Donnerstag, 31. Januar 2019

Akzeptiere was ist, dann verändert es sich

Es gibt zwei Lebensanschauungen, zwei Erziehungsprinzipien, zwei Formen der Selbstdisziplin, die wie Antagonisten zueinander stehen. Sie ziehen sich durch die Sozial- und Kulturgeschichte ebenso wie durch die Biographien der Menschen unserer westlichen Gesellschaften. Sie lassen sich durch zwei Sätze formulieren:

1. Wenn du akzeptierst, was ist, wird sich nie etwas ändern.
2. Akzeptiere was ist, dann wird es sich von selber verändern. 

Wir sehen sofort den Unterschied. Im ersten Satz äußert sich eine rigide Erziehungshaltung und Einstellung zu sich selbst. Aber sie ist geprägt von einigen Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden an Erziehungs- und Disziplinierungsgeschichte. Es ist die Philosophie vom inneren Schweinhund, dem inneren Saboteur, der jede Anstrengung vermeiden will und sich nur unter Drohungen und Zwang von seinem Faulbett aufrafft. 

Es kommt ein Misstrauen gegen andere und gegen sich selbst zum Ausdruck. Wenn wir anderen ihre Fehler durchgehen lassen, machen sie die gleichen Fehler immer wieder. Wenn wir uns selber mit einem Fehler annehmen, werden wir ihn genauso wiederholen und nie was lernen. Andere sind unvollkommen und müssen zur Vollkommenheit oder zumindest zur Verbesserung gebracht werden, und wir selber sind noch immer unvollkommen und müssen uns fortwährend bessern. 

Außerdem steckt hinter dem ersten Satz die Furcht vor der Trägheit und Faulheit, bei sich selber und bei den anderen Menschen. Akzeptieren bedeutet so viel wie sich in der Wohlfühlcouch zurücksinken zu lassen und alles seinen Gang gehen zu lassen, das, was einem passt und das, was einem auf den Geist geht. Die Angst ist also, dass wir ohne den erhobenen Zeigefinger oder die drohende Peitsche sofort in eine resignative Haltung verfallen, die besagt: Was ist, ist, wie es ist, da kann man nichts ändern. Veränderungen erfordern Kraft und Einsatz, und wenn wir uns zu sehr der Bequemlichkeit hingeben, kommen wir nicht weiter. Zum Fortschritt kommt es nur, wenn wir etwas, was ist, eben NICHT akzeptieren. Wir brauchen unsere Gegnerschaft zu dem, was ist, denn aus dieser Spannung entsteht dann auch der Imperativ zur Tat, die dem Missstand abhelfen kann. 

Das Akzeptieren des Ist-Zustandes wird also mit der Bejahung gleichgesetzt: Was wir akzeptieren, heißen wir gut und unterstützen es damit. Das bedeutet, dass wir im Status Quo verharren wollen. Wenn wir einverstanden sind mit dem, was ist, sehen wir keinen Anlass und keinen Grund für Veränderungen und werden uns auch nicht dafür einsetzen.  

Eine solche Haltung wäre verheerend aus der Sicht von Pädagogen, die tagtäglich mit der Lernunlust von Schülern konfrontiert sind. Wenn ein junger Mensch akzeptiert, dass er schlecht Englisch spricht, bedeutet das in dieser Sichtweise, dass er keinerlei Anstrengungen unternehmen wird, Vokabeln zu lernen und die Aussprache zu üben. Es geht also darum, ihm klarzumachen, dass er seine Einstellung ändern muss und den Schaden mangelhafter Englischkenntnisse für sein weiteres Leben sieht. Schüler brauchen ein Bewusstsein über ihre Unvollkommenheit, speziell in den Bereichen, die in der Schule wichtig sind, und dieses Bewusstsein muss auch mit einem Leiden daran verbunden sein. Sie müssen unzufrieden mit sich selber sein, damit sie zu lernen beginnen. Selbstakzeptanz ist nur eine Ausrede für Faulheit und Bequemlichkeit. Es braucht Druckmittel, damit diese unproduktive Haltung überwunden wird und junge Leute dazu gebracht werden, dass sie sich für Leistungen anstrengen.

Hinter dieser Haltung steckt die Überzeugung, dass das Leben ein Kampf ist, in dem es nur zwei Optionen gibt: Gewinnen oder verlieren. Deshalb ist eine andauernde Anstrengung notwendig, jedes Nachlassen könnte Nachteile nach sich ziehen. Wir müssen nicht nur unseren eigenen inneren Schweinehund bekämpfen, sondern auch die Fehlerhaftigkeiten und Nachlässigkeiten unserer Mitmenschen, die uns damit am Gewinnen hindern.

Ist damit der zweite Satz erledigt? Er beruft sich auf ein Vertrauen, und die Frage ist, ob es berechtigt oder blind ist. Wenn wir akzeptieren, was ist, gehen wir aus der Spannung heraus, die mit dem Nichtakzeptieren verbunden ist. An allem, was wir nicht akzeptieren, leiden wir. Die lauten Nachbarn, die blöden Politiker, die sturen Vorgesetzten, das hässliche Wetter, unsere eigene Vergesslichkeit, Unachtsamkeit usw. Der erste Satz geht also davon aus, dass inneres Leiden zum Handeln führt und Nichtleiden zum Nichthandeln. Wir tun also nur dann etwas, wenn wir unter Druck sind oder an etwas leiden, das wir ändern wollen. Es sind die äußeren Umstände, die uns zum Handeln motivieren – oder zwingen. Die Angst vor den negativen Konsequenzen des Nichthandelns ist dann größer als die Beharrungskraft und die Angst vor der Veränderung und dem damit verbundenen Risiko. (In einem früheren Artikel auf dieser Seite wurde diese Haltung als reaktive Orientierung beschrieben und von der kreativen Orientierung unterschieden.)


Akzeptieren, was ist


Diese Einstellung hat eine simple Einsicht zur Grundlage. Was ist, ist, ob es angenehm oder unangenehm, gewünscht oder gehasst ist. Dadurch, dass wir etwas nicht akzeptieren, hört es nicht auf zu sein. Wenn wir es akzeptieren, bejahen wir dessen Sein, also die Tatsache des Existierens, nicht aber sein So-Sein, also die Art und Weise des Existierens. Aus dieser Unterscheidung gewinnt der zweite Satz seine Kraft. Und dieses Missverständnis muss vermieden werden, wenn wir diese Kraft verstehen und nutzen wollen. 

Wenn wir das, was ist, in seinem Sein akzeptieren, dann verzichten wir auf den Widerstand gegen diesen Teil der Realität, und dieser Widerstand ist eigentlich unsinnig wie bei jemandem, der sagt: Ich bin gegen die Existenz des Mondes oder der Schwerkraft. Widerstand verbraucht Energien, die wir für andere Zwecke sinnvoller einsetzen können. Widerstand bindet uns an das, was wir ablehnen – und an diesen Teil in unserem Verstand, der sich damit wichtig machen will. 

Im Akzeptieren entsteht eine Übereinstimmung zwischen der Wirklichkeit und unserer inneren Repräsentation, oder einfacher gesagt, zwischen Innen und Außen. Diese Resonanz ist die beste Voraussetzung für ein situationsangepasstes Handeln: Tun, was zu tun ist, und lassen, was zu lassen ist. Das Nicht-Akzeptieren hingegen bestärkt die Trennung zwischen Ich und Welt, die erst wieder mühsam überwunden werden muss, um handlungsfähig zu werden. 


Veränderungen geschehen


Weshalb aber soll es, wenn wir etwas in seinem Sein akzeptieren, dann zu Veränderungen kommen? Das Akzeptieren steht nicht im Gegensatz zum Handeln. Es hilft vielmehr, die Voraussetzungen für das eigene Handeln besser zu überschauen. Solange wir im Widerstand zur aktuellen Wirklichkeit sind, ist unsere Blickweise beschränkt und fokussiert auf die negativen oder störenden Aspekte dieser Wirklichkeit. Wenn wir anerkennen, dass ist, was ist, weitet sich unser Blick und unser Verständnis für die Wirklichkeit. Aus diesem Verständnis können wir stimmigere und sinnvollere Handlungen setzen als aus dem Druck und Zwang heraus, der aus dem Nichtakzeptieren kommt.

