Samstag, 17. Juli 2021

Akzeptieren, was ist: Teil 5: Akzeptanz und Kritik

Dürfen wir Kritik üben, weil ja dadurch eine Spaltung zwischen Ich und Welt geschaffen wird?

Kritik ist wichtig, weil sie die Aufgabe hat, aufzuzeigen, welche Bereiche oder Dynamiken der Wirklichkeit Schaden anrichten und Leid bewirken. Kritik zeigt auf, was verändert werden muss, damit die Welt gerechter und nachhaltiger wird. Es gibt zwar auch Kritik, in der sich das Ego austobt, bei der es also um das Durchsetzen selbstsüchtiger Interessen geht, es gibt aber auch andere Richtungen der Kritik, die Missstände anprangert, Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten aufdeckt und auf negative Konsequenzen aktueller Entscheidungen hinweist. Kritik, die eine Verbesserung der menschlichen Umstände zum Ziel hat, ist unverzichtbar für den Fortschritt der Menschheit zu mehr Menschlichkeit. Wenn z.B. korrupte Machenschaften nicht öffentlich gemacht und kritisiert werden, bleiben solche Missstände weiter bestehen.

Es ist also auch die kritische Unterscheidungskraft von Nöten, die ego-zentrierte Kritikformen und gemeinwohlorientierte Kritikformen auseinander dividiert. Wiederum ist es die Bewusstheit und innere Achtsamkeit, die uns dieses Unterscheiden ermöglicht: Ist der Nutznießer unserer Kritik unser eigenes Fortkommen oder geht es um ein größeres Ganzes?

Wenn wir vorbehaltslos und ehrlich in uns forschen, wird uns zwar deutlich werden, dass es bei jeder Form der Kritik an Phänomenen der Wirklichkeit ego-gesteuerte Anteile gibt: Gelingt uns ein guter und anerkannter kritischer Beitrag, so macht uns das stolz. Aber wir sollten darauf achten, dass unsere Kritik das Gemeinwohl im Fokus hat, wenn wir Mängel an der Wirklichkeit einmahnen. Es sollte also nicht primär um die eigene Haut oder das eigene Bankkonto gehen, wenn wir etwas kritisieren, sondern um das Wohl möglichst vieler Mitmenschen, die zukünftigen mit eingeschlossen. Denn wir legen jetzt die Grundlagen für das Leben unserer Kinder, Enkelkinder und Urenkelkinder. Oder wir konsumieren unseren Luxus frivol und unbewusst auf ihre Kosten.

Dennoch: Auch wenn ich keine egoistische, sondern eine auf die Allgemeinheit bezogene Kritik übe, trenne ich mich ja von der Wirklichkeit, weil ich den Gegenstand der Kritik in seinem So-Sein ablehne und anders haben möchte?

Der Akt der Kritik beinhaltet ein Heraustreten aus dem Einssein, wie es im bedingungslosen Akzeptieren besteht. Wir kommen zwar aus dem Einssein – und es ist dieser Zustand, der uns darauf aufmerksam macht, dass etwas in der Wirklichkeit leidet. Aber wir treten heraus aus der innigen Akzeptanz-Verbindung, um unseren Beitrag einzubringen, der die Wirklichkeit verändern will.

Das Kritisieren ist eine Handlung (meist eine Sprachhandlung), und Handlungen sind immer Interaktionen zwischen dem Ich und der Welt. Das Ich setzt sich ab von der Welt und nimmt ihr gegenüber einen Standpunkt ein. Nur so sind wir handlungsfähig, nur so können wir Einfluss nehmen und Veränderungen herbeiführen.

Wie schon erwähnt, liegt in jedem Ablehnen der Wirklichkeit ein Stück Wut. Auch Kritik ist von Zorn geprägt, von heiligem Zorn, wenn es um ein Anliegen des Ganzen geht: Um himmelschreiende Ungerechtigkeiten, Unterdrückung und Ausbeutung, um die Zerstörung von Lebensgrundlagen und Überlebensbedingungen der Menschheit, also um massiv gemeinwohlstörenden Aktionen. Ohne den artikulierten Zorn gegen solche Handlungen wirken diese weiter und bringen neue hervor. Diese heile Wut darf allerdings nicht übers Ziel schießen und selber zu Gewalttätigkeit neigen, sondern muss sich mit Besonnenheit paaren, um erfolgreich sein zu können.

