Seite der Welt prägt. 

Auch in den wohlhabenden Ländern gibt es Menschen, die sich in Ohnmachtspositionen befinden, und deshalb kommt es auch dort zu aggressiven Demonstrationen gegen Israel. Das Land wird gewissermaßen als Repräsentant der Ungleichverteilung von Chancen und Ressourcen angesehen.

Außerdem wird Israel in vielen Ländern des armen Weltteils als Apartheid-Regime angesehen, das wie eine Kolonialmacht die autochthone Bevölkerung unterdrückt, deklassiert und verachtet. Aus dieser Sicht erscheint die Hamas wie eine Befreiungsbewegung gegen eine ungerechtfertigte Herrschaft. Das Konzept des Genozids ergibt sich aus dieser Betrachtungsweise, unterstützt von der Rhetorik radikaler Siedlerparteien in Israel, die eine Ausrottung der Araber fordern – und die jetzt in der israelischen Regierung sitzen. Andererseits enthält das Programm der Hamas die Auslöschung des jüdischen Staates.

Die Nebenrolle des Antisemitismus

Der Antisemitismus spielt in dieser Perspektive nur eine Nebenrolle, allerdings eine ziemlich einflussreiche, weil diese perfide Ideologie zusätzlich Emotionen mobilisiert und mit Hass auflädt. Ebenso aber lenkt die Antisemitismuskritik von der globalen Bruchlinie ab, durch die sich die Lebenschancen der Menschen grundlegend unterscheiden. Wenn die Kritik oder das Entsetzen über die israelischen Aggressions- und Zerstörungsaktionen schon als antisemitisch bezeichnet werden, wird der Grundkonflikt zwischen arm und reich ausgeblendet und damit gerechtfertigt. Diese Haltung ist genauso ideologiegetränkt wie die Einmischung des Antisemitismus in Solidaritätskundgebungen mit den palästinensischen Opfern.

Für die einen wirkt der Angriff auf die Wohlstandsinseln traumatisierend – eine Rave-Party wird brutal überfallen –, die anderen schockieren die Bilder von zerbombten Häusern und Babyleichen in den Elendsvierteln von Gaza. Die Angst auf der einen Seite, dass das Böse und Unmenschliche von außen in die Sicherheitszonen eindringen kann, kontrastiert mit der Angst auf der anderen Seite, selber Opfer der Übermacht einer Unterdrückungsmaschinerie zu werden oder für immer bleiben zu müssen.

Die zweigeteilte Welt

Es handelt sich um eine reale Zweiteilung der Welt, die jetzt überdeutlich als Spaltung sichtbar wird. Es gibt allerdings keine messerscharfe Trennlinie zwischen Armut und Reichtum, sondern viele Übergangsfelder. Maßgeblich sind die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen, aus denen die jeweilige Mentalität entsteht (Subjektive Befindlichkeiten, die von kollektiven Bewusstseinsfeldern bestimmt sind). Armut ist also nicht nur die Folge von niedrigem Einkommen, sondern auch von unsicheren und zerbrechlichen Strukturen ringsum, oft verbunden mit repressiven politischen Systemen.

Das Skandalon ist die massive soziale Ungerechtigkeit in der Menschheit. Es ist eine Trennlinie, die irgendwo zwischen Tel Aviv und Gaza City verläuft. Es ist ein Gebiet, in dem die zwei Welten hart aneinander aufeinander prallen, der Reichtum auf der israelischen Seite und die Armut auf der palästinensischen. Jeder Gewaltausbruch seitens der Palästinenser enthält auch einen Schrei nach mehr ökonomischer und sozialer Gerechtigkeit.

Es gibt verschiedene Narrative, die das Wohlstandsgefälle rechtfertigen. Die meisten kommen aus der liberalen und neoliberalen Richtung und gehen von der (empirisch nicht haltbaren) zynischen Annahme aus, dass Reichtum durch Leistung geschaffen wird und Armut durch zu wenig Leistung entsteht. Wird dieses Konzept auf den Nahostkrieg angelegt, so werden die Araber als rückständig und arbeitsscheu beschrieben, die sich deshalb ihr Los selber zuzuschreiben hätten.  Solche Stereotypisierungen sind immer ideologisch aufgeladen und weisen das gleiche Strickmuster auf wie die antisemitistischen Vorurteile. Sie dienen nicht nur der Entlastung von der kollektiven Scham als Folge der skandalösen Armut, sondern auch der Rechtfertigung von Aggressivität und Zerstörungswut, die sich bei Gelegenheit destruktiv entlädt, z.B. bei gewaltsamen Übergriffen israelischer Siedler auf Palästinenser. 

Die Logik der Gewalt

Die Logik der Gewalt ist aus archaischen menschlichen Antrieben, die aus massiven Ängsten stammen, zu verstehen: Zahn um Zahn, Auge um Auge. Wenn ich keine Rache übe, stehe ich als Schwächling da und das Böse wird nur noch stärker. Vielmehr muss meine Rache massiver und zerstörerischer ausfallen, damit das Böse nie wieder auftaucht.

Diese Logik und damit ihre Akteure zu verstehen heißt nicht, sie gutzuheißen, im Gegenteil: Das Verständnis zeigt auf, dass die Eskalationsspirale nur durchbrochen werden kann, wenn eine Seite aussteigt – und das kann in diesem Fall nur die mächtigere Partei tun. Denn die schwächere ist immer wieder aus der Gewaltlogik ausgestiegen und hat versucht, gewaltfreie Wege zu gehen, z.B. beim „Marsch für die Rückkehr“ 2018, und hatte hunderte Tote und tausende Verletzte als Folge der israelischen Gewalt zu beklagen.

Das Verständnis für die Logik der Gewalt befreit vom Impuls der Parteinahme. Neben der Parteilichkeit für die Opfer brauchen wir die Parteilichkeit für den Ausstieg aus der Gewalteskalation und aus den Rachezyklen. Als Menschheit sollten wir im 21. Jahrhundert schon weiter sein, und es ist kollektiv beschämend, dass wir es nicht sind.

Zum Weiterlesen:
Über die Notwendigkeit und die Grenzen der Parteinahme
Parteilichkeit verstärkt die Gewalt


Dienstag, 31. Oktober 2023

Über die Notwendigkeit und die Grenzen der Parteinahme

Wie im letzten Blogartikel beschrieben, sollte in einem Konfliktfall die Parteilichkeit mit den Opfern die oberste Leitlinie sein. Es gibt Konflikte, in denen die Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern eindeutig ist, z.B. zwischen Eltern und kleinen Kindern, und solche, in denen die Rollen von vornherein uneindeutig verteilt sind und von Situation zu Situation unterschieden werden muss, was gerade gilt, z.B. zwischen Geschwistern.  Wenn in einer patriarchalen Struktur Konflikte zwischen Männern und Frauen ausbrechen, sind die Männer die Täter, weil sie durch die Struktur eine mächtigere Position innehaben, und die Frauen Opfer. Wo sich die patriarchalen Rollen auflösen, verschwimmen die Grenzen zwischen Opfern und Tätern, die Rollen werden austauschbar.

Übertragen auf Konflikte in Organisationen: Bei hierarchischen Strukturen sind die Täter in der Regel oben auf der Ordnungsleiter und die Opfer befinden sich weiter unten. Bei Konflikten zwischen Mitarbeitern auf der gleichen Hierarchieebene gibt es wiederum keine klare Unterscheidung. Bei zwischenstaatlichen Konflikten ist der Staat, der einen anderen angreift, der Täter. Beispiele für solche zwischenstaatliche Angriffskriege sind: Der Angriff Österreich-Ungarns auf Serbien 1914, der Angriff Hitler-Deutschlands auf Polen 1939 und auf die Sowjetunion 1941, der Angriff der USA auf den Irak 2003 und der Angriff Russlands auf die Ukraine 2022.