Es gibt Teile der Realität, auf die wir einen direkten Einfluss ausüben können, wie z.B. das Putzen unserer Zähne oder die Entscheidung für den Kauf gesunder Lebensmittel, und andere, die wir von uns aus nicht direkt ändern können, wie z.B. das Verhalten anderer Menschen oder die Veränderungen im Klima und in der Arbeitswelt. Bei den Problemen innerhalb unserer direkten Einflusssphäre kann uns die akzeptierende Einstellung helfen, auf Selbstverurteilungen und Selbstkritik zu verzichten. Wir haben unsere Vorsätze und wir halten sie immer wieder nicht ein. Mit der ersten Haltung werten wir uns als inkonsequent und unzuverlässig ab und machen uns Vorwürfe wegen unserer Charakterschwächen. Mit der zweiten Haltung akzeptieren wir, dass wir so sind, wie wir sind, manchmal konsequent, manchmal inkonsequent, und überlegen uns, was wir wollen und wofür wir uns entscheiden. Wir fühlen uns freier, wenn wir uns nicht mit Selbstkritik belasten. Wir erkennen, dass wir nicht aus Druck heraus, z.B. um unserem Selbstbild oder den Erwartungen anderer Menschen zu entsprechen, handeln müssen, sondern aus dem, was wir für richtig finden. 

Im Akzeptieren nehmen wir das Besserwissen und Kontrollierenmüssen aus der momentanen Erfahrung heraus. Wir geben der Wirklichkeit die Erlaubnis, so zu sein, wie sie ist. Diese Erlaubnis gibt uns, aber auch den anderen Teilen der Wirklichkeit die Freiheit, sich von sich aus zu verändern. Wir übergeben die Verantwortung dorthin, wo sie hingehört. Wo Druck herrscht, kann es zu Veränderungen kommen, die dem entsprechen, was der Druck will oder auch nicht. Lehrer, die auf ihre Schüler Druck ausüben, können bewirken, dass sie lernen, was vorgegeben ist oder auch nicht, denn Druck kann auch Gegendruck erzeugen und den inneren Widerstand verstärken. Wo der Druck herausgenommen wird und an seine Stelle die Verantwortung übernimmt, kommt es unter Umständen auch nicht zu dem von außen gewünschten Resultat, aber zu einer Handlung, die der handelnden Person entspricht. Alles, was wir tun „müssen“, stößt auf ein inneres „Nicht-Wollen“. Dieser Widerstand sabotiert das Tun, wir machen leichter Fehler oder vergessen wichtige Details usw. Sigmund Freud hat diese Mechanismen unserer Psyche in seinem Buch über die Fehlleistungen („Zur Psychopathologie des Alltagsleben“, 1901) anschaulich beschrieben. 

Schließlich kommt auch noch der Aspekt zum Tragen, dass sich die Wirklichkeit, in uns und um uns herum, permanent verändert, erneuert und verbessert. Es gibt keinen Stillstand und kein Anhalten in der Natur; die Stopptafeln haben die Menschen erfunden. Gleich ob wir etwas akzeptieren oder ob wir dagegen sind, es verändert sich. Manchmal entspricht es unseren Erwartungen oder Planungen, und manchmal nicht.


Die leidige Neigung zur Selbstkritik


Wie kommen wir überhaupt auf die Idee, uns selbst zu kritisieren? Den Vorgang nennt man Internalisieren. Wie wir von den Bezugspersonen unserer Kindheit behandelt wurden, so behandeln wir uns später selbst. Wenn sie uns kritisiert haben, haben wir die Meinung gebildet, dass etwas an uns nicht in Ordnung ist und kritisiert werden muss. Schließlich sind sie die Großen, die es wissen müssen, und wir die Kleinen, die es lernen müssen. Unter Erwachsenwerden verstehen wir, dass wir das selber machen, was vorher die Eltern für uns gemacht haben: Pullover anziehen, Frühstück machen, Einkaufen gehen, und: Kritisieren und Abwerten bei Fehlern. Wir entlasten unsere Eltern und werden zu noch strengeren Beurteilern unserer Handlungen.

Unsere Selbstbeziehung spiegelt die Beziehungen unserer Eltern zu uns. In dem Maß, wie sie uns wertschätzen konnten, können wir uns selbst wertschätzen, in dem Maß, wie sie uns kritisierten, kritisieren wir uns selbst. In dem Maß, wie sie uns akzeptieren konnten, können wir uns selbst und auch die anderen akzeptieren.

Die Einstellung zum Weiterkommen im Leben, die unsere Eltern hatten, übernehmen wir mit Überzeichnungen oder mit Abstrichen, aber in den Grundzügen. Die „Schweinehund-Philosophie“ ist deshalb so prägend in unserer Kultur, weil sie in vermutlich jede Erziehungsbeziehung einfließt und damit von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Eltern denken, mein Kind muss lernen ein Leistungsbewusstsein zu entwickeln, sonst wird es in der Gesellschaft keinen Platz finden. 

Nach dem Modell von der Bewusstseinsevolution markiert diese Auffassung schon den Übergang von der tribalen zur emanzipatorischen Stufe und verfügt deshalb über einen tief gelagerten und mächtigen Sitz im kollektiven Unbewussten. In dem, was wir heute die Leistungsgesellschaft nennen, ist sie fest verankert. Von jedem Mitglied dieser Gesellschaft wird Leistung erwartet, ob es das selber will oder nicht. Wenn jemand seine inneren Widerstände nicht überwinden kann, verdient er keine Rücksichtnahme und landet am unteren Ende der sozialen Leiter. Auch das Ausmaß und der Umfang der geforderten Leistung werden vordefiniert und steigen immer mehr an, wie viele heutige Arbeitnehmer und Manager bestätigen.


Leben im Fließen


So vieles in unserem Leben verläuft nach dem Prinzip „Akzeptanz->Handlung“, nämlich all das, was wir nicht mit unserem Denken problematisieren. Milz, Leber und alle anderen Organe, Gewebe, Nerven tun, was sie tun, ohne Druck oder Müssen. Die meisten Tätigkeiten im Leben laufen ab, ohne dass wir überlegen, ob wir das Richtige oder das Falsche tun. Wir erkennen, was zu tun ist, die Wirklichkeit, wie sie gerade ist, und tun, was sich daraus ergibt. 

Wir spazieren durch den Wald und plötzlich stolpern wir über eine Wurzel, der Körper merkt, was los ist, verhindert sofort, dass wir fallen und korrigiert die Haltung wieder, ohne dass wir denken müssen – und dann kommt aber das Denken und wirft uns vor, dass wir besser hätten aufpassen sollen. Was passiert ist, ist schon vorbei, aber unser Denken spielt sich auf, ohne irgendetwas zur Bewältigung der Störung beizutragen. Es kann nicht akzeptieren, was geschehen ist, weil es mit seiner Prägung glaubt, dass das Gleiche sofort wieder vorfallen wird, wenn es nicht klar und deutlich vermerkt, wie ungeschickt und unbedacht wir vorgegangen sind. Es hat wieder sein Prinzip des Nicht-Akzeptierens zur Anwendung gebracht.

Wir sehen: Ein kleines Hirnareal sieht seine Hauptaufgabe darin, mit dem Grundsatz des Nicht-Akzeptierens zu arbeiten, während unser restlicher Organismus nach dem Prinzip „Akzeptanz->Handlung“ funktioniert. Es ist vom Unbewussten der Menschen geprägt, die in unseren früheren Jahren das Sagen hatten. Selten hilft es uns, meistens macht es uns das Leben schwerer. Wenn wir hingegen nach dem Prinzip der Achtsamkeit die Aufmerksamkeit in den Moment bringen, wird es überflüssig, und wir pendeln von der Akzeptanz zum Tun, Zyklus für Zyklus. Und wir werden sehen, dass es uns das Leben leichter und einfacher macht.

Zum Weiterlesen:
Sag Ja zum Moment
Widerstand und Verwandlung
Von den Absichten zur Absichtslosigkeit
Reaktive und kreative Lebensorientierung

Montag, 28. Januar 2019

Automation: Zum Gemeinwohl oder zur Reichtumskonzentration?

Ein Journalist der New York Times hat mit Unternehmern während des Wirtschaftsgipfels in Davos über die Automatisierung und Künstliche Intelligenz gesprochen – im privaten Rahmen. Und dabei ist ihm die Diskrepanz aufgefallen: Öffentlich zeigen sich Unternehmer und Wirtschaftsbosse mit Sorgenfalten wegen der Arbeitskräfte, die bald nicht mehr gebraucht werden. Dahinter stecken aber die nackten Profitinteressen. Im privateren Rahmen wird nicht mehr darüber geredet, dass die Umsätze 5 oder 10 Prozent steigen sollen, sondern wie es zu schaffen ist, die gleiche Leistung mit einem Prozent der bisherigen Arbeiter zu erreichen.

Der Konkurrenzkampf ist beinhart, und jeder will die Nase vorne haben. Denn das Ziel ist verlockend: Über einen Maschinenpark zu gebieten, der automatisiert die gewinnbringenden Produkte produziert, und die Gewinne müssen mit keinem Arbeiter mehr geteilt, geschweige denn den Lohnforderungen einer Gewerkschaft gegenüber ins Trockene gebracht werden. Milliarden werden ausgegeben, um Unternehmen in schlanke, digitalisierte und hochautomatisierte Großmaschinen zu verwandeln. Wenn man vor Augen hat, wie dann die Gewinnmargen explodieren, verschwendet man keine Gedanken an die Arbeiter, die dann auf der Straße stehen. Darum soll sich gefälligst der Staat oder die Heilsarmee kümmern.

Natürlich will niemand öffentlich zugeben, dass der einzige Weg in die fortgesetzte Automatisierung führt und dass einem die Millionen an Arbeitskräften, die dann nicht mehr gebraucht werden, egal sind. Lieber redet man beschönigend davon, dass die Arbeiter von langweiligen und monotonen Aufgaben befreit werden. Es geht nicht um die Entlassung von Arbeitern, sondern um eine „digitale Transformation“, die allen zugute kommt.

Im Jahr 2017 haben bereits 53 % der Firmen Maschinen für Tätigkeiten eingesetzt, die vorher von Menschen ausgeführt wurden. Für 2020 werden Zahlen von 72 % erwartet. Ein Bericht des Weltwirtschaftsforums vom Jänner 2019 schätzt, dass von den 1,37 Millionen Arbeitern, die in den USA in der kommenden Dekade vollständig durch Maschinen ersetzt werden, nur ein Viertel erfolgreich umgeschult werden kann. Es wird angenommen, dass der Rest für sich selber sorgen muss oder von der Allgemeinheit Unterstützung braucht.

Jeff Bezos, der Chef von Amazon, hat mitgeteilt, dass über 16 000 Lagerarbeiter umgeschult wurden: In Arbeitsbereichen mit hoher Nachfrage wie der Pflege und der Flugzeugmechanik, und die Firma habe 95 Prozent der Kosten getragen. Löblich ist, dass sich eine Firma um ihre „freigesetzten“ Mitglieder kümmert, dennoch zeigt sich gerade daran, wie bedenklich die Entwicklung ist. Einesteils gibt es keine gesetzliche Verpflichtung zu solchen Maßnahmen, die Firma kann solche Programme jederzeit wieder einstellen, wenn sie meint, dass sie dadurch ihren Gewinn zu stark schmälert. Andererseits zeigt sich, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit zu Wohlstandsverlusten der betroffenen Personen kommt, die von besser bezahlten Jobs auf schlechter bezahlte umgeschult werden.


Gemeinwohldienende Technologien oder Reichtumskonzentration



Der Direktor der MIT-Initiative zur digitalen Ökonomie, Erik Brynjolfsson, sagte: „Die Wahl besteht nicht zwischen Automatisierung und Nicht-Automatisierung, sondern darin, ob man die Technologie auf eine Weise einsetzt, dass sie mehr Gemeinwohl oder mehr Reichtumskonzentration erschafft.“ Dort liegt der Kern der Thematik.

Denn diese Wahl kann nur politisch getroffen werden. Der Kapitalismus ist einzig und allein an Gewinnsteigerung interessiert. Er beugt sich nichts anderem als der Staatsmacht, die ihm gesetzliche Rahmenbedingungen auferlegen kann. Doch in vielen Ländern liegt diese Macht in den Händen von neoliberalen, nationalistischen oder konservativen Parteien, und wie sollte von dieser Seite eine Grundentscheidung für das Gemeinwohl erfolgen?


Die Gefangenschaft der rechten Parteien


Diese Parteien generieren ihren Zulauf aus hochgespielten und widersprüchlichen Themen („Wir brauchen mehr Sicherheit“ – in den sichersten Gesellschaften seit Menschengedenken, „Wir brauchen mehr nationale Geschlossenheit“ in Zeiten der Globalisierung usw.). Sie setzen für ihr Marketing digitale Maschinen ein, die auf Meinungsmanipulation und Wählerbeeinflussung spezialisiert sind, sind also Nutznießer der Entwicklung der künstlichen Intelligenz, die ja selbst über keine künstliche Ethik verfügt, weil es eine solche nicht geben kann. 

Alle diese politischen Kräfte haben also kein tieferes Interesse an einer Regulierung des kapitalistischen Fortschritts. Die Rechtspopulisten hoffen darauf, dass sie bei den Fortschrittsverlierern die unzufriedenen Stimmen einsammeln können, und die Neoliberalen freuen sich mit den Unternehmern und deren Gewinnen, an denen sie hoffen mitnaschen zu können. Deshalb decken diese ideologischen Richtungen konsequent mit ihrer Fokussierung auf Nebenthemen den ungebremsten und politisch unkontrollierten Vormarsch der arbeitsplatzvernichtenden Maschinen.

Das sind die gleichen Ideologien, die das Nachhaltigkeits-Klimaschutzthema an den Rand drängen. Somit arbeiten sie der ungehinderten Ausbreitung des Kapitalismus in die Hand, der die Natur ruiniert und Maschinen baut, denen es nichts ausmacht, wenn sich die Erde erwärmt, die Arten sterben und die Ozeane steigen. Die viele Menschen, die durch diese Entwicklung verlieren, indem sie ihre Arbeit verlieren und in schlecht bezahlte Bereiche umgeschult werden, werden in Kauf genommen. Die wenigen, die ihre Einkommen und Vermögenswerte steigern, werden es sich immer irgendwie richten können.


Wo bleiben die linken Parteien?


Natürlich wären sowohl die Nachhaltigkeitsfrage wie die Arbeitsplatzvernichtung durch die Automation klassische sozialdemokratische und linke Themen. Doch aus dieser Ecke ist wenig zu hören, viel zu wenig. Offenbar fehlt der Mut, diese Debatte anzustoßen und in einem Maß in die politische Diskussion einzubringen, die dem Thema angemessen ist. Der frühere österreichische Bundeskanzler Christian Kern hat vor ein paar Jahren den Vorschlag einer „Maschinensteuer“ aufgegriffen, also einer Wertschöpfungsabgabe für von Maschinen erzielten Gewinnen, die dann für den Ausgleich der sozialen Probleme, die durch den Maschineneinsatz erzeugt werden, eingesetzt werden können. Mit ein paar Buh-Rufen von der rechten Seite war die Debatte bald erledigt. Es fehlt also offenbar am Bewusstsein für die Dringlichkeit einer politischen Regelung, sowohl in unserem Land wie in der EU, von den USA oder den fernöstlichen Wirtschaftsgiganten ganz zu schweigen.

Es macht keinen Sinn, über den Fortschritt in den Technologien zu jammern. Es liegt im Wesen des Menschen, an Verbesserungen und Neuerungen zu arbeiten. Die Forschungen in der Mikromechanik und künstlichen Intelligenz kommen in vielen Bereichen vielen Menschen zugute, z.B. in der Behandlung von Krankheiten oder in der Verbesserung der Infrastruktur.


Die Notwendigkeit des politischen Diskurses


Es ist aber in hohem Maß notwendig, den politischen Diskurs zu verstärken. Denn die Entwicklung geht weiter, angetrieben von massiven Kapitalinteressen. Erst zu warten, bis die Masse derer, die durch diesen Prozess unter die Räder kommen, so groß ist, dass Massenproteste einsetzen, ist grob fahrlässig – wenn nicht bewusst kalkuliertes Risiko, im Windschatten solcher Protestbewegungen die eigene politische Macht abzusichern; dann wären diese Versäumnisse kriminell. In einer Demokratie werden die Machtausübenden vom Volk dafür gewählt, dass sie die Interessen der Bevölkerung bestmöglich vertreten. Wenn allerdings in einer derart wichtigen Angelegenheit nichts geschieht, ist das Misstrauen in die herrschenden berechtigt und bedarf es dringend einer neuen Politikergeneration, die diese Themen mit der nötigen Ernsthaftigkeit betreibt.

