Samstag, 31. Juli 2021

Keine Nachhaltigkeit ohne soziale Konfliktlösung

Die Menschen sind nicht gegen die Natur, sondern gegeneinander. Sie handeln unbewusst und achtlos der Natur gegenüber, weil sie damit beschäftigt sind, ihre zwischenmenschlichen Probleme zu lösen. Und das ist der Grund, warum wir vorrangig daran arbeiten müssen, als Menschheit miteinander besser zurechtzukommen.

Menschen sind Natur, durch und durch, jede Zelle stammt aus den Milliarden der kosmischen Geschichte und ihrer erstaunlichen Entwicklung. Selbst jeder Gedanke und jede Idee, die je in einem Menschengehirn aufgetaucht ist, ist ein Spross dieser Entwicklung, die neben vielen anderen Errungenschaften die Nervenzellen hervorgebracht hat.

Wie kommt es nun zu diesen Konflikten zwischen den Menschen und dem anderen Rest der Natur, die die aktuelle Situation prägen und die ein Ende der Menschheit auf diesem Planeten heraufbeschwören könnten?

Womit die Menschen am wenigsten zurecht kommen, sind die eigenen Artgenossen. Sicher leiden wir unter Unwetterkatastrophen, Seuchen und Vulkanausbrüchen. In früheren Zeiten gab es Raubtiere, die das menschliche Überleben bedrohten. Aber am stärksten leiden wir an dem, was wir uns gegenseitig antun. Aus der Traumaforschung wissen wir, dass menschenverursachte Traumatisierungen wesentlich schwerer wiegen als nicht durch Menschen hervorgerufene Traumatisierungen. Bei schweren Vorfällen, bei denen Naturgewalten ins menschliche Leben eingreifen, helfen und trösten sich die Menschen gegenseitig. Oft tragen solche Ereignisse dazu bei, dass sich die Bande unter den Betroffenen stärken und die Solidarität und das Vertrauen wächst.

Daran ersehen wir die Ambivalenz der Kulturentwicklung. Sie hat im Lauf der Menschheitsgeschichte zu einer zunehmenden Entsolidarisierung geführt, in dem Maß, in dem die Naturgewalten unter menschliche Kontrolle gebracht wurden. Raubtiere wurden ausgerottet und man findet sie fast nur mehr in Reservaten und Zoos. Dämme wurden gebaut, um Hochwässer zu verhindern. Erdbebensichere Gebäude wurden errichtet. Seuchen verloren durch Hygiene, Medikamente und Impfungen ihren Schrecken. Versicherungen sichern gegen jede erdenkliche Störung unseres Komforts. Wir leben heute in den hochentwickelten Ländern auf einem Niveau an Sicherheit, das es in der Geschichte nie zuvor gegeben hat.

Entsprechend ist die Notwendigkeit zur nachbarschaftlichen Hilfe zurückgegangen. Jeder sorgt selber für seine Sicherheit, Solidarität brauchen wir nur mehr im äußersten Krisenfall, so zumindest die Ansicht der neoliberalen Ideologen und die praktische Konsequenz, die die meisten Leute in ihrem Alltag ziehen.

Allerdings geht bei diesem Trend auch die gesellschaftliche Solidarität verloren, die wir vor allem dafür brauchen, um gesellschaftliche Ungleichheiten auszutarieren oder zumindest abzupuffern. Eine ungleiche Gesellschaft bringt Konflikte hervor, und soziale Konflikte schüren die Überlebensängste. Solange die Armut und der Hunger unter den Menschen verbreitet ist, kann es keinen Frieden geben und keine „geschwisterliche“ Beziehung zur Natur. Der Umwelt- und Naturschutz ist ein Privileg der Reichen und Wohlhabenden. Wer von Tag zu Tag schauen muss, eine karge Mahlzeit für sich und für die eigene Familie zustande zu bringen, wer bei Krankheit keine medizinische Unterstützung hat und im Alter befürchten muss, völlig zu verarmen und auf Almosen angewiesen zu sein, wird nicht viel an die umweltgerechte Entsorgung von Plastiksackerln und Getränkeflaschen zu denken.

Es ist klar, dass die krass unausgewogene Gesellschaftsstruktur, die alle Volkswirtschaften in unterschiedlichem Ausmaß und die globale Situation insgesamt prägt, das Haupthindernis für eine von der gesamten Menschheit getragenen nachhaltigen Lebensweise darstellt. Jeder zwischenmenschliche Konflikt, von Ehestreitigkeiten bis zu zwischenstaatlichen Reibereien, verbraucht Ressourcen und Energien, die für die Rettung des Ökosystems fehlen. Es wird niemandem in den Sinn kommen zu verlangen, dass die Menschen in einem syrischen Kriegsgebiet ihren Müll ordentlich sortieren. Wo das unmittelbare Überleben bedroht ist, gibt es keine Perspektive für die Nachhaltigkeit. Wir haben den Luxus, in Dekaden planen und organisieren zu können, was Klimaziele anbetrifft. Andere Menschen können aufgrund der Umstände, in denen sie zu leben gezwungen sind, nur in Stunden oder Tagen planen und organisieren.

Natürlich macht es keinen Sinn zu warten, bis die Menschen endlich ihre strukturellen Konflikte bereinigt haben. Es muss auch jetzt getan werden, was möglich ist, um einen katastrophalen Zusammenbruch des Ökosystems zu verhindern. Aber wir müssen uns mit der gleichen Energie und Entschlossenheit für den gesellschaftlichen Ausgleich einsetzen wie für den Ausstieg aus dem Verbrauch fossiler Brennstoffe. Es ist ein Armutszeugnis für die Menschheit, dass sie es 75 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg noch immer nicht geschafft hat, soziale und politische Konflikte gewaltfrei zu regeln. Jeder Krieg bringt unermessliche Zerstörungen mit sich, materielle, soziale und emotionale.

Es ist dazu noch bedauerlich, dass es allzu viele Menschen auf unserer reichen Erde gibt, die an bitterer Armut leiden müssen, und dass der Hungertod noch immer nicht verschwunden ist. Wir dürfen nicht aufhören, uns immer wieder daran zu erinnern, auch wenn wir dabei mit einem Schamgefühl konfrontiert sind: Denn es ist eine Schande, dass wir trotz unserer herausragenden Intelligenz und unserer Empathiefähigkeit noch immer in einer Steinzeit leben, was die Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen auf einer globalen und strukturellen Ebene anbetrifft.

Wir sollten nicht vergessen, dass wir dieses systemische Denken, die systemische Vernunft und eine systemische Ethik brauchen, um die Herausforderungen, die sich der Menschenwelt stellen, zu meistern. Wir müssen aufhören, nur auf den eigenen Säckel und die eigenen Kleinbedürfnisse fixiert zu sein. Wir sollten jeden Tag ein Stück unseres Egoismus mehr überwinden und uns auf größere Zusammenhänge beziehen. Wir können unsere Energien darauf ausrichten, Frieden zu stiften, wo es nur geht, zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur. Wir können daran arbeiten, dass immer mehr Menschen ein sicheres und freies Leben mit ausreichenden Ressourcen führen können.

