Sonntag, 23. Februar 2020

Das Pathos der Beschämung in der Klimadebatte

Wie in vielen anderen Fragen unseres Lebens ist auch beim aktuellen Thema „Klima“ die Scham in vielfacher Weise involviert. Es kann helfen, die eigenen Standpunkte und Handlungsmöglichkeiten in diesem Zusammenhang besser zu verstehen und zu positionieren, wenn wir die Rolle der Scham in diesem Zusammenhang untersuchen.

Die Scham spielt immer eine Doppelrolle. Zum einen hemmt sie uns, etwas zu tun, was den eigenen Maßstäben oder den Erwartungen anderer nicht entspricht. Zum anderen motiviert sie uns dazu, unser Verhalten zu verändern, damit sie nicht mehr auftreten muss.

Wenn wir ernstnehmen, was wir mit unserem Verhalten anrichten (wir, die Konsumenten, wir die Produzenten, wir die Dienstleister etc.), dann ist Scham angebracht. Diese Menschheitsgeneration hat so viele Ressourcen verbraucht wie keine zuvor, Bodenschätze konsumiert und Arten vernichtet wie keine zuvor. Und wir sind Teil davon, wie ökologisch und nachhaltig immer wir uns verhalten. Diese Scham konfrontiert uns mit unseren Vorfahren, die mit viel Weniger ihr Auslangen fanden und zufrieden leben konnten, und mit unseren Nachfahren, denen wir einen ausgeplünderten Planeten überlassen, ungewiss, wie sie damit zurechtkommen können. Wie stehen wir anders da als mit schamgesenktem Blick?

Diese Perspektive ist schwer verkraftbar, obwohl sie ein zentraler Teil der Wirklichkeit ist, in der wir uns befinden, weil die Scham belastet und ohnmächtig macht. Andererseits kann sie leicht verdrängt werden, weil es keine direkt Betroffenen in der eigenen Umgebung gibt. Die Vorfahren, die mit weniger Wohlstand ihr Auslangen fanden, betrachten wir mit Mitleid und leichter Verachtung. Die Kinder, die im Blick auf ihre Zukunft anklagen, leben in einem fetten Wohlstand. Die Pazifik-Insulaner, denen das Meerwasser an die Hausschwelle schwappt, sind weit weg. Die abgemagerten Eisbärenfotos wurden als Fake entlarvt.

Doch was wäre, wenn wir die Scham anerkennen und ihr in unserer Innenwelt Raum geben statt sie lässig beiseite zu schieben? Wir würden mit der Verantwortung konfrontiert, die mit unserem Anteil an der Krisensituation verbunden ist. Wir würden die Aufforderung hautnahe spüren, unser Handeln zu ändern, Gewohnheiten abzulegen und neue Wege einzuschlagen, die mit einem Verzicht auf bisherige Bequemlichkeiten einhergehen könnten. Wir wären dem Anspruch ausgesetzt, neue Einstellungen zu übernehmen, die mit Bescheidenheit und Einfachheit verbunden sind. Wir würden die Weite unseres Verantwortungsraumes wahrnehmen: Ausgedehnt auf alle lebenden Wesen, jetzt und in die Zukunft hinein. Wir würden nicht mehr isoliert in unseren engen Lebenskreisen dastehen, sondern als Weltbürger, als Akteure auf der Bühne des globalen Geschehens.

Da ist es wohl einfacher, mit kognitiven Taschenspielertricks unsere Scham zu überspielen und einfach so weiterzuleben, wie bisher, vielleicht mit ein paar besorgten Gesprächen über das Klima da und dort. Vielleicht, je nach aktueller Wetterlage, dramatisieren wir dabei manchmal und verharmlosen ein andermal. Wir machen uns klein und unscheinbar und verstecken uns wie Adam und Eva vor dem strengen Blick Gottes. Wir tun so, als gäbe es uns als Akteure und Mitverantwortliche nicht und als wäre die Klimakrise ein Katastrophenereignis in einer weitentlegenen Welt, während wir weiter aus dem Vollen schöpfen. Auf diese Weise leben wir bar jeder Verantwortung, wie unschuldige Kinder, die nicht wissen, was sie tun und was sie anrichten.


Die „Klimahysteriker“ und ihre Verspotter


Politiker, die es besser wissen und auf Basis der systematischen Schamvermeidung in ihren Wirtschaftszielen weiterbasteln, können nichts mit den Warnern anfangen, die darauf hinweisen, dass auf die Menschheit größere Probleme zukommen als die Steigerung des Wirtschaftswachstums und der Konzerngewinne. Sie unterstellen ihnen Verantwortungslosigkeit und Panikmache. Sie werten sie als Klimahysteriker ab, um sie in ein pathologisches Eck zu stellen. Sie ignorieren die Befunde von Tausenden von wissenschaftlichen Studien und tun so weiter wie bisher. Sie sind in ihrer Blase gefangen, in der es nur die Steigerung der eigenen Macht mit Hilfe eines ungezügelten Kapitalismus gibt. Mit ihrem offen zur Schau getragenen Zynismus wollen sie alle Andersdenkenden beschämen und sich selber von jeder Scham freisprechen.

Andere Politiker sehen nur die Probleme der Migration und übersehen deren Zusammenhang mit dem sich verändernden Klima. Ihre Hauptangst besteht darin, dass die eigene Kultur von einer fremden überlagert und ausgelöscht wird. Die Klimakrise erklären sie zur Erfindung von korrupten Wissenschaftlern, die damit von den wahren Problemen und drohenden Katastrophen ablenken wollen. Sie verstehen sich als Aufklärer und trauen nichts anderem als ihren selbstgebastelten Pseudowahrheiten. In ihrer Blase gibt es nur eins: Gierige Fremdländer, die an die eigenen Fleischtöpfe wollen und ignorante Leute, die blind in die Falle stolpern.


