Donnerstag, 10. August 2023

Über die Heilkraft der universellen Liebe

Die Liebe ist ein zentrales Wort im menschlichen Sprachschatz, weil es etwas ganz Wesentliches bezeichnet. Wir sind eine zutiefst sozial ausgerichtete Spezies, für die das Zusammensein und der Austausch mit unseren Artgenossen (neben der Sicherung des individuellen Wohlseins) überlebensnotwendig ist. Wenn die Liebe zwischen den Menschen herrscht, ist das soziale Leben gesichert, fehlt sie, steht es in Gefahr. Ist der Zusammenhalt mit den Mitmenschen bedroht, so ist auch das individuelle Überleben bedroht. Das Ausmaß an sozialer Sicherheit kann daran abgelesen werden, wie viel Liebe herrscht.

Gemeinhin wenden wir das Wort Liebe auf Beziehungen an, vorrangig auf solche, die mit Romantik und Sexualität zu tun haben. Darüber hinaus gibt es die Mutter- und Vaterliebe, also die Liebe zwischen Eltern und Kindern, die zwischen Geschwistern usw., die Liebe in den familialen Zusammenhängen. Dünner wird die Liebe, die über den engen Familienkreis hinausgeht und sich z.B. auf Freunde, Bekannte und  Nachbarn erstreckt. Erst recht abstrakt wird die Liebe, wenn sie auf Großgebilde bezogen ist wie z.B. die Vaterlandsliebe. Schließlich vertreten einige Religionen einen noch weiteren Begriff, indem sie von der Feindes- und Nächstenliebe oder vom liebevollen Mitgefühl mit allen Lebewesen sprechen.

All diese Felder der Liebe sind durch Zerbrechlichkeit und Störungsanfälligkeit gekennzeichnet. Die Liebe kommt, die Liebe geht, so heißt es im Schlager. Kleine Verschiebungen in den Stimmungen, missverständliche Worte, missglückte Gespräche – und schon ist die Liebe weg, und die Betroffenen ziehen sich zurück auf ihre individuelle Überlebenssicherung, um zu retten, was noch zu retten ist. Schnell verdrängt die Angst die Liebe, und nur langsam baut sich die Liebe wieder auf, sobald die Angst bereit ist, sich zurückzuziehen. Es ist eine zerbrechliche Liebe, die sofort in andere Gefühle umschlägt, wenn etwas geschieht, das in ihrem Rahmen nicht Platz findet.

Diese Liebe ist eng mit Erwartungen verknüpft und mit Bildern und Fantasien aufgeladen. Sie hat gewissermaßen verzerrende Brillen auf, die manches überscharf zeichnen und anderes ausblenden. Diese Filter in der Liebeswahrnehmung bewirken, dass wir die Liebe oft nur in einer bestimmten Gestalt erkennen und sie vermissen, wenn sie auf eine Weise daherkommt, die unseren Erwartungsmustern nicht entspricht. Wir fühlen uns nur geliebt, wenn uns die Liebe so entgegengebracht wird, wie wir es aufgrund von früheren Erfahrungen, medial genormten Symbolen und romantischen Schwärmereien erwarten. 

Die Liebe im Dunstkreis des Egos

Das Hauptkriterium für ein gelungenes Leben wird durch ein zureichendes Maß an Geliebtwerden festgelegt, also an der Menge an Liebe, die wir bekommen. Ist dieses Maß erfüllt, so werden alle anderen Bedürfnisse nebensächlich. Die Liebe zeigt sich als die universelle Form der Bedürfnisbefriedigung: Wenn wir sie ausreichend bekommen, ist alles gut; wenn sie uns fehlt, macht das Leben plötzlich keinen Sinn mehr und wir können ins Bodenlose abstürzen. Wir merken dann, dass wir das eigene Schicksal mit dem Geliebtwerden verknüpft haben.

Wir alle kennen diese Form der Liebe, die nach den Vorstellungen unseres Egos geschneidert ist. Emotional ist sie hoch aufgeladen, weil sie aus unseren Überlebensmustern geformt ist. Denn unerfüllte Bedürfnisse aus der Kindheit spielen In ihr die Hauptrolle. Sie ist in ihren Wirkmöglichkeiten durch Konzepte und Überlieferungen über das eingeschränkt, was Liebe sein könnte oder sollte. Aufgrund der Enge und Instabilität der Vorstellungen von der „wahren“ Liebe kommt es auf dieser Ebene immer wieder zu Unterbrechungen und Abstürzen, zu Verletzungen, Traumatisierungen und Dramen. All diese schmerzhaften Phänomene sind Beispiele für den Verlust der Verbindung mit der unbedingten oder großen Form der Liebe.

Die Liebe beginnt mit dem Geben.

Den engen Rahmen dieser bedingten Liebe überschreiten wir, wenn wir erkennen, dass Liebe zuerst nicht etwas ist, das wir entweder bekommen oder das uns vorenthalten wird, sondern etwas, das wir in uns haben, um es weiterzugeben. Die Liebe entsteht nicht im Empfangen, sondern im Geben. Der Glaube, dass wir zuerst einmal Liebe bekommen müssen, bevor wir sie geben können, ist die Folge von Kindheitserfahrungen mit einer Liebe, die nur unter Bedingungen gegeben wurde: Wenn du dich brav verhältst, wirst du geliebt, sonst nicht. Du bekommst also die Liebe, wenn du unsere Erwartungen erfüllst, so lautet die explizite oder implizite Botschaft mancher Eltern. Dass Kinder von sich aus, sobald sie am Leben sind, Liebe geben, wissen sie nicht, wenn sie dafür keine Rückmeldungen bekommen. Indem die Eltern ihre Liebe an Erwartungen und Bedingungen binden, lernt das Kind, dass es keine unbedingte Liebe gibt und dass das, was es selbst gibt und geben kann, unbedeutend und wertlos ist. Es hat also nichts zu geben, und bekommen kann es nur dann, wenn es sich durch ein bestimmtes Verhalten, durch eine Form der Gefühlsregulation und Frustrationstoleranz dieser Liebe als würdig erweisen. Die Eltern signalisieren auf diese Weise, dass die Liebe ein knappes Gut ist, das nur unter Umständen gegeben wird, nämlich dann, wenn es sich das Kind durch Anstrengung und Anpassung verdient. Unschwer ist zu erkennen, dass sich auf diese Weise die Grundlagen des Kapitalismus in die Liebesdinge eingemischt haben. Bis zur käuflichen Liebe ist es dann nicht mehr weit.

Die universelle Liebe

Die herkömmlichen Begriffe von Liebe sind also geprägt von der persönlichen Lebensgeschichte sowie von den ökonomischen und kulturellen Lebensbedingungen. Sie tragen unsere Hoffnungen und Ängste in sich, sind durchzogen von Illusionen und Traumelementen und ziehen einen Rattenschwanz an Enttäuschungen und Verletzungen nach sich. Das kann doch nicht alles sein, was die Liebe zu bieten hat!

Wir haben die Fähigkeit, aus diesen vorgeprägten, von Ängsten und Verletzungen eingeschränkten Konzepten der Liebe herauszutreten und den Schritt in einen größeren Rahmen zu wagen. Dabei stellen wir all die Vorstellungen von Liebe, die wir schon kennen, bewusst beiseite und öffnen uns für die Weite des Lebens und des Universums, die über das Menschliche und Allzu-Menschliche hinausgeht. Mit diesem Schritt in die Transzendenz gelangen wir zu einem Verständnis von Liebe als Kraft, die alles zusammenhält und verbindet. Davon ist das, was wir als menschliche Liebe kennen und verstehen, nur ein winziger Ausschnitt, und die Probleme, die uns da begegnen, schrumpfen aus dieser Sicht wie von selbst. Denn diese Perspektive erkennt alles, was geschieht, als eine Ausdrucksform der Liebe. In irgendeiner, oft geheimnisvollen Weise wirkt eine Macht, die allem Existierenden Zusammenhang, Sinn und Bedeutung gibt. Wir verstehen dieses Wirken mit unserem kleinen Geist oft nicht, denn dieser kennt nur seine engen Bahnen, auf denen er sich gern im Kreis dreht. Auch wenn wir den großen Geist nur ansatzweise fassen können, ist es uns möglich, den verheißungsvollen Geschmack, die freie Schwingung der von ihm getragenen Liebe zu erahnen und uns ihr anzuvertrauen.

Die heilende Kraft der großen Liebe

Die universelle Liebe, die wir in diesem geheimnisvollen Rahmen kennenlernen, wirkt nicht nur verbindend und Zusammengehörigkeit geben. Sie enthält auch eine Kraft der Verwandlung und der Heilung. Entwicklung heißt die Veränderung des Bestehenden, und die Kraft der Liebe steht hinter jeder Entwicklung, mit der das Leben weiterwächst, und befördert und bereichert sie.  Diese Liebe bejaht alles, was das Leben hervorbringt. In dieser bedingungslosen Affirmation steckt ihr immenses Heilpotenzial.

Wir erkennen das unmittelbar Hilfreiche dieser Form der Liebe, wenn es darum geht, mit Verletzungen und Verstörungen, die durch Liebesmangel, Liebesentzug oder Liebesverlust entstanden sind, ins Reine zu kommen. Viele Menschen hatten ganz widrige Umstände zu bewältigen, in denen das Vertrauen in die Liebe geschwächt wurde. Wer als Kind von den Eltern nicht gewollt war, spürt das fehlende Willkommen und die Ablehnung der eigenen Existenz als schwere Last und tiefes Leid. Wird aber verstanden, dass es auf einer anderen Ebene das Leben war, das das eigene Dasein gewollt und willkommen geheißen hat, dann wird spürbar, dass eine überpersönliche Liebe am Wirken ist, die stärker ist als das, was die Menschen wollen oder ablehnen. Es fällt leichter, das eigene Leben besser annehmen zu können, wenn bewusst wird, dass es ein unbedingtes Ja gibt, das aus der Urquelle des Lebens stammt und viel viel mächtiger ist als ein Nein der überforderten, ängstlichen und unreifen Eltern. Dieses Ja soll in allen Ecken und Winkeln der Seele vernommen und in jeder Zelle verspürt werden, bis es sich tief verankert hat. Dann fällt es leichter, den Eltern ihre Schwächen und ihr Versagen zu verzeihen und mit ihnen in Frieden zu kommen.

Die unbedingte und weite Liebe nährt alle Formen der kleinen und bedingten Liebe. Sie möchte sich immer zu Gehör bringen, wenn sich die kleine Liebe in den Ränken des Egos und den Schattenseiten der Persönlichkeit verloren hat. Denn allzu schnell versiegt und versickert sie, wenn sie nur auf sich selber gestellt ist. Aber die Rückverbindung an die Urquelle der Liebe in der universellen Lebenskraft lässt sie immer wieder aufblühen und Frucht bringen. Es ist die Erinnerung daran, wer wir in Wirklichkeit sind: Geschöpfe der universellen Liebe, begabt mit einer Liebeskraft, die aus den tiefsten Wurzeln des Seins fließt.

Zum Weiterlesen:
Die große und die kleine Liebe


 

Samstag, 5. August 2023

Perspektivenreichtum statt Güterreichtum

Geiz und Gier

Das Anhäufen und Einverleiben von Dingen ist das Ziel der Gier. Es gibt Dinge, die wir für die Erfüllung unserer Grundbedürfnisse brauchen, wie Nahrungsmittel, Kleidung, ein Dach über dem Kopf usw. Dann brauchen wir Dinge, die uns bei der Sicherung der Dinge helfen, die wir unbedingt brauchen, wie z.B. Geld. Und hier beginnt die Gier: Die Grundbedürfnisse sind bei vielen Menschen längst gesichert, aber die Unsicherheit besteht, ob das in Zukunft auch so sein wird. Also kommt der Drang, die sekundären Dinge anzuhäufen, die uns versprechen, dass es nie einen Mangel an primären Dingen gibt.

Ist die Unsicherheit einmal da und wird von der Gier gesteuert, so gibt es kein Limit nach oben, dessen Erreichung Sicherheit geben würde: Jede sekundäre Absicherung verlangt nach einer Absicherung der Absicherung usw. Die Gier will uns signalisieren, dass die einzige Garantie für Sicherheit darin liegt, bis ins Unendliche mehr und mehr materielle Güter anzuhäufen. Wir sollten uns nur mehr dafür anstrengen, sekundäre, tertiäre etc. Absicherungen für unsere Grundbedürfnisse unter Kontrolle zu bringen. Jedes Nachlassen in den Anstrengungen und im Zufluss an neuen Gütern verheißt Unsicherheit und damit die Gefährdung der Erfüllung unserer Grundbedürfnisse, eine Einsicht, deren Wurzel nur mehr im Unterbewusstsein gefunden werden kann. Denn Schicht um Schicht der Unsicherheitsbewältigung hat sich über den Kernbedürfnissen abgelagert, die längst schon in Sicherheit sind, ohne dass diese Botschaft zu Bewusstsein käme.

Die Gier wird vom Geiz unterstützt. Er sorgt dafür, dass wir von den angehäuften Dingen nichts hergeben. Er steht auch im Bann der Angst vor dem Verlust. Die Gier schaufelt neue Güter herbei und der Geiz hortet sie an sicherem Ort, muss aber immer darauf achten, dass niemand anderer an sie herankommt. Argwöhnisch und eifersüchtig wacht er darüber, dass nichts von den Schätzen wegkommt. Am besten bleiben sie geheim: Wenn niemand von ihnen weiß, ist die Gefahr gering, dass sie entwendet werden.
Die Gier saugt auf, der Geiz hält fest. Die Gier rafft, der Geiz hortet. Die Gier will anderen etwas wegnehmen, der Geiz will anderen nichts geben und sich vor deren Gier schützen. Auf die Verdauung übertragen: Die Gier führt zu Durchfall, wenn zu viel hineingeschlungen wird, der Geiz zur Verstopfung, weil jedes Hergeben mit Verunsicherung und Angst einhergeht.

Von den materiellein zu den immateriellen Gütern

Wenn es uns gelungen ist, die Dämonen der Gier und des Geizes zu bändigen, lösen wir uns von dem Zwang, Güter anzuhäufen, die uns eine scheinbare Sicherheit versprechen. Wir begeben uns zum Übergang von Quantität zu Qualität, von materiellen zu immateriellen Gütern. Hanzi Freinacht schreibt dazu: „Unsere frühere Besessenheit mit dem Ansammeln von Besitztümer und materiellem Wohlstand wird zunehmend durch eine Ansammlung von ‚erlebten Erfahrungen‘ ersetzt: Orte, an denen wir waren, Leute, die wir getroffen haben, Fähigkeiten, die wir erlernt haben, Speisen, die wir gekostet haben, Formen von Ereignissen, an denen wir teilgenommen haben, Lebensphasen, die wir überwunden haben.“ (Übers. W.E.)

Das, was im Text als das Frühere im Unterschied zum Jetzigen benannt wird, bezieht sich auf die materialistische Ebene des Bewusstseinsevolution nach meinem Modell; das Jetzige kann mit der personalistischen Stufe gleichgesetzt werden. Der nächste Schritt geht auf die systemische Stufe, die Hanzi Freinacht als metamodern bezeichnet. „Der metamoderne Geist sammelt Perspektiven; er preist sie, poliert sie, schätzt sie, bewundert sie. Das ist auch – in gewissem Sinn – eine blöde Form des Hortens. Es ist ein Horten, das von einer sanften Hand gehalten wird, mit einem ironischen Lächeln über das eigene Verhalten.“

Auf der Ebene, die ich systemisch nenne, gilt der Reichtum an Sichtweisen vor dem Hintergrund der Relativität und Diversität. Viele Perspektiven verstehen und nebeneinander bestehen lassen zu können, erfordert die Loslösung vom Rechthaben- und Belehrenwollen. Allerdings ist es nach wie vor wichtig, die Gültigkeit und Relevanz der jeweiligen Perspektiven zu berücksichtigen. Die Aussage von Frau Müller zum aktuellen Wetter nach dem Blick aus ihrem Fenster hat einen anderen Wert als die Messung einer wissenschaftlichen Wetterforschungsinstitution. Wir sammeln also Perspektiven mitsamt ihren Entstehungskontexten, sonst ist die Sammlung so wertlos wie eine Briefmarkenkollektion, in der die Marken nach Farben oder Größe sammelt sind.

Die Ästhetik des Schrumpfens, von der in einem früheren Beitrag die Rede war, bezieht sich nur auf materielle Güter, die aus den Ressourcen des Planeten hergestellt sind und diese sukzessive aufbrauchen. Immaterielle Güter öffnen einen Bereich des Reichtums, der ins Unendliche geht. Denn sie verlieren nicht an Wert, wenn sie geteilt und weitervermittelt werden, sondern erhöhen im Gesamten das, was als wertvoll erachtet wird. Es kommt also immer zu einem Wachstum bei der Verbreitung von Faktenwissen und Metawissen, das sogar exponentiell sein kann.

Vom Nutzen der vielen Perspektiven

Die Multi-Perspektivität ist deshalb so wichtig, weil sie unser Leben in verschiedener Hinsicht verbessert und erleichtert. Wenn wir in einer Situation über nur eine Möglichkeit verfügen, verlaufen wir uns schnell, weil diese Möglichkeit unter Umständen die ungünstigste oder unpassendste ist. Wir befinden uns in einer Tunnelperspektive. Mehr Möglichkeiten bedeuten, dass wir über einen weiteren Horizont verfügen und ein größeres Bild wahrnehmen können.

