Freitag, 14. Februar 2025

Der heroisierte Verzicht auf Empathie

Wir kennen ihn – diesen Typ des Politikers (fast immer männlich), der ohne mit der Wimper zu zucken verkündet, dass Sozialmaßnahmen gekürzt („geglättet“, „angeglichen“...) werden müssen, dass Migranten zurückgewiesen („Push-Back“) werden müssen, dass denen, die schon wenig haben, weggenommen werden muss, um die zu schonen, die mehr und auch die, die viel zu viel haben. Vermieden wird jede Art des Mitgefühls mit den Schwächeren und Ärmeren in der Gesellschaft. Das Zeigen von Mitgefühl ist das größte Tabu für solche Menschen, denn damit würden sie eine Schwäche kundtun. Ihr Mitgefühl gilt nur denen, die sie begünstigen und nicht jenen, denen sie schaden. Und dafür brüsten sie sich und stellen sich als Helden dar. Nach Natascha Strobl sind es „kalte, rationale Macher, die sich nicht von Mitleid oder anderen ‚weichlichen‘ Regungen irritieren lassen, sondern ihre harte, aber notwendige Agenda durchziehen.“ (Radikaler Konservativismus. Frankfurt: Suhrkamp 2021)

Empathie macht den Menschen zum Menschen

Was den Menschen zum Menschen macht, ist die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können. Es ist die Fähigkeit, von den eigenen Überlebensimpulsen absehen zu können und das Innenleben von Mitmenschen nachvollziehen zu können. Dazu gehört auch, das Leid von anderen wahr- und ernstnehmen zu können. Menschlich sein, heißt also, von den inneren Zuständen der anderen Menschen betroffen zu sein. Es geht dabei nicht nur um angenehme Gefühle wie Freude und Begeisterung, sondern auch um belastende wie Angst, Leid und Schmerz. Wenn wir uns vom Leid der anderen abschotten, dann entfernen wir uns von der Menschlichkeit und sind nur auf das eigene Überleben fixiert.

Die Menschheit konnte als Gattung nur mit Hilfe der Empathiefähigkeit überleben. Schwächer und langsamer als die Beutetiere wäre der homo sapiens bald ausgerottet worden, wenn er nicht auf Teamwork gesetzt hätte. Die technische und die soziale Intelligenz, über die er verfügt, haben seine Erfolgsgeschichte begründet. Die Empathie bildet das Zentrum der sozialen Intelligenz, weil sie den Gruppenzusammenhalt sichert: Jedes Mitglied der Gruppe fühlt sich gesehen und als Teil des Ganzen. 

Das sogenannte Bindungshormon Oxytocin sorgt dafür, dass die Beziehungen in einer Gruppe gefestigt werden und die Empathie wirken kann. Allerdings wird es auch aktiv, um die Gruppe vor anderen Gruppen zu verteidigen. Seine Devise ist gewissermaßen: Liebe nach innen und Aggression nach außen. Hier zeigt sich das Trügerische an der menschlichen Empathiefähigkeit. Sie kann unter bestimmten Umständen nach außen hin stillgelegt werden und sich ins Gegenteil, in den Hass verkehren. 

Die Evolution der menschlichen Zivilisation und Kultur hat dazu geführt, dass immer größere soziale Einheiten entstanden sind, bis zur Weltgesellschaft, die seit 1945 durch die UNO repräsentiert wird. Dementsprechend haben sich auch die Aufgaben ausgeweitet, sodass bestimmte Probleme nur im Zusammenwirken der ganzen Menschheit gelöst werden können. Die emotionale und soziale Voraussetzung dafür bildet die unbegrenzte und unbedingte Empathie. Das haben viele, wenn nicht alle Weisheitslehrer schon lange erkannt: Das ist die Botschaft über das Mitgefühl von Buddha oder über die Nächsten- und Feindesliebe von Jesus. Zugleich wissen wir, wie schwer wir uns tun, diese Bedingung für die Weiterentwicklung der Menschheit zu erfüllen. Die Tendenz, die das Sprichwort vom Hemd, das näher ist als der Rock, benennt, drängt sich immer wieder vor: Es ist unser Egoismus, der manchmal auch als Gruppenegoismus auftaucht.

Die Verherrlichung des Empathieverzichts

Unsere conditio humana, unsere unvollkommene Verfasstheit als Menschen, durchkreuzt immer wieder die ethischen Imperative, von denen wir im Grund wissen, dass sie stimmen und befolgt werden sollten. Allerdings gibt es eine Attitüde, die sich vermehrt in politischen Auseinandersetzungen im globalen Westen meldet, die ich als den heroisierten Verzicht auf Empathie bezeichnen möchte. Damit ist gemeint, dass die Menschlichkeit auf bestimmte Menschengruppen eingeschränkt wird, und dass das nicht mit einem Eingeständnis der Schwäche einhergeht, mehr nicht zu schaffen, sondern mit dem Pathos des heldenhaften Verzichts. 