Die Klimaakteure und das Pathos der Beschämung


Die als Klimahysteriker verspotteten Aktivisten um Greta Thunberg und ihren Mitstreitern treten mit dem Pathos der Endzeitwarner auf, und niemand kann mit Gewissheit behaupten, dass sie darin unrecht haben. Dennoch können wir genauer auf den Gestus dieses Einsatzes schauen, um ihn und die Reaktionen auf ihn besser zu verstehen.

Umweltschützer und Grünenpolitiker haben seit jeher das Problem, dass sie als Moralisierer und Besserwisser gesehen und abgelehnt werden. Der Gestus des Belehrens, den sie für viele ausstrahlen, stößt auf die Gegenreaktion der Abwertung und Aggression. Wer mit dem erhobenen Zeigefinger dessen, der vor einer Gefahr warnt und zur dringenden Umkehr mahnt, konfrontiert ist, kann sich gemaßregelt und beschämt vorkommen. Einer moralischen Überlegenheit gegenüber kann man nur klein beigeben oder sie bekämpfen, indem sie entwertet oder lächerlich gemacht wird. Die meisten, die sich ertappt fühlen, reagieren mit der zweiten Möglichkeit, weil sie als Erwachsene sich nicht mehr unterordnen wollen, wie sie das als Kinder getan haben.

Wir alle kennen die Geste des mahnend erhobenen Fingers, der uns klein und das Gegenüber groß und mächtig macht. Dagegen regt sich der Geist der Opposition und Rebellion. Wenn zur Geste noch beschämende Worte kommen, wird die Situation bedrohlich. Und die neue Generation der Klimaaktivisten spart nicht mit unduldsamer Strenge, mit der die „Alten“ angeklagt werden. Sie haben nichts als Worte produziert und in ihren Taten die Katastrophe in Gang gesetzt und weiter befeuert. Sie haben sich nicht bloß geirrt oder unbewusst etwas Falsches gemacht, sondern wissend das Unglück vor- und aufbereitet. Sie gehören an den Pranger gestellt, damit alle sehen, was sie Unrechtes getan und verschuldet haben. Sie gehören öffentlich beschämt. Schämen soll sich, wer fliegt, Fleisch isst, Plastik verwendet und keine effektiven Gesetze zusammenbringt.

Dieses Pathos der Beschämung entsteht aus dem Gefühl der Not und der Dringlichkeit sowie der Hilflosigkeit und Ohnmächtigkeit einer übermächtigen erwachsenen Gesellschaft gegenüber, die sehenden Auges in die Katastrophe steuert, die ein anderer Teil dieser Gesellschaft mit den Mitteln der Wissenschaft vorausberechnet hat. Das Mittel der Beschämung gilt als ultima ratio angesichts einer sonst aussichtslosen Situation. Es will aufrütteln und zur Neuausrichtung des Handelns zwingen. 

Dieses Mittel kennen vermutlich alle aus ihrer Kindheit, als Erziehungsmittel. Wer etwas falsch gemacht hat, soll sich schämen und über die Erfahrung der Scham Verantwortung übernehmen und das eigene Verhalten verbessern. Es wird von Eltern oft in Extremsituationen angewendet, in denen sie mit anderen Mitteln nicht mehr weiterkommen, um das Kind „zur Räson“ zu bringen, um also aus einem emotionsgeleiteten kleinen Menschen einen vernunftgeleiteten zu bilden. 


Das Mittel der Beschämung im Modernisierungsprozess


Die Beschämung als Erziehungsmittel in Extremsituationen erregt viel Aufsehen in der Öffentlichkeit, überhaupt weil es die erste mächtige Jugendbewegung seit den 60er Jahren kennzeichnet. Diese war auch mit dem Pathos der Beschämung aufgetreten, mit dem der faschistoiden Nachkriegsgesellschaft der Spiegel vorgehalten wurde. Jene Bewegung mündete in einen Modernisierungsschub, der auch als Entstaubungsschub verstanden werden kann und z.B. die Normen des Familien- und Eherechts endlich der Zeit anpasste. Es steht zu hoffen, dass die Wortgewalt der jungen Warner zu einem ähnlichen Modernisierungsschub führt, mit dem die Normen der Güterproduktion, die ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert stammen, der postkapitalistischen oder metamodernen Zeit angepasst werden und das nachhaltige Wirtschaften zum Leitprinzip machen.

Es braucht also offenbar manchmal – in Zeiten, in denen es um die Abwendung von Unheil geht – die Umkehrung der moralischen Macht zwischen den Generationen und das Mittel der Beschämung, um diesen Machtwechsel zur Geltung zu bringen. 


Kindliche und erwachsene Reaktionen


Es darf allerdings dann nicht wundern, wenn jene, die sich eine wasserdichte Schamabwehr zugelegt haben, mit Aggression, Hass und Gegenpropaganda auf die Strategie der Beschämung reagieren. Sie nutzen die Überlebensstrategien, die sie als Kinder gegen ihre übermächtigen Eltern erlernt haben, um mit dem, was sie jetzt als Erwachsene in ihrem Lebensstil und in ihren Werten bedroht, fertig zu werden. Vermutlich befürchten sie insgeheim, dass die Mahner recht haben, so wie sie als Kinder auch annehmen mussten, dass die Eltern recht hatten, als sie von ihnen beschämt wurden. Beschämt zu werden ist schmerzhaft, vor allem für Kinder, die auf die Liebe ihrer Eltern angewiesen sind.

