Samstag, 27. Februar 2021

Digitale Einsamkeit: Covid und Psyche

Die Pandemie ist ein faszinierendes Phänomen, dessen Auswirkungen auf die Psyche so viele Facetten haben, wie es betroffene Menschen gibt. Wir können viele dieser Erscheinungen als Retraumatisierungen verstehen, d.h. als Wiederholungen früherer traumatischer Belastungen, die durch aktuelle Erfahrungen auftauchen und zu intensiven Gefühlsreaktionen führen. 

Beängstigende Digitalität 

Für viele Menschen bedeutet diese Zeit, dass sie sich mehr mit den digitalen Techniken und Medien auseinandersetzen müssen, ohne es zu wollen. Soziale Kontakte laufen wesentlich stärker über digitale Kanäle ab als über direkten, leibhaften und räumlich präsenten Austausch. Der Mangel an Nähe und zwischenmenschlicher Wärme, der daraus entsteht, ist offensichtlich; er wird gravierend, wenn durch die aktuellen Erfordernisse Mangelerfahrungen an Körperkontakt und Berührungen aus der Kindheit reaktiviert werden.  

Die Mangelerfahrung wird oft auf die gesamte digitale Welt projiziert mit der Klage, dass die Computer immer mehr Raum einnehmen und das Menschliche immer weiter zurückgedrängt wird. Dieser Trend ist unübersehbar und hängt mit der Unumkehrbarkeit der technologischen Entwicklung und der Dynamik des menschlichen Fortschrittsgeistes zusammen. Menschen wollen erfinden und gestalten, und die Folgen dieser Erfindungen und Gestaltungen melden sich erst nachträglich und müssen auf der sozialen Ebene bewältigt werden.  

Schwierig wird diese Verarbeitung dann, wenn die digitale Welt mit ihrer rationalen Logik und ihren standardisierten Abläufen mit dem emotionalen Klima der eigenen Frühzeit in Verbindung kommt. Schnell erscheint diese Welt undurchsichtig und feindlich, querlaufend mit den eigenen Bestrebungen. Es verschwinden die Perspektiven, wie trotz vermehrter Digitalität die analogen zwischenmenschlichen Beziehungen gepflegt werden können und wichtig bleiben. 

Eltern, die ihren Kindern immer wieder mit Spontaneität, Lebensfreude und Begeisterung begegnen, vermitteln emotionale Lebendigkeit und Sicherheit. Eltern hingegen, für die ein geregeltes Leben mit festgefügten Ritualen und Regeln wichtig ist und die die Erziehung danach ausrichten, dass die Kinder in die vorgegebenen Schemata eingepasst werden, vermitteln den Funktionsmodus als Normalzustand.  

Kinder mit diesem Hintergrund haben dann vor allem zwei Möglichkeiten: Sie identifizieren sich mit dem Funktionieren und richten sich in dieser kargen Welt ein. Ihnen wird die digitale Welt schnell vertraut und sie wachsen leicht in die abstrakten Zusammenhänge hinein. Die anderen bleiben dem Leiden am Mangel verhaftet, sodass sie jede Form der Digitalität an die Leblosigkeit im eigenen Familiensystem erinnert und abstößt. Schon die Eltern wurden als technische Gebilde erlebt, mehr als Maschinen denn als Menschen, deren Funktionsweisen erlernt werden müssen, um das eigene Überleben zu sichern. Zugleich konfrontiert jede Beschäftigung mit dem Medium und den Geräten mit dem Widerwillen gegen und der Abscheu vor den emotionalen Abweisungen in der Kindheit. Jemand, der oft kaltgestellt wurde, vielleicht sogar physisch (in den Keller gesperrt), wird jeden sperrigen digitalen Vorgang mit Kälte und Unlebendigkeit assoziieren. 

Was mit digitalen Geräten häufig passiert: Ein Knopfdruck ist falsch, schon stürzt alles ab. Was früher geschehen sein mag: Ein Blick oder eine Lautäußerung ist falsch, und schon bricht der Kontakt ab. In jedem Moment kann das soziale Überleben in Frage gestellt sein, ohne dass ersichtlich ist, was eigentlich falsch gelaufen ist, welcher Fehler gemacht wurde. In der Fragilität der Technik zeigt sich die Fragilität der frühen Beziehungen. Diese Mangelerfahrungen und Verletzungen steuern die emotionale Ladung bei, die existenziellen Gefährdungen aus den Vorerfahrungen liefern die emotionale Dramatik. 

Aufgezwungene Einsamkeit 

Diese Entwicklungen stehen in Zusammenhang mit den Regelungen für persönliche, also analoge Kontakte. Die Lockdowns haben für die meisten Menschen radikale Einschränkungen der sozialen Kontakte nach sich gezogen. Mit den Verlusten an analogen Formen des Austausches, die nur äußerst mangelhaft durch digital vermittelte Begegnungen ersetzt werden können, haben sich bei vielen Menschen Einsamkeitsgefühle gemeldet. Mit dem Andauern der Maßnahmen sind diese Gefühle langsam zu oft sehr belastenden Grundstimmungen herangewachsen sind, die bis zu Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit führen können.  

In diesen Gefühlen spiegeln sich alle Erfahrungen des Abgeschnittenseins und Verlassenseins wider, die in der frühen Lebenszeit aufgetreten sind. Es können Geburtserfahrungen sein (die Mutter ist nach der Geburt nicht da oder die Plazenta wurde zu schnell abgetrennt) oder Erlebnisse aus der Kindheit (die Eltern sind häufig weg oder emotional nicht anwesend). Unverstandene Kinder erlebten sich als einsam und verlassen, oft mitten in einer Familie mit vielen Menschen und oberflächlichem Reden.  