Zustand und Handlung

Ist das Akzeptieren ein Zustand oder eine Handlung?

Die Akzeptanz besteht darin, dass Ich und Welt in einem bestimmten Moment der Erfahrung eins sind. Sie ist also eigentlich ein Zustand und kein bewusst vollzogener Akt, indem z.B. jemand sagt: Statt mich aufzuregen und zu beklagen, akzeptiere ich jetzt, dass das, was ist, ist. Zwar kommen solche innere Handlungen vor und helfen uns dabei, von der Trennung zum Einssein zu kommen. Diesen Akt brauchen wir, wenn wir uns von der Wirklichkeit abgetrennt haben. Es ist die Erinnerung, das Wachrufen, der Zen-Stock, der aus der Trennung zurückruft. Wir können daraufhin den Fokus unserer Aufmerksamkeit verschieben, von dem Teil der Wirklichkeit, der uns gerade gefesselt hat, zum Ganzen, das alles, auch uns selber umfasst.

Die Akzeptanz ist einfach da, solange sich unsere Gefühle und unser Verstand nicht einmischen. Es ist eine Art Normalzustand, in dem wir mit der Wirklichkeit mitschwingen. Das Tun kommt aus der Erfahrung und verändert sie, während sie wiederum ein neues Tun hervorbringt, ein Pulsieren zwischen Passivität und Aktivität, Sein und Handeln. Sobald Schutzgefühle und Schutzgedanken das Kommando übernehmen, geht diese ausgeglichene Pulsation verloren und es braucht einen Akt der Bewusstmachung und einen der Herstellung der Wieder-Übereinstimmung.

Die Notwendigkeit der Kritik

Aber wie kann man akzeptieren, was ist, und zugleich Kritik daran üben?

Der Zustand der Akzeptanz ist bewertungsfrei, weil der Verstand keine Rolle spielt. Er ist wichtig für die Gesamtaufnahme, also für ein vorurteilsloses Wahrnehmen möglichst vieler Aspekte der Wirklichkeit oder eines bestimmten Wirklichkeitsbereiches. Wenn wir an einem dieser Bereiche Kritik üben, ohne das ganze Bild erkannt zu haben, kommt die Kritik aus Projektionen, hinter denen wiederum Ängste des Egos stecken. Das kritische Denken will also Umstände schaffen, die für das eigene Überleben günstiger sind, und strebt danach, die Wirklichkeit in diese Richtung zu verändern.

Eine Kritik, die das Ganze im Blick hat, ist notwendig, wenn die Wirklichkeit in eine Richtung verändert werden soll, die allen oder möglichst vielen mehr Gerechtigkeit und Lebens- und Glückschancen bietet. Es gilt also, das Ganze im Blick zu halten, wobei niemand alle Details oder Aspekte erkennen kann. Die Intention macht den Unterschied: Will die Person, die Kritik übt, die eigene Haut retten oder die Umstände für das globale Überleben verbessern und sichern?

Das Beispiel Greta Thunberg

An bestimmten Debatten um Greta Thunberg, der schwedischen Klimaaktivistin, wird diese Trennlinie sichtbar: Sobald sie übernational bekannt wurde und zu einer Ikone der Klimaschutzbewegung aufgestiegen ist, meldeten sich Stimmen, die behaupteten, dass es sich um ein abgekartetes Spiel handle, mit der Absicht, bei irgendwelchen Menschen im Hintergrund die Kassen hurtiger klingeln zu lassen. Es steckten also gewinnsüchtige, Ego-gesteuerte Menschen hinter der Kampagne und es ginge nicht um das Überleben der Menschenfamilie auf diesem Planeten. Die kritische Frage ist berechtigt, weil wir immer prüfen müssen – bei uns selbst und bei anderen –, welche Intentionen hinter den Handlungen stecken, die aus der Kritik an herrschenden Zuständen motiviert sind.