Ein politischer Diskurs in dieser Frage wird nur zielführend sein, wenn er entideologisiert und auf den Kern der Demokratie zurückbezogen wird. Dieser Kern heißt die Sorge um das Gemeinwohl, also um einen sozialen Ausgleich, indem die technischen und wirtschaftlichen Veränderungen an die Lebensbedingungen der Menschen bestmöglich angepasst werden, sodass alle davon profitieren können, statt geschädigt zu werden. Wirtschaft und Technik haben nur den Sinn, uns das Leben zu verbessern und zu erleichtern. Es darf aber nicht sein, dass der Fortschritt einigen wenigen über alle Maßen zugute kommt, während die große Mehrzahl durch die Finger schaut, die nicht einmal etwas arbeiten können, weil sie durch Roboter ersetzt sind.

Setzen wir uns für den sozialen Fortschritt ein, denn er geschieht nicht von selbst, sondern wir müssen ihn wollen!


Zum Weiterlesen:

Freitag, 25. Januar 2019

Der elterliche Narzissmus und die Selbstfindung

Unter Narzissmus verstehen wir eine pathologische Form der Selbstbezogenheit und Selbstliebe. Die bekannten Kennzeichen einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung sind die schwach ausgeprägte Empathie, die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und ein starkes Verlangen nach Anerkennung. 

Sigmund Freud hat den primären Narzissmus von einem sekundären unterschieden. Beim ersteren dachte er an einen Einheitszustand mit der Mutter, den jedes Kind in der nachgeburtlichen Phase erlebt und in dem es keine Trennung zwischen Mutter und Kind gibt. Diese Entwicklungsstufe wurde später von Margaret Mahler als „symbiotische Phase“ benannt. Der sekundäre Narzissmus als Störung entwickelt sich, wenn in der ersten Phase wichtige emotionale und kommunikative Bedürfnisse nicht befriedigt wurden, sodass die betroffene Person später unbewusst in die drängende Not dieser Bedürfnisse zurückfällt, die anfangs unerfüllt geblieben sind.

Der primäre Narzissmus


Das freudianische Konzept der ungetrennten Einheit von Mutter und Kind in der nachgeburtlichen Zeit wurde inzwischen als Hypothese widerlegt. Die Erforschung der Mutter-Baby-Beziehungen der letzten Jahrzehnte hat erwiesen, dass ein Säugling von Anfang an eine aktive kommunikative Rolle in dieser Beziehung übernimmt, die voraussetzt, dass er sich als selbständiges Wesen der Mutter gegenüber begreift. Von Anfang an stehen sich zwei unabhängige Personen gegenüber und beziehen sich aufeinander. Im günstigen Fall wirkt eine starke Empathie und Konkordanz, die Übereinstimmung zwischen der Erziehungsperson und dem Baby, für die aber die Bezeichnung als Symbiose irreführend ist. Deshalb ist auch das Konzept des primären Narzissmus wenig hilfreich.

Der Begriff der Symbiose wird zwar in der Alltagspsychologie immer wieder angewendet, wenn von besonders innigen zwischenmenschlichen Beziehungen gesprochen wird, ist aber auch hier missverständlich. Indem wir immer mehr Wissen über die Auswirkungen von frühzeitig abgegangenen Zwillingen gewinnen, liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei den symbiotischen Beziehungsmustern um Projektionen aus der intrauterinen Zweisamkeit von Zwillingen handelt. Vor allem eineiige Zwillinge, die über identische Erbanlagen verfügen, erleben eine Form der inneren Übereinstimmung und der verschmelzenden Einheit, für die der Begriff Symbiose passt. 

Der sekundäre Narzissmus


Ebenfalls aus der Säuglingsforschung wissen wir, wie wichtig die empathische Konkordanz zwischen der Betreuungsperson und dem Baby ist, damit es sich auf der emotionalen und sozialen Ebene gut entwickeln kann. Die Mutter [da sie faktisch die Hauptbezugsperson in weitaus den meisten Familien ist, wird sie hier immer wieder genannt, auch wenn andere Personen, Väter oder Pflegepersonen ebenso die Rolle einer zentralen Bezugsperson einnehmen können] sollte möglichst genau spüren, welches Bedürfnis sich hinter den emotionalen Äußerungen des Babys befindet, sodass sie adäquat darauf eingehen kann, also nicht, wie ein klassisches Beispiel besagt, wenn das Kind Zuwendung und Unterhaltung möchte, es mit Essen abzuspeisen. Säuglinge verfügen über ein eingeschränktes Repertoire an kommunikativen Ausdrucksmöglichkeiten, die aber von einer einfühlsamen Mutter genau verstanden und beantwortet werden können.

Auf diese Weise baut das Kind eine stimmige Selbstbeziehung auf, weil ihr die Mutter das Vertrauen gibt, dass es auf seine eigenen Bedürfnisse und  Gefühle hören kann. Was eine passende Antwort findet, war eine berechtigte Frage. Das Kind lernt, die eigenen Körpersignale und Gefühlsregungen anzunehmen und durch die „Spiegelung“ seitens der Mutter immer besser einordnen zu können. Mit Spiegelung ist gemeint, dass das Baby ein Bedürfnis äußert und die Betreuungsperson meldet zurück, dass es die Botschaft verstanden hat, indem sie die Handlungen setzt, die das Bedürfnis stillen. 

Mangelnde Spiegelung


Treten in dieser Kommunikation immer wieder Fehler auf, weil die Spiegelung nur mangelhaft gelingt, so kann sich im Kind kein stabiles Selbstgefühl aufbauen. Es kann seinem Körper mit seinen Bedürfnissen und der Seele mit ihren Gefühlen nicht voll vertrauen, sondern fühlt sich unsicher und schnell irritiert. Es muss dauernd nach Bestätigung im Außen suchen, weil diese nicht selbstverständlich kommt, und trachtet danach, sich nach den Mustern und Schemata der Eltern zu richten, damit es zu dem kommt, was es braucht.

Oft geht die Störung so weit, dass dem Kind nicht mehr klar ist, was es braucht und damit auch nicht, was es will. Die Unsicherheit durchzieht das organische und emotionale Selbstverständnis und die Willenskraft. Der Narzissmus als Persönlichkeitsdefizit beruht auf diesen Schwächen in der Selbstbeziehung, die Folgen von Schwächen aus den frühen Kommunikationsbeziehungen sind. 

Wenn wir gemeinhin annehmen, dass Narzissten besonders in sich selbst verliebt sind und nur sich selber wichtig nehmen, so ist das irreführend und entspricht nur einer oberflächlichen Beobachtung, weil sich Narzissten besonders schwer tun mit der Selbstliebe. Im Grund zweifeln sie immer, ob sie in Ordnung sind so wie sie sind. Sie können aber den Eindruck der Selbstsicherheit und Überlegenheit erwecken, wenn sie eine andere Form der Spiegelung gelernt haben, nämlich die der übermäßigen und realitätsfernen Bewunderung und Überschätzung. Und hier kommt die narzisstische Störung der Bezugsperson ins Spiel, die sie an das Kind weitergibt. Zunächst, wie geschildert, fehlt die empathische Feinabstimmung mit den kindlichen Bedürfnissen. Dazu mischt sich dann allerdings häufig eine übertriebene Bewunderung des kleinen Wesens. Es wird von der narzisstischen Mutter nicht nur als das ganz Einzigartige und Besondere erlebt, das es ist, sondern als ein Wunderwesen, das alle anderen Kinder mit seiner Schönheit oder seinen Fähigkeiten in den Schatten stellt. Daraus entwickelt das Kind die Strategie der Selbstbewunderung zur Bewältigung der inneren Unsicherheit und des mangelnden Selbstvertrauens. 

Die Ambivalenz


Der Narzissmus ist durch eine grundlegende Ambivalenz geprägt. Auf der einen Seite wirkt in uns der mächtige Strom der Selbstverwirklichung. Das Leben hat uns viele Kompetenzen mit auf den Weg gegeben und dazu alles bereitgestellt, was es braucht, damit wir umsetzen können, was sich aus uns heraus Wirklichkeit geben will. Das Leben als die Quelle aller Schöpfungskraft will kreative, selbstschöpferische Wesen hervorbringen.

Auf der anderen Seite sind wir mit den Deformationen der Eltern konfrontiert, die aus deren mühsamen Anpassungsprozessen an ihre Lebensrealitäten entstanden sind. All das, was bei ihnen im Sinn dieser Selbstschöpfung auf der Strecke geblieben ist, soll nun über das Kind verwirklicht werden. Mit diesen Erwartungen muss sich das Kind auseinandersetzen und wird, ebenso wie die Eltern in ihrem Leben, Kompromisse bilden, dagegen protestieren und sich immer wieder unterordnen. Denn die Orientierung an Selbstfindung und Selbstwerdung setzt sich der Gefahr aus, die Liebe und Zuwendung der Eltern zu verlieren, die anfangs überlebenswichtig ist. So bildet sich ein innerer Widerstreit zwischen Anpassung und Autonomiebestrebung.