Umso mehr müssen jene bekämpft werden, die den Finger in die Schamwunde legen, auch wenn sich ein Erwachsener nicht mehr gegen jede Beschämung zur Wehr setzen muss, sondern nachschauen könnte, wo es gilt, Verantwortung zu übernehmen. Aber es ist der kindliche Teil, der zu kämpfen beginnt und die emotionale Bedrohung als real erlebt. Daraus ist die Vehemenz und untergriffige Gemeinheit zu verstehen, mit der manche Kritiker auf die junge Schwedin losgehen und sie beschimpfen, lächerlich machen, für krank erklären oder als eine Marionette ihrer selbstsüchtigen Eltern oder skrupelloser Geschäftsleute sehen. 

Beschämung kann also Aggressionen auslösen; in der öffentlichen Debatte, in der es um eine wichtige, wenn nicht sogar überlebenswichtige Frage der Menschheit geht, sollten solche kindlichen Reaktionen keinen Stellenwert haben. Der Stellenwert, den sie dennoch haben, gibt allerdings Auskunft über den Grad an Erwachsenheit, der in unserer Gesellschaft herrscht.

Zum Weiterlesen:
Der Zynismus der zukunftsignoranten Politiker
Nachhaltiger Konsum - aber echt
Konsumscham und Schamkonsum
Privileg Flugreisen
Die Erderwärmung und die innere Wärme
Klimaabgabe für mehr Umweltfreundlichkeit
Die Erderwärmung lange nach zwölf

Zum Anschauen:

Freitag, 21. Februar 2020

Die guten und die schlechten Gewohnheiten

Wenn wir uns im Bereich unserer liebgewonnenen Gewohnheiten suhlen, nennen wir das die Komfortzone. Sie wird bewacht von Ängsten und Schamgefühlen. Lieber bleiben wir als genügsame Schuster bei unserem Leisten, als dass wir Neues ausprobieren, bei dem wir uns blamieren könnten. Lieber umgeben wir uns mit Menschen, die wir seit Ewigkeiten kennen, als dass wir neue Kontakte knüpfen, von denen wir nicht wissen, ob sie uns guttun. Gewohnheiten machen das Leben bequem, aber engen es ein und bewirken Langeweile, Ödigkeit bis hin zu allen suchtartigen Verhaltensweisen. 

Gewohnheiten sind also auch die Wurzel von vielem Üblen. Die eingefleischten Hirnbahnen, die uns zu immer gleichen Handlungen treiben, von denen wir wissen, dass sie uns schaden – von Denkzwängen bis zu ungesundem Essen und Trinken, von Nörgelschleifen bis zu Drogenabhängigkeiten.


Die Wurzeln der Erforschungsambivalenz


Gewohnheiten machen uns das Leben einfacher und ersparen uns viele kleine Entscheidungen, die wir durch Routine ersetzen. Sie sind aber auch Sand im Getriebe unserer Wachstumsenergie, die Grenzen erweitern und neue Räume erschließen will. Wir sind Wesen, die immer dazu lernen wollen, bis ins hohe Alter. Die Gegner der Neugier sind Angst und Scham, verbündet mit dem Zweifel, deren kognitivem Bruder. Die Ambivalenz zwischen dem Erforscher- und Erkunderdrang und der Scheu davor geht zurück auf die sogenannte Übungsphase (nach Margaret Mahler), die mit dem Erringen des aufrechten Ganges und der verbalen Sprache um die Wende vom ersten zum zweiten Lebensjahr beginnt und ungefähr eineinhalb Jahre andauert. 

In dieser Phase entwickelt sich das explizite und lebhafte Interesse des Kindes an seiner Umwelt, die es nun viel aktiver erforschen kann. Das entdeckte Neue wird zu einer Quelle von Interesse, Freude, positivem Selbstgefühl und erwachender Selbstwirksamkeit. Das Kind kann spielerisch mit Nähe und Distanz experimentieren und erweitert damit seinen Raum für Vertrauen und Sicherheit in die äußere Welt hinein. Andererseits schwankt es zwischen Trennungsangst und Expansionslust. 

Kommt es in dieser Phase aber zu Verstörungen, die durch überängstliche und überfürsorgliche oder andererseits durch vernachlässigende Betreuungspersonen oder auch durch eine frühzeitige Überlassung an Kinderkrippen oder Zieheltern hervorgerufen werden, so ist dieser Drang nach dem Neuen von Unsicherheit und Misstrauen geprägt. Der Raum für das Experimentieren wird kleingehalten und verbindet sich mit verschiedenen Ängsten. Fixe Gewohnheiten bilden sich als Rettungsanker aus, bei denen sich sicher anfühlt, dass nichts Unangenehmes passieren kann. 

Der überfürsorgliche Erziehungsstil schränkt neben der Impulsivität auch die Kreativität ein und vermindert damit die Lebenschancen in der Gesellschaft, die kreative Kräfte braucht.  
Die überfordernden und vernachlässigenden Eltern hingegen vermitteln ihren Kindern eine Welterfahrung, in der das Kindliche nur wenig Platz erhält und in der es darum geht, dass die Kinder das Kindliche möglichst schnell überwinden und erwachsen werden. Der Bezug zum Spielerischen wird eingeschränkt und mit Scham belegt, von Erwachsenen geschätzte Kompetenzen und Leistungen stehen im Vordergrund und bekommen Lob und Anerkennung. Das Kind bildet dann seine Gewohnheiten in diesen Bereichen aus.