Das Gefühl des Abgeschnittenseins, das schon im Wort Lockdown mitschwingt, wird vor allem dann reaktiviert, wenn es frühe Erfahrungen gibt, dass die Verbindung zu den Hauptbezugspersonen verloren geht. Der Beziehungsabbruch kann jäh oder schleichend geschehen, also als akutes Trauma oder als Entwicklungstraumatisierung (subtilere Unterbrechungen der emotionalen Kommunikation, die immer wieder auftreten) erlebt werden. Die Kontaktverbote und Mobilitätseinschränkungen, die im Lockdown angeordnet werden, werden im emotionalen Gedächtnis mit den frühen Frustrationserfahrungen in Verbindung gebracht und können quälende Einsamkeitsgefühle wachrufen. 

Gibt es aus der Kindheit die bittere Erkenntnis, dass die Hoffnung auf die Wiederaufnahme emotional nähernder Beziehungen aussichtslos ist, besteht eine Grundlage für spätere Depressionen. Die Frustration paart sich mit Hoffnungslosigkeit, mit schwarz eingefärbten Zukunftsbildern. “Es wird nie wieder so werden, wie es einmal war. Es wird alles immer schlimmer,” so ist es auch heute oft zu hören. Das resignierte Kind, das sich Auswege in einer Fantasiewelt suchen muss, klingt durch solche Aussagen hindurch. Deshalb blühen die Fantasieserien in der Welt der gestreamten Medien. 

Die Abhängigkeit vom Netz 

Die technischen Geräte gewinnen ihre Informationen aus dem Netz. Ohne Verbindung sind sie in vielen Belangen hilflos und wertlos. Kaum bricht die Verbindung ab, stehen wir vor einer Leere, die wieder Ängste auslösen kann, die in keinem Verhältnis zur aktuellen Lage stehen. Denn die Anbindung ans Netz, die als so existenziell erfahren wird, spiegelt die Einnistungsthematik aus der Pränatalphase wider. Die Abhängigkeit von Kabeln oder kabellosen Verbindungen wird auf einer unbewussten Ebene mit Überlebensnotwendigkeiten assoziiert. Wenn das Kontaktmedium versagt und die Datenübertragung abbricht, gleicht es einer Katastrophe. Das ursprüngliche Kontakt- und Verbindungsmedium, die Nabelschnur im Mutterleib, war die Ader, die uns am Leben gehalten und unser Wachstum gefördert hat. Jede Unterbrechung des Austauschflusses war eine Überlebensbedrohung und jede spätere Erinnerung daran bringt die alten Gefühle hoch.  

Das Netz ist eine interessante Metapher, die an die frühe Schnittstelle erinnert, über die wir zur Außenwelt kommuniziert haben, die Plazenta, ein netzartiges Gebilde, das von kilometerlangen Blutgefäßen durchzogen ist. Wir sind in vielen Bereichen vom Datennetz abhängig geworden, so wie wir als Föten von der Plazenta abhängig waren. Allerdings hängt heutzutage unser Überleben nicht mehr vom Funktionieren der Schnittstellen zu den Informationsflüssen ab, aber die Ängste, die ein Versagen der Netze auslöst, können heftig empfunden werden, sobald die Erinnerungen an früher mitschwingen. 

Diese Lasten aus der Vergangenheit werden in Zeiten wie diesen, die von Unsicherheit und Ungewissheit geprägt sind, besonders leicht reaktiviert. Nur merken wir meist nicht, was wirklich vorgeht, wenn die Gefühle hochgehen und sich Ängste breit machen. Wir schieben die Macht unsere Gefühle auf die Außenbedingungen und schreiben sie den neuen Herausforderungen zu, die durch die geänderten Umstände auftreten. Dabei vergessen wir oft das hohe Niveau an Sicherheit und Berechenbarkeit, das wir erschaffen haben und das unserem Erwachsenenbewusstsein zugänglich ist. Immer wieder gewinnt das verletzte und verängstigte innere Kind die Oberhand – solange es nicht vom Erwachsenenanteil in uns verstanden ist und beruhigt werden kann. 

Zum Weiterlesen:
Faktizität und Innenerfahrung
Krisenängste und ihr Jenseits
Angstkonditionierung und Corona
Scham, Schuld, Corona


 

Dienstag, 23. Februar 2021

Die Welt der Wunder

„Ein Wunder ist etwas über alle Maßen Erstaunliches, während das, woran wir erkennen, dass es eingetreten ist, meistens etwas ganz Einfaches und Alltägliches ist.“ (Insa Sparrer)

Gehören Wunder in die Kindheit, als wir noch keine klaren Grenzen zwischen Realität und Fantasie kannten? Sollten wir als Erwachsene grundsätzlich skeptisch sein, wenn wir von Wundern hören? Was haben wir von Wunderheilungen, die nur einige wenige erleben, während viele andere weiter leiden müssen? Gibt es Privilegierte, die mit Wundern überschüttet werden, und die vielen anderen, die immer leer ausgehen?

Oder sollten wir uns mehr für die Welt der Wunder öffnen? Sollten wir die magische Wirklichkeit unserer Kindheit wieder einladen, um den Mühen des grauen und langweiligen Alltags zu entkommen? Sollten wir nach Wundern suchen oder streben? Brauchen wir mehr Wunderglaube, um die Menschheit aus ihren Nöten zu erlösen?

Ein Wunder ist 

  • …etwas, das wir aus dem, was gerade ist, nicht vorhersehen oder vorhersagen können. Alle Wunder haben also das Überraschungsmoment für sich. Und sie bereiten uns Freude, sobald sie eintreten. Mit Wundern haben wir ein Glück.
  • …die Lösung eines Problems, das uns vorher unlösbar erschien. Wir stehen vor einem steilen Berg und wissen nicht, wie wir ihn überwinden könnten, doch plötzlich weitet sich der Blick und wir sehen den Weg.
  • …die überraschende Wendung in einer schwierigen Situation. Die Konstellation, in der wir feststecken, ändert sich plötzlich, irgendein Element hat sich verändert oder erscheint uns verändert, und es ist wieder eine Bewegung nach vorne möglich. Mitten in einer Katastrophe kommt es zu einer wundersamen Rettung.