Zum Weiterlesen: 

Die Schwachen und die Nächstenliebe
Die Solidaritätsschranke
Gleichheit und soziale Sicherheit

Freitag, 30. Juli 2021

Akzeptieren, was ist: Teil 8: Akzeptanz und Scham

Jede Nichtakzeptanz der Wirklichkeit enthält ein Element der Scham. Wenn wir uns einem Aspekt dessen, was uns umgibt und was in uns ist, verweigern, trennen wir uns davon ab und stellen uns über diesen Aspekt – wir wollen etwas Besseres sein oder etwas besser wissen. Wir wollen der Wirklichkeit vorschreiben, wie sie sein soll. Das, was wir ablehnen, ist minder oder schlechter als, das was wir uns ausgedacht oder ausgemalt hätten. Das Gefühl des Stolzes, das dabei aktiviert wird, stellt die Kompensation einer Scham dar. Denn im Verhältnis zur Wirklichkeit stehen wir niemals über ihr. Vielmehr sind wir dem großen Ganzen, das die Wirklichkeit ausmacht, immer untergeordnet und als Teilchen eingeordnet. Die Ordnung besteht unabhängig von uns und erfordert beständig unsere Einstimmung und Anpassung. Wir sind in die mannigfaltigen Zusammenhänge eingebettet, die über das bestimmen, was und wie wir sind. Sie legen fest, wie unsere Handlungsspielräume beschaffen sind, wo sie beginnen und wo sie aufhören.  

Es ist also immer eine Anmaßung mit dabei, wenn wir aus der Akzeptanz mit dem Hier und Jetzt herausfallen. Anmaßung heißt, dass wir uns etwas zumessen, was uns eigentlich, nach den Regeln des großen Ganzen, nicht zusteht. Wir stellen uns fiktiv auf eine Stelle im Universum, die uns nicht gebührt. Wir tun so, als wären wir der archimedische Punkt, um den sich alles dreht, was sonst noch da ist. Tatsächlich werden wir von den verschiedensten Kräften, die auf uns einwirken, gedreht und gewendet, und alles, was wir dabei zustande bringen, ist, den Kurs da und dort ein wenig in unserem Sinn zu korrigieren. Das gelingt manchmal besser, manchmal schlechter, aber gibt uns immer wieder die Illusion, wir wären die großen Macher in unserem Leben und darüber hinaus.

Es ist wie mit dem Wetter: Wir wüssten immer besser, wie es sein sollte, aber das Wetter kümmert sich nicht im geringsten darum. Das einzige, was wir tun können, ist zu akzeptieren, wie es ist, und unsere Handlungen danach ausrichten. Jedes Jammern über das, was ist, ist verschüttete Milch.

All diese Anmaßungen pflegen wir, weil wir uns dem Schamgefühl nicht stellen, das hinter der Ablehnung unserer geschöpflichen Kleinheit steckt. Der Narzissmus in jeder Selbstüberhöhung und Selbstverminderung ist natürlich die Verführung, die uns aus dem „Paradies“ vertreibt, das in diesem Sinn für die stimmige Einordnung unseres Selbst in das große Panorama des Ganzen steht. Denn am richtigen Platz zu sein, führt zum erfüllendsten Selbstgefühl, das uns zufallen kann.

Wir brauchen die herausgehobene Sonderstellung, weil wir uns sonst schämen würden. Lieber baden wir uns in unserer Eitelkeit als dass wir die Scham spüren. Wir wollen nicht, dass es uns geht wie Adam und Eva, als sie sich nach der Übertretung einer Regel des großen Ganzen plötzlich ihrer Kleinheit, ihrer Nacktheit, ihrem Bloßgestelltsein, ihrer Scham bewusst wurden. Die Scham ist unangenehm und quälend, also verstecken wir uns vor ihr und ihrem richtenden Blick. Wir wollen nicht dabei ertappt werden, dass wir uns größer (oder kleiner) gemacht haben als wir sind. Lieber schmücken wir uns mit unseren Errungenschaften und Großtaten (oder mit unseren Misserfolgen und Versagenserfahrungen) als dass wir demütig anerkennen, dass wir in unserer Unvollkommenheit zum großen Konzert des Universums nicht mehr als unsere winzige Rolle beitragen können.

Selbstüberhöhung und Demut

Die Scham hinter der Illusion der Überbedeutung, die wir uns zumessen, gibt es nur wegen unserer Neigung zur Selbstüberhöhung, die immer wieder dazu verführt – die Schlange in der Paradies-Geschichte. Sobald wir aufhören, den Anspruch zu stellen und die Erwartung an uns zu nähren, der Drehpunkt hinter allen Abläufen unseres Lebens zu sein, hat die Scham keinen Nährboden mehr. Wir nehmen in Bescheidenheit und Demut an, was unser Platz und der Handlungsspielraum ist, der uns zugeteilt wird.

Das richtige Maß zwischen Selbstüberschätzung und Selbstverkleinerung zu finden, ist ein wichtiger Zugang zur Lebenszufriedenheit und zum Lebensglück. Solange wir entweder unsere Schwächen nicht wahrhaben wollen bzw. nicht zu ihnen stehen können oder mit unseren Fehlern und Unzulänglichkeiten identifiziert sind, hat uns die Scham in ihren Fängen und verleitet uns zu Ausgleichsaktionen, die in die eine oder andere Form des ungesunden Stolzes führt.

Stolz und Dankbarkeit

Wir dürfen stolz sein auf bestimmte Handlungen, z.B. auf Leistungen, die auf Selbstdisziplin und Selbstüberwindung beruhen, also überall dort, wo wir innere Widerstände („Schweinehunde“) überwunden haben. Freilich ist alles, was wir für diese Taten an Ressourcen, Kräften, Begabungen usw. benötigen, auf andere Faktoren zurückzuführen, die nur minimal in unserem Einflussbereich liegen.

Wir brauchen deshalb nicht stolz zu sein auf das, was wir sind, weil es nur zum geringsten Teil unser Verdienst ist. Was können wir für unsere Körpergröße und Augenfarbe, unseren Intelligenzquotienten oder unsere künstlerischen Fähigkeiten? Hier können wir den Stolz zurückstellen, denn es ist die Dankbarkeit über alles angebracht, mit dem uns das Leben beschenkt hat und immer wieder beschenkt.

Die Formel der Selbstakzeptanz

Selbstakzeptanz bedeutet, dass wir alles, was wir sind und was uns ausmacht, annehmen, indem wir uns den Charakter des Geschenks bewusst machen, der in der Gnade unseres Lebens steckt und in allem, was dazu gehört. Deshalb ist die Selbstakzeptanz ein wirksames Heilmittel gegen die Scham und den überzogenen Stolz. In der Selbstannahme stehen wir zu dem, was uns übergeben wurde und immer wieder übergeben wird. Auf dieser Basis bauen wir auf, wenn wir neue Initiativen setzen und Projekte starten, wenn wir also unsere Beiträge zur Wirklichkeit gestalten.

Die Selbstakzeptanz ist ein guter Stabilisator für einen ausgewogenen Selbstwert, der die Balance zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstüberhöhung bildet. Beide diese Tendenzen haben ihre Wurzeln in unseren frühen familialen Beziehungserfahrungen. Überall dort, wo unsere Grundbedürfnisse nicht ausreichend gestillt wurden, wird unser Selbstgefühl geschwächt und eingeschränkt. Wir haben dann nur die Möglichkeit, nach „unten“ in Richtung Selbstzweifel und Selbstabwertung oder nach „oben“ in Richtung Selbstüberschätzung auszuweichen.

„Ich bin so, wie ich bin, und es ist gut so.“ Das ist die Formel der Selbstakzeptanz. Wir brauchen uns weder für unser Sein und Wesen zu schämen noch darauf stolz zu sein, sondern können uns an unserem So-Sein erfreuen. Wir sind einfach, wie wir sind, und dafür verdienen wir die Wertschätzung, die eigene und die unserer Mitmenschen. Das Leben als ganzes schätzt uns sowieso für das, zu dem sie uns gemacht und gestaltet hat.

„Ich bin so, wie ich bin, und es ist so, wie es ist, und es ist gut so.“ An diesem Punkt schließt sich der Kreis vom Ich zum Ganzen. Wir schwingen mit mit dem, was geschieht. Wir reiten die Welle des Lebens, unseres und des größeren. Wir lassen alles los, was der Selbstannahme im Weg steht.

Zum Weiterlesen:

Das Ja zum Selbst
Sag Ja zum Moment
Selbstakzeptanz und Schamheilung
Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)
Akzeptieren, was ist (Teil 5)
Akzeptieren, was ist (Teil 6)
Akzeptieren, was ist (Teil 7)

Mittwoch, 28. Juli 2021

Selbstakzeptanz und Schamheilung

Die Scham ist ein soziales Gefühl, das darauf aufmerksam macht, dass die Zugehörigkeit zur Bezugsgruppe gefährdet ist. Es betrifft die eigene Person als ganze, die moralisch als fehler- und mangelhaft erscheint und deshalb ausgeschlossen werden könnte. Es braucht die explizite Akzeptanz durch die anderen Gruppenmitglieder, damit sich die Scham auflösen kann.

Welche Rolle kann dann aber dann die Selbstakzeptanz bei der Schamheilung spielen?

Wenn die Bedrohung der Zugehörigkeit zur eigenen Familie immer wieder aufgetaucht ist, entwickelt sich eine dauerhafte Schambelastung. Erfolgten in der Kindheit immer wieder Beschämungen und Demütigungen durch die Eltern und Erziehungspersonen, so wird die Scham zu einem angelernten Persönlichkeitszug. Sie setzt sich gewissermaßen in allen Zellen fest. Sie hinterlässt ihre Spuren im Gesicht und in der Körperhaltung. Und sie führt zu Stressbelastungen, neurotischen Symptomen und seelischen Erkrankungen.

Die krankhafte Scham, die viele Erwachsene mit sich herumtragen, hat nichts mehr mit einer akuten Bedrohung der Zugehörigkeit zu tun. Sie beruht auf frühen Erfahrungen, die zu übertrieben schambezogenen Deutungen von aktuellen Situationen führen. Viel zu vieles, was im eigenen Leben geschieht, wird als schamvoll oder beschämend interpretiert. Die Alternative dazu stellt das Ausweichen in die Unverschämtheit dar: Statt mich selber zu schämen, beschäme ich lieber andere.

In solchen Erfahrungen fehlt die Grundakzeptanz der eigenen Person. Sie wird als abnormal und ungeeignet, als unfähig und gestört erlebt. Sie sollte besser nicht sein, weil sie nicht besser sein kann. Die Selbstablehnung kann im Extremfall bis zu Gedanken oder Aktionen der Selbstauslöschung führen.

Selbstakzeptanz üben

Die Übung der Selbstakzeptanz ist deshalb ein wichtiges und wirksames Gegenmittel zur Heilung von krankmachenden Schambelastungen. Sie beruht auf dem Verständnis, dass diese Form der Scham eine erlernte Überlebensstrategie zur Anpassung an ein gestörtes Familiensystem darstellt. Gestört ist nicht die eigene Person, sondern der soziale Zusammenhang, in dem das eigene Aufwachsen erfolgt ist. Ohne immer wieder in die Schamposition zu gehen, war es nicht möglich, Zuwendung und Liebe zu bekommen. Damit wird die Schamhaltung (oder die Schamvermeidungshaltung) zur Lebenshaltung, die in Situationen stärkerer Belastung im späteren Leben immer wieder aktiviert wird.

Die Selbstannahme dreht den Lernprozess um, weil die ursprünglich erworbene Überlebensstrategie nicht mehr gültig ist und nicht mehr gebraucht wird. Alles, was an Ablehnung und Nichtakzeptanz durch die Bezugspersonen geschehen ist, bekommt jetzt ein Gegengewicht durch bewusste Akte der Selbstannahme und Selbstakzeptanz. Die Selbstbeziehung wird also umgepolt und damit auf eine gesunde Grundlage gestellt, die sich von den dysfunktionalen und defizitären Familienstrukturen der eigenen Kindheit distanziert hat.

Jede beschämende und demütigende Abwertung, die in der frühen Entwicklung erlebt werden musste, hat die Akzeptanz des eigenen Selbst unterminiert. Ganz arge Demütigungen können sogar das Selbst zerbrechen oder spalten. In der Selbstannahme wird das Selbst wieder restauriert und in sein Recht gesetzt. Wir nehmen uns in unserer Person auf der tiefsten Ebene bedingungslos an und löschen damit die Spuren, die die Verletzungen unserer Persönlichkeit hinterlassen haben.

Wie üben wir die Selbstakzeptanz?

Wichtig ist es zu erkennen, wann und wo wir uns selbst ablehnen und nicht zu uns selbst stehen. Wir müssen (und sollten) nicht alles gutheißen, was wir tun oder unterlassen. Wir brauchen ein gutes Maß an Selbstkritik, damit wir aus unseren Fehlern lernen können. Was wir aber niemals zulassen sollten, ist die Infragestellung unseres Eigenwertes und unserer Selbstachtung. Angriffe auf uns als Person gehören aufgezeigt und zurückgewiesen, ob sie von anderen oder von uns selbst kommen. Niemand hat das Recht, unsere Person und unsere Existenz zu kritisieren, auch wir selbst nicht. Kritik darf sich nur auf Handlungen oder Gedanken, die wir äußern, beziehen, aber nicht auf uns als Menschen. Denn unsere Würde bleibt bestehen und intakt, was immer wir in der Welt anstellen.

Die Selbstakzeptanz, die wir nicht mit einer kritiklosen Akzeptanz all unseres Tuns verwechseln dürfen, ist der direkte Weg zu unserer persönlichen Würde. Ihr Schutz sollte uns ein wichtiges Anliegen sein. Oft sind es wir selber, die auf diese Würde losgehen, als würden wir sie nicht verdienen.

Selbstabwertung und Selbstkritik

Es ist nicht schwer, Selbstabwertungen, die sich auf uns als Person richten, und Selbstkritik, die sich auf das bezieht, was wir machen, zu unterscheiden. Wir brauchen nur darauf zu achten, was die Konsequenz der Infragestellung ist. Im einen Fall, wenn sie auf unsere Person als ganze gerichtet ist, sind wir macht- und hilflos: Wir können kein anderer Mensch werden, wir sind in unserem Sein und Wesen so, wie wir sind. Wir können nicht zu einer anderen Person werden. Im anderen Fall wissen wir, was wir ändern sollten und können uns darum kümmern.

Wir praktizieren eine Essensgewohnheit, die uns nicht zuträglich ist, und kritisieren uns selbst dafür. Mit der Kritik wollen wir uns dazu motivieren, gesündere Lebensmittel zu uns zu nehmen. Wenn wir uns selber als schlechter, unfähiger oder gestörter Mensch bezeichnen, können wir nichts dagegen tun. Wir können weder unseren Charakter, unseren Persönlichkeitskern noch unsere Geschichte gegen ein anderes Modell austauschen.

Diesem unserem Wesen dient die Selbstakzeptanz. Indem wir die intime Beziehung zu uns selbst und unserem Wesen stärken, entziehen wir der Scham, die uns noch aus beschämenden Kindheitserfahrungen in den Knochen steckt, ihre zerstörerische Macht. Mit jedem Schritt der Selbstannahme geben wir uns selbst die Bestätigung, die wir in unserem Aufwachsen gebraucht hätten. Wir holen uns die Achtung für uns selbst zurück und nehmen unsere Würde, unser Geburtsrecht auf das Menschsein ganz zu uns. Wir verankern tief in uns, dass wir wertvolle und schätzenswerte Menschen sind.

Zum Weiterlesen:
Das Ja zum Selbst
Sag Ja zum Moment

Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)
Akzeptieren, was ist (Teil 5)
Akzeptieren, was ist (Teil 6)
Akzeptieren, was ist (Teil 7)

Donnerstag, 22. Juli 2021

Akzeptieren, was ist: Teil 7: Leben und Tod

Das Leiden an der Unvollkommenheit und Endlichkeit

Probleme mit dem Akzeptieren der Wirklichkeit sind letztlich Schwierigkeiten, die prinzipielle Endlichkeit und Relativität anzunehmen, die jedem Menschenleben zugehört und innewohnt. In vielen Details oder Kleinigkeiten des Lebens, mit denen wir schlecht zurecht kommen und die unsere Bereitschaft zum Akzeptieren herausfordern, sind die großen Grenzthemen des Menschen verborgen. Wir suchen in vielen Bereichen unseres Lebens nach der Vollkommenheit – nach dem perfekten Job, der perfekten Wohnung, der perfekten Partnerin –, um nicht an die eigene Unvollkommenheit erinnert zu werden, die sich letztendlich in der Sterblichkeit ausdrückt. Wir laufen der Illusion nach, das ewige Leben zu erwerben, wenn wir etwas Vollkommenes schaffen oder erschaffen, wenn wir die perfekte Liebe finden oder den bestmöglichen Wohnsitz. Wir glauben, dass wir an all den kleinen Ecken und Kanten schleifen müssen, um die schönste aller möglichen Formen zu gestalten und damit der Relativität zu entkommen. Es darf nichts Unvollkommenes, Vorläufiges, Beschränktes sein, weil es uns an unsere eigene Vorläufigkeit und Beschränktheit erinnert. Denn diese Erinnerung bereitet uns Angst und Scham. Wir haben eine in allen Zellen unseres Körpers eingespeicherte Angst um unsere Existenz, und das Gefühl, nur ganz wenige Bedingungen, die unsere Existenz absichern, unter Kontrolle zu haben, bereitet uns Scham.

Also streben wir danach, alles auszuradieren oder zu übertünchen, was uns auf die übermächtige Endlichkeit aufmerksam macht, der gegenüber wir schlussendlich hilflos und ohnmächtig sind. Jede Kleinigkeit, über die wir stolpern, zeigt uns auf, dass wir abhängig sind von Sicherheiten, die wir selber nicht herstellen können. Jedes Detail, das uns stört, erinnert uns an unsere eigene Kleinheit angesichts der Größe und Übermacht des Lebens und des Sterbens, gegen das alle unsere Bestrebungen, Macht und Kontrolle zu erlangen, immer wieder an unüberwindliche Grenzen stoßen.

Die Akzeptanz der Endlichkeit ist der Schlüssel zum inneren Frieden, aber ein komplexer und schwerwiegender Schlüssel. Denn alle offenen und versteckten, alle riesigen und winzigen Störenfriede in unserer Seelenlandschaft wollen erkannt, gesehen und akzeptiert werden. Es ist ein beständiger Auftrag für unsere Bewusstheit, Licht auf die vielen Baustellen unserer Innenwelt zu werfen und dort Verständnis und Lösung zu bewirken. Gelingt uns die Akzeptanz, so breitet sich schrittweise der Friede aus, dort, wo vorher die innere oder äußere Ablehnung und der gegen sich selbst und andere gerichtete Widerstand die Vorherrschaft hatten.

Selbst wenn wir im Akzeptieren scheitern, weil wir uns in ein Problem oder ein Gefühlsmuster verbeißen, brauchen wir die Akzeptanz, die uns hilft, uns wieder aus den selbstgeschaffenen Fesseln zu befreien. „Auch diese Erfahrung hat mich auf meine Endlichkeit und Begrenztheit gestoßen.“ Diese Erkenntnis gilt es immer wieder in den Moment der Erfahrung zu rufen, wenn wir den Kontakt zur Realität verlieren und in unseren Mustern verschwinden.

Philosophieren heißt bekanntlich nach Sokrates Sterbenlernen. Wir lernen das Sterben, indem wir unsere Sterblichkeit akzeptieren und damit all unsere illusionären Bestrebungen, Unsterblichkeit zu erlangen, als das sehen, was sie sind: Produktionen unseres Verstandes. Angesichts des unausweichlichen Todes, dem wir uns mit jedem gelebten Moment unseres Lebens annähern, sind all die Dinge, die uns Kopfzerbrechen bereiten, auf dem Magen liegen und das Herz schwer machen, Kleinzeugs. Aber mit dem großen Tod ins Reine kommen wir nur, indem wir allen, auch noch so kleinen Aspekten unseres Lebens mit mitfühlender und annehmender Haltung begegnen.

Leben und Tod

Das Leben als „Sein zum Tode“ (Martin Heidegger) zu verstehen, mag einem etwas einseitig fixiert und eingeschränkt vorkommen. Das Leben ist vor allem Leben, das von der Fülle eines Moments zur Fülle des nächsten Moments weitergeht. Doch wissen wir im Erinnern an die Sterblichkeit um die unentrinnbare Endlichkeit dieses unseres Lebens. Wäre es uns gegeben, ausschließlich im Moment zu sein, wie es viele spirituelle Lehrer empfehlen, wäre die Endlichkeit kein Problem. Wir würden in der Unendlichkeit des Moments schwelgen, ohne dass es da einen Tod gibt, der ja nur im Herausgehen aus der Erfahrung des Moments am Horizont des Denkens an die Zukunft erscheint. Wir halten es in gewisser Weise mit Epikur, der meinte: „Wenn wir sind, ist der Tod nicht da; wenn der Tod da ist, sind wir nicht.“ Wenn wir im Moment sind, ist der Tod nicht da – wir sind ja voll mit dem Leben eins. Dann brauchen wir auch keine Überlegung darüber, was sein könnte, wenn wir nicht mehr da sind.

Natürlich gibt es die Momente in jedem Leben, in denen der Tod ins Leben tritt, weil jemand anderer stirbt. Neben all den Gefühlen, die ausgelöst werden, tritt auch der Hinweis auf das eigene Ende, der das Leben in ein anderes Licht rückt. Und dann können wir auch nach dem Prozess der Verarbeitung wieder in die Akzeptanz fallen und den aktuellen Moment genießen, zu dem kein Tod gehört. Das Leben geht weiter, auch wenn eine Person ihren Abschied genommen hat.

Eine andere Todesbegegnung liegt bei einer Nahtoderfahrung vor. Hier streift gewissermaßen die Seele am Tod an, ohne ihm ganz zu verfallen. Solche Erfahrungen können lebensverändernd sein, indem sie gerade zum bedingungslosen Akzeptieren des momentanen Seins beitragen.

Das eigene Ende

Demgegenüber hat es eine ganz andere Tragweite und Ernsthaftigkeit, wenn es um das eigene Ende geht.  Die Überlegungen Epikurs passen bis zu dem Moment, in dem der Tod an die eigene Tür klopft und zum Mitkommen herausfordert, also bis zum eigenen Sterbeprozess. Da hilft es dann nicht weiter, den Tod zu verleugnen. Er wird zum tonangebenden Beherrscher der Realität, die es zu akzeptieren gilt. Vielleicht kämpfen wir mit ihm, vielleicht wollen wir ihn webschieben und ignorieren, vielleicht erschrecken wir vor ihm, vielleicht verstecken wir uns. Aber er ist da und bleibt da, bis er seinen Auftrag erfüllt hat: Sich ihm hinzugeben, damit der Abschied aus dem Leben mit Gleichmut und Akzeptanz vollzogen werden kann.

Wenn wir allerdings im Sterbeprozess starke Schmerzen haben und unser Körper massiv leidet, sind wir so mit uns selber beschäftigt, dass wir dem Tod nicht mit Bewusstheit und Akzeptanz begegnen können. Andererseits wünschen wir uns in dieser Situation nichts sehnlicher als eine baldige Erlösung von den Qualen und laden auf diese Weise den Tod ein.

In unserem Ende, wie immer es auch sich gestalten wird, liegt die größte Aufgabe und Prüfung für unsere Bereitschaft zu akzeptieren, die immer auch eine Bereitschaft zur Hingabe enthält. Wir bereiten uns auf diese letzte Aufgabe am besten vor, indem wir uns immer wieder bewusst machen, dass die Wirklichkeit ist, wie sie ist, und dass wir vom Akzeptieren dessen, was ist, sofort ins Vertrauen fallen können, in die Hingabe an den jeweils aktuellen Moment.

In jeder Erkenntnis und Annahme unserer Endlichkeit und Begrenztheit, die sich in Fehlern und Schwächen zeigt, schlummert die Gelegenheit für ein Loslassen, mit dem wir für das letzte Abschiednehmen üben. Das Loslassen von Schwierigkeiten geschieht in der Akzeptanz des Moments, die immer die Selbstakzeptanz umfasst. Wir kommen in Frieden mit unserer Endlichkeit und freunden uns auf diese Weise mit dem Sterben und mit der Begegnung mit dem Tod an.

Die Übung der Akzeptanz umfasst das Lösen von jeder Form der Kontrolle. Sie beinhaltet das Verabschieden der Eigenmacht. Auch in dieser Hinsicht bereitet sie auf das Sterben vor, denn über den Tod haben wir keinerlei Macht und Einfluss. Wir können sein Kommen hinauszögern, aber stets bestimmt er im Letzten den Zeitpunkt seines unerbittlichen Anklopfens.

Zum Weiterlesen:

Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)
Akzeptieren, was ist (Teil 5)
Akzeptieren, was ist (Teil 6)
Akzeptieren, was ist (Teil 8)

Dienstag, 20. Juli 2021

Akzeptieren, was ist: Teil 6: Konsens und Dissens

Konsens und Dissens

Wie geht das zusammen, dass wir mit der Wirklichkeit im Einklang sein sollen und uns zugleich mit ihr auseinander-setzen, sprich in Gegensatz zu ihr gehen?

Wir brauchen die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit und wir brauchen den Dissens mit ihr. Die Akzeptanz bringt uns in einen Zustand des Seelenfriedens, die Kritik lässt uns aktiv werden. Wenn wir einerseits Meditierer und andererseits Aktivisten sind, sorgen wir bestmöglich dafür, dass unsere Motive und Absichten klar und unbeeinflusst von selbstsüchtigen Interessen bleiben. Als Meditierer pflegen wir das Verbundensein mit dem Ganzen, als Aktivisten arbeiten wir an den Details, die verbessert werden sollten. In der Verbundenheit erlangen wir mehr Integrität, die der Zielgerichtetheit und Ganzheitsbezogenheit unserer Handlungen zugute kommt. Unsere Handlungen sind immer und grundsätzlich relativ. Aber die Offenheit für die Akzeptanz des So-Seins hält den Kontakt mit dem Absoluten aufrecht, sodass wir eine Prüfinstanz dafür haben, dass unsere Handlungen nicht nur eigene, sondern auch allgemeine Interessen bedienen.

Das Ganze entwickelt sich weiter, und es braucht unser Zutun, damit es sich in eine menschengerechte Richtung weiterentwickelt. Denn es gibt viele menschliche Motive, die auf den eigenen Vorteil auf Kosten der Allgemeinheit ausgerichtet sind. Diese Motive müssen eingedämmt werden, damit die Menschheit zu einem Niveau der Gleichheit der Chancen und Lebensmöglichkeiten gelangt.

Generationen vor uns haben sich dafür engagiert und oft ihr Leben eingesetzt, dass wir frei unsere Meinung äußern und Kritik üben können. Sie haben für gerechte Entlohnung demonstriert und die Gleichstellung von Frauen und Männern erstritten. Letztendlich haben sie dafür gesorgt, dass wir in vielen Bereichen der Welt ein abgesichertes Leben mit Wohlstand und Freiheitsrechten führen können. Es liegt an uns, auf diesen Errungenschaften aufzubauen und hier und heute diese Entwicklung weiterzuführen und unsere Kräfte und Fähigkeiten dem Fortschritt der Menschheit hin zu mehr Menschlichkeit zu widmen.

Das stimmige Ganze und die unstimmigen Teile

Aber warum gibt es überhaupt Dissens in einem stimmigen Ganzen, in dem alles so ist, wie es ist?

Zum einen folgt aus dem, was schon beschrieben wurde, dass der Widerspruch zwischen dem Ganzen und seinen Teilen aus dem menschlichen Verstand kommt, der nicht nur die Wirklichkeit bemäkelt, wo sie dem Ego nicht passt, sondern auch Alternativen erschaffen kann für Bereiche, die im Ungleichgewicht sind. Z.B. dienen die sozialutopischen Entwürfe von Thomas Morus angefangen über die Proklamierung der Menschenrechte, über verschiedene technologische Utopien und die Ideen für eine kommunistischen Gesellschaft bis hin zu den Visionen des Metamodernismus dazu, die Welt im Sinn der Umsetzung und Durchsetzung der Menschlichkeit auf möglichst vielen Ebenen weiterzuentwickeln.

Hier können wir einen weiteren Gesichtspunkt hinzufügen. Die Welt ist ein dynamische Gebilde, das aus Spannungszuständen hin zu harmonischen, kohärenten Zuständen tendiert. Spannungszustände sind also Übergangszustände, die in sich die Kräfte bergen, die in einen Gleichgewichtszustand zurückführen, der dann ein höheres Komplexitätsniveau aufweisen kann. Die verschiedenen Systemen der Wirklichkeit haben einen Zug und eine Attraktion zu fließenden Gleichgewichtszuständen, die sich dynamisch selbst regulieren. Ein Beispiel bildet unser autonomes Nervensystem, das aus Spannungszuständen, z.B. Stress, herauskommen will und möglichst bald wieder in Entspannungszustände übergeht, in denen es sich regenerieren kann. Es ist so beschaffen, dass es Stresszustände nur in Ausnahmefällen und nur über begrenzte Zeit aufrechterhalten kann und Entspannungszustände zur Erholung und zur kreativen Neuorientierung braucht. Ein anderes Beispiel sind soziale Systeme, die immer wieder Konflikte hervorbringen, aber am besten – für die Mitglieder der Systeme und für den kreativen Output – funktionieren, wenn Konflikte in neue ausgeglichene Dynamiken übergeführt werden können, z.B. durch Mediation.

Die Beispiele stammen aus der Menschenwelt, weil diese den komplexesten Teil der Wirklichkeit ausmacht. Die nicht-menschliche Natur kennt keine Probleme – Pflanzen- und Tierarten entstehen und vergehen wieder, Landschaftsformationen verändern sich, Sterne explodieren und neue ballen sich zusammen usw., ohne dass sich die „Akteure“ und die „Betroffenen“ dazu äußern oder darunter leiden. Der Kosmos befindet sich in permanenter Bewegung und Umgestaltung, und diese Veränderungen werden ohne jeden Wertmaßstab gelenkt. Es ist dem Kosmos egal, wie viele Sonnensysteme und Galaxien er enthält. Es gibt, nach allem, was wir wissen, kein Bewusstsein in all den Vorgängen, das dazu Gefühle oder Erklärungen entwickelt. Selbst wenn wir einen Gott annehmen, macht es wenig Sinn, ihn mit Gefühls- und Bewertungsattributen zu versehen: Ein Gott, der sich ärgert, weil ein Sonnensystem kollabiert, oder der sich ängstigt, weil sich das Universum ausdehnt, erscheint uns nicht sehr glaubwürdig.

Vielmehr macht es den Anschein, dass das kosmische Geschehen ein Vorbild für die Haltung des Akzeptierens für unseren menschlichen Verstand darstellt: Alles im Universum ist, wie es ist, und geschieht, wie es geschieht. Erst die höher entwickelte Gehirnrinde der Menschen hat all die Fragen und Problematisierungen hervorgebracht, die das Akzeptieren so schwierig macht. Unser Denken ist in der Lage, sich immer Alternativen auszumalen zu dem, was ist: Was wäre, wenn die Sonne schon viel früher als bei ihrem prognostizierten Ende in fünf Milliarden Jahren zuerst zum roten Riesen und dann zum weißen Zwerg mutierte und nebenbei das Leben auf der Erde zerstörte? Was wäre, wenn ein Riesenkomet mit der Erde kollidierte? Was wäre, wenn die vorausberechnete Klimaerwärmung ausbliebe oder wenn eine neue Eiszeit käme? Das „Was-wäre-wenn“-Denken ist nicht nur die Quelle für utopische oder dystopische Romane und Filme, sondern auch ein alltäglich aktiver Produzent von Ängsten und Sorgen.

Wir leben mit einer grundsätzliche Unsicherheit und Ungewissheit, was unsere Zukunft anbetrifft. Das „Was-wäre-wenn“-Denken potenziert diese Unsicherheit bis hin zu pathologischen Angstzuständen und Wahnideen. Das Akzeptieren des So-Seins im Moment ist ein wirksames Gegenmittel, indem es die Ungewissheit in eine Haltung der Hingabe transformiert. Das Ego tritt zurück und macht einer höheren Weisheit Platz, von der wir immer nur ein Zipfelchen erhaschen.

Das menschengemachte System: Der Egoismus und seine Eindämmung

Die Menschen haben auf unserem Planeten ein System errichtet, das die gleichen Grundprinzipien wie alle anderen Systeme aufweist, das aber so viele teils einander widersprechende Selbstregulationsformen eingebaut hat, dass es dauernd zu Spannungszuständen kommt. Dadurch wird es immer schwieriger, dauerhafte Entspannungszustände herzustellen. Deshalb gibt es beispielsweise bis heute Kriege, die große Schäden und Zerstörungen anrichten, immenses Leid verursachen, und deren Befriedigung äußerst komplex und herausfordernd ist. Fast alle Menschen würden wohl, wenn man sie fragt, den Frieden dem Krieg vorziehen, aber es gibt so viele unausgeglichene Entwicklungen in den menschlichen Systemen, dass bestimmte Gruppen in bestimmten Situationen annehmen, es gäbe keinen anderen Weg zum Ausgleich als durch Gewalt. Andererseits ist es gelungen, Systeme aufzubauen, die die individuelle Gewalt eindämmen (die modernen Staaten mit ihrem Gewaltmonopol) und die kollektive Gewalt zurückdrängen (übergeordnete Strukturen, die die Staaten regulieren, wie z.B. die UNO oder die EU).

Der Ausweg aus Spannungen über die Gewalt ist immer nur ein scheinbarer Ausweg. Vielmehr ist es der Weg in die Vermehrung der Spannungen bis hin zur Ausbildung von Dauerspannungen. Ein Beispiel ist der Nahostkonflikt, der seit seiner Entstehung vor 100 Jahren zu keiner Lösung gefunden hat. Gewalt ist die extremste Form egoistischen Handelns. Darunter kann man im systemischen Zusammenhang das Handeln aus Eigennutz ohne Berücksichtigung des Gesamtnutzens verstehen. Wenn ein oder einzelne Teile eines Systems ohne Rücksicht auf das Ganze des Systems ihr Programm durchziehen, bringen sie das System ins Ungleichgewicht, bis hin zum Zusammenbruch. Dafür dient die Krebserkrankung als Beispiel: Einzelne Zellen halten sich nicht mehr an die Funktionen, die sie in ihrem System in Abstimmung mit den Kolleginnen ausüben sollen, sondern ziehen ihr eigenes Programm durch, sprich sie vermehren sich ungehemmt weiter und führen zu Wucherungen und Auswüchsen, die Entzündungen hervorrufen und schließlich den ganzen Organismus zerstören.

Was das Krebsbeispiel anschaulich macht, ist die Wirkung des Egoismus, der einer der mächtigsten Gegenspieler zur Liebe darstellt. Der Egoismus ist immer aus einem Überlebensprogramm gespeist, das die Rücksichtnahme auf die anderen Mitspieler im System verwehrt. Damit das System überleben kann, muss der Egoismus eingedämmt und der Geist der Verbundenheit gestärkt werden. Das Ego muss überzeugt werden, dass es ihm selbst am meisten dient, wenn es sich der Gemeinschaft unterordnet. Die Überlebensprogramme müssen mit dem Realitätsbezug in Kontakt gebracht werden, um ihre Macht auf das Innenleben zu schmälern und damit die Ängste zu reduzieren.

Am Wohl der Allgemeinheit bedachte Kritik dient dem Aufzeigen der egoistischen Anteile in allen gesellschaftlichen Belangen. Nur was bewusst gemacht wird, kann verändert werden. Die Scham spielt dabei eine Rolle: Egoistisches Verhalten erzeugt Scham, sobald es offenbar wird. Die Scham fordert eine Verhaltenskorrektur im sozialen Sinn.

Die Meta-Ebene des Akzeptierens

Auch wenn wir Kritik an der Wirklichkeit üben, sind wir Teil der Wirklichkeit. Die Einstellung der Akzeptanz umfasst also auch jede Äußerung und jeden Gedanken von Kritik, von uns selbst wie auch von anderen, sie umfasst eben alles, was ist. Die kritische Auseinandersetzung mit der Realität gehört zur Welt des Relativen, während die bedingungslose und bewertungsfreie Akzeptanz aus dem Kontakt mit dem Absoluten kommt. Darin liegt auch der Grund, warum diese absolute Form der Akzeptanz nur ein Bestreben sein kann, das in Momenten des inneren Friedens erfüllt ist, aber nicht von Dauer ist und weicht, sobald sich Angstgefühle einmischen. Wohl aber stellt sie einen Orientierungspunkt dar, zu dem wir uns hinbewegen können, insbesondere dann, wenn wir an den Umständen oder Personen in unserem Leben leiden, wenn wir also mit der Wirklichkeit um uns herum auseinander fallen.

Es ist, wie es ist, und ich tue, was zu tun ist. Mit dieser einfachen Formel können wir das Verhältnis von Aktivität und Passivität, von Geschehenlassen und Eingreifen, von Akzeptanz und Gestaltung zusammenfassen, das unser Leben in Balance hält. Das Üben von Kritik ist ein wichtiger Teilaspekt des Tuns, der im besten Fall für die Wirklichkeit Wege findet, wie sie immer mehr mit sich selber in Einklang kommen kann.

Zum Weiterlesen:

Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)
Akzeptieren, was ist (Teil 5)
Akzeptieren, was ist (Teil 7)
Akzeptieren, was ist (Teil 8)

Metamodernismus - eine Übersicht

Samstag, 17. Juli 2021

Akzeptieren, was ist: Teil 5: Akzeptanz und Kritik

Dürfen wir Kritik üben, weil ja dadurch eine Spaltung zwischen Ich und Welt geschaffen wird?

Kritik ist wichtig, weil sie die Aufgabe hat, aufzuzeigen, welche Bereiche oder Dynamiken der Wirklichkeit Schaden anrichten und Leid bewirken. Kritik zeigt auf, was verändert werden muss, damit die Welt gerechter und nachhaltiger wird. Es gibt zwar auch Kritik, in der sich das Ego austobt, bei der es also um das Durchsetzen selbstsüchtiger Interessen geht, es gibt aber auch andere Richtungen der Kritik, die Missstände anprangert, Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten aufdeckt und auf negative Konsequenzen aktueller Entscheidungen hinweist. Kritik, die eine Verbesserung der menschlichen Umstände zum Ziel hat, ist unverzichtbar für den Fortschritt der Menschheit zu mehr Menschlichkeit. Wenn z.B. korrupte Machenschaften nicht öffentlich gemacht und kritisiert werden, bleiben solche Missstände weiter bestehen.

Es ist also auch die kritische Unterscheidungskraft von Nöten, die ego-zentrierte Kritikformen und gemeinwohlorientierte Kritikformen auseinander dividiert. Wiederum ist es die Bewusstheit und innere Achtsamkeit, die uns dieses Unterscheiden ermöglicht: Ist der Nutznießer unserer Kritik unser eigenes Fortkommen oder geht es um ein größeres Ganzes?

Wenn wir vorbehaltslos und ehrlich in uns forschen, wird uns zwar deutlich werden, dass es bei jeder Form der Kritik an Phänomenen der Wirklichkeit ego-gesteuerte Anteile gibt: Gelingt uns ein guter und anerkannter kritischer Beitrag, so macht uns das stolz. Aber wir sollten darauf achten, dass unsere Kritik das Gemeinwohl im Fokus hat, wenn wir Mängel an der Wirklichkeit einmahnen. Es sollte also nicht primär um die eigene Haut oder das eigene Bankkonto gehen, wenn wir etwas kritisieren, sondern um das Wohl möglichst vieler Mitmenschen, die zukünftigen mit eingeschlossen. Denn wir legen jetzt die Grundlagen für das Leben unserer Kinder, Enkelkinder und Urenkelkinder. Oder wir konsumieren unseren Luxus frivol und unbewusst auf ihre Kosten.

Dennoch: Auch wenn ich keine egoistische, sondern eine auf die Allgemeinheit bezogene Kritik übe, trenne ich mich ja von der Wirklichkeit, weil ich den Gegenstand der Kritik in seinem So-Sein ablehne und anders haben möchte?