Bürgerkriege in einem Staat sind meist weniger eindeutig, während Aufstände und Befreiungskonflikte klare Machtverteilungen aufweisen: Es wehren sich die Opfer von Unterdrückung gegen die vorherrschende Macht.

Es gilt also die Regel: Wo die Macht ungleich verteilt ist, werden im Konfliktfall diejenigen mit mehr Macht zu den Tätern und diejenigen mit weniger zu den Opfern. In solchen Fällen ist die Parteinahme mit den Opfern angebracht und wichtig, um ungerechte Strukturen in gerechtere überzuführen.

Jede Parteinahme in einem Konflikt fördert das Gewaltpotenzial, wie im letzten Blogbeitrag argumentiert wurde. Wenn die Lage eindeutig ist, wenn also klar ist, wer der Täter und wer das Opfer ist, gilt die Parteilichkeit den Opfern und steigert damit das Gewaltpotenzial, aber auf der Seite der Schwächeren. Die Gewalt, die durch die Parteinahme mobilisiert wird, kommt den Opfern zugute. Als die Schwächeren brauchen sie Unterstützung und Beistand. Die Täter, die Gewalt ausüben, müssen durch Gegengewalt in die Schranken gewiesen werden; freiwillig werden sie ihre Machtpositionen nicht hergeben. Die Parteinahme zielt auf einen Ausgleich der Kräfte und auf die Verringerung ungleicher Machtverhältnisse, die immer zur Benachteiligung der Schwächeren führt. Gerechtere Formen der Machtverteilung sind zugleich menschlicher, weil sie dem menschlichen Bedürfnis nach Fairness entsprechen und einer größeren Zahl von Menschen mehr Möglichkeiten verschaffen.

Der Nahostkonflikt und die Parteilichkeit

Der schwere Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern liefert ein Beispiel für die Austauschbarkeit der Rollen. In der langen, mindestens hundert Jahre dauernden Konfliktgeschichte sind beide Seiten unzählige Male zu Opfern und Tätern geworden. Gewaltakte folgen auf Gewaltakte, und es gibt keinen Maßstab, nach dem eine Eindeutigkeit in der Rollenverteilung gefunden werden könnte. Es ist nicht auszumachen, wer gut und wer böse ist,  und deshalb ist jede Parteilichkeit willkürlich und anmaßend und pumpt mehr Gewalt in eine Seite des Konflikts. In der jüngsten Entwicklung ist die palästinensische Hamas zunächst zum Täter geworden, und die Parteinahme gilt den Opfer dieser Aggressionen. In der Logik dieses Konflikts haben sich dann die Rollen vertauscht, und die Palästinenser wurden zu den Opfern der israelischen Aggressionen, die Anteilnahme und Unterstützung verdienen.

Viele Solidarisierungen mit einer Konfliktpartei sind von tiefgehenden und oft unbewussten historischen und psychologischen Wurzeln gesteuert. In den Konflikt untrennbar hineinverwoben ist aus europäischer Sicht die unheilvolle Geschichte des Antisemitismus bis zum Holocaust. Die systematische ideologische Judenfeindschaft ist eine Erfindung Europas, zunächst als religiöser Antisemitismus im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, und ab dem 19. Jahrhundert der rassische Antisemitismus, der den Juden rassische Merkmale andichtete, die sie zu bösen Menschen machten.

Ausgrenzungen und Abwertungen von Teilen der eigenen Gesellschaft lösen immer starke Scham- und Schuldgefühle aus, erst recht, wenn sie zu gewaltsamen Ausbrüchen bis zur physischen Vernichtung führen. In den Träger- und Täterländern der nationalsozialistischen Judenvernichtung, Deutschland und Österreich, besteht deshalb eine massive Scham- und Schuldbelastung, die mehr oder weniger erfolgreich in den letzten Jahrzehnten aufgearbeitet wurde, aber immer noch einen unparteilichen Blick auf die Konfliktlage erschwert. Für die Geschichte Österreichs ist es übrigens bezeichnend, dass einzig der Jude Bruno Kreisky als Bundeskanzler in den siebziger Jahren eine diplomatische Brücke zu den Palästinensern schlagen konnte. Von dort aus öffnete sich in weiterer Folge der Weg zu den hoffnungsvollen Projekten für eine Zwei-Staaten-Lösung in Palästina zwanzig Jahre später, denen aber leider kein Erfolg beschieden war.

Gibt es Aussichten?

Was ist die Perspektive? Erst wenn die Parteilichkeit mit den Opfern globale Ausmaße annimmt, die überwiegenden Mehrheiten in den Konfliktgebieten bildet und die Parteilichkeiten für eine der Konfliktseiten übertrifft und in den Schatten stellt, besteht die Hoffnung, die Konfliktparteien zu einem Einlenken zu bringen. Es ist die überwältigende Macht der Menschlichkeit, die es verbietet, dass es in irgendeiner Form zu Menschenrechtsverletzungen und Opfern an Leib und Gesundheit kommt. Sie muss jede Form der Gewaltanwendung wirksam und nachhaltig unterbinden. Es sind die Kräfte des Friedens, die über die Parteinahme mit den Opfern die Fahne der Menschlichkeit so lange hochhalten, bis genügend Menschen verstanden haben, dass es sinnlos ist, weitere Menschenleben zu opfern und dass der Konflikt so beigelegt wird, dass beide Seiten einen Gewinn daraus ziehen.

Zum Weiterlesen:
Parteilichkeit verstärkt die Gewalt

Freitag, 20. Oktober 2023

Parteilichkeit verstärkt die Gewalt

Der aktuelle Nahostkonflikt berührt und verunsichert viele Menschen und bringt viele Fragen in den Vordergrund, die eigentlich schon lange unbeantwortet sind, aber immer wieder in den Hintergrund treten und schnell in Vergessenheit geraten. Bevor ich auf die Frage der Parteilichkeit angesichts der gegenwärtigen Situation eingehe, versuche ich darzustellen, worin die Grundregeln im menschlichen Zusammensein bei Gewaltereignissen bestehen. Unter Grundregeln verstehe ich Übereinkünfte, die für das Weiterbestehen der Gruppe oder Gemeinschaft notwendig sind, wenn es zu Regelüberschreitungen durch Gewalt geht. Diese Regeln bestehen seit Urzeiten und gelten für alle Formen von menschlichen Sozialformen. Sie hängen mit der sozialen Verfasstheit des menschlichen Seins zusammen.

Grundregeln im Umgang mit Gewalt

Wenn Mitglieder einer Gruppe Gewalttaten begehen, reagieren die anderen mit Entsetzen und Betroffenheit. Sie fühlen mit den Opfern mit und unterstützen sie. Sie verurteilen die Taten und fordern Konsequenzen für die Täter, denn Verbrechen sollen nicht ungesühnt bleiben. Die menschliche Gemeinschaft muss auch nach Akten der Barbarei weiterbestehen, und das geht nur, wenn die Taten verurteilt und die Täter bestraft werden. Die Opfer verdienen Solidarität, Trost und Wiedergutmachung. 

Bei jeder Bestrafung muss klar zwischen der Person des Täters und der Tat unterschieden werden. Es darf kein Täter entmenschlicht werden, auch wenn seine Tat unmenschlich war. Denn eine Gemeinschaft, die einem ihrer Mitglieder das Menschsein abspricht, wird selber unmenschlich. Entmenschlichung erzeugt Verunsicherung und Angst bei allen Mitgliedern, und das soziale Zusammengehörigkeitsgefühl wird brüchig. Die Zugehörigkeit muss bedingungslos garantiert bleiben, selbst wenn jemand grob gegen alle Regeln verstößt. Sonst drohen der Gemeinschaft Zerfall und Anarchie. Gemeinschaftliche Gewalt ist nur zur Eindämmung von individueller Gewalt erlaubt. Z.B. darf die Polizei nur dann Gewalt ausüben, um Gewalttaten zu verhindern oder zu beenden. Eine willkürliche Gewaltausübung durch Organe der Gemeinschaft ist noch schlimmer als individuelle Gewalttaten, denn die Folgen sind Angst und Gegengewalt und die Destabilisierung der Gemeinschaft. Gewalt, die eine Gemeinschaft gegen ihre Mitglieder anwendet, muss regelkonform bleiben, sonst dient sie der Unterdrückung.