Wunder stehen im Widerspruch zu unseren Absichten, Erwartungen, Gewohnheiten und Mustern. Wunder sind nur Wunder, wenn sie unwahrscheinlich sind. Sie entführen uns in die Sphäre des Absichtslosen, Unerwarteten, Unberechneten, Ungewöhnlichen und Unüblichen, in eine Anderswelt. 

Wo die Routine herrscht, bleiben Wunder fern. Wir befinden uns im Alltags-Funktionsmodus, der auf das Maximieren von Sicherheit ausgerichtet ist. Das Vertraute und Gewohnte schützt uns vor Überraschungen, unliebsamen wie liebsamen. Wir halten unsere Blicke gesenkt und fixieren uns auf das Überschaubare, ohne Aussicht über den Tellerrand. 

Wenn wir aber die gewohnten Abläufe unterbrechen, geben wir den Wundern eine Chance. Erst indem wir innehalten, indem wir einen Moment der Stille zulassen, öffnen sich die Räume, in die die Wunder eintreten können. Dafür brauchen wir einen Schuss Mut, denn das Verlassen der gewohnten Komfortzone ist mit dem Risiko von Enttäuschungen oder Langeweile verbunden. Wir müssen uns der Ungewissheit aussetzen, die wir schwer aushalten. Aber die Wunder sind durch und durch unsicher und unserem kontrollierenden Zugriff entzogen: Wir können sie nicht erzwingen, wir können sie nicht einmal wollen oder herbeibeten. Je mehr wir uns auf sie festnageln, je mehr wir uns von ihrem Auftreten abhängig machen, desto unwahrscheinlicher werden sie.

Wunder bringen uns in Kontakt mit einer Welt, die jenseits unserer Einflussnahme und Einsichtsmöglichkeiten liegt, eine Welt, in der Zusammenhänge bestehen, die wir nicht im Geringsten begreifen. Wunder sind nach all unseren Maßstäben unberechenbar und unzuverlässig. Sie kommen, wann sie wollen, und sie bleiben weg, wenn es ihnen beliebt. Oft ist es so, dass ein Wunder erst eintritt, wenn wir die Hoffnung schon fahren haben lassen. Dann wundern wir uns nur noch und umso mehr.

Hier ein paar Eigenschaften von Wundern:

Sie sind nur wirklich, wenn sie eingetreten sind. Sie sind eingetreten, wenn wir sie innerlich als solche wahrnehmen. Wunder sind also keine objektiven Gegebenheiten, sondern es gibt sie nur in unserer inneren Wahrnehmung, und ihre Bedeutung ziehen sie daraus, dass sie einen Kontrast zu unseren subjektiven Erwartungen und zu unserem begrenzten, aus unseren bisherigen Erfahrungen geformten Möglichkeitshorizont bilden.

Die Antwort auf Wunder, die uns grundsätzlich und immer geschenkt werden, kann nur Dankbarkeit sein. Wir haben sie nicht durch irgendeine Leistung errungen, nicht einmal unseren Glauben oder unsere besonders intensive Aufmerksamkeitsfokussierung dürfen wir uns gutschreiben. Wunder sind gänzlich unabhängig von dem, was wir tun oder nicht tun. Sie ereilen uns unverdientermaßen, und wir sollten sie als Zugabe zu dem annehmen, was wir schon haben, als Oberskrönchen auf der Torte unseres Lebens. Solche unerwarteten Überraschungen können wir nur mit staunender Dankbarkeit quittieren. 

Wunder bringen uns folglich mit unserer Bescheidenheit und Demut in Kontakt, wenn wir bereit sind, sie als solche anzunehmen. Hochmut hingegen führt zu selbstbezogener Eitelkeit, eine Sphäre, die den Wundern fremd ist. Wir können nicht prahlen, wenn uns ein Wunder geschieht, wir können es nicht unserem Ego zuschreiben. Vielmehr zeigt es uns, dass unser Leben nur zu einem kleinen Teil von unseren Plänen, Absichten, Erwartungen und Leistungen gestaltet wird und dass es einen großen Teil gibt, der unserem Einfluss entzogen ist. Wunder sind das Tor für die Welt des Wunderbaren.

Für die Welt der Wunder öffnen

Wunder sind flüchtige Gebilde, leicht und willkürlich wie der Wind. Doch gibt es einen Weg, sich der Welt der Wunder anzunähern. Dazu brauchen wir nur unseren Blickwinkel zu ändern, weg von den bekannten Sicht-, und Erfahrungsweisen, die alle auf Zweckmäßigkeit und Sicherheitsgewinn ausgerichtet sind. Wir müssen auch weg von den Denkmodellen und Glaubensvorstellungen, mit denen wir die Welt erklären wollen. 

Statt dessen wählen wir einen Zugang zur Wirklichkeit, der bereit ist, zu verklären, was uns begegnet. Verklärung bedeutet, die Dinge nicht in ihrer Funktionalität, sondern in ihrer Schönheit wahrzunehmen. Auf diesem Weg begegnen wir z.B. dem Wunder unseres Körpers, des Lebens, das in uns wirkt. Wir lenken unsere Aufmerksamkeit nach innen und spüren, wie unsere Atmung den Bauch und den Brustkorb bewegt und bemerken, dass durch dieses Geschehen unser Körper in jedem Moment mit Sauerstoff versorgt und von Kohlendioxid befreit wird. Wir spüren das Schlagen unseres Herzens, das mit seinem verlässlichen Pochen den Blutstrom im Körper aufrechterhält. 

Was für Wunder spielen sich da ab? Wie können wir jemals begreifen, was da abläuft und uns am Leben erhält? So können wir weiter in unserem Körper forschen und die anderen Organe, Muskeln, Knochen, Nerven und Gewebe bestaunen.

Auf ähnliche Weise nähern wir uns den Wundern in der Natur oder den Wundern der Künste, aber auch die Wunder der Technik und der Organisationsfähigkeit der Menschen verdienen unser Staunen, sobald wir unseren kritischen und unzufriedenen Geist beiseite stellen. Sobald wir die Wunderbrille aufsetzen, verklärt sich die Welt, die wir zuvor erklären wollten.