Im Fall von Thunberg, die inzwischen eine Reihe von engagierten Mitstreitern und Mitstreiterinnen aus ihrer Generation in vielen Ländern gewonnen hat, dürfte die Sachlage mittlerweile klar sein. Sie schreibt ihre Texte und Reden selber und erscheint als eine Person, die kaum manipulierbar ist und einen hohen Grad an Selbstsicherheit und Unbeirrtheit in Hinblick auf ihr Engagement aufweist. Sie ist außerdem sehr darauf bedacht, sich ein Gesamtbild zu machen, indem sie eine große Zahl von wissenschaftlichen Studien für die Begründung ihrer Standpunkte verwendet. Zumindest medial sind inzwischen die Stimmen der Kritiker, die ihr unlautere Motive unterstellen, weitgehend verstummt.

Manche Menschen brauchen drastische Erfahrungen, die ihr eigenes Leben verändern, um ihre Weltsicht zu korrigieren. Die im Hochwasser schwimmenden Autos mit den Aufklebern „Fuck Greta“ geben ein beredtes Zeichen dieser Einstellung, ebenso wie der Cartoon, wo zwei Leute auf ihren Lehnsesseln bis zum Bauch im Hochwasser sitzen und einer sagt: „Das Schlimmste daran ist, dass diese Öko-Gammler recht hatten.“

Mitfühlendes Akzeptieren

Vielleicht wiederhole ich mich – aber eine Wirklichkeit, die voll von Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten ist, kann doch keinen Seelenfrieden auslösen? Das wäre doch eine Form des Selbstbelügens und der Wirklichkeitsverleugnung!

Die Erfahrung des Ganzen umfasst auch alle Schmerzen und alle Leidensformen, die in ihr enthalten sind. Sie werden nur beurteilungsfrei wahrgenommen, ohne Erklärungen und Theorien. Sie wirken wie ein Stachel, der die Kritik und das aus ihr entwachsende Handeln aktiviert.                

Wir sind Teil des Ganzen, und andere Teile des Ganzen, die leiden, betreffen uns mit. Dessen werden wir uns bewusst, wenn wir uns im Akzeptieren des So-Seins befinden. Dennoch gibt es einen Frieden mit allen Schmerzen und Leiden, denn der Friede umschließt alles, was ist, auch den Unfrieden.

Die Wirklichkeit, die wir so lassen, wie sie ist, und die wir so nehmen, wie sie ist, lässt uns sein, wie wir sind und nimmt uns so, wie wir sind. Die Spannungen, Polaritäten, Konflikte, Ungleichheiten und Machtstrukturen gehören zu dieser Wirklichkeit lassen wir auf uns wirken, indem wir sie ohne Beurteilung und anderes Zutun wahrnehmen. Wir nehmen sie also in uns auf, ohne sie in Denkstrukturen einzuordnen. Damit sind alle ihre Probleme in uns und beeinflussen unsere Aktivitäten.

Wir haben also die Haltung eines mitfühlenden und präsenten Zuhörers, wenn wir uns im Zustand der Akzeptanz befinden. Jemand schildert sein Leid und seine Schmerzen, und wir sind mit ihm, ohne Absicht, Bewertung, Erklärung oder Ratschlag. Wir fühlen mit und lassen sein, was ist. Irgendwann verändert sich etwas, irgendwann werden vielleicht die Schmerzen leichter, vielleicht auch nicht. Es ist, wie es ist, und es darf sein, wie es ist. Wir nehmen am Leid teil im Sinn einer Anteilnahme. Wir lassen das Leid dort, wo es ist, und lassen uns zugleich von ihm berühren. Wir leiden nicht jdas Leid anderer Menschen, sondern werden mit dem eigenen Leid in Kontakt gebracht.

Ähnlich verhalten wir uns zum Ganzen im Zustand der Akzeptanz: Kein Zutun, kein Einmischen, aber das Geltenlassen von allem, was ist, gleich ob es angenehm oder unangenehm, erwartet oder unerwartet, gewollt oder ungewollt, gut oder böse ist. Wir vertrauen darauf, dass aus dieser Haltung des Gelten- und Seinlassens die Orientierung für unser Handeln, also auch für unsere Kritik entspringt, die uns zeigt, wie wir dem Ganzen am besten dienlich sein können.

Wir pendeln also von der Haltung der einfühlenden Präsenz zum dienenden Handeln, wie ein Tanz zwischen dem Sein und dem Tun, umfasst vom Ganzen, in dem sich alles abspielt.

Zum Weiterlesen:

Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)
Akzeptieren, was ist (Teil 6)
Akzeptieren, was ist (Teil 7)
Akzeptieren, was ist (Teil 8)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen