Montag, 16. September 2013

Die zwei Wahrheiten und die Sprache

Die Sprache entwickelt sich als Medium des konventionellen Bewusstseins. Über weite Strecken dient uns die verbale Kommunikation zur Absicherung der gemeinsamen Wirklichkeitssicht. „Ist das die Sonne?“ fragt das Kind. „Ja, das ist die Sonne,“ antwortet der Vater. „Liebst  du mich?“ fragt die frisch Verliebte. „Über alles“ ist die Antwort, die die eigene Wirklichkeitssicht zu einer gemeinsamen macht. Von dieser Art der Vergewisserung sind viele unserer sprachlichen Mitteilungen. Sie beginnen bei einer Unsicherheit, und durch das Reden wird die Unsicherheit entweder verringert oder vergrößert, je nachdem, wie sicher oder unsicher die angesprochene Person reagiert.

„Verstehst du mich?“ fragt die Erwachsene und meint: „Kann ich mich sicher in der Beziehung zu dir fühlen?“ Kommt als Antwort: „Nein, überhaupt nicht,“ dann steigt die Unsicherheit und es entsteht der Wunsch, weiterzureden, bis die Sicherheit hergestellt ist.

Die Sprache dient damit auch als Instrument für das Ego, sich seiner selbst zu vergewissern und seine Ängste zu reduzieren. Es will über das Sprechen und Austauschen Sicherheit herstellen. Deshalb reden die Menschen gerne so viel und so oft. Wenn z.B. mehrere Leute Konzert oder einen Kinofilm besuchen, ist jeder während der Darbietung auf sich selbst und seine Wahrnehmung konzentriert. Nachher entsteht das Bedürfnis zu reden, um sich untereinander zu verständigen, wie nach diesen vereinzelten Erfahrungen eine gemeinsame Realität erschaffen werden kann, die die soziale Sicherheit wieder herstellt. Es ist, als wäre nach einer Zeit der Vorrat an Sicherheit aufgebraucht, den wir dann von Zeit zu Zeit wieder aufbauen und aufladen müssen. Unser Ego braucht die Abstimmung mit den anderen Egos, damit es sich entspannen kann.



Denken als inneres Sprechen


Das Denken ist über weite Strecken ein verinnerlichtes Reden. Z.B., wenn ich einen Text wie diesen schreibe, redet eine Stimme zuerst die Sätze in meinem Denken, bevor ich sie niederschreibe. Jede Änderung, die ich vornehmen will, wird im inneren Diskurs erörtert. Auch hier dient das sprachliche Denken der Absicherung, schließlich soll das, was ich schreibe, Sinn machen und für andere verständlich sein. Wenn mir jemand mitteilt, dass das, was ich schreibe, unverständlich ist oder dumm, dann erzeugt das eine Unsicherheit in meinem Ego, der ich vorbeugen will, indem ich versuche, möglichst klar zu schreiben.

Offensichtlich ist auch, dass ich, wenn ich einen Text unverständlich oder dumm finde, durch ihn verunsichert bin. Mittels der Etikettierung will ich mir wieder mehr Sicherheit verschaffen. Ich kann dann z.B. zusätzlich jemand anderen aktivieren, mir rechtzugeben, um meine Sicherheit noch zu erhöhen.

Die Sphäre der Sprachlosigkeit


In der Sphäre der endgültigen Wahrheit brauchen wir die Sprache nicht. Es ist alles ganz klar und braucht nicht erläutert zu werden. Wir haben keine Unsicherheiten und Zweifel, deshalb sind wir nicht auf Bestätigung angewiesen. Wir können auch nicht anderen mitteilen, was wir erleben, weil es sich, wie alle Mystiker sagen, nicht in Worte fassen lässt. Über das Unsagbare zu reden, ist der Versuch, das Absolute in die Welt des Relativen zu übersetzen. Bei jeder, auch bei den besten Übersetzungen von einer konventionellen zur anderen konventionellen Sprache, geht viel vom ursprünglichen Sinn verloren.

In diesem Fall allerdings ist schon das Unterfangen der Übersetzung von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn es geht um die Übersetzung vom Nichtsprachlichen ins Sprachliche. Das Unendliche soll in die Form des Endlichen gepresst werden. Das Zeitlose soll in ein Zeitgerüst eingepasst werden.

Sobald wir also über die Zustände der Erfahrung des Absoluten reden, sind wir wieder in der Welt des konventionellen Bewusstseins. Dort verstehen uns die einen, die anderen nicht. Die einen bestätigen uns, andere werten uns ab usw. Je mehr wir reden, desto mehr verstricken wir uns in die komplexen Fallstricke der konventionellen Welt, die von Ängsten und Misstrauen durchtränkt ist.



Das Esoterik-Problem


Mit der Schwierigkeit und Missverständlichkeit der Versprachlichung der Mystik befindet sie sich in einem kommunikativen Niemandsland. Das hat den Mystikern in allen Gesellschaften Probleme gebracht, sobald im Lauf der Geschichte die Sprache zum Medium von Anklage und Rechtfertigung geworden ist. Von Erfahrungen zu reden, die den konventionellen Konsens in Frage stellen, und zudem zu behaupten, dass diese höchsten Wahrheiten nur in einem besonderen Erfahrungsrahmen zugänglich sind, galt und gilt als Skandalon, das häufig verfolgt und mit den übelsten Strafen belegt wurde. Deshalb haben viele Lehrer ihre Weisheit nur an eingeweihte Schüler weitergegeben, was hinwiederum das Misstrauen der Nicht-Eingeweihten genährt hat.

Der Mystiker wird sagen: „Wenn du mich verstehen willst, musst du in den gleichen Erfahrungsraum eintreten, in dem ich mich befinde.“ Dieser Raum ist nicht einfach frei zugänglich für jedermann/frau und deshalb „esoterisch“, er steht also nur Insidern offen. Allerdings kann jeder Insider werden, es ist nicht notwendig, einer Schule, Sekte oder Geheimgesellschaft anzugehören. Doch betritt ihn jeder durch eine, seine eigene Tür.

Der Esoterik-Kritiker wird fordern: „Dann sag mir, was es da drinnen gibt.“ Der Mystiker wird antworten: „Das kann ich nicht in Worten ausdrücken.“ Darauf wird sich der Kritiker die Stirn verziehen und sagen: „Was für ein Unsinn. Alles muss man in Worten ausdrücken können. Wie soll ich oder jeder andere sonst verstehen, worum es geht?“ Der Mystiker wird ihm mitteilen: „Du kannst diese Wahrheit nur in dir selber finden. Wenn du die Augen schließt und in dir nachforscht, wird sie sich dir offenbaren.“ Wenn der Kritiker dieser Anregung nachkommt, wird er vielleicht zum Meditierer, wenn er davon Abstand nimmt, bleibt er bei seiner Skepsis und wird Schlechtes über den Mystiker und über die Mystik reden.

Sollte die Mystikerin dennoch versuchen, ihre Wahrheit mitzuteilen, wird sie von der unendlichen Weite oder der unermesslichen Liebe sprechen, die sie in sich empfindet. Der Kritiker, dem diese Erfahrung fehlt, wird sich leicht tun, diese Worte als unsinnig oder als Dahergerede abzutun.

Das ist die Grenze zwischen dem rationalen und dem transrationalen Bereich, die Grenze zwischen dem Konventionellen und dem Endgültigen. Um sie zu überschreiten, müssen auch die Konventionen der Sprache und die auf ihr gegründeten Ideen der Allgemeinverbindlichkeit zurückgelassen werden. Spirituelle Einsichten gewinnen ihre Verbindlichkeit in der Sphäre der Innenschau, und wer diese Welt kennt, kann sich darüber leicht  mit jedem verständigen, der ebenfalls dort zugange ist, ohne dass dafür die konventionelle Sprache notwendig wäre. Wer sie nicht kennt, kann mit den Versuchen der Versprachlichung so wenig anfangen wie ein Blinder, dem wir von den Farben erzählen.



Die unterschiedlichen Zugänge


Manche Menschen brauchen einen Lehrer, andere finden sich plötzlich und spontan in diesem Bereich. Manche Menschen folgen über längere Zeit einer bestimmten Methode, andere wechseln von einer Übungsweise zur anderen. Manche sammeln die Durchblicke ins Unendliche wie Puzzlesteine und bemerken, wie sie immer mehr werden, anderen öffnet sich ein riesiges Tor auf einmal. Manche der Erfahrungen sind einmalig und flüchtig, manche kommen immer wieder in ähnlicher Form, manche bleiben beständig da, andere wiederum sind willentlich abrufbar.

Manche kommen über die Sprache in die Sphäre des Absoluten. Sie hören Worte oder lesen Texte, die sie auf die Suche schicken. Doch sobald sie dort sind, wo sie merken, dass sie angekommen sind, erkennen sie auch, dass sie keine Sprache brauchen, um dort zu bleiben, dass sie auch keine Sprache finden, um nachher zu erklären, wo sie waren und auch keine Sprache benötigen, um wieder dorthin zu kommen. So wird die Stille, die auch die Freiheit von Worten ist, zu einem dauernden Begleiter. Langsam und stetig wird die Kraft der Stille stärker als die Geschwätzigkeit der konventionellen Welt.

Manche Heilige reden gern und viel. Sie wollen andere an ihren Erfahrungen teilhaben lassen, getreu der Devise: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.

Manche der Zuhörer werden von solchem Reden ergriffen, weil die Worte von einem Geist durchdrungen sind, der sie erahnen lässt, was gemeint ist. Es ist die Kraft und die Klarheit des Sprechens und nicht die Worte, die die gute Botschaft übermitteln.  Sie sind von einem Nicht-Wollen getragen, die aus der inneren Freiheit kommt.

Es gibt Ohren, die gewohnt sind, nur Erwartetes zu hören, und alles, was die Hörgewohnheit herausfordert, misstrauisch abzulehnen. Ihnen wird es schwerer fallen, von der Rede der Heiligen berührt zu werden. Sie werden statt Hingabe Macht, statt Liebe Geltungssucht und statt Freiheit Eigensinn wahrnehmen. Je starrer das Ego ist, desto enger ist sein Empfangsbereich (chronischer Stress verhärtet die Muskulatur, die die Mittelohrknöchelchen in Bewegung halten und schränkt damit die Hörfähigkeit ein). Das ängstliche Ego hört nur, was es hören will, nämlich sich selbst in seinen Befürchtungen und Begierden. Wenn sich das Hören geöffnet und gedehnt hat, wird es leichter, die Frequenzen der endgültigen Wahrheit zu hören und mit ihnen in Resonanz zu treten.

Bewusstes Musikhören (nicht bloß das Zulassen von Hintergrundgeräuschen und nicht bloß das repetitive Hören der eigenen Lieblingsmusik) verändert die Hörgewohnheiten. Deshalb kann es als gute Vorübung dienen, um die Bereiche des Konventionellen hinter sich zu lassen und eine Ahnung vom Absoluten zu bekommen. Aus diesem Grund sind auch viele Musikschaffende mit dem Absoluten zugange.

Andere Mystiker reden überhaupt nicht oder nur Belangloses für die Alltagspraxis. Sie sind nur da mit denen, die mit ihnen im Schweigen beisammen sein wollen. Wieder andere schauen die Menschen, die zu ihnen kommen, tief an oder umarmen sie.

All das sind Möglichkeiten, auf das große Mysterium zu verweisen, das jenseits der konventionellen Sprache auf alle wartet, die sich ihm öffnen wollen.


"Diese Worte sind für einen, der Worte braucht, damit er begreift. Aber jemand, der ohne Worte begreift – was braucht der Worte? ... Jemand, der einen leisen Ton hört, was braucht der Reden und Geschrei?" (Rumi)

Freitag, 13. September 2013

Die zwei Wahrheiten: Das Ego als Pforte zur Wahrheit

Eine Pforte bedeutet zweierlei: Ein Hindernis und eine Öffnung. Zunächst stellt sie sich als Blockade in den Weg. Wir kommen nur weiter, wenn sie sich öffnet oder öffnen lässt. Sie ist jedoch für uns nur interessant, wenn wir durch sie hindurch wollen, wenn wir erwarten oder wissen, dass es jenseits der Pforte etwas gibt, was für uns wichtig ist. Sie symbolisiert also eine Verheißung, die sich aber nicht ohne weiteres erfüllt, sondern uns vor eine Aufgabe stellt. Sich ihr anzunähern beinhaltet die Überwindung eines Hindernisses.

Eine Pforte symbolisiert auch ein Anhalten, einen Moment der Überlegung und Zurückwendung (Reflexion). In diesem Moment klären wir unsere Wichtigkeit ab: Lohnt sich die Anstrengung, die Pforte zu überwinden oder lassen wir es bleiben und gehen wieder zurück in die gewohnten Umstände?

Der Hort unserer Begierden und Ängste


Das Ego ist der Hort unserer Begierden und Ängste. Es hat alles gespeichert, was uns je Lust oder Angst bereitet hat. Wenn wir einmal in den Genuss der absoluten Wahrheit gekommen sind, will es auch mehr davon. Dieses Wollen stammt natürlich aus dem konventionellen Denken, aus den Programmierungen unseres Egos. Es sieht jedes Wollen als gleichartig: Etwas hat irgendwann Lust bereitet, also will ich (ego) mehr davon: „Lust will Ewigkeit – Lust will aller Dinge Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit.“ „Lust will sich selber, will Ewigkeit, will Wiederkunft, will Alles-sich-ewig-gleich.“ (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 4. Teil, Das trunkne Lied). Was mir einmal gut getan hat, soll immer da sein und immer zur Verfügung stehen wie die Kuchen im Schlaraffenland.

Auch die Lust an der endgültigen Wahrheit erscheint dem Ego wie eine Lust, die es begehrt, wieder und wieder zu erleben. Es geht ihm um die genussvollen und angenehmen, die ekstatischen und faszinierenden Seiten der Erfahrung. Es geht ihm nicht um den Zustand selber, sondern um die von ihm ausgelösten Gefühlserlebnisse, gewissermaßen um die Glücksbotenstoffe und Hormone, die freigesetzt wurden.

Das Lustmuster des Egos ist der Zeit unterworfen. Das Ego weiß aus all seinen Erfahrungen, dass alles, was kommt, auch wieder geht, dass nichts von Dauer ist und deshalb auch jede Lust ein Ende hat. Es weiß auch, dass es in jeder Lust immer wieder und immer wieder die Ewigkeit suchen wird, aber dass sie diese nie finden wird. Es ist in sich gefangen wie Sisyphos im Mythos, in der Urform der selbsterzeugten Dramatik.

Also verhindert das Ego typischerweise mit seinem krampfhaften und gierigen Wollen gerade die Erfüllung dieses Wunsches. Es stellt sich selber ein Bein, indem es das Absolute auf die Ebene des Konventionellen holen will, um es dort der eigenen Kontrolle unterordnen zu können.

Doch für solche Spielchen steht die endgültige Wahrheit nicht zur Verfügung. Denn sie ist nur auf der Ebene der Freiheit zugänglich, die keine ängstliche Kontrolle verträgt. Sobald sich ein Zipfelchen des Egos an sie anhängen will, ist sie verschwunden.

Deshalb besteht die Aufgabe, die Überwindung der Pforte, darin, die Fixierungen und Konditionierungen, aus denen sich unser Ego zusammensetzt, zu durchschauen und die dahinter liegenden Ängste ans Licht zu bringen. Wir unterliegen ihnen so leicht, weil sie das Gerüst unseres konventionellen Lebens darstellen und weil wir deshalb große Angst haben, mit den Konditionierungen die Sicherheiten, an die wir uns gewohnt haben, zu verlieren.

Doch kommen wir nicht ohne unser Ego durch die Pforte, und in anderer Weise betrachtet, ist es selbst gerade die Pforte, die uns zur endgültigen Wahrheit führt. Wir „sind“ das Ego, wenn wir uns im Rahmen der konventionellen Wahrheit bewegen, also wenn wir vor der Pforte stehen, und wir müssen die Mechanismen des Egos abstreifen, wenn wir weiterkommen wollen auf dem spirituellen Weg.

Dabei ist die Selbst-Erkenntnis wichtig, dass uns der Weg der Befreiung von inneren Ängsten und Blockierungen immer mehr zu uns selber führt. Das ist unsere eigentliche Sehnsucht, die diesen Weg antreibt und mit Kraft versieht, und das Ego als Teil von uns ist auch von dieser Sehnsucht durchdrungen. Aber es fehlt ihm das Vertrauen in das Ganze und die Fähigkeit zur Hingabe. Es will Planung und Kontrolle.

Klarerweise kann der Weg zur endgültigen Wahrheit weder geplant noch kontrolliert werden, sondern er geschieht nach einer eigenen Regie, die sich unserer Neugierde und Begierde entzieht. Da geschehen immer wieder Überraschungen, die die Planungen und Erwartungen des Egos über den Haufen werfen. Es ist, als wollte das Absolute damit prüfen, ob wir wirklich bereit sind, den Weg nach Innen zu gehen. Denn jede Überraschung, ob sie uns angenehm oder unangenehm erscheint, ist eine Herausforderung im Annehmen. Wenn uns das vor allem bei unangenehmen Überraschungen gelingt, sind wir jedes Mal einen guten Schritt weiter in der Richtung auf die endgültige Wahrheit.

Wenn wir also, um im Bild zu bleiben, immer wieder scheitern, die Pforte zu öffnen, mit den verschiedensten Tricks und gefinkeltsten Methoden, die wir anwenden, und trotzdem nicht aufgeben, und wenn wir uns dabei nicht im Klagen und Hadern verlieren, sind wir in Wirklichkeit schon über die Schwelle gelangt, vielleicht ohne es zu merken.

Das Ego als Helfer auf der Suche


Wie können wir dem Ego eine gute Rolle bei unserer Suche geben? Wir brauchen es, damit es uns die Struktur und Disziplin gibt, ohne die wir auf dem Weg nicht weiterkommen: es muss uns die Energie und die Motivation zum Meditieren, zum Aufsuchen von Therapeuten und Lehrern, zum Lesen von Schriften, zur Übung der Achtsamkeit geben. Mit zunehmender Praxis wird das Ego auch williger mitzuspielen, weil seine Ängste weniger werden und es sich an den Erfolgen erfreuen kann.

Es gibt auch Stufen auf dem Weg, die mit besonders starken Ängsten besetzt sind. Das sind die gut befestigten Bastionen des Egos, und sie zeigen sich in den unterschiedlichsten Verkleidungen, zuletzt in der Sehnsucht nach mehr Wahrheit und Bewusstheit. Wenn es uns gelingt, diese Stufen zu erklimmen und die mächtigen Dämonen, die dort auf uns warten, zu überwinden, wird das Reich der Freiheit um ein ebenso großes Stück offener.

Einen Dämonen können wir nur überwinden, wenn wir ihn uns zum Freund machen, wenn wir ihn also seiner grauenvollen Maske entkleiden und seinen harmlosen Kern entdecken. Erst wenn wir alle Spielarten unseres Egos kennen gelernt haben, wenn wir alle seine Schlupfwinkel und Winkelzüge ausgeforscht haben, ist unser Ego unser wahrer Freund geworden. Vor einem wahren Freund brauchen wir uns nicht zu fürchten, und ein wahrer Freund unterstützt uns auf unserem Weg zur Wahrheit. Er geht mit uns über die Schwelle, auch auf die Gefahr hin, diesen Schritt selber nicht zu überstehen.

Donnerstag, 12. September 2013

Die zwei Wahrheiten

Santideva
„Die konventionelle und die endgültige Wahrheit werden als die zwei Wahrheiten anerkannt. Die endgültige Wahrheit ist kein Wahrnehmungsobjekt des Bewusstseins; das Bewusstsein wird als konventionelle Wahrheit bezeichnet.“ (Santideva, Bodhicharyavatara)

Dieser klassische Text des Mahayana-Buddhismus aus dem 8. Jahrhundert n.Chr. macht uns aufmerksam auf eine wichtige Unterscheidung, die uns auf unserer inneren Suche und bei der Auseinandersetzung mit ihren Widerständen begegnet.

Die konventionelle und die endgültige Wahrheit verweisen auf zwei Wege, die wir als Erdenbürger in der einen oder der anderen Form, aber immer irgendwie gleichzeitig zu absolvieren haben. Der eine ist wie das Fruchtwasser, das uns von Anfang an umgibt. Wir nehmen alles, was es uns zu bieten hat, als selbstverständlich und als richtig an. Sobald wir geboren sind, erzählen uns unsere Eltern alles Mögliche, und wir vertrauen ihnen blind. So bildet sich unser konventionelles Denken, unsere Maßstäbe von richtig und falsch. Wenn wir den Gehirnforschern glauben können, lenkt es 95% unseres Verhaltens, unserer Entscheidungen und unserer Gedanken.

Die konventionelle Wahrheit ist über die äußeren Sinne zugänglich, wie es in den buddhistischen Schriften heißt. Sie bezieht ihre Inhalte von den Dingen und Vorgängen, die wir wahrnehmen, wie die Sonne und den Mond, das Klatschen von Händen, den Geruch von Schlingkraut. Sie vertraut allem, was aus den äußeren Sinnen kommt.

Ihr geht es wie dem zweifelnden Thomas im Neuen Testament: „Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.“ Die konventionelle Wahrheit braucht Beweise in der visuellen und haptischen Wirklichkeit, sonst bleibt sie skeptisch. Die äußere Wahrnehmung gibt ihnen Sicherheit. Das dagegen, was von innen kommt, nähert die Zweifel und könnte immer auch anders sein. Es hat mit dem Denken ein Instrument in Händen, das stets verneint, indem es sich zu allem, was es gibt, das Gegenteil ausdenken kann und dazu noch dessen Negation, und so weiter bis ins Unendliche.


Das Absolute


Die endgültige Wahrheit dagegen erfahren wir über das innere Spüren. Dieser Sinn ist in uns von Anfang an grundgelegt, komplementär zu den äußeren Sinnen. Er verbindet uns mit dem organismischen Fließen, das die Basis unseres Lebens darstellt. Die Erfahrung dieses Flusses des Lebens vermittelt uns die Urerfahrung der endgültigen Wahrheit, 
von unserem Anfang an und immer wieder im Lauf unseres Aufwachsens

Später, wenn wir bis oben hin angefüllt von konventionellen Wahrheiten sind, erleben wir sie dann nur mehr in besonderen Momenten, in denen wir uns ganz mit dem Leben verbunden fühlen. Manchmal geschieht es einfach, z.B. wenn wir in der Natur sind, manchmal stellen sie sich während des Meditierens ein und immer wieder auch, wenn ein tiefgehender innerer Heilungsprozess Ängste auflösen konnte, die dem Eintritt in diese Erfahrungsebene im Weg standen.

Die letzte Wahrheit ist einfach, klar und in sich überzeugend. Sie braucht keinen Beweis, sie ist einfach da. Wir fühlen uns mit allem verbunden, sind im Moment, Raum und Zeit sind unwichtig. Wir haben keine Fragen und keine Zweifel, das Denken ist ganz ruhig, der Kopf ist leer.

Wir können diese Absolutheit in unterschiedlichen Schattierungen erleben, möglicherweise hat auch jedes Individuum sein eigenes Portal zu diesem Reich. Außerdem scheint es auch viele verschiedene Kategorien in der Erfahrung der endgültigen Wahrheit zu geben. Deshalb werden auch unterschiedliche Gipfelzustände benannt, zum Unterschied von „einem“ Zustand der Erleuchtung, wie er von manchen Lehrern angenommen wird. Das Absolute kann uns begegnen als überwältigende Naturerfahrung, als Herzöffnung, als Lichtschauer oder als tiefe innere Stille und in vielen anderen Gestalten. Gemeinsam ist diesen Erfahrungen ein grenzenloses Gefühl der inneren Freiheit.

Gemeinsam ist ihnen auch, dass wir sie in unserem Körper wahrnehmen. Auch wenn sich dieser anders anfühlen mag wie gewöhnlich, z.B. innerlich hohl, leicht, lichtdurchflutet oder durchlässig, haben wir zugleich ein konventionelles Bewusstsein von ihm, und wir können leicht wieder in ihn zurückwechseln, wenn es die äußere Realität erfordert, wenn wir z.B. die Toilette aufsuchen müssen. Dieses Kriterium bildet einen wichtigen Unterschied zwischen dissoziativen Zuständen, wie wir sie bei einer Traumatisierung erleben, und Zuständen der endgültigen Wahrheit. Wir können je nach den Erfordernissen der Situation vom absoluten ins relative Bewusstsein wechseln, ohne dass es dabei zu Schockzuständen, aggressiven Gefühlen oder Desorganisation kommt. 


Die Kunst des Wechselns zwischen den Ebenen


Soviel Freiheit auch immer wir erringen können, soviel Freiheit auch immer uns geschenkt wird, bleibt uns nicht erspart, uns immer wieder und zugleich im Reich der relativen Wahrheit aufzuhalten und dort unseren Lebensunterhalt zu fristen. Wir leben in unserem dreidimensionalen und zeitlichen Körper mit seinen Prozessen, Krankheiten, Schwächen. Wir leben mit unseren gemischten Gefühlen und schwankenden Stimmungen. Wir leben in dieser Gesellschaft mit ihren Menschen und Strukturen. Für all diese Bereiche braucht es eigene Strategien, eigenes Wissen und vielfältige Fertigkeiten, die wir aus den konventionellen Wahrheiten gewinnen können.

Hier sind wir in der Zeit und im Raum. Wir wissen, dass wir uns weiterentwickeln, wir begegnen Problemen und wissen, dass jedes gelöste Problem neue Schwierigkeiten nach sich ziehen kann. Wir handeln und machen Fehler, lernen und verlernen, werden besser, aber nie vollkommen.

Je mehr wir in die Bereiche der absoluten Wahrheit eingetaucht sind, und je mehr wir von der Kunst des Wechselns von einer Ebene zur anderen gelernt haben, desto mehr wird von der höheren Sphäre, von der inneren Freiheit ins Reich des Relativen einfließen. Wir werden gelassener den Herausforderungen des alltäglichen Lebens gegenüber, wir verstricken uns weniger in Ängste und Sorgen und finden leichter zu den Herzen der anderen Menschen.


Weitere Einsichten zum Thema von Torsten Brügge.

Montag, 9. September 2013

Esoterik und Wissenschaft 3: Erweiterte Empirie

Dies ist der dritte Beitrag zum Schwerpunktthema „Esoterik“ der ZEIT vom 16. Mai 2013. Er geht ein auf den dort formulierten Vorwurf an die „Esoterik“, sich mit dem Begriff der „erweiterten Empirie“ der wissenschaftlichen Überprüfung zu entziehen.

Es ist tatsächlich ein gängiger Vorwurf an alles, was als Esoterik bezeichnet wird,  dass die wissenschaftliche Überprüfung der angebotenen Heilpraktiken, Hilfsmittel und therapeutischen Methoden fehlt. Wir erkennen unschwer, dass sich Quacksalber neben seriösen Könnern und engagierten Innovatoren im Feld der Esoterik herumtreiben können, ohne dass sich von außen ein Unterschied ausmachen ließe. Schon zum Schutz der Konsumenten wäre es wünschenswert, dass hier überprüfbare Standards eingezogen werden.

Es ist jedenfalls zu billig, wenn einige der esoterischen Anbieter meinen, dass sich die Wirkung ihrer Salben, Wässerchen oder energetischen Zuwendungen nicht messen ließe, weil sie im feinstofflichen Bereich angesiedelt wäre. Dort würden die groben wissenschaftlichen Geräte ohnehin nicht ansprechen, und daher wäre jede wissenschaftliche Untersuchung von vornherein zum Scheitern verurteilt.  Also brauche man sich gar nicht erst um eine wissenschaftliche Abstützung der angebotenen Gerätschaften oder Methoden bemühen.

Angesichts solcher vormoderner Abwehrstrategien fürchten die Skeptiker, dass damit der Willkür und der Rosstäuscherei Tür und Tor geöffnet wird. Jeder kann alles behaupten und versprechen, den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen und dann, sollte sich die gewünschte Wirkung nicht einstellen, zynisch feststellen, dass eben der Glaube gefehlt hat oder die Vorsehung andere Pläne hatte oder noch zehn Behandlungen notwendig gewesen wären für den sicheren Erfolg. Also muss die Wissenschaft her, um hier Klarheit und Ordnung zu schaffen.


Das Dilemma der Empirie


Die Diskussion um die Wissenschaftlichkeit stößt jedoch auf ein Dilemma: Für die gesellschaftliche Akzeptanz und für die rationale Sicherheit der Konsumenten brauchen wir „harte“ wissenschaftliche Ergebnisse. Die esoterischen Praktiker verweisen dagegen immer wieder darauf, dass es nicht um allgemeine, also für alle geltende Beweise gehe, sondern dass die Wirkung im Einzelfall zähle. Gut wäre, was gut wirkt, gleich, ob es von der Wissenschaft anerkannt ist oder nicht. Was die Wissenschaft an Erkenntnissen liefert, taugt nicht zur Verbesserung der Orientierung in dem immer unübersichtlicher werdenden Feld.

Interessant ist in diesem Zusammenhang das Beispiel Homöopathie: Dieses weitverbreitete Verfahren, mit dem auch viele Ärzte arbeiten, verfügt über keine wissenschaftliche Basis. Es gibt zwar in Österreich von den Ärztekammern anerkannte Ausbildungen in der homöopathischen Medizin und rund 900 Ärzte sind Mitglieder der Gesellschaft für Homöopathische Medizin.

Bis heute existiert jedoch weder ein formaler, reproduzierbarer Nachweis noch eine akzeptable naturwissenschaftliche Begründung für die Wirksamkeit homöopathischer Arzneimittel. Über hundert Studien (lt. wikipedia) haben nach den Kriterien der Wissenschaft keine stichhaltigen Beweise erbracht. Und dennoch verwenden viele Ärzte die Methode, offensichtlich weil sie Erfolge sehen, und noch viel mehr Patienten schwören auf sie, weil sie ihnen vermutlich Heilung oder Linderung von Leiden gebracht hat. Also gibt es eine umstrittene Methode der Heilkunst, die keine wissenschaftlich belegbaren Erfolge nachweisen kann und dennoch seit über hundert Jahren Bestand hat, weiterentwickelt und angewendet wird.

Mit diesem Befund zeigt sich zweierlei. Zum einen ist offensichtlich, dass die Menschen der Wissenschaft gar nicht so voll vertrauen, wie wir das annehmen würden. Möglicherweise ist der wissenschaftliche Beweisnotstand, in dem sich z.B. die Homöopathie befindet, wenigen bekannt. Aber es interessiert einfach kaum jemanden, ob eine Methode, die von jemandem, dem man vertraut, angeboten oder empfohlen wird, auch den Segen der strengen Wissenschaft hat. Vielmehr hofft jeder, dass einem selbst hilft, was anderen schon geholfen hat. Davon auszugehen, dass alle, die die Dienste der Homöopathie in Anspruch nehmen, blind und naiv sind, indem sie sich nur irgendwelche nichtexistenten Heilerfolge einbilden, wäre nur anmaßend und überheblich. Eine solche Annahme, die von einem massiven Vorurteil gesteuert erscheint, müsste selbst erst einmal einer wissenschaftlichen Überprüfung unterzogen werden.

Zum anderen zeigt sich an diesem Beispiel die schwache Aussagekraft der wissenschaftlichen Beweismethode für die Praxis. Die Homöopathie hat also trotz umfangreicher Untersuchungen keine wissenschaftlich nachweisbare Wirkung. Die Praxis widerlegt ganz einfach die Wissenschaft. Ärzte lassen sich trotzdem ausbilden, Menschen gehen trotzdem hin. Sie würden nicht hingehen, wenn sie nicht einen positiven Effekt erführen. Die Wissenschaft kann also nicht nachweisen, dass die Methode funktioniert, geschweige denn, warum sie funktioniert. Sie hat sich einfach bis dato als unnütz und unbrauchbar erwiesen, was dieses Gebiet anbetrifft. Mit ihren Ergebnissen können wir in Bezug auf die Praxis der Heilkunde schlicht nichts anfangen. Dienlich sind sie einzig im politischen Bereich, wo mit Berufung auf die Unwissenschaftlichkeit die Gelder der öffentlichen Hand, also unsere Gelder, von in diesen Bereichen ferngehalten werden.

Was auf die Homöopathie zutrifft, kann nahtlos auf die anderen Richtungen im weiten Feld der alternativen oder esoterischen Heilmethoden übertragen werden. Wo es Untersuchungen gibt, z.B. in der Kinesiologie, kommt es zu den gleichen Nicht-Ergebnissen wie bei der Homöopathie, sodass anzunehmen ist, dass bei einer Ausdehnung solcher Studien auf alle Bereiche der Esoterik keine brauchbareren Ergebnisse zustande kämen.


Was gilt als wissenschaftlicher Beweis?


Als wissenschaftlich abgesicherte Wirksamkeitsnachweise gelten sogenannte Doppelblindstudien mit Kontrollgruppe. Darunter versteht man, dass die Patienten eine Behandlung oder ein Medikament erhalten und nicht wissen, ob es sich um ein Placebo handelt, ebenso wenig wissen es die verabreichenden Behandler. Die Kontrollgruppe bekommt nur Placebos. Ein Wirksamkeitsnachweis ist erbracht, wenn zwischen Patientengruppe und Kontrollgruppe, also zwischen denen, die die zu testende Substanz bekommen, und jenen, die ein wirkungsloses Mittel erhalten, ein statistisch signifikanter Unterschied besteht.

Meist werden mehrere solcher Untersuchungen durchgeführt, und vergleichbare Ergebnisse sichern den wissenschaftlichen Nachweis ab. Der Aufwand für solche Untersuchungen ist groß, viel zu groß, als dass auch nur ein Bruchteil der Heilverfahren im esoterischen Umkreis einer eingehenden wissenschaftlichen Prüfung unterzogen werden könnte. Wer sollte das zahlen?

Diese Prüfstandards stammen aus der pharmakologischen Forschung für die Testung von Medikamenten. Sie werden auch von anderen Verfahren eingefordert, weil sie die größtmögliche Sicherheit versprechen. Klar ist, dass insbesondere im Bereich der chemischen Präparate, die Menschen verabreicht werden, eine besondere Vorsicht walten muss, weil bei unzureichender Absicherung viel Schaden angerichtet werden kann. Dennoch kommt es bekanntermaßen auch bei Einnahme von umfangreich und aufwändig getesteten Medikamenten bei nicht wenigen Menschen zu Unverträglichkeiten und unangenehmen Abwehrreaktionen, die in manchen Fällen das Leiden verschlimmern statt es zu erleichtern. Dazu kommen noch die längerfristigen schädlichen Folgen, wie sie z.B. bei der Einnahme von Antibiotika auftreten können.

Außerdem zielt die wissenschaftliche Forschung auf Durchschnittspersonen, sodass in der Folge bei der Dosierung nicht auf unterschiedliche Sensibilitäten und Verträglichkeiten geachtet wird. Schließlich kann noch angemerkt werden, dass bei einem hohen Prozentsatz der verwendeten Medikamente unklar ist, warum sie die Wirkung erzielen, die beobachtet werden kann. Hier kann also die Wissenschaft keine schlüssige Aussage über die Wirkmechanismen liefern.


Das Problem der Komplexität


Im an sich schon komplexen Bereich der Pharmakologie können wir sehen, dass es mit der eingeforderten Wissenschaftlichkeit gar nicht so weit her ist, wie stillschweigend überall angenommen wird. Vollends unklar wird die Situation, wenn dieser Bereich verlassen wird, aber die Standards und Methoden in eine andere Sphäre, z.B. jene der alternativen Heilmethoden übertragen werden. Im Vergleich zu ganzheitlich arbeitenden Verfahren macht sich der Gegenstand der Pharmakologie reichlich einfach aus. Hier wird möglichst nur ein Symptom behandelt, während die alternativen Verfahren beanspruchen, den ganzen Menschen zu behandeln.

Vom einen (dem pharmakologischen) in den anderen (alternativen) Bereich kommt man nur, wenn man mehrfach die Organisationsebene wechselt. Jeder Wechsel bringt eine Potenzierung der Komplexität mit sich. Wird die Organisationsebene z.B. nur in der Bekämpfung einer Heiserkeit gesehen, geht es also darum, eine entzündete und überreizte Rachenschleimhaut zu heilen, sind die Wenn-Dann-Bedingungen für diese Absicht relativ leicht überschaubar. Der Erfolg ist da, wenn die Heiserkeit verschwunden ist.

Aus einer ganzheitlichen Sicht kommen jedoch viel mehr Perspektiven ins Blickfeld. Hier wird z.B. auf die Auslöser der Erkrankung geachtet, und diese werden nicht nur auf der organischen Ebene und isoliert auf den Problembereich, in diesem Fall die Kehle, gesehen. Vielmehr kommen z.B. die Ernährung, die Lebensweise und die Lebensumstände, die Arbeitssituation, die psychische Verfassung und viele andere Faktoren ins Blickfeld. Die Idee dabei ist, dass, wenn dieses weite Feld der möglichen Hintergründe eines Symptoms mit behandelt wird, das Symptom an seinen Wurzeln und damit nachhaltig geheilt werden kann.

Viele der esoterischen Angebote wollen helfen, und viele der Praktiker bieten das an, was ihnen selber weitergeholfen hat. Sie wollen niemanden schädigen, auch wenn es in diesem, wie wohl in jedem Bereich, Betrüger gibt. Doch können sie nicht garantieren, dass das, was für sie hilfreich war, beim nächstbesten Interessenten auch funktionieren wird.  Je komplexer das Symptom ist, das behandelt werden soll, desto komplexer, d.h. desto vielfältiger muss die Behandlung angesetzt werden. Und da liegt eine Schwachstelle bei vielen Esoterik-Anbietern, die ihre Ware oder Dienstleistung als Wunder- oder Allheilmittel anpreisen. Sie können oder wollen sich und ihren Kunden nicht darüber Rechenschaft ablegen, dass sie nicht wissen können, ob und wie weit ihr Angebot zur Heilung des spezifischen Problems der spezifischen Person beitragen kann. So liegt es auch an der Mündigkeit der Konsumenten, sich vor solchen Pauschalversprechungen zu hüten.

Je komplexer wir ein Symptom verstehen, d.h. in je mehr Dimensionen wir es einbetten, desto umfangreicher müssen die Maßnahme zur Heilung ansetzen. Und wir sollten Symptome komplexer verstehen, weil wir nur so zu einer nachhaltigen Heilung gelangen. Bekanntlich birgt die bloße Bekämpfung des Symptoms das Risiko in sich, dass sich die nichtbehandelten Wurzeln des Symptoms in anderer Gestalt bemerkbar machen. Ganzheitlichkeit und Einfachheit passen erst auf einer sehr hohen Stufe des Bewusstseins zusammen. 


Die Individualität der Heilung


Dort, wo es um eine tiefgreifende Behebung von Leidenszuständen geht, ist aufgrund der Komplexität auch eine zeitaufwändige Behandlung notwendig, die ganz auf das jeweilige Individuum abgestimmt werden muss. Deshalb können wir z.B. in der Psychotherapie keine schnellen Heilungen erwarten für Symptome, die vor langer Zeit entstanden und über Jahrzehnte gewachsen sind und sich in den inneren Systemen der Klienten verfestigt haben.

Zudem muss erst die Therapie für den betreffenden Menschen gemeinsam mit ihm entwickelt werden. Manchmal gelingt auch eine rasche Erleichterung, und das sind besondere Momente, aber die lassen sich auch nicht verallgemeinern – die Intervention oder Technik, die die spontane Heilung bewirkt hat, läuft beim nächsten Klienten ins Leere.

Wichtig in diesen auf ein Individuum abgestellten Behandlungen ist der Faktor Beziehung. Dieser ist komplex, und das hat zur Folge, dass er auf keine allgemeingültige Basis gestellt werden kann. Jede therapeutische Sitzung, gleich nach welcher Methode geleitet, hat einen individuellen Charakter, womit es unsinnig wird, sie wissenschaftlich nach einem allgemeinen Standard auszuwerten. Beziehungen haben vielfältige Ebenen, sind dynamisch und in ihrem Ablauf unvorhersehbar. Sie sind nur von einer systemischen Sichtweise aus verständlich und überschaubar. Dort gelten dann keine Wenn-Dann-Beziehungen mehr, wie sie die klassische Auffassung von Wissenschaft prägen, sondern interaktive Wechselwirkungen, deren Entwicklung nicht vorausgesagt werden kann.

Ein Beispiel: Untersuchungen haben ergeben, dass ein wichtiger Wirkfaktor von Behandlungen im zwischenmenschlichen Bereich darin liegt, wie sehr der Anbieter von seiner Methode überzeugt ist. Dazu könnte man sagen, dass solche Untersuchungen zeigen, wie leicht Menschen manipulierbar sind. Allerdings wirkt die Überzeugtheit nur, wenn sie echt ist, d.h. aus eigenen positiven Erfahrungen gewonnen ist. Damit überträgt sich auf den Interessenten eine positive Erwartung, die dann auch die eigene Heilung fördert. Deshalb können wir das Untersuchungsergebnis auch so interpretieren, dass es auf die enorm wichtige und komplexe Rolle der zwischenmenschlichen Beziehung hinweist, die sich der wissenschaftlichen Verallgemeinerung entzieht. 


Monosymptomatik


Dazu kommt: Die pharmakologischen Studien, die als randomisierte kontrollierte Studien  (RCT) bezeichnet werden, müssen monosymptomatisch angelegt sein, d.h. sie funktionieren nur bei Patienten, bei denen eine einzige spezifische Störung vorliegt. Menschen, die mit Problemen in die Psychotherapie oder in ein anderes, vielleicht esoterisch bezeichnetes Heilverfahren kommen, leiden meist an verschiedenen Symptomen. Zwar können sie anfangs unter Umständen nur ein Symptom ansprechen, das sie loswerden wollen, doch zeigt sich meist sehr rasch, dass andere Problemzonen damit verbunden sind.

Man weiß z.B., dass Depressionen nur in der Minderzahl ohne zusätzliche Problematiken, wie Angststörungen, Zwänge oder Burnout auftreten. Gerade wenn es um unsere Psyche geht, ist es kaum vorstellbar, dass sie sich nur in einem Symptom Ausdruck verleiht. Vielmehr haben wir es mit komplexen Vernetzungen zu tun, die gerade deshalb ein komplexes Beziehungsgeschehen als wichtigen Heilfaktor brauchen.


Eine neue Wissenschaft


Diese Überlegungen führen m.E. zu dem Schluss, dass wir zur Verbesserung der Orientierung im esoterischen Feld eine neue Form von Wissenschaft brauchen. Einfach zu kritisieren, dass sich esoterische Praktiken der empirischen Prüfung verweigern, greift zu kurz. Es müsste erst einmal geklärt werden, welche Form von Empirie überhaupt sinnvoll ist. Dazu brauchen wir ein Wissenschaftsverständnis, das weit genug ist und über den Tellerrand der empirisch-experimentellen Methodik hinausschaut.  Dann können die zugehörigen Untersuchungsprozesse entwickelt werden, die dem Gegenstandsbereich adäquat sind und die dann brauchbare Resultate bringen können.

Diese neue Form von Wissenschaft kann sich dann nicht mehr ausschließlich am digitalen Standard der Naturwissenschaften orientieren, sondern benötigt ein starkes Fundament in den analogen Wissenschaften. Wir müssen also damit leben, dass im Bereich der Esoterik die harten Fakten weniger aussagekräftig sind als die weichen Erkenntnisse, wie sie geistes- und kulturgeschichtliche Forschungen mit phänomenologischen und hermeneutischen Methoden zuwege bringen.

Außerdem müsste diese Wissenschaft von einer Empirie des inneren Sinnes ausgehen ("Wissenschaft der ersten Person"), d.h. über Werkzeuge oder Kriterien verfügen, die Erkenntnisse der inneren Erfahrung, also dessen, was wir wahrnehmen, wenn wir nach Innen gehen, erforscht und dokumentiert.


Auf der persönlichen wie auf der gesellschaftlichen Ebene geht es darum, dass wir uns den Ängsten stellen, die mit einem blinden Vertrauen auf die (Natur-)Wissenschaft verbunden sind, ebenso wie die Ängste, die hinter dem oft ebenso blinden Run auf die alternativen und esoterischen Angebote stecken. Wenn wir in diesen Bereich mehr Klarheit bringen, kann sich die Diskussion entkrampfen und von Vorurteilen reinigen. Dadurch wird es leichter, im bunten Markt der Heilsversprechen den Spreu vom Weizen zu trennen.

Vgl. Einfachheit und Komplexität
Vgl. Die Abkehr vom Determinismus