Große und kleine Wunder

Die großen und die kleinen Wunder, alle sorgen sie dafür, dass wir Glück haben. Wir müssen sie nur zur Kenntnis nehmen und wertschätzen. Was wir also immer wieder tun können ist, die Welt in ihrer Doppeldeutigkeit wahrzunehmen, in ihre Profanität mit unseren Lebensproblemen und in ihrer Sakralität mit ihren Katastrophen, Schicksalsschlägen, freudigen Überraschungen und Wundern. 

Was wir noch tun können, ist unser Augenmerk auf die kleinen und kleinsten Wunder zu richten, die uns widerfahren: ein freundlicher Blick, ein feiner Sonnenstrahl, eine sich öffnende Knospe, ein Wohlgefühl im Bauch, ein schwindender Kopfschmerz …

An all diesen Hinweisen können wir erkennen, was wir für ein Glück haben: dass wir leben.


Sonntag, 21. Februar 2021

Kreative und reaktive Fantasien

Die Fantasie, zu der uns unser Gehirn befähigt, öffnet ein vielfältiges Feld von Möglichkeiten. Es reicht von Angstfantasien bis zu schöpferischen Inspirationen. Wir wollen keine fantasielosen Wesen sein, sollten uns aber auch nicht in unseren Fantasien verlieren. Hier geht es darum, ein paar Wegmarken im weiten Land der Fantasie anzulegen.

Fantasien sind Realitäten, die in unserem Kopf produziert werden. Sie unterscheiden sich von den äußeren Realitäten dadurch, dass sie mit keinen äußeren Wahrnehmungen korrespondieren. Sie haben also keine Fundierung und keine Referenzpunkte in der Außenwelt. Wohl stammen die Inhalte unserer Fantasien in irgendeiner Weise aus der Realität, die außerhalb von uns selbst vorhanden ist, aber unsere fantastische Kraft kombiniert sie zu neuen Gebilden und darin liegt das kreative Potenzial unserer Fantasie.

Bei der Entstehung von Kunstwerken ist es häufig so, dass innere Vorstellungen von dem Resultat, das erschaffen werden soll, den Prozess einleiten. Mit den ersten Schritten zur Verwirklichung kann sich das Fantasiebild ändern, aber oft ist die Fantasie der Produktion immer ein Stück voraus. Die Fantasie nimmt also das Resultat vorweg, indem sie es so wahrnimmt, als wäre es schon wirklich. 

Hier wirken Fantasien als treibende Kräfte zur Kreativität. Ohne die Fähigkeit zur Imagination gäbe es wohl keine Kultur, keine Kunst, Technik oder Wissenschaft. Die Neugier bedient sich der Fantasie, und beide zusammen haben großartige Schöpfungen der Menschheit verwirklicht.

Doch auch zur Erreichung anderer Ziele können wir die Kräfte unserer Imagination nutzen, um unsere Energien auf den Manifestationsprozess zu fokussieren. Kreative Bilder stärken die Motivation und Tatkraft und helfen dabei, Widerstände und Hindernisse zu überwinden. (vgl. den Artikel zur kreativen Lebensorientierung). 

Reaktive Fantasien

Auf der anderen Seite des Fantasiespektrums finden sich Formen der Innenwelt, die aus Reaktionen auf bedrohliche und verunsichernde Erfahrungen in der Außenwelt gebildet werden. Es handelt sich dabei um Bilder, die als Gefühlsersatz dienen. Typischerweise entstehen sie aus Dissoziationen, also aus Brüchen zwischen Innen- und Außenerfahrungen, die im Rahmen von Traumen entstehen. Die Innenwelt dient als Fluchtraum, die mit Fantasien eingerichtet werden wie mit Möbeln und Bildern. Hier ist die heile Welt, draußen ist es gefährlich. 

Dazu zählen auch sexuelle Fantasien, die das gesamte Pornogeschäft in Gang halten: Sichere Formen der sexuellen Lust, die nicht von den Risiken einer zwischenmenschlichen Begegnung belastet sind. Denn die Verletzungen, die hinter der Begierde nach solchen Bildern und Videos stecken, sind durch Personen verursacht worden. Deshalb enthält der Konsum von Pornografie immer auch ein Element der Rache an den Verursachern der eigenen Verletzungen.

Diese Verletzungen hängen mit unerfüllten frühkindlichen Bedürfnissen und Sehnsüchten zusammen, die eigentlich nur wenig oder gar nichts mit Sexualität zu tun haben. Nur bietet sich dieses Erlebnisfeld als Ersatz an, sobald die erwachsenen Sexualinteressen erwachen. Die entsprechenden Triebe sind stark geladen, und die diversen Angebote gehen darauf erfolgreich ein indem sie starke Anreize verkaufen, die risikolos konsumiert werden können.

Kindliche Fluchtrouten

Kinder erwerben früh die Fähigkeit, Bedürfnisse, die keine Befriedigung erfahren, in der Innenwelt zu stillen. Dieser Trick, den das Gehirn zur Verfügung stellt, hilft, mit der Frustrationserfahrung zurechtzukommen. Es bleibt zwar eine Diskrepanz bestehen zwischen dem real unerfüllten Bedürfnis und der Scheinbefriedigung in der Fantasie, aber zumindest wird eine teilweise Erfüllung erfahrbar. Diese hilft auch, die ursprünglichen Gefühle (den Schmerz, die Angst und die Scham) zu begraben, die mit der Frustrationserfahrung verbunden sind.

Es kann sich die Tendenz verfestigen, sich mit der fantasierten teilweisen und ersatzweisen Wunscherfüllung zufrieden zu geben. Die Ersatzbefriedigung hilft im weiteren Leben immer wieder, sich den aktuellen Herausforderungen der Wirklichkeit zu entziehen und die Freuden von erfüllten Sehnsüchten und errungenen Erfolgen in der Scheinwirklichkeit zu genießen, als ob sie wirklich wären. Damit steht ein Mechanismus zur Verfügung, unangenehmen Gefühlen oder praktischen Herausforderungen im Leben auszuweichen. Der Fantasieraum bietet sich immer als Fluchtpunkt mit seinen angenehmen oder erregenden Bildern an, wenn es brenzlig oder langweilig wird.