Hinter der Maske der angemaßten Grandiosität des Narzissten wirken die Stimmen der Eltern, die sich selber bewundern in ihrem so besonderen Kind, das sich gleichwohl im Grund unverstanden und einsam fühlt. Das Kind hat die Last zu tragen, großartig sein zu müssen und es doch nie zu schaffen. Diese Ambivalenz ist eine Quelle beständigen Leidens und der Selbst-Infragestellung.

Der elterliche Narzissmus


Jede Form des Narzissmus ist aus Vererbung entstanden, er wird wie eine Erbkrankheit von Generation zu Generation durch systematisch gestörte Kommunikation in den frühen Lebensphasen weitergegeben. In mehr oder weniger stark ausgeprägtem Grad sind deshalb in unserer Gesellschaft alle von der narzisstischen Verstörung betroffen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, Eltern mit narzisstischen Zügen zu haben, die das eigene Werden mit diesen Störungen in Mitleidenschaft gezogen haben. Ein Blick darauf kann helfen, Klarheit in die eigenen Lebensmuster zu bringen.

Der elterliche Narzissmus ist von der folgenden Einstellung geprägt: „Ich liebe mich selbst im Kind. Es ist meine eigene Hervorbringung, und in ihm bin ICH großartig. Mein Leben verwirklicht sich im Kind.“ Mit dieser Einstellung ist der Blick auf das Kind und seine Wünsche und Bedürfnisse von vornherein verstellt. Den Begegnungsraum bestimmt das Unbewusste der Eltern, das das Kind danach bewertet, wie sehr oder wie wenig es dieses Unbewusste bestätigt und dessen Bestrebungen erfüllt.

Unterschiedlich getönt ist der Narzissmus bei Vater und Mutter: Der mütterliche Narzissmus erlebt das Kind als Hervorbringung und Erweiterung des eigenen Körpers, mit der sich das eigene Selbst identifiziert. Die Mutter liebt sich im Kind, das gleichsam als ihr besseres Selbst in ihr heranwächst und sich dann veräußerlicht. Ihr Kind gilt dann als ihre Selbstverwirklichung. Häufig spielt dabei die über die Generationen übertragene Kränkung der weiblichen Selbstliebe und Selbstannahme durch den Patriarchalismus mit: Eine Frau ist weniger wert als ein Mann, aber durch das Gebären eines Kindes gewinnt sie an Wert und gesellschaftlicher Anerkennung.

Der väterliche Narzissmus ist naturgemäß weniger stark von der körperlichen Beziehung bestimmt. Gleichwohl kann auch der Vater das Kind als Selbsthervorbringung bestimmen: „Das Kind gibt meinem Leben den Sinn und die Bedeutung“. Außerdem werden von der väterlichen Seite häufig stärker die „tribalen“ und generationalen Themen eingespeist: Das Kind bekommt die Rolle des „Stammhalters“, des Trägers aller genealogischer Aufträge und wird von Anfang an mit den entsprechenden Erwartungen belastet. Zusätzlich hat es als Projektionsfläche für vom Vater selbst ungelebten Ambitionen zu dienen: Was er im Leben nicht schaffen und erreichen konnte, wird dem Kind als Aufgabe weitergegeben. Also wirkt sich auch beim Vater der Patriarchalismus aus: Sein Status in der Gesellschaft ist davon abhängig, wie weit die eigenen Kinder den Erwartungen entsprechen können. 

Pränatale Einflüsse


Die Bedeutung der vorgeburtlichen Phase rückt immer mehr ins Bewusstsein und spielt auch in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Denn die narzisstischen Züge und Prägungen der Eltern werden nicht erst dann aktiv, wenn das Kind auf die Welt gekommen ist, sondern spielen von Anfang an mit, sogar schon in den Fantasien der Eltern, lange bevor sie sich überhaupt kennenlernen. Sie wirken in die Beziehungsdynamik hinein und hinterlassen deshalb auch eine prägende Spur bei der Zeugung. Eizelle und Samenzelle kommen nicht als leere Blätter zusammen, sondern bringen neben dem genetischen Material auch die epigenetischen Modifikationen mit. Dazu kommen die emotionalen Erwartungen und Vorstellungen beider Eltern, die im Akt der geschlechtlichen Vereinigung ebenso wirksam sind wie im Moment der Verschmelzung von Ei und Samen. 

Das Erkennen der Schwangerschaft durch die Eltern ist der nächste Punkt, an dem sich der Narzissmus einschleichen kann. Die Ängste und Erwartungen der Eltern, die dabei auftauchen, sind aufgeladen mit den eigenen unerfüllten Bedürfnissen. Das werdende Leben erkennt, was abläuft und versucht sich diesen vorgegebenen Programmen anzupassen, um nicht zu enttäuschen. 

Mit all dem, was das Kind während der Schwangerschaft über die Nabelschnur aufnimmt, kommen auf der emotionalen Ebene die vielfältigen Programme mit, die ihm vorgeben wollen, wie es sein soll und was es für die Psyche der Eltern leisten soll. Beide Elternteile versuchen, natürlich nicht in böser Absicht, sondern aufgrund der Funktionsweise des Unbewussten, dem Kind vorzugeben, wie es sein soll und was es aus seinem Leben machen soll. Der von den Eltern vorgefertigte Lebensplan ist vollgeladen mit Aufgaben und Aufträgen, die das Kind abarbeiten soll. Die eigentliche Aufgabe, das eigene Selbst zu entwickeln und daraus die eigene Bindungsfähigkeit und Autonomie zu bilden, kommt dabei nicht vor. Natürlich werden viele Eltern behaupten, dass es ihnen ausschließlich darum geht, dass ihr Kind ein eigenständiges Wesen wird. Aber nur wer die Macht der unbewussten Prägungen kennt und aufgelöst hat, kann vollen Herzens dem Wachsen und Gedeihen des Sprösslings zuschauen und es tatkräftig auch dort unterstützen, wo die eigenen Erwartungen und Planungen enttäuscht werden. 

Der fortwährende Prozess des Sich-Gebärens


Schließlich kommt die Geburt als der große Augenblick, in dem sich das Kind von der Mutter löst, meist in einem langen und schmerzreichen Prozess. Es vollzieht sich darin gewissermaßen die „Unabhängigkeitsdeklaration“ des kleinen Menschenwesens: Ich kann jetzt alleine atmen, ich kann meinen eigenen Raum einnehmen, ich verfüge über meine Körpergrenzen, ich kann mich auf diese Welt beziehen, ich beginne, für mich selber zu sorgen. Natürlich sind die Abhängigkeiten am Anfang noch immer groß, aber der innere Drang zur Unabhängigkeit hat einen gewaltigen Schritt nach vorne getan. 

Neben der körperlichen Unabhängigkeit geht es in diesem Vorgang um die seelische Eigenständigkeit. Das eigene Selbst muss gegen die Projektionen der Eltern entwickelt werden, oder es bleibt verkrüppelt und verbogen. Das Projektionsprogramm der Eltern ist zugleich das Herausforderungsprogramm für das lebenslange innere Wachstum. Das Leben präsentiert immer wieder die genau passenden Situationen, in denen wir die Entscheidung zwischen der narzisstischen Prägung und der Selbstwerdung treffen müssen. Ersteres erscheint meist als der billigere und bequemere Weg, der allerdings auch die Beibehaltung des gewohnten Leids in Kauf nehmen muss, zweiteres verspricht uns als Lohn die innere Freiheit.

Der Ausweg aus den Verstrickungen des Narzissmus ist der Weg der Bewusstwerdung: Was und wer bin ich selber, was habe ich ungeprüft übernommen, damit ich mich angenommen und geliebt fühlen konnte? Mit diesen Erkenntnissen kommen Ängste und Schmerzen, und es muss in jedem Schritt wieder eine Geburt vollzogen werden, mit allem, was dazugehört. In jedem Sich-Gebären wird die mächtige Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Anderen vollzogen. Das ist der einzig gangbare Weg zur vollen Unabhängigkeit, zur Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung. 