Unter den Politikern vor allem auf der rechten Seite des politischen Spektrums gibt es die rhetorische Figur und pathetische Haltung, dass Härte und Unerbittlichkeit gegen andere (Migranten, Ausländer, Asylwerber etc.) aufgebracht werden muss, aus dem Mitgefühl für das Leiden des „eigenen Volkes“. Wer mit Fremden oder Schwachen Mitgefühl hat, verrät die eigenen Leute. Der hingegen, der all die anderen verachten kann, gilt bei den eigenen als Held.

Das Beispiel Heinrich Himmler

Diese rhetorische Wendung erinnert mich an Heinrich Himmler, den Reichsführer der SS im Nationalsozialismus, der 1943 in einer Rede gesagt hat: „Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt.“ 

Himmler zeigt Mitgefühl mit den SS-Verbrechern seiner Truppe, die es aushalten müssen, vor Leichenbergen, die sie angerichtet haben, zu stehen, und die dafür, dass sie dennoch „anständig“ geblieben seien, ein „Ruhmesblatt“ verdienen. Er verzichtet demonstrativ auf jedes Mitgefühl mit den Opfern. So sagt er an einer anderen Stelle in dieser Rede: „Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10.000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird.“ (Posner Reden 1943)

Gruppenegoismus und Fremdenhass

Das ist die radikale Position des Gruppenegoismus verbunden mit einem ebenso radikalen Fremdenhass: Maximales Mitgefühl nach innen, kein wie immer geartetes Mitgefühl nach außen, sondern zügelloser Hass. Ich möchte keinen der aktuellen Politiker mit Himmler gleichsetzen, bemerke aber, dass viele von diesen die gleiche Position einnehmen, nur mit verminderter Radikalität. Sie rühmen sich, brutal und hart zu sein und notfalls über Leichen zu gehen, weil sie meinen, damit ihren Leuten etwas Gutes zu tun. Die scheinbare Ruhmestat besteht darin, die Anfechtungen des Gewissens, das sich bei jeder Regung von Hass und Menschenverachtung meldet, zu überwinden und zu ignorieren. Das ist die Härte gegen sich selbst, und diese ist im Grund der Seele nichts als der Hass auf die eigene Menschlichkeit.

Der Verrat der eigenen Würde

Tatsächlich steckt hinter den kalten und grausamen Worten von Himmler eine Einsicht in die menschliche Psyche: Wer sich dem Leid von anderen verschließt und davon abschottet, zahlt einen hohen Preis an seiner Selbstachtung und Würde. Nur verdient diese Wendung gegen sich selbst kein Ruhmesblatt, sondern erfordert ein tiefes In-Sich-Gehen, ein Anerkennen und Aufsichnehmen der massiven Scham, die mit der Verleugnung der Empathie verbunden ist. Daraus könnte dann eine Umkehr, eine Rückkehr zur Menschlichkeit erwachsen.

Schamlosigkeit als Heldentat

Was wir bei den Nachahmern von Himmler allenthalben beobachten können, ist das perverse Pathos des sich aufopfernden Empathieverzichters, der als Heldentat ausruft, was nicht nur einen Selbstverrat darstellt, sondern auch die Grundlagen der Moral und damit des gesellschaftlichen Zusammenhalts angreift. Um von der moralischen Last abzulenken, die durch das Ausblenden des Mitgefühls entstanden ist, wird ein wild entschlossener Aktionismus ausgerufen. So soll der Anschein erweckt werden, „das Notwendige“ mit Tatkraft zu vollbringen, also das, was die Not der Binnengruppe wenden soll. Typisch dabei ist, dass meist Maßnahmen mit hohem Symbolwert und minimaler Wirkung gefordert und  Abhilfen für herbeigeredete Gefahren versprochen werden. Es wird also der Anschein erweckt, dass die Dinge verbessert werden, während sich nur die Kosmetik ändert.

Zuspruch kommt von allen, die an einer Not leiden und die in der Unverfrorenheit von empathielosen Führerfiguren einen Ausweg sehen. Diese bekommen eine Vorbildrolle, indem sie den Verzicht auf Mitgefühl als Tugend vor sich hertragen. Je mehr Nachahmer sie finden, desto rauer und gröber wird das gesellschaftliche Klima. Und der Erfolg durch zulaufende Anhänger und Wähler bestätigt die Haltung und verstärkt Tendenz zur Selbstverherrlichung. 

Hier zur Videofassung.

Zum Weiterlesen:
Empathie
Gibt es Grenzen des Mitgefühls?
Das Mitgefühl zwischen Helfersyndrom und Gleichgültigkeit
Die Solidaritätsschranke


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