Süchte und reaktive Fantasien

Viele Süchte und selbstschädigende Verhaltensweisen haben ihren Ursprung in dieser Dynamik. Die illusionäre Befriedigung, die sie gewähren, entfesselt immer wieder die Gier nach noch mehr davon. Das Illusionäre verhindert das vollständige und endgültige Stillen der Bedürfnisse, sondern hält sie im Irrealen fest. In der Folge werden die Bedürfnisse selbst bald zu Fantasieprodukten. Zunehmend überlagert ein Scheinleben das wirkliche. Die an die Suchtobjekte gebundene und von ihnen okkupierte Fantasie verkümmert und in ihrer kreativen Seite verstummt. 

Reaktive Fantasien und Scham

Die Scham mischt auf mehreren Ebenen bei reaktiven Fantasien mit. Sie liefert zunächst einen Anlass dafür, dass überhaupt der Ausweg aus der Realität in die Fantasie gesucht wird. Die Scham ist ein sehr unangenehmes Gefühl, das umgangen werden kann, wenn sich eine dissoziative Welt öffnet, in der alles in Ordnung ist. Sobald jedoch bewusst wird, dass es sich um eine Traumwelt handelt, kommt erst recht wieder Scham. Manchmal hören Kinder: „Was bist du für ein Traummännlein?“, wenn sie gerade mit ihren Fantasien beschäftigt sind, und schämen sich dafür. Ist das Fantasieren dann im Aufwachsen zur Gewohnheit geworden, die allenthalben auftritt und den Alltag durchzieht, kann es zu peinlichen Fehlern und Pannen kommen. „Ich war so in Gedanken und habe übersehen, dass die Ampel schon auf Rot geschaltet war.“ Als Folge tritt wieder die Scham auf den Plan. 

Alle Suchtformen sind mit Scham verbunden, obwohl sie zu einem wichtigen Teil gerade der Schamentlastung dienen sollen. Die ritualisierten Abläufe, die mit jeder Sucht verbunden sind, sollen ein Gefühl der Sicherheit vermitteln und Schutz vor Beschämungen bieten. Andererseits unterliegt die Ausübung des Suchtverhaltens in zweierlei Hinsicht einer Schambelastung: Die Sucht ist nicht konform mit den eigenen Werten und steht im Widerspruch zur Integrität. Sie ist auch nicht sozialverträglich, sondern wird von der Gesellschaft im allgemeinen abgelehnt. Es bilden sich zwar manchmal Subgruppen von Suchtabhängigen, die sich gegenseitig bestätigen, die sich aber zugleich nach außen abgrenzen müssen, weil sie wissen, dass sie mit massiver Ablehnung und Abwertung rechnen müssen. Es ist dann wieder die Scham, die auf der emotionalen Ebene das Suchtverhalten aufrechterhält und dafür sorgt, dass es in vielen Fällen geheim gehalten wird und im Verborgenen ausgeübt wird, womit sich ein weiterer Schamkreis schließt.

Der Ausweg

Reaktive Fantasien haben einen mächtigen Einfluss, wenn sie sich einmal etabliert haben. Sie versprechen eine sofortige Belohnung und Erleichterung. Deshalb ist es auch schwer, sie wieder loszuwerden, wenn die Erkenntnis über ihre Schädlichkeit eingesickert ist.

Der Weg zurück aus den Verwicklungen der Fantasiebedürfnisse ist deshalb oftmals mühsam. Er beginnt mit der Überwindung der Scham, die das Verhalten verstecken will. Er führt dann über das Freilegen der frühen Wurzeln mit ihren Verletzungen und über das Durchleben des hinter den Frustrationen steckenden Schmerzes bis zur Befreiung. Jetzt können die kreativen Potenziale der Fantasie wieder zum Fließen kommen und schöpferische Resultate hervorbringen.

Zum Weiterlesen:

Samstag, 6. Februar 2021

Die Hoffnung und der Moment

Die Hoffnung meldet sich, wenn wir ein Defizit in der Gegenwart erkennen. Wir brauchen keine Hoffnung, wenn wir eins sind mit dem gegenwärtigen Moment. Wir besinnen uns ganz auf unseren Atem und sind voll im Jetzt. Es aber nicht möglich, uns jeden Moment nur auf das Jetzt zu beziehen. Denn immer wieder brauchen wir unser Denken, das uns die Informationen über die nächsten Schritte in die Zukunft hinein zur Verfügung stellt. Wir haben Hunger und wollen uns Lebensmittel besorgen und müssen dafür wissen, wie lange die Geschäfte geöffnet haben. Damit sind wir zugleich im Moment, in dem wir uns mit diesen Informationen beschäftigen, und in der vorgestellten Zukunft. 

In diesem Bereich bewegt sich die Hoffnung. Wir brauchen sie, sobald wir aus der Versenkung in den Moment heraußen sind und in unsere Zukunft schauen. Wir erleben sie wohl in diesem Moment, wie alles, was wir erleben. Zugleich verbindet diese Sicht den jeweils aktuellen Moment mit der Zukunft. Was am Jetzt gut ist, soll darüber hinaus erhalten bleiben. Ein Missstand in der Gegenwart kann nur in der Zukunft verbessert werden. Deshalb gehen wir in unserer Vorstellung zur Reparatur des Defizits in die Zukunft.

Hier mischt sich die Hoffnung ein. Wir nutzen sie, falls wir etwas an der Gegenwart als profund mangelhaft wahrnehmen. Wenn wir z.B. bemerken, dass es in der Ecke des Zimmers staubig ist, brauchen wir keine Hoffnung, sondern einen Besen. Wenn wir hingegen erkennen, dass wir krank sind und nicht wissen, wie wir wieder gesund werden könnten, brauchen wir die Hoffnung und ihre Kraft der Zuversicht, um unseren Überlebenswillen zu stärken. Die Hoffnung ist also das Gegenmittel gegen die Verzweiflung. Wir hoffen unter solchen Umständen wider die Hoffnung, wie es heißt, wir halten also an der Möglichkeit eines guten Ausgangs fest, auch wenn die naheliegenden Umstände dagegen sprechen.

Die Hoffnung als Imperativ

Wir brauchen die Hoffnung erst recht, wenn wir über unseren Tellerrand schauen und die vielen Missstände in der Welt wahrnehmen. Denn ohne die Schimmer der Hoffnung bliebe uns nur die pure Verzweiflung angesichts der kolossalen  Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen. Und die Verzweiflung ist kein guter Ratgeber für zielgerichtetes und sinnerfülltes Handeln, das notwendig ist, um die Missstände zu lindern und das Gute zu vermehren.

Aus dieser Einsicht können wir den Imperativ formulieren: Du sollst die Hoffnung nie fahren lassen, nämlich die Hoffnung, dass wir Menschen mit unseren genialen Potenzialen so viele kreative Ideen hervorbringen werden und mit dieser Schöpfungskraft alle Probleme der Menschheit auf lange Sicht zu einem beträchtlichen Ausmaß bewältigt werden können. Die Hoffnung gründet realistischerweise auf dem, was schon erreicht wurde, und verlängert utopistisch die Trends, die im Sinn der Vermenschlichung der Gesellschaft und des Respekts für die Natur schon in Gang gesetzt wurden, in die Zukunft weiter. Sie vertraut auf die menschliche Intelligenz in technisch-organisatorischen wie in sozialen Belangen, an Herausforderungen zu wachsen und neue Strategien zu entwickeln.

Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern. (Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Vorwort)

Die Paradoxie der Hoffnung

Hoffnung bleibt Hoffnung, solange sie die Ungewissheit, die der Zukunft innewohnt, mit umfasst. Hoffnung, die die Ungewissheit ausschließt, verliert ihren hilfreichen Kern. Die Hoffnung bietet also ein Paradox an: Gerade weil die Zukunft unsicher ist, gibt uns die Hoffnung Sicherheit. Es ist die Sicherheit, die aus unserem Weltvertrauen stammt, mit dem wir in diese Welt getreten sind, und die wir mittels des Hoffens auf die Zukunft ausdehnt. Getragen von der Kraft der Hoffnung widmen wir uns den Aufgaben der Gegenwart und packen sie tatkräftig an, weil wir darauf bauen, dass all das, was wir jetzt schaffen, die Basis für eine bessere Zukunft legt. 

Hoffnungsfrohe Menschen sind solche, die vertrauensvoll an das Leben und seine Herausforderungen herangehen. Sie wollen meistern, was sich als Aufgabe stellt, und damit das zukünftige Leben verbessern, das eigene und das der anderen.

Hoffnungsträger

Jedes Elternpaar, das Kinder in die Welt setzen will, lebt aus der Kraft der Hoffnung. Andere Paare, denen diese Form der Hoffnung fehlt, sagen, dass sie keine Kinder kriegen wollen, weil diese nur die Probleme der Welt vermehren, z.B. die Überbevölkerung oder den Ressourcenverbrauch. Sie glauben nicht daran, dass die eigenen Kinder dazu beitragen können, das zukünftige Leben zu verbessern, sondern wollen die Verantwortung nicht tragen, Kinder den Problemen einer ungerechten und unsicheren Welt auszusetzen. 

Jedes Kind, das das Licht der Welt erblickt, ist jedoch ein Signalträger der Hoffnung. Es macht auf zutiefst menschliche Weise deutlich, dass die Natur immer weiter neues Leben erschaffen will und sich dabei nicht um die Details kümmert, wie und unter welchen Umständen ein neues Leben gelebt werden kann. Kinder haben keinen Grund, der Zukunft zu misstrauen, außer sie wurden Opfer von traumatisierenden Grenzüberschreitungen oder Vernachlässigung. 

Das Kindliche der Hoffnung

Darum hat die Hoffnung auch etwas Kindliches. Sie enthält einen Funken Naivität und Gutgläubigkeit, die manchmal auch als Blauäugigkeit gedeutet werden kann, wenn scheinbar alle Fakten gegen sie sprechen. Doch bleibt die Hoffnung solange sehend, als sie sich auf eine Wirklichkeitserkenntnis stützt und auch die widersprechenden Fakten berücksichtigt. Sie wird erst blind, wenn sie sich nur aus Wunschfantasien nährt.

Das kindliche Zutrauen in eine hoffnungsfrohe Zukunft brauchen wir nicht auf dem Altar des Erwachsenseins und seinen Forderungen und Erwartungen zu opfern. Denn es ist mit der kindlichen Lebensfreude verwandt, die unser Leben beflügelt und befreit. Wir sind nicht erwachsen, indem wir keine Kinder mehr sind, sondern indem wir die Energien und Qualitäten des Kindseins ins Erwachsenensein integrieren.

Zum Weiterlesen:
Die eigene Wahrheit und die Verbundenheit mit anderen
Viele Wege, ein Ziel
Das Prinzip Hoffnung und das Jetzt
Über die Pflicht zum Optimismus
Die Hoffnung und die Erwartungen

Mittwoch, 3. Februar 2021

Die Hoffnung und die Erwartungen

Unter Hoffnung verstehen wir eine optimistische Einstellung, die von Lebensvertrauen getragen in die Zukunft gerichtet ist. Wir sagen: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ und zitieren Luther, der gemeint hat, er würde heute noch einen Apfelbaum pflanzen, wenn er wüsste, dass morgen die Welt untergeht. Die Hoffnung lässt uns zuversichtlich in den Tag starten und freudig auf das Morgen blicken. „Alles wird besser von Tag zu Tag“, so lautet eine hoffnungsfrohe Affirmation.