Zum Weiterlesen:

Sonntag, 13. Januar 2019

Die Erderwärmung und die innere Wärme

Thomas Hübl stellt im Zusammenhang mit der Klimaerwärmung die Frage nach der Lösung des Problems innerhalb des Mensch-Natur-Systems: „Unsere Lebensweise ist nicht ganz gesund, und die überhitzte Atmosphäre repräsentiert einen überhitzten Teil unserer menschlichen Erfahrung. Sie ist ein Hinweisschild, um unsere Lebensweise zu verändern oder die Form, wie wir auf das Hauptorganisationsprinzip des menschlichen Systems bezogen sind. Der Klimawandel ist ein Symptom von etwas, und wir müssen den Ursprung finden – wo ist das Feuer?“ (Übersetzung WE)

Ganz offensichtlich ist zwischen Mensch und Natur etwas gravierend ins Ungleichgewicht geraten, was sich unter anderem an der Überwärmung zeigt. Ich möchte hier den Trend zur Verbesserung des Lebens näher beleuchten, der sehr eng mit dem Menschsein und mit der Auseinanderentwicklung der Menschen von der Natur verbunden ist. Möglicherweise gibt es von dort eine direkte Verbindung zum Thema „Der Mensch und die Wärme“.


Die Verengung der Komfortzone


Der Zivilisationsprozess, der uns von der Steinzeit in die postmoderne Konsumwelt geführt hat, wird von der Idee der Optimierung des menschlichen Daseins angetrieben. Diese Idee verspricht ein Mehr an Bequemlichkeit und ein Weniger an Belastungen innerhalb unserer Komfortzone, die sich im Lauf dieses Prozesses zunehmend verengt. Angenehme Erfahrungen sollen maximiert und unangenehme minimiert werden. Das ist etwas, was wohl jeder Mensch will, um das zu belegen braucht es keine Meinungsumfragen. In der zeitlichen Dynamik entsteht dadurch eine steile, progressiv nach oben weisende Entwicklung. Das besonders Angenehme und Erstrebenswerte von vorhin wird mit der Zeit zum Selbstverständlichen und bald nachher zum Langweiligen, Unangenehmen oder zu Vermeidenden. 

Der Urlaub bei einem Badesee in der Nähe, eine Besonderheit in der Kindheit, wird zum weniger Interessanten beim Erwachsenwerden, das mehr in die Weite drängt und dort neue, weiter entfernte Orte spannend findet, während die früheren Plätze der Erholung als langweilig und uncool bewertet werden. Das Radio war für unsere Groß- oder Urgroßeltern eine Sensation. Heute ist es eine selbstverständliche und etwas antiquiert wirkende Randerscheinung in der Medienszene, die wir nur nutzen, wenn unsere visuellen Kanäle anderweitig bedient werden. Schwarz-weiß-Kino oder -Fernsehen wirkt skurril und unwirklich. Ohne HD-Farbpalette auf wandfüllendem Bildschirm fühlen wir uns visuell unterfordert und ärmlich. 

Der Zivilisationsprozess führt nicht zu einer Erweiterung und Vergrößerung der Komfortzone, sondern verschiebt sie nur nach weiter oben und verkleinert sie dabei. Wir erwerben keine höhere Toleranz für Mangelzustände, Extreme oder Notfälle, im Gegenteil, wir werden immer empfindlicher für kleine und kleinste Störungen. Wenn ein Zug oder ein Flug Verspätung hat, bekommen wir die Krise, wenn es zu stark oder zu wenig regnet, müssen Notfallpläne entwickelt werden, wenn der Sex nicht mehr unseren Bedürfnissen entspricht, müssen wir die zugehörige Beziehung beenden, wenn das Lieblingsjoghurt nicht im Regal steht, beschweren wir uns, und wenn uns die Kellnerin im Lokal unfreundlich bedient, erst recht. 

Unsere Bedürfnisse und Erwartungen verästeln und erweitern sich, in dem Maß wie die Verkaufsflächen der Shopping-Centers und Supermärkte samt Riesenparkplätzen wachsen. Wir gehen nicht in eine Bäckerei, um Brot zu kaufen, sondern um unter 20 Gebäcksorten wählen zu können. Wir fahren nicht auf Urlaub, weil wir uns an einem anderen Ort entspannen können, sondern wollen eine ganze Menge von Bedürfnissen auf einmal befriedigt bekommen: nach Abwechslung, interessanter Landschaft, Sonne, Wärme, Baden, gutem Essen, freundlicher Bedienung, Faulsein, Zeithaben ohne Langeweile, usw. Wenn einer der Faktoren zu schwach vertreten ist, werden wir unzufrieden und fühlen den gleichen Mangel wie jene, die sich nicht einmal einen Urlaub leisten können.

Die Festlegung auf diesen Trend bedeutet auch, dass mit steigender Bequemlichkeit nicht notwendigerweise unsere Zufriedenheit steigt, sondern dass mit jedem Schritt zu mehr Komfort die Ansprüche nach noch mehr Komfort mitwachsen. Es ist also kein Ende des Wachstums absehbar, außer wenn sich ein Mensch mehr dem Inneren zuwendet und dort die Quelle für Zufriedenheit und Bescheidenheit sucht. Alle Ansprüche, die sich an die äußere Umwelt richten, bewirken hingegen mehr Verbrauch von Ressourcen und sind damit potenzielle Bedrohungen für das Gleichgewicht auf dem Planeten und folglich für uns selbst als Menschheit.  

Außerdem werden wir zunehmend abhängiger von äußeren Instanzen, wenn wir an die Grenzen der Komfortzone geraten. Schuld ist immer das Reisebüro, wie es in dem berühmten Sketch von Bronner und Qualtinger heißt. Verantwortlich sind jeweiligen Dienstleister, die uns mehr oder weniger gut bedienen und dafür mit null bis fünf Sternen bewertet werden. Aber dazu, dass sie besser werden, sprich unsere komplexen Bedürfnisse noch genauer befriedigen, können wir wenig beitragen. 

Zusammenfassend: Wir können uns immer weniger selbst helfen, während die Probleme, an denen wir leiden, mehr werden. So ist lautet das pessimistische Fazit dieser Beobachtungen.

Dazu kommt: Der zivilisatorische Trend zur Bequemlichkeit ist mit einem Sperrklinkeneffekt versehen: Wir wollen, dass er nur in eine Richtung geht, weil wir große Angst vor jeder Verschlechterung haben, denn sie könnte der Anfang für einen völligen Wohlstandsverlust und Bequemlichkeitsabstieg sein. Deshalb haben wir diese Richtung eindeutig definiert, nämlich als Vermehrung der Bequemlichkeit durch mehr Güter. Diese Richtung ist klarerweise mit einem verstärkten Verbrauch von Ressourcen verbunden und stresst das Mensch-Umwelt-System.


Das innere Klima


Wenn wir einen Zusammenhang zwischen der Bedürfnis- und Ansprücheevolution und der Klimaerwärmung herstellen, geht es um die Temperatur in unseren Komfortzonen. Unsere Vorfahren hatten ein anderes und direkteres Verhältnis zu Wärme und Kälte, weil die Temperatur in viel stärkerem Maß von der Natur vorgegeben war und unter die Haut gegangen sind. Das „Dach über dem Kopf“ sorgte zwar für eine gewisse Isolation, aber die damaligen Heizungssysteme, soweit sie überhaupt leistbar waren, konnten nur bei gemäßigten Außentemperaturen für eine gleichmäßige innere Raumtemperatur sorgen. Im Zug des Fortschritts in der Zivilisation sind verschiedene Schichten entstanden, die das Innen vor dem Außen abschirmen und schützen. 

Heute gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass uns eine konstante Wohlfühltemperatur mit minimalen Abweichungen nach oben und unten zusteht und gebührt. Deshalb gibt es Zentralheizungen, die bei Außenkälte jeden Raum einer Wohnung oder eines Hauses mit dem gleichen und gleichbleibenden Wärmegrad versorgen, und Klimaanlagen, die bei Außenhitze für die gleichmäßige Innenwärme sorgen.

Die Erfindung und Verbreitung der Zentralheizungen und Klimaanlagen haben allerdings automatisch zu einer Einengung der Komfort- und Toleranzzone geführt, was die Temperaturempfindlichkeit anbetrifft. Wir werden unweigerlich weniger kälte- und hitzeresistent und damit klimasensitiver, weil wir unserem Körper kaum mehr Möglichkeiten bieten, sich auf extremere Temperaturen einzustellen. Viele Menschen kommen mit der wirklichen Außentemperatur nur mehr in den Zwischenräumen in Kontakt, wenn sie von einem klimatisierten Bereich in einen anderen wechseln, und viele Menschen versuchen zusätzlich bewusst, diese Zwischenbereiche zu verringern. Autos brauchen beheizbare Sitze, damit der Kälteschock zwischen dem Verlassen des Wohn- oder Bürobereichs und dem Einsteigen ins Auto möglichst winzig bleibt. Beheizte Kleidungsstücke erlauben die ununterbrochene Behaglichkeit. Öffentliche Räume müssen beheizt werden, damit ja niemand frieren muss, der sich von A nach B bewegt. Einkaufszentren werden klimatisiert, damit es niemandem beim Shoppen zu heiß wird. Wir erweitern nicht unsere Komfortzone, sondern verbrauchen Energie, um sie im eingeengten Rahmen erhalten zu können, so, wie sie ist.