Parteilichkeit mit den Opfern

Soweit ein paar Überlegungen zum generellen Umgang mit Gewalt und ein Versuch, die Bedingungen zu beschreiben, wie menschliche Gemeinschaften mit Gewalt umgehen können, ohne die Grundlagen ihrer Gemeinschaft zu untergraben. Die aktuelle Gewalteskalation zwischen Palästinensern und Israel enthält natürlich vielfältige und komplexe Komponenten aus der Geschichte und aus den internationalen Zusammenhängen, die hier nicht erörtert werden. Ich möchte darauf eingehen, wie wir als unbeteiligt Beteiligte mit der emotionalen Belastung umgehen können, die mit jeder Gewaltausübung, die in der Menschenfamilie auftaucht, verbunden ist. Wir sind nach dem persischen Dichter Saadi Shirazi wie ein Körper, in dem jedes Glied den Schmerz spürt, wenn ein anderes Glied leidet.

Die nobelste Haltung, die wir entsprechend dieser Einsicht einnehmen können, besteht im Mitgefühl mit jedem Leid, das durch die Gewalt entsteht, ohne jeden Unterschied und ohne jede Bewertung. Die Parteilichkeit gilt den Opfern, auf welcher Seite sie auch entstehen. Zu dieser Haltung gehört die Forderung nach ausgleichender Gerechtigkeit, die die Ahndung der Gewalttaten und die Wiedergutmachung für die Gewaltopfer beinhaltet. Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden, und damit setzt die Menschengemeinschaft ein klares Signal, dass Gewalt nicht geduldet wird, sondern dass andere, gewaltfreie Formen der Konfliktbewältigung gesucht werden müssen.

Das Freund-Feind-Schema

In Konfliktfällen, bei denen wir nicht unmittelbar beteiligt sind, gibt es immer die Versuchung, eine Seite sympathischer oder rechtschaffener zu empfinden als die andere, woraus sich der Impuls ergibt, für diese Seite Partei zu ergreifen. Wer sich in einem Konflikt auf eine Seite schlägt, sollte sich allerdings bewusst sein, dass er oder sie mit diesem Schritt eine friedliche Lösung des Konflikts behindert und erschwert. Denn durch die Parteinahme wird die eigene Gewalttendenz verstärkt. Sie besteht darin, dass eine Seite als Freund und die andere als Feind gesehen wird. Der Freund ist der Gute, der Feind der Böse. Jemanden als Feind zu sehen, rechtfertigt Aggressionen, denn das Böse muss bekämpft werden. Die Gewaltbereitschaft im Inneren wird auf diese Weise genährt und gerechtfertigt. Anhänger einer Seite fordern Aggressionen und Zerstörungen, die der anderen Seite zugefügt werden sollten, und sind zufrieden, wenn diese erfolgen. 

Das verinnerlichte Feindbild billigt und unterstützt das stellvertretende Ausüben von Rache, nach dem Motto: Recht so, den Feinden muss Leid zugefügt werden, sie sind so böse. Gewalt muss mit Gewalt beantwortet werden. Was die Bösen angerichtet haben, muss solche Konsequenzen haben, dass sie niemals wieder auf die Idee kommen, Böses zu tun. Der nächste Schritt wäre, aktiv auf einer Seite mitzuwirken und so die eigene Gewaltbereitschaft mit dem Gefühl der Rechtschaffenheit ausleben zu können.

Das Freund-Feind-Denken entwirft eine binäre Struktur. Jedes binäre Schema enthält eine Polarität und erzeugt damit eine Polarisierung, die eine angstgeladene Spannung enthält. Solche Spannungen sind mit einer Gewaltbereitschaft verbunden, die jederzeit explodieren kann. Weltpolitische Konflikte sind immer Auswuchs aus historischen Verwicklungen und ungelösten Spannungen, die sich dann immer wieder entladen, solange es zu keiner nachhaltigen Friedenslösung kommt. Die Frage, wer den Konflikt begonnen hat und damit die Hauptschuld trägt, ist in solchen Fällen sinnlos. Deshalb dient ein Freund-Feind-Schema, das über die komplizierte Situation gebreitet wird, nur den eigenen unbewussten Rache- und Hassimpulsen. Schwarz-Weiß-Muster sind bequemer und verhelfen zu einer einfachen Orientierung, während die Auseinandersetzung mit der Komplexität immer wieder zu Ungewissheiten und Uneindeutigkeiten führt. Wir wollen ein klares und eindeutiges Bild, und wenn es ein solches nicht gibt, basteln wir es uns selbst, damit wir uns leichter tun und die Unklarheit nicht aushalten zu müssen. Wir blenden alles aus, was nicht in das Schema passt, und sammeln all das, was unser Schema bestätigt. Eindeutige Orientierungen geben uns Sicherheit, allerdings um den Preis der Realitätsverzerrung.

Die Wurzeln der Gewaltbereitschaft

Psychodynamisch betrachtet gilt eine latente Gewaltbereitschaft immer anderen Personen, denen gegenüber wir uns früher ohnmächtig gefühlt haben. Die Racheimpulse stammen aus Erfahrungen, einer ungerechten und willkürlichen Macht ausgeliefert zu sein, ohne Chance, sich zu wehren. Das Gefühl, Opfer einer übermächtigen Gewalt zu sein, führt dann zur Identifikation mit einer Konfliktpartei, deren Schicksal an das eigene erinnert. 

Als wir klein waren, konnten wir uns nicht für Demütigungen rächen, sondern mussten sie ertragen und die Verletzungen uns begraben. Solche Erfahrungen melden sich, wenn wir im Außen Geschichten von Tätern und Opfern hören. Dann finden wir schnell heraus, wer die Guten und wer die Bösen sind, und ergreifen für die Guten Partei, um sie zu ermutigen, den Bösen Leid zuzufügen und freuen uns, wenn das gelingt. Wir merken dabei nicht, dass die aggressiven Gewaltimpulse eigentlich Personen in unserer Geschichte gelten und offene Rechnungen aus unserer Kindheit begleichen sollen. Der Bündnispartner im Außen, die Konfliktpartei, mit der wir uns identifizieren, soll dafür sorgen, dass die Rache durchgeführt wird.

Mit der Parteinahme wird also der Konflikt weiter befeuert. Aus dieser Sicht gibt es nur einen Lösungsweg, nämlich die gewaltsame Zerstörung oder Unterwerfung des Gegners. Im langen Atem der Geschichte kommt irgendwann der Moment, wo diese Gewalt wiederum ihre Rächer findet. Gewalt gebiert Gewalt, ist aber selber nicht in der Lage, der Gewalt ein Ende zu setzen. Darum ist der Schritt aus der Parteilichkeit in eine Haltung des Mitgefühls für alle Leidenden ein Beitrag zur Entschärfung des Konflikts.

P.S. Was bedeuten diese Überlegungen für den Ukraine-Russland-Krieg?
Natürlich ist es wichtig, für die Opfer auf beiden Seiten Mitgefühl zu haben. Aber die Gewalt ist klar von Russland ausgegangen als Überfall auf ein freies Land, das damit zum Opfer einer ungerechtfertigten Aggression wurde. Die Haupttäter und Hauptverantwortlichen sitzen in der russischen Regierung und sollten zur Rechenschaft gezogen werden, was aber leider nicht möglich ist. Denn es gibt keine übergeordnete Instanz, die die Täter vor Gericht stellen kann. Parteinahme für die Ukraine heißt, sie gegen die fortlaufende Gewalt zu stärken. Natürlich braucht die massive Gewalt des Angreifers Gegengewalt, um sie in die Schranken zu weisen und die gesamte Bevölkerung der Ukraine nicht der Willkür der Angreifer auszuliefern. Deshalb ist hier eine Parteinahme für das Opfer des Angriffs und für den schwächeren Teil des Konflikts notwendig und sinnvoll. Täter sollen nicht ermutigt werden, mit ihrem aggressiven Potenzial weiteren Schaden anzurichten. Es gibt in diesem Fall und bei ähnlich gelagerten Beispielen keine andere Möglichkeit, als Gewalt durch Gegengewalt einzudämmen.

Zum Weiterlesen:
Krieg und Scham


Sonntag, 8. Oktober 2023

Der allgegenwärtige Narzissmus

Jede Gemeinschaft, in der es Narzissten gibt, ist von narzisstischen Strukturen durchzogen und durchtränkt. So wie die Narzisse vertrocknet, wenn sie zu wenig Wasser bekommt, so würde die Narzisstin verzweifeln und nach Hilfe suchen, wenn sie nicht Menschen hätte, die ihr Muster bestätigen und auf ihre Manipulationen hereinfallen. Die verbreitete Blindheit gegenüber narzisstischen Verhaltensweisen und Persönlichkeitszügen führt dazu, dass Narzissten immer wieder Bewunderer und Verehrer finden, sowie Leute, die sie in Führungspositionen hieven, auf Rednertribünen bringen und in Machtpositionen wählen. Menschen, deren narzisstischen Anteile versteckt sind, bestätigen die narzisstischen Muster der offenen Narzissten und verstärken damit die Verblendung in der Gesellschaft. 

Es erstaunt immer wieder, wie narzisstische Menschen mit Täuschungen und Verwirrtaktiken Medien und Gerichte an der Nase herumführen können und mit ihren Schamlosigkeiten ungestraft durchkommen. Sie haben ihre Helfer und Helfeshelfer überall im Publikum, die heimlich oder offen Beifall klatschen, wenn ein Narzisst seine Gegner und Kritiker fertigmacht oder die Gerichte beschimpft, die ihn zur Rechenschaft ziehen wollen. 

Der Narzissmus ist allgegenwärtig und kommt gewissermaßen in den besten Kreisen vor. Deshalb ist er allen in irgendeiner Weise bekannt und vertraut. Da wir alle über narzisstische Anteile verfügen, haben wir Affinitäten und Resonanzen zu den narzisstischen Phänomenen, sobald sie irgendwo auftauchen. Jede Unbewusstheit, die uns unterläuft, füttert diesen Narzissmus in uns selber und in der ganzen Gesellschaft. Das Gestörte wird zum Normalen.

Offensichtlich narzisstisch gestörten Personen wird besonderes Vertrauen entgegengebracht, weil sie ins eigene unbewusste Erwartungsbild passen. Im Witz sagt der Mann zur Frau, während im Fernsehen jemand redet: „Sicher ist er der Satan, der Fürst der Dunkelheit, der König der Hölle, der Meister der Lügen, der Verblender und Überbringer von Übel und Verführung, aber er fürchtet sich nicht, auszusprechen, was die Leute denken.“ Der offene Narzisst bedient die unbewussten Fantasien der verdeckten Narzissten. Sie haben ihre Gefühle unter Kontrolle und würden nie in Hassreden verfallen. Das erledigt die Identifikationsfigur für sie. Deshalb verehren sie diese Person und hassen alle ihre Gegner. Sie fühlen sich erkannt und verstanden, ohne dass sie sich selber zu ihrem Hass und zu ihrer Bosheit bekennen müssen. Sie können in der Deckung bleiben, während die narzisstische Identifikationsfigur ihre Aggressivität stellvertretend in der Öffentlichkeit auslebt. 

Diesen Identifikationen ist auch geschuldet, dass gerade mutige Aufdecker von narzisstischen Übergriffen und Machenschaften besonderen Hass von jenen ernten, die weder mit den Tätern etwas zu tun haben noch von deren Manipulationen profitieren. Dieser Hass dient dem Schutz vor der eigenen Scham, die sich zeigen würde, wenn offenbar wird, dass die eigene Bewunderung und Verehrung einer gestörten Persönlichkeit gegolten hat.

Die innere Leere

Ein Kennzeichen des Narzissmus besteht in der Ausblendung und Ausleerung der eigenen Innerlichkeit. Er erzeugt immer eine Wirklichkeitsverzerrung, denn die Wirklichkeit kann nur dann adäquat erfahren werden, wenn das Innere mit dem Äußeren in einer fließenden Wechselbeziehung steht. Beim Narzissmus ist die Verbindung zum Inneren unterbrochen, wodurch das Innere zur Leerstelle wird.

Damit gibt es erstens keine klare Unterscheidung zwischen Innen und Außen und zweitens erlebt die Narzisstin das Außen als das Innen, während in Wirklichkeit es das Innere ist, das im Außen auftaucht. Da aber das Innen für die Innenwahrnehmung leer ist, wird diese Verwechselung nicht bemerkt. Es entsteht eine verschwommene Zone zwischen Innen und Außen, in die dann ungeprüft einfließen kann, was immer das narzisstische Muster bekräftigt.

Da das Innere als leer erlebt wird, indem es eben nicht erlebt wird, gibt es keinen Zugang zu einer Wahrheit mehr, die über die Subjektivität hinausginge. Für den Narzissten bemisst sich der Wahrheitsgehalt von Informationen daran, wieweit sie nützlich sind, um die anderen Menschen zu kontrollieren. Sie müssen in Schach gehalten werden, damit sie nicht auf die Idee kommen, die innere Leere zu erkennen.

Die narzisstische Wirklichkeitsproduktion

Narzissten neigen besonders zu Informationsquellen, die keine klare Unterscheidung zwischen Subjektivität und Objektivität aufweisen. Umgekehrt gilt, dass Menschen, die solchen Informationsquellen den Vorzug geben, einer narzisstischen Störung unterliegen. Die vor allem in deutschsprechenden Gebieten verbreitete Wissenschaftsskepsis hat genau dort ihre psychologischen Wurzeln. 

Narzissten suchen Informationen, die zwischen Subjektivität und Objektivität schwanken, die also ihre Quellen nicht benennen oder auf unseriöse Quellen zurückgreifen. Die Verschleierung der Herkunft des Wissens soll die Überprüfbarkeit der behaupteten Wahrheit erschweren und damit das schummrige Halbdunkel, in dem die narzisstische Selbstbestätigung am besten gedeiht, aufrechterhalten. Für diese Ausrichtung eignen sich die sogenannten sozialen Medien ganz besonders. Sie sind geradezu dadurch gekennzeichnet, dass Fantasien und Fakten wild durcheinandergewirbelt werden und alle Unterschiede zwischen Meinung und Wahrheit eingeebnet sind. Jeder kann dort jedes behaupten. Die Überprüfung der Wahrheitsansprüche erfordert Mühe und wird dann wieder als subjektive Behauptung klassifiziert, die einem gefallen mag oder nicht. Diese Form der Medienkommunikation hat den narzisstischen Wahrnehmungsmustern einen riesigen Aufschwung beschert. 

Die Inhalte, um die es bei den diversen Debatten geht, kennen in der narzisstischen Sphäre ebenfalls keine klare Grenze zwischen Innen und Außen, also zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven. Subjektive, gefühlserzeugte Fantasien werden zu Fakten, ohne dass die Umwandlung bemerkt wird. Da das narzisstische Muster durch die Vermischung von Innen und Außen gekennzeichnet ist, werden solche Verwirrungen von allen, die eine narzisstisch geprägte Wahrnehmung aufweisen, als normal und sinnhaft empfunden. Wer dem nicht beipflichten kann, kann nicht normal sein. Und wer diese aus dem Narzissmus erzeugten Einsichten nicht teilt oder durchschaut, bedroht das fragile Selbstverständnis der narzisstischen Persönlichkeit und muss deshalb bekämpft werden.

Zum Weiterlesen:
Grandioser und verdeckter Narzissmus
Der elterliche Narzissmus und die Selbstfindung
Rollen von Kindern narzisstischer Eltern


Freitag, 6. Oktober 2023

Gesellschaftskritik und Familienmuster

Immer wieder sagen oder schreiben Leute, dass sie die Gesellschaft, so wie sie ist, nicht aushalten, schlecht finden, aussteigen wollen etc. Da es keine vollkommene Gesellschaft gibt, hat jede Gesellschaft ihre Schwächen und Mängel. Es ist gut und wichtig, an Missständen Kritik zu üben und an Verbesserungen mitzuarbeiten. Denn jede Gesellschaft enthält Kräfte, die sie weiterentwickeln wollen. Diese Sichtweise enthält die Annahme, dass die jeweilige Gesellschaft weder gut noch böse, weder vollkommen noch verkommen ist, sondern viele Bereiche enthält, die annehmbar sind, und viele, die Verbesserungsbedarf aufweisen. 

In den verbesserbaren Bereichen können wir partielle und strukturelle Mängel unterscheiden. Mängel in Teilen der Gesellschaft, wie z.B. im Bildungswesen oder im Gesundheitssystem sind ein Dauerbrenner, weil sich diese Bereiche dauernd an die Weiterentwicklung der Gesellschaft anpassen müssen und dadurch zwangsläufig immer wieder in eine Schieflage geraten. 

Unter strukturelle Mängel fallen z.B. die Dynamiken des kapitalistischen Wirtschaftssystems, das auf permanenter Ressourcenausbeutung beruht und damit eine Hauptursache für den Klimawandel darstellt. Eine andere Dynamik ist der Patriarchalismus, der langsam zurückweicht, aber noch immer Elemente der Benachteiligung der Frauen aufrechterhält. Dann gibt es den Nationalismus, der die Nationen gegeneinander ausspielt und bis zu Kriegen führen kann. Das sind einige Beispiele für die strukturellen Mängel, die die Handlungsfähigkeit von Gesellschaften einschränken und unter denen viele Menschen leiden. Eine Bewusstseinsentwicklung in Richtung systemisches Denken und Handeln kann solche strukturelle Mängel einer Besserung zuführen. Das gelingt, wenn diese Bewusstseinsform eine genügend große Zahl von Menschen erreicht hat.

Das Leiden an der Gesellschaft mit seinen frühen Wurzeln 

Wenn Menschen die gesamte Gesellschaft schlecht machen und angreifen, ohne sich bewusst zu sein, dass es Defizite nur in Teilbereichen und darunterliegenden Strukturen gibt, dann können sie Projektionen unterliegen. Sie sind ja selbst Teil dieser Gesellschaft und merken nicht, dass sie sich selbst dabei abwerten. Woher kommen diese Impulse, die gerne von Politikern und Demagogen aufgegriffen werden? Warum kommen Brandreden gegen die gesamte Gesellschaft, in der wir alle leben und zu derem Sosein wir alle beitragen, bei so vielen Menschen an? Warum fühlen sich viele verstanden, wenn auf die Gesellschaft oder auf das System hingehackt wird?

Wenden wir den Blick auf die Herkunftsfamilie. Sie ist die erste kleine Gesellschaft, die wir kennenlernen und durch die wir die frühesten und prägenden Eindrücke über das menschliche Zusammenleben erwerben. Wie Menschen miteinander umgehen und aufeinander reagieren, erleben und beobachten die Kinder und ziehen daraus ihre Schlüsse. Später wenden sie ihre Erfahrungen auf die anonyme Gesellschaft an, die in der projektiven Fantasie zu einem Einzelwesen wird, das bewertet, bekämpft oder verlassen werden kann.

Wenn also die Rede von „der Gesellschaft“ oder von „dem System“ ist, dann handelt es sich dabei mit viel Wahrscheinlichkeit um Projektionen aus frühen Erfahrungen. Die Einstellungen zum System im Kleinen werden später einfach auf das System im Großen übertragen. Das Leiden, das einem als Kind widerfahren ist, wird ihm angelastet.

Der Wunsch, aus der Gesellschaft auszusteigen, zeigt sich als Impuls, aus der Familie auszubrechen, die als unerträglich erlebt wird. Als Kind ist das nicht möglich; als Erwachsener richtet sich die Phantasie mit der Wut des Kindes auf die unerträgliche Gesellschaft. Der Wunsch, die Gesellschaft umzustürzen, nährt sich aus der Wut auf ein ungerechtes, ausbeuterisches, heuchlerisches oder missbräuchliches Familiensystem.

Die Familie ist nicht nur „die Keimzelle der Gesellschaft“, wie das gerne konservative Politiker in ihr Programm schreiben und auf ihren Reden verkünden, sondern auch die Keimzelle für die Einstellungen zur Gesellschaft als ganzer. Eine wertschätzende Atmosphäre in der Familie legt den Grundstein für eine differenzierte positive Einstellung zur Gesellschaft, während schlechte Erfahrungen mit der eigenen Familie ein Misstrauen und eine Abneigung gegen die Gesellschaft bewirken. Herrschte in der Familie Distanz und Kontaktarmut, so wird die Gesellschaft leicht als kalt und herzlos erlebt. Haben sich in der Familie traumatisierende Ereignisse abgespielt, so erscheint die Gesellschaft als bedrohlich und gefährlich. War die Familie einengend und kontrollierend, so kommt es zu besonders heiklen Reaktionen gegen jede Freiheitseinschränkung durch die Gesellschaft.

Samstag, 23. September 2023

Der Nationalismus und die Scham

„Beim Nationalismus handelt es sich um die schlechte Ausdünstung von Leuten, die nichts anderes als ihre Herden-Eigenschaften haben, um darauf stolz zu sein.“  (Friedrich Nietzsche)

Der Nationalismus ist ein Kind des Stolzes. Stolz hat die Aufgabe, schambetroffene Teile der Selbstbeziehung auszugleichen und zu kompensieren. Nationale Gefühle haben wir, wenn wir uns anderen Nationen überlegen fühlen, z.B. bei einem sportlichen Ereignis, bei dem Angehörige der eigenen Nation besser waren als die anderer.  Im umgekehrten Fall schämen wir uns für unsere eigene Nation.

Der Begriff der Nation ist eine historische Spätgeburt und fällt ins 18. Jahrhundert. In der französischen Revolution wurde bekanntlich das Königtum gestürzt und die Republik eingeführt. Der König hatte lange Zeit als die Identifikationsfigur für alle Mitglieder eines Staates gegolten. Nun gab es ihn nicht mehr, und es brauchte einen anderen Anker für das Gemeinschaftsgefühl, für den die Nation herhalten musste. Fortan war es die Zugehörigkeit zu einer Nation, die den Einzelnen definieren sollte. Bis heute gibt es keine klare Begriffsbestimmung zur Nation. Manchmal ist von der Gemeinsamkeit der Sprache die Rede, doch da gibt es gleich die Schwierigkeit mit Staaten, die mehrere Sprachgruppen aufweisen. Oder es wird die Kultur als Kitt der Nation festgelegt, ein Begriff, der noch schwammiger ist, weil es in vielen Staaten unterschiedliche Volkskulturen gibt und alles, was über die lokalen Kulturen hinausgeht, wiederum nur schwerlich einer Nationalkultur zugerechnet werden kann. Oder man beruft sich auf eine gemeinsame Geschichte, die nur dort beginnen darf, wo sie sich mit der Vorstellung der Nation deckt und alles ausblenden muss, was mit der Einmischung von anderen Nationen zu tun hat oder auf Wurzeln verweisen, die gar nichts mit der aktuellen Nationalität zu tun haben. Daraus wird klar, dass wir es bei einer „Nation“ nicht mit einem objektiv existierenden Tatbestand zu tun haben, sondern mit einem Konstrukt, das viele Menschen teilen, ohne genau zu wissen, was es beinhaltet. Es ist also ein Konstrukt mit einem hohen Anteil an Fantasie und Fiktionalität, das seine Wirklichkeit dadurch erhält, dass es immer wieder und wieder erzählt wird, so lange, bis alle daran glauben. 

Der Erfolg des Nationsbegriffs hat damit zu tun, dass er eine einheitsstiftende Funktion im Prozess der Modernisierung ausübte. In diesen vom Kapitalismus geprägten Entwicklungen kam es zu vielfältigen Umgestaltungen und Zerfallsvorgängen von sozialen Einheiten, die eine hohe soziale Unsicherheit hervorriefen. Für diese Leerstelle kam der Begriff der Nation wie gerufen. Wenn die Menschen schon der Anonymität und Unbarmherzigkeit der Wirtschaftsprozesse ausgeliefert waren, wurde ihnen zumindest als Mitglieder einer Nation eine bestimmte Sicherheit gewährt. In Kriegen versuchten sich die Staaten voneinander als Nationen abzugrenzen und die Bevölkerungen hinter sich zu scharen. Selbst der russische Angriff auf die Ukraine hat zu einem starken Schub der nationalen Geschlossenheit geführt, der selbst die russisch-sprachigen und vor dem Krieg russlandfreundlichen Bevölkerungsgruppen und Gegenden erreicht hat und einer der vielen Effekte dieses Krieges ist, der von den Angreifern nicht vorausbedacht wurde.

Es war und ist bis heute ein riskantes Unterfangen, den Nationsbegriff durch Kriege zu untermauern. Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts z.B. wurden genau mit dieser Absicht begonnen und endeten in beiden Fällen mit Katastrophen, auch für den Nationsbegriff. Im Ersten Weltkrieg zerfiel das österreichisch-ungarische Konstrukt, im Zweiten wurde der Nationsbegriff in Deutschland nachhaltig ramponiert. Eine wichtige Konsequenz aus dem Zweiten Weltkrieg war die Begründung der europäischen Zusammenarbeit, die zur EU geführt hat, einem übernationalen Zusammenschluss. Denn verantwortungsbewusste und weiterblickende Politiker hatten erkannt, dass das ewige, vom Nationengedanken angestachelte Kriegführen ein Ende haben müsse und dass die Verstärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit Kriege in Hinkunft erschweren wurde, womit sie Recht behielten. 

Nationalismus und Stolz

Die Angehörigen einer Nation sollen stolz sein, dass sie dazugehören. Sie sollen auch stolz sein, dass sie nicht zu den anderen gehören. Es ist ein Stolz, der auf der Verherrlichung des Eigenen und  der Abwertung und Verachtung des Anderen beruht. Nationalismus besteht nie nur in der Bekräftigung der eigenen Nation, sondern immer auch in der Abwertung anderer Nationalitäten. Es ist also ein Stolz, der sich nicht nur aus den eigenen Errungenschaften nährt, sondern zu seiner Vollständigkeit noch die Überlegenheit über andere benötigt. Die eigenen Leistungen sind so viel wert wie sie die der anderen übertreffen. Es läuft wie bei einer Konkurrenzsportart wie z.B. dem Schirennlauf. Es geht nicht darum, die Abfahrt in einer tollen Zeit hinzulegen, sondern schneller zu sein als alle anderen. Es genügt, dass die anderen schlechter sind, dann hat man schon gewonnen und kann stolz sein.

Der Nationalismus lebt von der Konkurrenz. Seine Vertreter behaupten gerne von ihm, dass es um den Erhalt der nationalen Eigentümer und Eigenheiten ginge, gewissermaßen, was die Österreicher anbetrifft, um das Schnitzel (das Wiener Schnitzel kommt bekanntlich aus Mailand) und das Schmähführen (der Wiener Humor bezieht seine wichtigsten Quellen aus dem Jüdischen und dem Böhmischen). Die Eigentümlichkeiten müssen überzeichnet werden, damit sie bei der emotionalen Nationenbildung helfen können, die der eigenen und die der fremden Gruppe. Mit dieser Kontrastierung werden die Unterschiede verstärkt und es entstehen Grenzen, wo vorher Übergangsfelder bestanden: Die dialektischen Färbungen einer Sprache verändern sich graduell von Landstrich zu Landstrich. Wird nun eine Grenze inmitten eines Sprachfeldes eingeführt, dann driften längerfristig die Dialekte auseinander. Zum Beispiel war das Innviertel bis 1779 bei Bayern und es wurde dort der bayrische Dialekt gesprochen. Dann kam das Gebiet zu Österreich und nahm nach und nach das Oberösterreichische an, mit einem bayrischen Einschlag. 

Aus Übergangsfeldern werden unter dem Einfluss des Nationalismus Spannungsfelder. Die Grenzen, die die Gebiete trennten, wurden mit der Zeit immer stärker kontrolliert und aufgerüstet. Die Hiesigen unterschieden sich damit zunehmend von den Diesigen. Solche Grenzen sind immer Stolz- und Schamgrenzen: Der Stolz soll im Hüben sein, die Scham im Drüben.

Jeder Stolz, der auf Überheblichkeit ruht, ist nicht mehr als eine kompensierte Scham. Der Drang nach der Überlegenheit kommt aus der Minderwertigkeit, die schambesetzt ist: Ich muss besser sein als die anderen, um von ihnen nicht unterdrückt zu werden. Ich muss sie abwerten, damit ich mich sicher fühle und mir besser vorkomme. Mein Sicherheits- und Wohlgefühl ist davon abhängig,  dass andere schlechter dastehen und weniger wert sind.

Aus diesem psychologischen Mechanismus können wir verstehen, dass der Nationalismus als Ausgleich für Schamgefühle entstanden ist. Er bezieht seine suggestive Macht aus dem Kompensieren von kollektiven Minderwertigkeitsgefühlen. Er schafft es immer wieder, die Menschen hinter sich zu scharen, weil er ihnen die Entlastung von der Scham der Minderwertigkeit verheißt. 

Die paradoxe Geschichte des Nationalismus, in ihrer Gänze erzählt, lautet also: Zunächst werden die Nationen eingeführt, um den Menschen eine Erleichterung der Scham und des Schmerzes der Vereinzelung als Folge der ökonomischen Modernisierung zu verschaffen. Einmal etabliert, wirkt der Nationalismus wie eine Ersatzdroge und führt eine neue Schambelastung ein. Sie ist mit dem Ringen verbunden, die nationale Schwäche auf Kosten anderer Nationen zu überwinden. Es ist das kapitalistische Konkurrenzmodell, das für das Verhältnis der Nationen Anwendungen gefunden hat und das dann für alle Kriege verantwortlich ist, die im Zeichen dieser Ideologie begonnen werden. Eine weitere Spielwiese für den Nationalismus bot der Kolonialismus, der in dem Streben besteht, Länder, die sich noch zu wenig als Nationen etablieren konnten, der eigenen nationalen Sphäre einzuverleiben, um diese zu bereichern.

Nationalismus im Zeitfenster

Der Nationalismus hat seinen Referenzpunkt in einem relativ schmalen Zeitfenster zwischen einer Vergangenheit, der der Begriff der Nation fremd war, weil er nicht benötigt wurde, und einer Zukunft, die ihn als Relikt aus einer barbarischen Zeit abtun wird. Wir stammen aus vielfältigen Ahnenlinien ab, die sich nicht an irgendwelche politisch definierte Grenzen halten, und wir gehen in eine globalisierte Zukunft, in der die Menschen über die Kontinente, Religions- und Rassengrenzen hinweg mobil sind und ihre Zugehörigkeiten und ihre Identität laufend neu definieren müssen.