Häufig mischen sich Erwartungen in die Hoffnung hinein: Wir hoffen, dass sich eine Problematik, die uns jetzt gerade plagt, möglichst bald löst. Wir hoffen, dass sich ein Mensch, mit dem wir Schwierigkeiten haben, ehebaldigst ändert. Unser Leidensdruck drückt auf die Hoffnung und macht sie zum Untertan für unsere Bedürfnisse. Die Zukunft sollte sich gefälligst unseren Wünschen gemäß entwickeln. 

Unsere Belastungen sollen sich so rasch wie möglich verabschieden, unsere Projekte sollen reibungslos realisiert werden, unsere Geschäfte sollen üppig gedeihen und unsere Visionen zügig Wirklichkeit werden. Mit den Erwartungen mischt sich auch der Erwartungsdruck in die Hoffnung hinein: Die Zukunft steht auf dem Prüfstein und mit ihr die Hoffnung. Wenn die erwünschten Resultate nicht eintreten, entsteht Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit. Auch Selbstzweifel und Selbstabwertung können sich einmischen, wenn sich die Enttäuschung auf einen selber richtet: Kein Wunder, dass kein Wunder eintritt, weil ich es sowieso nicht schaffen kann und weil ich mich wieder zu wenig angestrengt habe und weil alle gegen mich sind. Die Hoffnung wird der Enttäuschung geopfert, indem ihr das Versagen umgehängt wird. Lieber flüchte  ich in den Pessimismus, dann erspare ich mir wenigstens die Frustration wegen einer Hoffnung, die vergebens war.

Die Hoffnung ist in diesem Fall aber einem Missverständnis zum Opfer gefallen. Sie besteht eigentlich nur in einer bedingungslosen Offenheit der Zukunft gegenüber, die unabhängig von den eigenen Wunschvorstellungen, Problembelastungen und Angstprojektionen ist. Auf diese Weise kann sie als starke Kraft wirken, die uns hilft, die Herausforderungen zu bewältigen. Jedes Gefühl dagegen, das abhängig ist von der Erfüllung unserer Erwartungen, ruht auf schwachen Beinen. 

Sobald sich unsere bedürfnis- und angstgesteuerte Ego-Agenda in die Hoffnung einmischt, verliert sie die anspornende Kraft, die ihr innewohnt. Die Wirklichkeit, die sich mit jedem Schritt in die Zukunft neu zusammensetzt, ist nur zu einem winzigen Teil von unserem eigenen Zutun beeinflusst. Unermesslich viel von ihr ist weit jenseits unserer Kontrolle. Die Hoffnung besteht darin, es der Wirklichkeit zu überlassen, wie sie sich konfiguriert, aber daran festzuhalten, dass sie sich in die Richtung des Besseren weiterentwickelt. 

Tiefere Quellen

Die Hoffnung schöpft aus den Quellen eines tieferen Wissens, das sich aus dem Kern des Menschseins ergibt. Wenn es die von allen Menschen geteilte Übereinstimmung über das Gute gibt, dann ist es das, was der Hoffnung ihr Fundament gibt. Wir hoffen darauf, dass die Menschen immer mehr zu dem finden, was sie in sich selber sind. Wir hoffen darauf, dass die Menschheit immer mehr zu dem findet, was ihrem Wesen entspricht.

Dieser Zugang öffnet sich nur dann, wenn wir das Gute und die Hoffnung ideologiefrei halten, also unbeeinflusst von unseren eigenen Wünschen, Bedürfnissen, Ängsten und daraus abgeleiteten Konzepten. Um es pragmatisch zu formulieren: Wir nehmen das geteilte Gute als Hypothese, auf der wir die Hoffnung gründen. Das ist die Hypothese: Alle Menschen wollen im Tiefsten, dass es ihnen und allen anderen besser geht. Dann können wir zum Experiment schreiten und erproben, wie es uns unter der Ägide der Hypothese ergeht. Spüren wir mehr Lebensvertrauen, Tatkraft und Zuversicht mit der Hypothese, oder geht es uns besser, wenn wir uns für den Pessimismus entscheiden und die Zukunft schwarz malen. 

Wir sind frei in der Wahl unserer Lebenseinstellung – ob wir sie auf Hoffnung, Hoffnungslosigkeit oder Apathie begründen. Wir sollten uns aber auch bewusst machen, dass wir diese Wahl in jedem Moment unseres Lebens treffen, ob bewusst oder unbewusst. Sobald wir uns einer negativen Zukunftsaussicht verschreiben, verzichten wir auf die Unterstützung der Kraft, die die Hoffnung anbietet, und tragen dafür die Verantwortung. Wir sollten uns also nicht bei irgendwem oder irgendwas beschweren, wenn es uns beim Ausblick auf die Zukunft nicht gut geht.

Bleiben wir in Beziehung zur Hoffnung, so stärken wir unsere Tatkraft. Wir sind bereit, überschaubare Risiken einzugehen und mutige Entscheidungen zu treffen. Wir tun, was zu tun ist, und lassen, was zu lassen ist. Wir unterscheiden die Ebene unserer Wünsche und Erwartungen von der Ebene der Akzeptanz des Gegebenen und Kommenden, auf der wir die Hoffnung finden. Dann kann die Hoffnung bestehen bleiben, auch wenn sich Enttäuschungen und Rückschläge einstellen. 

Geben wir der Hoffnung mehr Kraft als der Angst, so nehmen wir unsere Zukunft in unsere eigenen Hände und gestalten sie aktiv mit. Wir bleiben die zentralen handelnden Subjekte in der Geschichte unseres Lebens.

Zum Weiterlesen:
Die eigene Wahrheit und die Verbundenheit mit anderen
Viele Wege, ein Ziel
Das Prinzip Hoffnung und das Jetzt
Über die Pflicht zum Optimismus


Montag, 1. Februar 2021

Der magische Moment

Wir alle kennen diese Momente: Etwas soll in uns hochkommen, und alles bleibt still. Wir brauchen eine Idee oder einen weiterführenden Gedanken, aber nichts tut sich. Uns fällt nichts mehr ein. Wir wissen nicht weiter. Wir stehen an. 