Die Kälte und der Mensch


Den meisten von uns geht es so gut, dass sie nicht erfrieren müssen. Viele leben aber am oberen Ende der Behaglichkeitszone, eine Lebensweise, die mit hohem Energieverbrauch verbunden ist. Ein Grad weniger Raumtemperatur spart 6 % bei den Energiekosten. Wir können auch unter tieferen Temperaturen ressourcenschonender leben, wenn wir dafür die Verantwortung übernehmen und uns darum bemühen. Wir können lernen, statt uns vor der Kälte zu schützen, sie als Freund zu gewinnen, indem wir uns viel mehr und viel öfter der wirklichen Außenluft aussetzen und uns bewusst damit auseinandersetzen. Wie mit allen anderen Phänomenen unserer Erfahrung, können wir auch mit der Kälte kommunizieren. Anstatt innerlich einzufrieren, wenn es außen kalt ist, können wir kreativ mit der Herausforderung umgehen. Wenn wir gelernt haben, Kälte achtsam und bewusst zu erleben, fällt es uns leichter, die Kälte im Außen zu belassen und die Wärme im Inneren zu behalten. 

Der Kältemeister Wim Hof hat in einem wissenschaftlich begleiteten Experiment bewiesen, dass das geht: Er saß 80 Minuten in Wasser mit 1 Grad Celsius, ohne dass sich seine innere Temperatur veränderte. Unser Stoffwechsel ist in der Lage, unsere innere Wärme stabil zu halten, unabhängig von der Außentemperatur. Was wir dafür brauchen, ist Übung und Konzentrationsfähigkeit. Wenn wir achtsam und bewusst mit Kälte umgehen, wird sie von der Feindin, vor der wir uns schützen müssen, zur Freundin, mit der wir spielen können. Auf diese Weise erweitern wir unsere Komfortzonen aktiv und werden damit handlungsfähiger und flexibler. Zugleich wird die Abhängigkeit von äußerer Versorgung mit Wärme reduziert.


Überhitzung und Überatmung


Der irische Buteyko-Lehrer Patrick McKeown schreibt in seinem Buch: The Oxygen Advantage: The Simple, Scientifically Proven Breathing Techniques for a Healthier, Slimmer, and Fitter You:
„Wir nehmen an, dass der Körper reflexiv weiß, wieviel Luft er zu jeder Zeit braucht, aber leider ist das nicht der Fall. Über die Jahrhunderte haben wir unsere Umwelt so dramatisch verändert, dass viele ihre angeborene Atemform vergessen haben. Der Prozess des Atmens wurde verzogen durch chronischen Stress, sitzender Lebensstil, ungesundes Essen, überhitztes Wohnen und Mangel an Fitness. Alle diese Faktoren tragen zu schlechten Atemgewohnheiten bei. Diese wiederum bewirken Lethargie, Gewichtszunahme, Schlafprobleme, Atembeschwerden und Herzkrankheiten.“ (Übersetzung WE)

Die Vertreter der Buteyko-Atemschule nehmen an, dass wir als Abwehr gegen eine bewusst gar nicht mehr wahrgenommene Überhitzung anfangen, schneller als notwendig zu atmen. Dadurch atmen wir zu viel Kohlendioxid aus, was unser Blut in den alkalischen Bereich bringt. Als Folge dieser physiologischen Veränderungen treten verschiedene Probleme auf, ohne dass wir merken, wo die Ursachen liegen. Eine davon sind überhitzte Wohn- und Arbeitsräume, die nicht unseren körperlichen Möglichkeiten, sondern unseren angewohnten Komfortzonen entsprechen. 

Ebenso wie andere Atemschulen, empfiehlt die Buteyko-Schule tägliches kaltes Duschen, um den Körper wieder an seine Möglichkeiten zu erinnern, Kälte ohne Abwehr zu erleben und die entsprechende Komfortzone zu erweitern. Das bewusste Atmen hilft uns, über den reflexiven Widerstand gegen die Kälte hinauszugehen. Mit dieser Kompetenz können wir, abgesehen von vielen gesundheitlichen Vorteilen, mehr Handlungsfreiheit Im Temperaturbereich gewinnen und werden unabhängiger von äußerlich vorgegebenen Bedingungen. Zusätzlich steigen wir aus dieser Schiene der Überhitzungsdynamik aus.


Die Hitze und der Mensch 



Was die Hitze anbetrifft, kommen wir im Zug der Erderwärmung mehr und mehr an den Rand einer Grenze, die uns unser Körper setzt. Kein Mensch kann auf längere Zeit unter Hitze bei hoher Luftfeuchtigkeit überleben: Bei 90 Prozent Luftfeuchtigkeit und 40 Grad Lufttemperatur würde ein menschlicher Körper innerhalb von Stunden zu Tode gekocht, von innen wie von außen. Vor allem in Großstädten wird sich die Situation zuspitzen. Aber auch ganze Regionen, die jetzt dicht besiedelt sind, werden als Folge der prognostizierten Temperaturanstiege in Zukunft unbewohnbar, außer es werden dort die Innenräume mit enormem Energieaufwand gekühlt, was natürlich wiederum die Erderwärmung insgesamt anheizt. 

Die Hitze macht uns darauf aufmerksam, dass wir auf der Temperaturskala nach oben hin begrenzt sind. Symbolisch bedeutet das Oben ein Mehr, eine Steigerung, einen Fortschritt. Wir erkennen jetzt, dass diese Richtung zur Überhitzung führt, die in absehbaren Zeiträumen menschliches Leben unmöglich macht. Wir sägen also an dem Ast, auf dem wir sitzen, und wir sägen fleißig und kommen uns dabei auch noch produktiv vor, wenn wir vor Anstrengung schwitzen. Wollen wir im gemäßigten Bereich bleiben, müssen wir die suggestive Kraft der Idee des unbegrenzten Wachstums und Fortschritts in Bezug auf die Güteranhäufung verabschieden. 

Güter machen uns nicht glücklich, sie heizen uns nur auf, und diese Hitze wollen wir dann mit weiteren Gütern eindämmen. So kann es nicht gehen. Das Gegenmittel ist einfach: Glück und Lebenszufriedenheit sind nur im Inneren zu finden. Dort ist es immer warm genug.

Freitag, 4. Januar 2019

Mehr Konflikte durch gelingende Integration - und das soll gut sein?

Aladin El-Malaalani: Das Integrations-Paradoxon. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Köln: Kiepenheuer&Witsch 2018

„Die zentrale Folge gelungener Integration ist ein erhöhtes Konfliktpotenzial.“ (S. 59)

So lautet die überraschende Kernthese dieses empfehlenswerten Buches über den vieldiskutierten Themenkomplex Migration und Integration. Denn die meisten erwarten sich von gelingender Integration ein Abnehmen der Konflikte und damit mehr Frieden. Die eingewanderten Ausländer sollen sich anpassen, sodass sie nicht auffallen, und dann sollte es keine Wickel mehr geben.

Doch der Autor muss es wohl besser wissen. Er arbeitet an einer deutschen Fachhochschule als Forscher, ist also ein deutscher Wissenschaftler – oder doch nicht? Seine Eltern sind vor 40 Jahren aus Syrien emigriert, er trägt einen arabischen Namen, schaut nicht wie ein "typischer Deutscher" aus und hat also einen „Migrationshintergrund“; ein Begriff, der im Buch kontroversiell diskutiert wird, ebenso wie die Frage, was denn „deutsch“ eigentlich ist.

Warum nun muss eine gelungene Integration mehr Konflikte hervorrufen? Menschen, die neu in ein Land kommen, ordnen sich zunächst unter. Sie sind froh, dass sie es geschafft haben, ihrem Fluchtgrund entkommen zu sein und lassen sich langsam auf die neue Situation ein. Sie stellen wenig Ansprüche und nehmen vieles hin. Menschen, die sich dann nach einiger Zeit in die  Gastkultur integriert haben, fühlen sich mehr zugehörig und sehen mehr Gemeinsamkeiten mit anderen Mitgliedern dieser Kultur. Auf dieser Grundlage wollen sie sich aber auch mehr einmischen und mehr teilhaben. Dadurch kann mehr Streit entstehen.