Krankhafte Gewohnheiten


Gewohnheiten, die eine hilfreiche Funktion in unserem Lebensalltag ausüben, erleichtern uns das Leben, weil sie uns von Entscheidungen entlasten und unsere Energien für andere Aufgaben nutzen lassen. Andere Gewohnheiten sind dagegen aus frühen Verhaltensmustern entstanden, die uns als Kleinkindern das Überleben von schwierigen Situationen ermöglicht haben. Sie können sich im späteren Leben zu Neurosen und Süchten entwickeln und das eigene Leben einschränken. Es sind Abläufe, die sich im Gehirn fest eingegraben haben und wichtige Botenstoffe monopolisieren, sodass wir meinen, nur durch solche Gewohnheiten einen Lustgewinn zu erzielen oder zumindest ein angenehmes Wohlgefühl zu finden. 

Dieser Zusammenhang führt zu den Süchten aller Art, vom Alkohol bis zum Medienkonsum, von der Streitsucht bis zum chronischen Stress. Unser Essverhalten kann davon geprägt sein wie die Zeiten unseres Schlafengehens. Zwangsneurosen und Zwangsgedanken beruhen auf ähnlichen Zusammenhängen.


Dissoziative Gewohnheiten


Eine besondere Gruppe unter den Gewohnheiten bilden jene, die auf Dissoziationen beruhen. Dieser psychische Mechanismus ist die Reaktion auf traumatische Erfahrungen und dient ursprünglich dafür, die Schmerzen und den Stress, die durch die Erfahrung ausgelöst werden, nicht spüren zu müssen. Die Situation wird so erlebt, als würde sie jemand anderem passieren. Das Gehirn verfügt über einen Vorgang, in dem es die Schmerzleitungen stilllegt und das Bewusstsein vom Körper abspaltet. Es kann sich dann der Mechanismus entwickeln, dass bei weiteren unangenehmen und belastenden Erfahrungen die Aufmerksamkeit vom aktuellen Moment und von der aktuellen Wirklichkeit verabschiedet und in einen Fantasieraum ausweicht, in dem Ruhe und Frieden herrscht. 

In der harmlosen Form betreffen uns solche Gewohnheiten immer dann, wenn wir nicht im Moment sind und keine bewusste Verbindung zu unserem Körper spüren. In der krankhaften Form können sie Gedächtnislücken bis zu Lähmungen hervorrufen.


Die Befreiung von Gewohnheiten


Wir sind nicht dazu verpflichtet, die Sklaven unserer krankmachenden Gewohnheiten zu sein. Solche Gewohnheiten sind zunächst unbewusst entstandene, aber heute selbstauferlegte Qualen, deren Wirkungen wir nicht immer gleich merken, die aber langfristige Schäden an unserem Körper und unserer Psyche anrichten können. Gewohnheiten loszuwerden ist jedoch ähnlich schwierig wie sie zu erwerben. Sie sind unter erschwerenden Umständen entstanden und hatten oft viele Jahre Zeit, um sich fest in unseren Gehirnwindungen zu etablieren. Vieles in uns wehrt sich vor allem auf unbewusster Ebene, sie zu überwinden.

Es braucht viel Konsequenz, Disziplin und Geduld, um aus der Macht dieser Gewohnheiten zu entkommen. Das sind leider Fähigkeiten, die durch solche Gewohnheiten untergraben werden, sodass die erste Arbeit darin besteht, sie wieder zu kultivieren und zu stärken. Die ersten Schritte werden klein sein, aber je mehr Anerkennung wir ihnen schenken können, desto besser werden sie sich etablieren; es ist wie die Trockenlegungsarbeit, mit der Sigmund Freud die Arbeit am Unterbewusstsein vergleicht: Stück für Stück neue Gewohnheit wird der alten abgerungen. Jeder Schritt verdient ein Quäntchen Selbstzufriedenheit und Stolz. Denn jede Selbstanerkennung wirkt als Selbstverstärkung.

Und jeder Rückschritt braucht Verständnis. Denn das innere Wachsen verläuft nicht linear nach oben. Manchmal sind die Widerstände stärker als der Wille zur Veränderung. Statt uns mit Vorwürfen zu überhäufen, ist es sinnvoller, die Macht der alten Gewohnheiten zu verstehen und mit uns selber nachsichtig und geduldig zu sein. Selbstanklagen helfen uns nicht weiter, sondern nur die Besinnung auf das, was wir wirklich verändern wollen. Aus Vorwürfen können Vorsätze werden, und aus Vorsätzen Willensentscheidungen.

Wenn wir unsere Veränderungsziele zu hoch gesteckt haben und dann gleich beim ersten Versuch scheitern, ist es besser, die Ziele auf ein realistisches Maß zu stutzen. Besser ein kleiner Schritt in die richtige Richtung als ein übermäßiger Sprung, bei dem wir uns den Knöchel verrenken. 

Hilfreich ist es auch, wohlgesonnenen Mitmenschen die eigenen Ziele mitzuteilen, damit die eigenen Absichten an die Öffentlichkeit kommen und dadurch mehr Kraft erhalten. Noch mehr wirkt eine kleine Gruppe von Leuten, die am gleichen Thema arbeiten, z.B. das Rauchen aufzuhören oder den Smartphonegebrauch einzuschränken. Der Austausch mit Gleichgesinnten motiviert zusätzlich und nutzt das Konkurrenzprinzip auf kreative Weise. 

Wir können zusätzlich regelmäßig mit der Vorstellung arbeiten, was sich alles durch das Aufgeben der alten Gewohnheit ändern wird und wie es uns dann gehen wird. Weitere Hilfen sind: Den eigenen Vorsatz durch oftmaliges Wiederholen stärken und sich klarmachen, dass es um das eigene Wollen geht, um die selbstgewählte Motivation. Wenn die Widerstände sehr stark sind, lohnt es sich, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Denn nachhaltig lösen sich die Hindernisse erst auf, wenn sie in ihren Wurzeln in früher Kindheit oder in der Pränatalzeit verstanden werden.

Kreativität ist der Ausdruck unseres Lebendigseins. Wenn wir unproduktive und selbstschädigende Gewohnheiten verabschieden können, öffnen wir den Raum für neue Ideen, Sichtweisen und Aktivitäten. So bereichern wir unser Leben und das unserer Mitmenschen.

Zum Weiterlesen:
Musterveränderung - aber wie?
Kreativitätshemmungen und ihre Lösung
Reaktive und kreative Lebensorientierung
Selbstqual mit Selbstvorwürfen
Widerstand und Verwandlung

Mittwoch, 19. Februar 2020

Disziplin und Gnade

Diese beiden Ausrüstungen für die spirituelle Reise haben eine innige und paradoxe Beziehung zueinander. Beide brauchen wir und beide brauchen sich gegenseitig. Mit einem ausgeglichenen Zusammenspiel dieser beiden Kräfte kommen wir genau im richtigen Tempo und in der richtigen Form weiter auf dem Weg der Befreiung.


Über die Notwendigkeit der spirituellen Disziplin


Wir machen auf dem inneren Weg nur Fortschritte, wenn wir uns konsequent mit unseren Themen, vor allem mit unseren Gewohnheitsmustern und Widerständen auseinandersetzen. Sonst geht es uns wie beim „Mensch-ärgere-dich-nicht“, dass wir durch störende Einflüsse von außen oder innen aus der Bahn geworfen werden und wieder zurück an den Start müssen. Die wichtigste Übungslektion besteht darin, unangenehme Lebensereignisse als Chancen für mehr Bewusstheit zu nutzen. Wenn wir das verstanden haben und zu einer nachhaltigen Praxis ausbauen konnten, haben wir schon einen überragenden Meilenstein errichtet, auf den wir zur Orientierung immer zurückschauen können, Um zu erkennen, dass wir auf einem guten Pfad unterwegs sind. 

Das notwendige Hilfsmittel ist dabei die Disziplin. Sie holt uns zurück aus den Gewohnheiten und Vergessenheiten. Sie erinnert uns an unsere eigentliche Bestimmung und an unseren inneren Ruf. Sie hilft uns, eine regelmäßige Übungsform zu finden und aufrechtzuerhalten, mit der wir eingefräste Verhaltens- und Denkweisen durch beharrliches und konsequentes Arbeiten an der Achtsamkeit abschwächen und entkräften können. Arbeit an der Achtsamkeit heißt, die Aufmerksamkeit auf den Moment zu bringen, statt sich im Denken und Fantasieren zu verlieren. Im aktuellen Augenblick ist die Wirklichkeit zu finden, nirgends sonst. 

Nur mit Disziplin schaffen wir es, den Verlockungen und Verkrustungen, die in unserem Verstand auf Abruf gespeichert sind, Einhalt zu gebieten und ihnen die Macht über unser Bewusstsein zu nehmen. Nur mit Disziplin werden wir zu den tonangebenden Herrschern in uns selber, nur mit ihr können wir uns unabhängig machen von den anderen Stimmen, die uns ablenken wollen und fortwährend die angstgesteuerten Überlebensprogramme aktivieren.


Die Gnade der Disziplin


Wie aber kommen wir zur Disziplin, wenn so Vieles dagegen arbeitet? Brauchen wir eine Meta-Disziplin, die uns zur Disziplin motiviert? Müssen wir uns also disziplinieren, um diszipliniert sein zu können? Bevor wir uns in einer endlosen Hierarchie von Metaebenen verlieren und verzweifeln, gilt es innezuhalten. Wir können die Disziplin nicht machen wie eine Gemüselasagne oder den Yoga-Kopfstand. Disziplin ist Gnade, sie ist uns gegeben worden, damit wir sie nutzen. Wir können auf sie vergessen oder uns von ihr erholen, wenn sie uns zu sehr anstrengt. Aber sie steht immer als Möglichkeit zur Verfügung. Sie erwächst aus der Kraft des Wachsens, die ihre eigene Konsequenz hat und uns zu dem gemacht hat, was wir jetzt sind, mit unseren Stärken und Schwächen, Eigenheiten und Genialitäten. Würden wir über keine Disziplin verfügen, wären wir keine erwachsenen Menschen, sondern hilflose Babys in Riesenkörpern.

Der Zugang zur Kraft der Disziplin hängt auch von Faktoren unserer Geschichte ab: Können wir uns leicht motivieren, weil wir als Kinder immer bei unserer Neugier und Initiative unterstützt wurden, oder hat es uns an anregender und wertschätzender Umgebung gemangelt, sodass wir es schwerer hatten, innere Strukturen aufzubauen? Waren die Eltern maßvoll fordernd, was unsere Konsequenz und Zielstrebigkeit anbetrifft, oder neigten sie zu Überansprüchen oder zum Verwöhnen? Ungünstige emotionale und soziale Wachstumsbedingungen in der Kindheit wirken auf das Ausmaß ein, in dem uns die Disziplin zu unserer erwachsenen Lebensführung zur Verfügung steht und aktiviert werden kann.

Letztlich hat es auch mit Gnade zu tun, mit welchen Voraussetzungen und Ressourcen wir ausgestattet wurden. Ob wir uns mit der Disziplin leichter oder schwerer tun, sollte uns jedoch nicht daran hindern, die Kraft unserer Selbstverantwortung zur Wirkung zu bringen, um unser Pflicht- und Verantwortungsgefühl für die Strukturierung unseres Lebens einzusetzen. Disziplin als frei gewählter Einsatz für unsere eigenen Ziele ist eine wichtige Quelle für das Gelingen der Lebensführung.


Zwanghafte Disziplin


Disziplin hingegen als aufgezwungene und zwanghafte Haltung führt zu Selbstausbeutung und Unfreiheit. Menschen mit dieser Einstellung glauben, dass die Disziplin den Auftrag hat, alle genussvollen Antriebe zu unterdrücken, damit sie im Leben weiterkommen. Sie sind bestimmt von äußeren Normen, die sie erfüllen müssen, von äußeren Erwartungen, denen sie entsprechen müssen. Diese Form der Disziplin als Gegensatz zum Lustprinzip hat keinen Platz für die Gnade. Denn die Menschen mit dieser Prägung meinen, sich nur auf die eigene Pflichterfüllung und Leistung verlassen zu können. Sie stecken zwischen angestrengtem Arbeiten und schlechtem Gewissen fest, wodurch sie nie mit sich zufrieden sein können, sondern immer meinen, zu wenig und zu schlecht zu leisten. Jeder Zustand der Entspannung ist riskant, weil die Angst vorherrscht, dass die Zügel stets fest angezogen bleiben müssen, damit nicht ein verderblicher Schlendrian einbricht. Es ist also die dauernde Angst vor dem inneren Schweinehund oder Nichtsnutz, die zum disziplinierten Zusammenreißen antreibt.

Dieses Verhaltensmuster ist selbstquälerisch und kann zum Burnout und zu psychosomatischen Symptomen führen, weil es von einer chronischen Stressbelastung untermalt ist. Es ist körper- und lustfeindlich und damit unmenschlich. Die eigentliche Anstrengung sollte darin bestehen, das Muster zu durchschauen und durch eine neue Form von Disziplin zu ersetzen, die Zeiten der Entspannung und des Lebensgenusses mit umfasst. Gelingt es, die zwanghaften Prägungen zu überwinden, kann die Gnade zur Mitwirkung am Lebensglück eingeladen werden.


Das Geheimnis der Gnade


An diesem Punkt führen die Überlegungen zurück zum spirituellen Weg. Auf dieser Ebene gilt alles, was wir in unserem Leben tun oder unterlassen, alle disziplinierten Anstrengungen und undisziplinierten Durchhänger als Beitrag zum inneren Wachsen hin zu mehr Freiheit und Ego-Transzendenz. Die Gnade ist eine spirituelle Kategorie, die darauf verweist, dass vieles, wenn nicht alles, was geschieht, nicht in unserer Macht und Verfügung steht, sondern uns von einer tieferen Quelle gewährt wird oder auch nicht. Die Erfolge in unserem Leben sind nicht die Frucht unserer Bemühungen, sondern Ausfluss eines komplexen Gewebes von Ereignissen, deren Logik sich unserer Einsicht entzieht. Selbst unsere Bemühungen und die dafür notwendigen Energien sind dieser Quelle geschuldet und nicht eine Errungenschaft, die wir unserem Ego zuschreiben könnten.

In dieser Perspektive stammt jede disziplinierte Handlung von diesem Hintergrund, es wurde uns sogar jedes Quäntchen unserer Fähigkeit zur Selbstdisziplin von dort gespendet. Die Gnade verpflichtet uns zu nichts außer zu Dankbarkeit. Das Vertrauen auf die Gnade ist Teil des Grundvertrauens ins Leben, das uns entstehen und wachsen ließ, bis zum jetzigen Moment. Die Gnade wirkt allerdings unvorhersehbar und geheimnisvoll, manchmal schüttet sie ihr Füllhorn üppig aus und manchmal allzu karg. Es gibt keine Stelle, bei der wir mehr oder anderes einfordern könnten, vielmehr zwingt sie uns zum Üben im Annehmen dessen, was geschieht.


Die Alltagspraxis 


Der alte Spruch: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, kann hier in abgewandelter Form angewendet werden: Gnade ist gut und Disziplin ist notwendig. Denn das Vertrauen in die Gnade sollte nicht blind sein – ich brauche nichts zu tun, es wird schon für mich gesorgt. Blind heißt, die Ränke der eigenen Selbstsucht nicht zu durchschauen. Das Ego findet immer Schlupflöcher, um seine Pläne durchzubringen und kann sich da leichtfertig auf die Gnade stützen und statt konzentrierter Anstrengung die eigene Faulheit kultivieren. Mit einer recht verstandenen Disziplin können wir unsere Selbstverantwortung über unsere gewohnten Ausflüchte stellen und für das aktiv werden, was wir aus uns selbst heraus im Leben verwirklichen wollen.

In der „weltlichen“ Welt braucht es auch weltliche Tugenden und Fertigkeiten, um ein kreatives Leben nachhaltig zu gestalten. All diese notwendigen Werkzeuge wie die Disziplin gehen umso leichter von der Hand, je mehr wir sie mit spirituellen Einsichten verbinden. Das Zusammenspiel von Disziplin und Gnade hilft uns z.B., eine tägliche Meditations- oder Achtsamkeitspraxis aufrechtzuerhalten, die uns mehr und mehr für die Segnungen der Gnade und der Dankbarkeit öffnet. Es hilft uns auch, in unseren anderen Anstrengungen nicht müde zu werden, ohne auf einen bestimmten Erfolg fixiert zu sein. Es versöhnt uns mit Rückschlägen und Fehlern. Es bildet die Grundlage für jede kreative Arbeit. Denn die Einfälle, die wir für schöpferisches Tun brauchen, machen wir nicht, sondern sie fallen uns zu, manchmal reichhaltiger, manchmal bescheidener. 

Das in den eigenen Kräften Stehende zu tun und sich in das Nichtverfügbare fügen – eine Formel für das Zusammenwirken von Gnade und Disziplin zu unserem eigenen Besten. Oder, wie das Prophetenwort lautet: Vertraue auf Gott, und binde dein Kamel an.

Hier zur Video-Version.

Zum Weiterlesen:
Muße als Lebenskunst

Samstag, 8. Februar 2020

Über den Sinn von Leiden und Schmerzen

Die Frage, warum es Leid im menschlichen Leben gibt, ist mindestens so alt als Menschen nach dem Sinn des Lebens fragen. Seit es die Theologie gibt, steht sie vor der Frage, wie Gott es zulassen kann, dass es Menschen schlecht geht – das kann doch kein guter Gott sein, der den Menschen zuschaut, wie sie leiden, ohne aus seiner Allmacht heraus einzugreifen, und ein schlechter Gott ist ein Widerspruch in sich. 

Der Ausgangspunkt der Problematik liegt in der Gleichsetzung des Guten mit dem Schmerzfreien und Leidenslosigkeit. Ein gutes Leben muss schmerzlos und beschwerdefrei sein. Dabei verkennen wir – aus naheliegenden Gründen – die Natur des Lebens und damit des guten Lebens. Die naheliegenden Gründe liegen im Wunsch nach Schmerzfreiheit und Wohlgefühl ohne Ende. Wenn wir leiden, fühlen wir uns dagegen eben nicht gut, sondern miserabel, gepeinigt und manchmal sogar verzweifelt. Jeder will genießen und Freude empfinden und unangenehme Erfahrungen möglichst schnell überwinden. Das ist auch ein im Leben grundgelegter Antrieb, der die kreative Seite des Lebens ermöglicht. Denn nur im Zustand innerer Ausgeglichenheit und Entspanntheit können wir schöpferisch aktiv werden und anderen helfen.  

Was ist aber die Natur, die Eigenart des Lebens? Das Leben umfasst alle seine Aspekte und Dimensionen. Organismen sind fühlende Wesen, sie nehmen sich selbst und die Umgebung wahr. Jedes Fühlen ist von einem Kontinuum gekennzeichnet: Zwischen maximaler Bedrohung und maximaler Lebenssteigerung, zwischen maximalem Schmerz und maximalem Wohlgenuss. Wir verfügen über diese Empfindungsfähigkeit, um uns in der Wirklichkeit orientieren zu können, wenn wir unser Überleben sichern. Auf dieser Ebene sind wir genauso ausgestattet wie alle anderen Lebewesen. Ich nehme an, dass sie alle ihre jeweiligen Leidenszustände kennen und irgendeine Form von Schmerz erleben.  

Gäbe es kein Schmerzempfinden, wäre dieses Spektrum eingeschränkt – was auch bei Menschen, die eine spezielle Störungen im Gehirn haben, der Fall ist. Ohne körperliche Schmerzempfindung bekommen wir keine Signale über Probleme in unserem Organismus; ohne seelischen Schmerz erkennen wir nicht, wenn im Sozialsystem etwas schiefläuft. Eine völlige Schmerzbefreiung wäre lebensbedrohlich – für den Organismus und für das Sozialgefüge. 

Der Schmerz ist also ein integraler Teil unseres Welterlebens als lebendige Wesen. Selbst wenn wir ihn minimieren wollen, weil wir natürlicherweise vom Unangenehmen zum Angenehmen streben, gilt es dennoch, ihn zu achten und ihm Sinn zuzugestehen. Sonst schneiden wir vom ganzen Raum des Lebens einen wesentlichen Teil aus und nutzen ihn nur zum Jammern und Einsammeln von Mitleid. Wir Menschen sind vermutlich die einzige Spezies, die überhaupt auf die Idee kommt, die Existenz und Sinnhaftigkeit von Schmerz und Leid in Frage zu stellen. Der Rest der Natur lebt einfach mit diesen Gegebenheiten. 

Wenn wir uns da anschließen, statt eine Sonderrolle in der Natur zu beanspruchen, können wir das Leid in seiner vollen Bedeutung und Sinnhaftigkeit achten. Auf diese Weise sind wir mit dem Ganzen der Natur und des Lebens verbunden. Wir schreiben dem Leben nicht vor, wie es zu sein hat, sondern nehmen es so, wie es ist. Statt einen sinnlosen Kampf zu kämpfen, fühlen wir uns von dem Wissen getragen, dass jedes Leid, so unangenehm es nun mal ist, irgendwann sein Ende hat, wie auch jedes freudvolle Ereignis.  

Schmerzen annehmen 


Schmerzhafte Erfahrungen sind besonders heraufordernde Gelegenheiten für das Annehmen und Akzeptieren. Das heißt auch, dass sie besonders zu unserem inneren Wachsen beitragen. Je schwieriger das Annehmen, desto wertvoller ist es, wenn es uns gelingt. Wir werden unabhängiger von den Wechselfällen des Lebens, vom stimmungsmäßigen Auf und Ab, von Niederlagen und Enttäuschungen, von Verwundungen und Beleidigungen, von Unpässlichkeiten und Krankheiten. Unsere innere Stärke wächst mit jeder gelungenen Akzeptanz schwieriger Lebensumstände. 

Im Einklang mit sich und dem Lebensprozess zu sein, ist die tiefste Form des Glücks, die dem Menschen möglich ist und die von niemandem genommen werden kann. Dazu gehört es, die angenehmen und unangenehmen Erfahrungen gleichermaßen zu umarmen, wie ein gerechter Elternteil die braven und schlimmen Kinder ohne Unterschied liebt. 

Einzelne Menschen haben es geschafft, in den schlimmsten vorstellbaren Situationen bei sich zu bleiben, im Gefängnis oder im KZ, im Krankenbett oder im Sterbeprozess, und sie können uns als Vorbilder dienen, wenn wir mit Leiden und Schmerzen in unserem Leben konfrontiert werden. Wir können unsere Würde aufrechterhalten, selbst unter den entwürdigendsten und unmenschlichsten Umständen, unter Schmerzen und Leiden. Denn die Würde kann uns niemand nehmen, höchstens wir selber, wenn wir uns von der Ganzheit unseres eigenen Lebens abtrennen und uns in herausfordernden Erfahrungen selbst verleugnen. 

Die Schatten des Todes 


Der Alterungsprozess beinhaltet viele schmerzhafte Momente, die mit zunehmender körperlicher und geistiger Gebrechlichkeit immer häufiger auftreten. Es zwackt hier und zwackt dort, das Gedächtnis wird löchrig und die Marotten werden noch wunderlicher. Dazu kommt, dass das Altern selber die Akzeptanz herausfordert, weil es mit der schmerzhaften Erkenntnis verbunden ist, dass es nicht rückgängig gemacht werden kann, sondern unausweichlich voranschreitet, relativ unabhängig davon, wie wir es gerne hätten. Das Altern ist der lange Schatten des Todes, der in seiner Strenge und Unausweichlichkeit fordert, dass wir das Sterben lernen, je früher desto besser.  

Als lebende Organismus haben wir ein Ablaufdatum. Ob unser Leben länger oder kürzer als der Durchschnitt dauert, ist nur zum Teil in unserer Hand. Viele, die ein in mehrfacher Hinsicht vorbildliches Leben geführt haben, sind früh gestorben; andere mit unmäßigem oder wenig tugendhaftem Lebenswandel haben ein hohes Alter erreicht. Der Tod ist ein undurchsichtiger Gesell, der sich nicht in die Karten blicken lässt, trotz aller Versuche, das Alterungsgenom zu entschlüsseln und zu manipulieren. Er klopft unerbittlich an unsere Tür, wenn er es für angemessen hält, und gibt seine Gründe nicht preis. Er fordert einzig und allein unsere Bereitschaft zur Hingabe, in der ultimativen Form. 

In jedem Schmerz, in jeder leidvollen Erfahrung kündigt sich der Tod an, als würde er das alles schicken, damit wir uns auf das Treffen mit ihm vorbereiten können. Doch ist der Tod nicht der Meister des Lebens, sondern selbst nur ein Diener im großen Prozess des Werdens und Vergehens, bei dem wir eine Weile mitsegeln, deren Dauer uns zugemessen ist. Jede Schmerzerfahrung können wir zum Einüben in die Hingabe, d.h. in die Endlichkeit und Sterblichkeit nutzen.  

Erwartungsfreiheit 


Erwartungsfrei durchs Leben zu gehen, absichtslos mit dem Leben zu fließen, erfordert viel Grundvertrauen und innere Stabilität. Der Lohn der Vertrauensstärkung ist der hohe Grad an Freiheit und der Zugang zu einer tiefen Form des Glücks, das aus dieser Freiheit kommt. Die Erwartungsfreiheit umfasst auch den geheimnisvollen Tod und lässt ihm seine Freiheit, zu kommen, wann immer es ihm beliebt und gleich welche Form des Endes er uns zubilligt. 

Wir haben dieses Leben als Ganzes, mit seinem Anfang und seinem Ende, mit seinen Schokoladenseiten und Magenkrämpfen. Es hat uns ganz, und wir haben es entweder ganz oder gar nicht. Alles, was uns widerfährt, gehört dazu, ob es uns in den Kram passt oder nicht, ob es uns erfreut oder entsetzt. Akzeptanz gibt es nur in dieser Ganzheit. Wenn wir nur die Rosinen aus dem Lebenskuchen herauspicken, verdirbt der kostbare Rest, indem wir ihn verschmähen. Wir sind dann nicht mit der Annahme, sondern mit dem Verweigern des weniger wohlschmeckenden Teils beschäftigt, der dadurch mehr Bedeutung und Macht bekommt als die verführerischen und vergänglichen Süßigkeiten. Nehmen wir dagegen auch die sauren Kirschen aus dem breiten Angebot des Lebens zu uns, so lernen wir ihren Geschmack kennen und schätzen. Wir erweitern unser Repertoire und unsere Kraft im Umarmen und Halten.  

Das gute Leben ist ein solches, das möglichst viele Schattierungen und Spielarten umfassen und umarmen kann und nichts ausschließen und missachten muss. Das gute Leben ist bereit zum Risiko der Totalität, zur Radikalität des Akzeptierens aller Freuden und Schmerzen. Das gute Leben kann auf alle Versprechen oder Heilsverkündungen von Schmerz- und Leidensfreiheit verzichten, weil es weiß, dass alles, was da ist, alles, was entsteht und vergeht, gut ist, wenn es mit Bewusstheit durchlebt wird. 

Zum Weiterlesen:
Ein kleines Modell des Schmerzes
Von der Hilflosigkeit zur Hingabe 
Die Dimensionen der Verzweiflung