Ich erlebe das dauernd während dem Schreiben. Ein Satz ist geschrieben, der klingt gut. Aber was soll im nächsten Satz stehen? Der Text ist unvollständig, ich weiß aber nicht, was noch fehlt und wie ich weitermachen soll. Ich stehe vor einem Loch in Raum und Zeit.

Ich kenne es auch aus der therapeutischen Arbeit. Das Gespräch kommt an einen Punkt, an dem die Klientin nicht mehr weiterweiß und mich hilflos und erwartungsvoll anblickt. Ich soll ihr helfen. Ich spüre die Erwartung und meine eigene, doch es kommt keine Idee, die das Gespräch fortsetzen und in die Tiefe führen könnte. Ein Moment der Leere tritt auf.

Bei Aufstellungen taucht diese Erfahrung fast jedes Mal auf, sodass sie offensichtlich einen Teil des Prozesses darstellt. Zunächst befinden sich die aufgestellten Repräsentanten an ihren Positionen und teilen ihre Befindlichkeit. Es wird ein wenig umgestellt, doch ist noch keine Lösung greifbar. Die Spannung, die aus der fehlenden Ordnung in dem System stammt, ist spürbar und überträgt sich auf die Teilnehmer, die Repräsentanten und die Person, um deren Anliegen es geht. Auch der Leiter nimmt sie wahr mitsamt der Erwartung, jetzt eine entscheidende Änderung vorzunehmen. Es tritt ein Moment einer spannungsgeladenen Stille ein, der sich scheinbar ins Unendliche ausdehnen möchte. Rien ne va plus

Ablenken oder Annehmen

In solchen Momenten haben wir zwei Optionen: Die Leere anzunehmen und in sie einzutauchen, oder über sie hinweggehen und uns ablenken, indem wir z.B. irgendetwas tun oder sagen, was die Leere überbrückt: Eine Floskel aus dem therapeutischen Repertoire, eine Umstellung aus Verlegenheit.

Oft merken wir gar nicht, dass wir uns in einem Leeremoment befinden, und dann ist er schnell wieder weg, weil wir gleich etwas anderes machen, das die Leere füllt. Wenn wir uns aber der Leere bewusst werden, haben wir die Wahl, uns auf diese unangenehme Erfahrung der Ungewissheit einzulassen. Die oftmalige Erfahrung zeigt, dass das Zulassen dieser Leere die einzige Möglichkeit ist, den Prozess gut weiterzuführen. Damit das möglich ist, brauchen wir die entsprechenden Erfahrungen, die sich im Lauf des therapeutischen Arbeitens ansammeln und die uns immer mehr Sicherheit geben, die Momente der Ungewissheit auszuhalten.

Was geschieht in diesen Momenten?

Wenn wir solche Erfahrungspunkte näher erforschen, erkennen wir, dass es sich nicht um Momente des Versagens handelt, wie wir sie zunächst wahrnehmen. Vielmehr sind es Angelpunkte, an denen etwas Besonderes geschieht. Es kommt zu einer Wahrnehmungsverschiebung von außen nach innen, die Aufmerksamkeit geht ins eigene Innere und damit von der Vielheit zur Einfachheit. Wir können weiters vermuten, dass zugleich die Hemisphärendominanz im Großhirn von links nach rechts wechselt und wir vom Verstand zur Intuition, vom linearen Denken und Schlussfolgern in eine erweiterte ganzheitliche Bewusstseinsform hinübergehen.

Zunächst erscheint das bedrängende Gefühl, am Ende einer Sackgasse angekommen zu sein. Im Aushalten der Situation und im Einlassen auf das Gefühl verändert sich die Bedeutung und aus der Sackgasse wird eine Schnittstelle, eine Schwelle zur Emergenz einer unvorhersehbaren Einsicht. Dabei wird deutlich: Neues entsteht nicht in der logischen und konsequenten Weiterentwicklung von dem, was vorher da ist, sondern in einem Schritt aus dem vorgegebenen Rahmen heraus in einen neuen, weiteren Raum hinein. Das bekannte Terrain wird verlassen, ein unbekanntes Feld wird betreten. Das Sicherheitsdenken macht der Magie des Augenblicks Platz.

Die Angst vor dem Unbekannten

Wir halten diese Momente deshalb so schwer aus, weil wir uns vor dem Unbekannten und Ungewissen fürchten. Lieber bleiben wir beim Vertrauten, als Schuster, die ihren Leisten kennen und den neuen misstrauen. Man kann ja nie wissen, was das Neue bringt, vor allem, wenn wir es noch nicht kennen. Also weichen wir aus und lenken uns ab von der lästigen Erfahrung der Ungewissheit. 

Letztlich meldet sich eine Angst vor dem Tod, dem Moment der größten Ungewissheit. Er zeigt uns, dass es keine absolut verlässliche Sicherheit im Außen gibt, dass wir aber die Sicherheit in uns finden, indem wir akzeptieren, was gerade ist. Auch in den magischen Momenten der Leere stirbt etwas, eine vorgefasste Meinung über die Wirklichkeit und deren Gesetzmäßigkeiten. Dieser Tod einer illusionären Sicherheit macht den Platz frei für den Eintritt in einen größeren Raum, der neue Einsichten und Durchblicke erlaubt. Es ist ein Stück Ego-Tod geschehen.

Akzeptanz als Schlüssel zur Magie

Das bewusste Annehmen und Durchleben solcher Momente stärkt unser Vertrauen in das Größere und Umfassendere, das alle Prozesse durchwirkt, und an dem wir vor allem teilhaben können, wenn wir uns aus unseren fixierten Annahmen lösen. Es stärkt auch unsere Bereitschaft, nichts mehr festhalten zu müssen, an das wir uns in unserem angstgeleiteten Sicherheitsdenken klammern: Keine Konzepte, Ideen und Zuschreibungen, keine Erwartungen und Feststellungen, keine logischen Ableitungen und Schlussfolgerungen sind nun wichtig, weil sie alle nur Krücken darstellen, die wir beiseite legen können, sobald wir bereit sind, die Magie von Momenten der Leere anzunehmen und wirken zu lassen.

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