Diskriminierung ist eine Folge von Bewertungen und Erwartungen


Je mehr Vertrautheit sich im neuen Land und in der neuen Gesellschaft entwickelt, desto schneller wachsen die Ansprüche und die Empfindlichkeiten. Mit dem stärker werdenden Gefühl für Zugehörigkeit wird auch deutlicher spürbar, wo es Diskriminierungen und Unduldsamkeiten gibt, die nicht länger akzeptiert, sondern kritisch thematisiert werden. „Wahrgenommene Diskriminierung entsteht erst durch die Bewertung. Nur dann, wenn eine Ungleichbehandlung als illegitim bewertet wird, fühlen sich Menschen diskriminiert. Als illegitim bewerten sie Handlungen und Situationen dann, wenn die Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität zu groß wird, wenn also die Realität zu weit von den Erwartungen abweicht.“ (85)

Als Beispiel kann man vergleichsweise darauf hinweisen, dass die Frauen in den 1960er Jahren mit ihrer viel schlechteren Rolle zufriedener waren, als sie es heute mit ihrer viel besseren sind. Mit einer erfolgreichen Integration steigen die Erwartungen, und daraus erwachsen wiederum mehr Sensibilitäten, was Diskriminierungen anbetrifft. Solche Schlechterstellungen anzuprangern, zeugt von einem verstärkten Sicherheitsgefühl in der neuen Umgebung, erzeugt aber auch mehr Konflikte. „Integration steigert das Konfliktpotenzial in einer Gesellschaft. Es gibt aufgrund gelungener Integration Konflikte, die es ohne Integration nicht gegeben hätte.“ (123)

Der Autor sieht Streit (in einer konstruktiven Form) als Kitt der Gemeinschaft – unterschiedliche Sichtweisen und Perspektiven steigern das kreative Potenzial. Deshalb sind klassische Einwanderungsländer besonders produktiv und innovativ. Das gegenseitige Lernen, das beim respektvollen Streiten passieren kann, erweitert die Horizonte und schafft neue Möglichkeiten. „Näherkommen und Zusammenwachsen können dazu provozieren, die Differenzen zu betonen, weil sie kleiner werden.“ (S.15) 



Integration ist mit Ängsten und Schmerzen verbunden - für beide Seiten


„Zusammenwachsen dauert und tut weh“ (S. 37), weil eigene Vorstellungen relativiert und liebgewonnene Gewohnheiten in Frage gestellt werden müssen und Fremdes und Unvertrautes näher rückt, was Unsicherheiten und Ängste auslöst. Viele hätten es lieber behaglich in der eigenen bekannten Umgebung mit den althergebrachten Traditionen, statt sich auf Neues und Fremdes einstellen zu müssen. So lautet das Kalkül der Bewahrer und der Gegner der Öffnung. Nur bewirkt das Zumachen der Grenzen den Verzicht auf Entwicklung und Wachstum. Das sei allen Enthusiasten von Mauern und Zäunen ins Stammbuch geschrieben.

Meist sind das auch die Leute, die fordern, dass sich die Menschen assimilieren, wenn sie schon ins eigene Land gelassen wird. Doch dieser Erwartung erteilt der Autor eine entschiedene Absage: Das Ansinnen, die eigene Identität, die durch das Aufwachsen in der Heimatkultur entstanden ist, aufzugeben, ist unsinnig. Die eigene Identität kann nur aufgeben, wer mit sich selber uneins ist, und wer mit sich uneins ist, braucht eine Therapie. Menschen migrieren aber nicht, weil sie mit sich selber im Zerwürfnis sind, sondern weil es die äußeren Umstände erzwingen. Sie kommen meist mit einer Bejahung ihres Glaubens, ihrer Werte, ihrer Sprache in die neue Umgebung. Sie haben keinen Grund, sich selber deshalb zu verleugnen. Wer das verlangt, denkt unmenschlich: Wir brauchen uns nur auf das Gedankenexperiment einlassen, selber auswandern zu müssen, und da würde ein Gastland z.B. Japan fordern, man müsse dort Japaner werden und alles, was zur eigenen kulturellen Identität gehört, aufgeben. Das will wohl niemand.



Loyalität und Erfolg


Allerdings wird das Problem dort komplexer, wo die Kinder ins Spiel kommen. Sie sollen es in der neuen Kultur besonders gut schaffen und ihr Bestes geben, um erfolgreich zu sein. Dazu müssen sie sich sehr an die im Gastland herrschenden Anforderungen und Werte anpassen und entfremden sich damit ein Stück von der Welt der Eltern, die sich als Migranten in der fremden Umgebung umso mehr an die eigenen Traditionen und kulturellen Elemente klammern. Sie müssen ihre eigene Identität aus einer Mischung der familialen und der neuen Kultur entwickeln. Es entsteht ein Konfliktfeld zwischen Loyalität und Erfolg, das sich durch viele Familien „mit Migrationshintergrund“ zieht und das konstruktiv bewältigt werden muss.


Die beste aller bisherigen Welten


Während wir in den Medien immer wieder über Katastrophen, Kriege und Konflikte informiert werden, geht unter, dass sich der Lebensstandard der Menschen in der ganzen Welt seit Jahrzehnten schrittweise bessert – es gibt weniger Armut und Hunger, höhere Lebenserwartung und Durchschnittseinkommen, eine enorm gestiegene Alphabetisierungsrate und eine erhebliche Steigerung des Zugangs zur Elektrizität und auch zu Bildung. Also leben wir in einer Welt, in der es so vielen Menschen noch nie so gut gegangen ist, was die Basisbedingungen und Entwicklungschancen angeht. Aus dieser Perspektive betrachtet, leben wir in der besten aller bisherigen Welten – und deshalb auch in der Welt mit dem höchsten Verbesserungsbedarf.


Nun könnten wir meinen, dass diese schon über Jahrzehnte wirkenden Trends zu einem Rückgang der Migration führen müssen. Doch sollten wir nicht außer Acht lassen, dass die Migranten nicht aus den ärmsten Ländern kommen, sondern aus Schwellenländern. Migration erfordert „ein vergleichsweise hohes Maß an Fitness, viel Geld und gute Netzwerke. ...Es kommen nicht die Ärmsten und Schwächsten.“ (149)

Deshalb ist es auch naiv anzunehmen (wie das viele Politiker tun und ihren Anhängern vorgaukeln), dass die Zuwanderung nach Europa dadurch reduziert werden könnte, wenn die Entwicklungshilfe und Wirtschaftsförderung ausgeweitet wird („Die Migrationsursachen vor Ort bekämpfen“). Die Forschung geht von gegenteiligen Entwicklungen aus, denn mit dem steigenden Wohlstand in einem Land steigen auch die Ressourcen für eine Auswanderung bei denen, die noch mehr Anteil am globalen Kuchen wollen.

Statt dessen sollte der Blick darauf gerichtet werden, was die europäische Politik direkt zur Ankurbelung der Migration beiträgt: „Unfaire Handelsabkommen, interessengeleitete Subventionspolitik und natürlich nicht zuletzt … Waffenlieferungen“ (152). Migration hingegen leistet umgekehrt einen recht effektiven Beitrag zur Entwicklungsförderung, denn die Migranten, die es im neuen Land geschafft haben, überweisen Gelder zurück in ihre Heimatländer, die dort direkt den Menschen zugute kommen und an der Basis in die Wirtschaft einfließen, und nicht, wie es bei Finanzmitteln aus der Entwicklungshilfe häufig der Fall ist, in korrupten Kanälen versickern.

Ob es uns passt oder nicht – wir müssen uns darauf einstellen, dass die Migration weitergeht. Sie war und ist Teil unserer Geschichte (in der Zwischenkriegszeit war Deutschland das Auswanderungsland Nummer 1 und auch in Randgebieten Österreichs haben sich ganze Gegenden durch die Migration nach Amerika entvölkert) und sie wird auch Teil unserer Zukunft sein. Wir sollten nicht vergessen, dass es die europäischen Eroberer und Auswanderer waren, die die Globalisierung erfunden haben und dass Europa über Jahrhunderte enorm davon profitiert hat – und auch in Zukunft daraus Gewinn schöpfen kann, wenn es gelingt, die mit der Integration migrierter Menschen verbundenen Konfliktfelder konstruktiv und kooperativ zu nutzen. Wir verfügen über ein reichhaltigen Wissen über Konfliktlösungen; wenn wir darauf vertrauen, brauchen wir keine Angst vor Zuwanderung oder Überfremdung haben, sondern können sie als Chance sehen.