Dieses Zeitfenster hat die Ideologie des Nationalismus weidlich genutzt – einerseits zum Schutz von Traditionen, Sprachgruppen und Kulturräumen, andererseits zur Aggression gegen andere Nationen. Vom 19. über das 20. Jahrhundert bis in unsere Tage können wir die Auswüchse und Verwirrungen des Nationalismus beobachten. Während sich die Wirtschaft längst über alle Grenzen hinwegsetzt, greift erst langsam das Bewusstsein, dass wir in erster Linie Weltbürger sind und irgendwann nachgeordnet Angehörige einer bestimmten Nation oder Volksgruppe.

Erkenntnis macht frei

Die Erkenntnis der historischen Relativität und Ideologiegebundenheit des Nationalismus entkoppelt uns von seiner suggestiven Macht, und diese Entkoppelung macht uns frei, auch von den Ängsten und Schambelastungen, die die Konzepte der Nationalität enthalten. Vorgeprägte und ungeprüfte Identitäten, an denen wir festhalten, schränken uns ein, weil wir deren Gefühlskonglomorat in uns tragen. Der Vorgang der Entidentifizierung erlaubt uns, eine Beziehung zu den Prägungen aufzubauen, die wir vorher als selbstverständlichen Teil von uns angesehen haben und gar nicht von uns  selbst unterscheiden konnten. Die Distanz erlaubt uns, die Beziehung zu gestalten. Wir sind nicht mehr von ihr beherrscht, sondern können ihre Bedeutung für uns selbst festlegen. Wir können also für uns festlegen, was wir unter der Zugehörigkeit zu einer Nation verstehen und wir tun uns dann leichter, das Gemeinsame im Fremden zu erkennen und über das Trennende zu stellen. Wo wir Gemeinsamkeiten erkennen, finden wir den Weg vom Misstrauen zum Vertrauen, von der Angst zur Entspannung, vom Hass zur Liebe.

Hereinnahme statt Ausgrenzung

Demokratische Reife besteht dagegen darin, die Andersheit der anderen anerkennen und gelten lassen zu können. Die Diversität der Ansichten, Meinungen, Lebensorientierungen, kulturellen Prägungen usw. hat in einer Demokratie einen Platz und eine wichtige Bedeutung, die dazu führt, dass schwache Positionen gefördert werden. Pluralität und gegenseitige Akzeptanz sind der Nährboden für die Kreativität und Resilienz von Gesellschaften; Ausgrenzungen und Aggressionen gegen Minderheiten oder Schwächere destabilisieren den gesellschaftlichen Zusammenhalt und steigern die allgemeine Unsicherheit und Angst. 

Zur Demokratie gehört die Inklusion, zum Nationalismus die Exklusion, das Ausschließen alles dessen, was bestimmten vordefinierten Kriterien nicht entspricht. Jede Ausschließung enthält eine Beschämung der Betroffenen. Der Nationalismus ist rückwärtsgewandt, weil die Identifikation mit einer Nation kein Lösungspotenzial für irgendeine der aktuellen Krisen liefern kann. Die Zukunft der Menschheit liegt in der Zusammenarbeit über die Grenzen von Nationalstaaten hinaus. Sie kann nur dann in eine gute Richtung führen, wenn diese Kooperation auf demokratischen Grundsätzen beruht, also inklusiv und nicht exklusiv ist. Es sollte uns langsam deutlich werden, dass wir die Zukunft mit ihren Herausforderungen nur meistern, wenn wir alle mit anpacken und uns gemeinsam anstrengen, über alle urtümlichen Grenzen hinweg und jenseits aller Hoffnungen auf irgendwelche starken Männer als Erlöser. Jede der Krisen, unter denen wir leiden, ist eine Menschheitskrise; lösen kann sie nur die Menschheit in Gemeinsamkeit, auf das Basis einer fundamentalen Gleichheit.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir alle Möglichkeiten des Zusammenwirkens stärken und all den Bestrebungen, die die Lösungen in veralteten Modellen und rückwärtsgewandten Ideologien suchen, entgegenzutreten und sie an der Machtübernahme zu hindern. Die Demokratie muss streitbar sein, wenn sie weiterbestehen will, und dazu gehört, dass sie ihre Gegner benennt und in die Schranken weist. Die Demokratie ist niemand anderer als wir selber, die Summe unserer politischen Einstellungen und Handlungen, soweit wir uns zu ihr bekennen und ihre Wichtigkeit für eine breite Basis der Menschlichkeit erkannt haben. Im Prinzip der Inklusion ist die Garantie enthalten, Menschen vor jeder strukturbedingten Beschämung zu bewahren.

Zum Weiterlesen:
Sportlicher Nationalismus und Globalisierung
Das kleine Fenster des Nationalismus
Nationalismus und Opferstolz


Donnerstag, 10. August 2023

Über die Heilkraft der universellen Liebe

Die Liebe ist ein zentrales Wort im menschlichen Sprachschatz, weil es etwas ganz Wesentliches bezeichnet. Wir sind eine zutiefst sozial ausgerichtete Spezies, für die das Zusammensein und der Austausch mit unseren Artgenossen (neben der Sicherung des individuellen Wohlseins) überlebensnotwendig ist. Wenn die Liebe zwischen den Menschen herrscht, ist das soziale Leben gesichert, fehlt sie, steht es in Gefahr. Ist der Zusammenhalt mit den Mitmenschen bedroht, so ist auch das individuelle Überleben bedroht. Das Ausmaß an sozialer Sicherheit kann daran abgelesen werden, wie viel Liebe herrscht.

Gemeinhin wenden wir das Wort Liebe auf Beziehungen an, vorrangig auf solche, die mit Romantik und Sexualität zu tun haben. Darüber hinaus gibt es die Mutter- und Vaterliebe, also die Liebe zwischen Eltern und Kindern, die zwischen Geschwistern usw., die Liebe in den familialen Zusammenhängen. Dünner wird die Liebe, die über den engen Familienkreis hinausgeht und sich z.B. auf Freunde, Bekannte und  Nachbarn erstreckt. Erst recht abstrakt wird die Liebe, wenn sie auf Großgebilde bezogen ist wie z.B. die Vaterlandsliebe. Schließlich vertreten einige Religionen einen noch weiteren Begriff, indem sie von der Feindes- und Nächstenliebe oder vom liebevollen Mitgefühl mit allen Lebewesen sprechen.

All diese Felder der Liebe sind durch Zerbrechlichkeit und Störungsanfälligkeit gekennzeichnet. Die Liebe kommt, die Liebe geht, so heißt es im Schlager. Kleine Verschiebungen in den Stimmungen, missverständliche Worte, missglückte Gespräche – und schon ist die Liebe weg, und die Betroffenen ziehen sich zurück auf ihre individuelle Überlebenssicherung, um zu retten, was noch zu retten ist. Schnell verdrängt die Angst die Liebe, und nur langsam baut sich die Liebe wieder auf, sobald die Angst bereit ist, sich zurückzuziehen. Es ist eine zerbrechliche Liebe, die sofort in andere Gefühle umschlägt, wenn etwas geschieht, das in ihrem Rahmen nicht Platz findet.

Diese Liebe ist eng mit Erwartungen verknüpft und mit Bildern und Fantasien aufgeladen. Sie hat gewissermaßen verzerrende Brillen auf, die manches überscharf zeichnen und anderes ausblenden. Diese Filter in der Liebeswahrnehmung bewirken, dass wir die Liebe oft nur in einer bestimmten Gestalt erkennen und sie vermissen, wenn sie auf eine Weise daherkommt, die unseren Erwartungsmustern nicht entspricht. Wir fühlen uns nur geliebt, wenn uns die Liebe so entgegengebracht wird, wie wir es aufgrund von früheren Erfahrungen, medial genormten Symbolen und romantischen Schwärmereien erwarten. 

Die Liebe im Dunstkreis des Egos

Das Hauptkriterium für ein gelungenes Leben wird durch ein zureichendes Maß an Geliebtwerden festgelegt, also an der Menge an Liebe, die wir bekommen. Ist dieses Maß erfüllt, so werden alle anderen Bedürfnisse nebensächlich. Die Liebe zeigt sich als die universelle Form der Bedürfnisbefriedigung: Wenn wir sie ausreichend bekommen, ist alles gut; wenn sie uns fehlt, macht das Leben plötzlich keinen Sinn mehr und wir können ins Bodenlose abstürzen. Wir merken dann, dass wir das eigene Schicksal mit dem Geliebtwerden verknüpft haben.

Wir alle kennen diese Form der Liebe, die nach den Vorstellungen unseres Egos geschneidert ist. Emotional ist sie hoch aufgeladen, weil sie aus unseren Überlebensmustern geformt ist. Denn unerfüllte Bedürfnisse aus der Kindheit spielen In ihr die Hauptrolle. Sie ist in ihren Wirkmöglichkeiten durch Konzepte und Überlieferungen über das eingeschränkt, was Liebe sein könnte oder sollte. Aufgrund der Enge und Instabilität der Vorstellungen von der „wahren“ Liebe kommt es auf dieser Ebene immer wieder zu Unterbrechungen und Abstürzen, zu Verletzungen, Traumatisierungen und Dramen. All diese schmerzhaften Phänomene sind Beispiele für den Verlust der Verbindung mit der unbedingten oder großen Form der Liebe.

Die Liebe beginnt mit dem Geben.

Den engen Rahmen dieser bedingten Liebe überschreiten wir, wenn wir erkennen, dass Liebe zuerst nicht etwas ist, das wir entweder bekommen oder das uns vorenthalten wird, sondern etwas, das wir in uns haben, um es weiterzugeben. Die Liebe entsteht nicht im Empfangen, sondern im Geben. Der Glaube, dass wir zuerst einmal Liebe bekommen müssen, bevor wir sie geben können, ist die Folge von Kindheitserfahrungen mit einer Liebe, die nur unter Bedingungen gegeben wurde: Wenn du dich brav verhältst, wirst du geliebt, sonst nicht. Du bekommst also die Liebe, wenn du unsere Erwartungen erfüllst, so lautet die explizite oder implizite Botschaft mancher Eltern. Dass Kinder von sich aus, sobald sie am Leben sind, Liebe geben, wissen sie nicht, wenn sie dafür keine Rückmeldungen bekommen. Indem die Eltern ihre Liebe an Erwartungen und Bedingungen binden, lernt das Kind, dass es keine unbedingte Liebe gibt und dass das, was es selbst gibt und geben kann, unbedeutend und wertlos ist. Es hat also nichts zu geben, und bekommen kann es nur dann, wenn es sich durch ein bestimmtes Verhalten, durch eine Form der Gefühlsregulation und Frustrationstoleranz dieser Liebe als würdig erweisen. Die Eltern signalisieren auf diese Weise, dass die Liebe ein knappes Gut ist, das nur unter Umständen gegeben wird, nämlich dann, wenn es sich das Kind durch Anstrengung und Anpassung verdient. Unschwer ist zu erkennen, dass sich auf diese Weise die Grundlagen des Kapitalismus in die Liebesdinge eingemischt haben. Bis zur käuflichen Liebe ist es dann nicht mehr weit.

Die universelle Liebe

Die herkömmlichen Begriffe von Liebe sind also geprägt von der persönlichen Lebensgeschichte sowie von den ökonomischen und kulturellen Lebensbedingungen. Sie tragen unsere Hoffnungen und Ängste in sich, sind durchzogen von Illusionen und Traumelementen und ziehen einen Rattenschwanz an Enttäuschungen und Verletzungen nach sich. Das kann doch nicht alles sein, was die Liebe zu bieten hat!

Wir haben die Fähigkeit, aus diesen vorgeprägten, von Ängsten und Verletzungen eingeschränkten Konzepten der Liebe herauszutreten und den Schritt in einen größeren Rahmen zu wagen. Dabei stellen wir all die Vorstellungen von Liebe, die wir schon kennen, bewusst beiseite und öffnen uns für die Weite des Lebens und des Universums, die über das Menschliche und Allzu-Menschliche hinausgeht. Mit diesem Schritt in die Transzendenz gelangen wir zu einem Verständnis von Liebe als Kraft, die alles zusammenhält und verbindet. Davon ist das, was wir als menschliche Liebe kennen und verstehen, nur ein winziger Ausschnitt, und die Probleme, die uns da begegnen, schrumpfen aus dieser Sicht wie von selbst. Denn diese Perspektive erkennt alles, was geschieht, als eine Ausdrucksform der Liebe. In irgendeiner, oft geheimnisvollen Weise wirkt eine Macht, die allem Existierenden Zusammenhang, Sinn und Bedeutung gibt. Wir verstehen dieses Wirken mit unserem kleinen Geist oft nicht, denn dieser kennt nur seine engen Bahnen, auf denen er sich gern im Kreis dreht. Auch wenn wir den großen Geist nur ansatzweise fassen können, ist es uns möglich, den verheißungsvollen Geschmack, die freie Schwingung der von ihm getragenen Liebe zu erahnen und uns ihr anzuvertrauen.

Die heilende Kraft der großen Liebe

Die universelle Liebe, die wir in diesem geheimnisvollen Rahmen kennenlernen, wirkt nicht nur verbindend und Zusammengehörigkeit geben. Sie enthält auch eine Kraft der Verwandlung und der Heilung. Entwicklung heißt die Veränderung des Bestehenden, und die Kraft der Liebe steht hinter jeder Entwicklung, mit der das Leben weiterwächst, und befördert und bereichert sie.  Diese Liebe bejaht alles, was das Leben hervorbringt. In dieser bedingungslosen Affirmation steckt ihr immenses Heilpotenzial.

Wir erkennen das unmittelbar Hilfreiche dieser Form der Liebe, wenn es darum geht, mit Verletzungen und Verstörungen, die durch Liebesmangel, Liebesentzug oder Liebesverlust entstanden sind, ins Reine zu kommen. Viele Menschen hatten ganz widrige Umstände zu bewältigen, in denen das Vertrauen in die Liebe geschwächt wurde. Wer als Kind von den Eltern nicht gewollt war, spürt das fehlende Willkommen und die Ablehnung der eigenen Existenz als schwere Last und tiefes Leid. Wird aber verstanden, dass es auf einer anderen Ebene das Leben war, das das eigene Dasein gewollt und willkommen geheißen hat, dann wird spürbar, dass eine überpersönliche Liebe am Wirken ist, die stärker ist als das, was die Menschen wollen oder ablehnen. Es fällt leichter, das eigene Leben besser annehmen zu können, wenn bewusst wird, dass es ein unbedingtes Ja gibt, das aus der Urquelle des Lebens stammt und viel viel mächtiger ist als ein Nein der überforderten, ängstlichen und unreifen Eltern. Dieses Ja soll in allen Ecken und Winkeln der Seele vernommen und in jeder Zelle verspürt werden, bis es sich tief verankert hat. Dann fällt es leichter, den Eltern ihre Schwächen und ihr Versagen zu verzeihen und mit ihnen in Frieden zu kommen.

Die unbedingte und weite Liebe nährt alle Formen der kleinen und bedingten Liebe. Sie möchte sich immer zu Gehör bringen, wenn sich die kleine Liebe in den Ränken des Egos und den Schattenseiten der Persönlichkeit verloren hat. Denn allzu schnell versiegt und versickert sie, wenn sie nur auf sich selber gestellt ist. Aber die Rückverbindung an die Urquelle der Liebe in der universellen Lebenskraft lässt sie immer wieder aufblühen und Frucht bringen. Es ist die Erinnerung daran, wer wir in Wirklichkeit sind: Geschöpfe der universellen Liebe, begabt mit einer Liebeskraft, die aus den tiefsten Wurzeln des Seins fließt.

Zum Weiterlesen:
Die große und die kleine Liebe