Die Vielzahl von Möglichkeiten erschreckt uns manchmal, wenn wir gerade nicht auf unsere Flexibilität vertrauen, sondern wenn wir unter Stress stehen und meinen, es gäbe nur einen und einzigen richtigen Weg. Wir befürchten, wir übersehen das Wahre und Wichtige, wenn wir eine Richtung wählen und uns notgedrungen eine andere damit verbauen. Entscheidungen sind immer riskant, ebenso wie jeder Verzicht auf das Festlegen. Unter Stress wollen wir jedes Risiko vermeiden und auf Nummer Sicherheit gehen, erzeugen aber gerade das Gegenteil, weil wir uns nicht die Zeit zum Abwägen verschiedener Blickpunkte geben, sondern aus alten Gewohnheiten heraus reagieren, die in den seltensten Fällen zur aktuellen Situation passen.

Freiheit in der Vielfalt

Unsere Freiheit ergreifen wir, wenn wir die Vielfalt der Perspektiven wertschätzen können, für die wir uns geöffnet haben. Sie erweitern unsere Innenwelt und geben uns mehr Zugänge zur äußeren Welt. Wir können mehr Farben in unsere Erlebenswelt bringen. Sie wird lebendiger, und wir werden lebendiger, wenn wir uns auf diese Vielfalt einlassen.

Sie eröffnet uns den Zugang zu Alternativen in der Lebensführung, z.B. was unsere Gesundheit betrifft, und sie erleichtert das soziale Leben, weil wir auf weniger Widerstände stoßen, wenn wir die Sichtweisen unserer Mitmenschen verstehen. In der Kommunikation gibt es immer verschiedene Sichtweisen, und wenn wir diese einfache Tatsache verstanden haben, fällt es uns leichter, durch die Tiefen und Untiefen der Zwischenmenschlichkeit zu surfen. Konflikte entstehen üblicherweise aus unterschiedlichen und widersprechenden Perspektiven, ohne dass die jeweils anderen verstanden werden, und sie lösen sich, wenn die Vielfalt der Perspektiven von allen Seiten wertgeschätzt werden kann.

Wir können besser mit den Herausforderungen umgehen, die uns die sich ständig verändernden Vorgänge in der Außenwelt auftischen. Jede neue Situation erfordert neue Sichtweisen, aus denen dann Formen des Herangehens gebildet werden. Mit jeder Perspektive, die wir verstanden und angenommen haben, verfügen wir über eine Handlungsmöglichkeit mehr, die wir bei Bedarf einsetzen können.

Komplexitätskompetenz

Unweigerlich wird die Welt, in der wir leben, immer komplexer. Wir können mit dieser Komplexität nur umgehen, wenn wir über möglichst viele Perspektiven verfügen. Viele Menschen schrecken vor Komplexität zurück und greifen in ihren Reaktionen auf alte Sichtweisen zurück, die oft bewirken, dass sich die erwarteten Effekte ins Gegenteil verkehren. Wenn z.B. in Hinblick auf den Klimawandel nur die Perspektive besteht, dass alles, was Wissenschaftler sagen, erlogen ist, oder dass andere ihr Leben ändern sollen und man selber schon alles Notwendige gemacht hat, wird der Klimazerstörung weitergehen und noch mehr Schäden hervorrufen.

Komplexitätsverweigerung oder Komplexitätsinkompetenz sind Haltungen, die oft bewusst gegen die Zunahme an Komplexität in Stellung gebracht werden, so als könnte man sie dadurch verhindern oder zumindest bremsen. Tatsächlich geht es dabei um Versuche, Primitivität und Naivität aufrechtzuerhalten, damit die Verhältnisse einfach und überschaubar bleiben. Doch richten sich die Verhältnisse nicht nach den Ängsten und kindlichen Bedürfnissen der Menschen, sondern bauen alles, was geschieht, einschließlich aller Formen von Widerstand, in das Weiterschreiten der Komplexität ein.

Das Wachstum an Komplexität kann also nicht durch irgendeine Form von Protest, Verweigerung oder Widerstand verhindert werden. Solange sich Menschen fortpflanzen, werden mit jedem neuen Menschenkind neue Perspektiven geboren, die die Welt komplexer machen. Der Hund kläfft und die Karawane zieht weiter. Wenn wir mit der Karawane in die Zukunft wandern wollen, brauchen wir die Offenheit für Neues und die Bereitschaft für das Risiko der Entscheidung. Statt uns in überholte Perspektiven einzumauern und maulend hinter der Entwicklung der Welt zurückzubleiben, erweitern wir unsere Freiheitsräume, indem wir neue Perspektiven erwerben und nutzen.