Der Akt der Kritik beinhaltet ein Heraustreten aus dem Einssein, wie es im bedingungslosen Akzeptieren besteht. Wir kommen zwar aus dem Einssein – und es ist dieser Zustand, der uns darauf aufmerksam macht, dass etwas in der Wirklichkeit leidet. Aber wir treten heraus aus der innigen Akzeptanz-Verbindung, um unseren Beitrag einzubringen, der die Wirklichkeit verändern will.

Das Kritisieren ist eine Handlung (meist eine Sprachhandlung), und Handlungen sind immer Interaktionen zwischen dem Ich und der Welt. Das Ich setzt sich ab von der Welt und nimmt ihr gegenüber einen Standpunkt ein. Nur so sind wir handlungsfähig, nur so können wir Einfluss nehmen und Veränderungen herbeiführen.

Wie schon erwähnt, liegt in jedem Ablehnen der Wirklichkeit ein Stück Wut. Auch Kritik ist von Zorn geprägt, von heiligem Zorn, wenn es um ein Anliegen des Ganzen geht: Um himmelschreiende Ungerechtigkeiten, Unterdrückung und Ausbeutung, um die Zerstörung von Lebensgrundlagen und Überlebensbedingungen der Menschheit, also um massiv gemeinwohlstörenden Aktionen. Ohne den artikulierten Zorn gegen solche Handlungen wirken diese weiter und bringen neue hervor. Diese heile Wut darf allerdings nicht übers Ziel schießen und selber zu Gewalttätigkeit neigen, sondern muss sich mit Besonnenheit paaren, um erfolgreich sein zu können.

Zustand und Handlung

Ist das Akzeptieren ein Zustand oder eine Handlung?

Die Akzeptanz besteht darin, dass Ich und Welt in einem bestimmten Moment der Erfahrung eins sind. Sie ist also eigentlich ein Zustand und kein bewusst vollzogener Akt, indem z.B. jemand sagt: Statt mich aufzuregen und zu beklagen, akzeptiere ich jetzt, dass das, was ist, ist. Zwar kommen solche innere Handlungen vor und helfen uns dabei, von der Trennung zum Einssein zu kommen. Diesen Akt brauchen wir, wenn wir uns von der Wirklichkeit abgetrennt haben. Es ist die Erinnerung, das Wachrufen, der Zen-Stock, der aus der Trennung zurückruft. Wir können daraufhin den Fokus unserer Aufmerksamkeit verschieben, von dem Teil der Wirklichkeit, der uns gerade gefesselt hat, zum Ganzen, das alles, auch uns selber umfasst.

Die Akzeptanz ist einfach da, solange sich unsere Gefühle und unser Verstand nicht einmischen. Es ist eine Art Normalzustand, in dem wir mit der Wirklichkeit mitschwingen. Das Tun kommt aus der Erfahrung und verändert sie, während sie wiederum ein neues Tun hervorbringt, ein Pulsieren zwischen Passivität und Aktivität, Sein und Handeln. Sobald Schutzgefühle und Schutzgedanken das Kommando übernehmen, geht diese ausgeglichene Pulsation verloren und es braucht einen Akt der Bewusstmachung und einen der Herstellung der Wieder-Übereinstimmung.

Die Notwendigkeit der Kritik

Aber wie kann man akzeptieren, was ist, und zugleich Kritik daran üben?

Der Zustand der Akzeptanz ist bewertungsfrei, weil der Verstand keine Rolle spielt. Er ist wichtig für die Gesamtaufnahme, also für ein vorurteilsloses Wahrnehmen möglichst vieler Aspekte der Wirklichkeit oder eines bestimmten Wirklichkeitsbereiches. Wenn wir an einem dieser Bereiche Kritik üben, ohne das ganze Bild erkannt zu haben, kommt die Kritik aus Projektionen, hinter denen wiederum Ängste des Egos stecken. Das kritische Denken will also Umstände schaffen, die für das eigene Überleben günstiger sind, und strebt danach, die Wirklichkeit in diese Richtung zu verändern.

Eine Kritik, die das Ganze im Blick hat, ist notwendig, wenn die Wirklichkeit in eine Richtung verändert werden soll, die allen oder möglichst vielen mehr Gerechtigkeit und Lebens- und Glückschancen bietet. Es gilt also, das Ganze im Blick zu halten, wobei niemand alle Details oder Aspekte erkennen kann. Die Intention macht den Unterschied: Will die Person, die Kritik übt, die eigene Haut retten oder die Umstände für das globale Überleben verbessern und sichern?

Das Beispiel Greta Thunberg

An bestimmten Debatten um Greta Thunberg, der schwedischen Klimaaktivistin, wird diese Trennlinie sichtbar: Sobald sie übernational bekannt wurde und zu einer Ikone der Klimaschutzbewegung aufgestiegen ist, meldeten sich Stimmen, die behaupteten, dass es sich um ein abgekartetes Spiel handle, mit der Absicht, bei irgendwelchen Menschen im Hintergrund die Kassen hurtiger klingeln zu lassen. Es steckten also gewinnsüchtige, Ego-gesteuerte Menschen hinter der Kampagne und es ginge nicht um das Überleben der Menschenfamilie auf diesem Planeten. Die kritische Frage ist berechtigt, weil wir immer prüfen müssen – bei uns selbst und bei anderen –, welche Intentionen hinter den Handlungen stecken, die aus der Kritik an herrschenden Zuständen motiviert sind.

Im Fall von Thunberg, die inzwischen eine Reihe von engagierten Mitstreitern und Mitstreiterinnen aus ihrer Generation in vielen Ländern gewonnen hat, dürfte die Sachlage mittlerweile klar sein. Sie schreibt ihre Texte und Reden selber und erscheint als eine Person, die kaum manipulierbar ist und einen hohen Grad an Selbstsicherheit und Unbeirrtheit in Hinblick auf ihr Engagement aufweist. Sie ist außerdem sehr darauf bedacht, sich ein Gesamtbild zu machen, indem sie eine große Zahl von wissenschaftlichen Studien für die Begründung ihrer Standpunkte verwendet. Zumindest medial sind inzwischen die Stimmen der Kritiker, die ihr unlautere Motive unterstellen, weitgehend verstummt.

Manche Menschen brauchen drastische Erfahrungen, die ihr eigenes Leben verändern, um ihre Weltsicht zu korrigieren. Die im Hochwasser schwimmenden Autos mit den Aufklebern „Fuck Greta“ geben ein beredtes Zeichen dieser Einstellung, ebenso wie der Cartoon, wo zwei Leute auf ihren Lehnsesseln bis zum Bauch im Hochwasser sitzen und einer sagt: „Das Schlimmste daran ist, dass diese Öko-Gammler recht hatten.“

Mitfühlendes Akzeptieren

Vielleicht wiederhole ich mich – aber eine Wirklichkeit, die voll von Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten ist, kann doch keinen Seelenfrieden auslösen? Das wäre doch eine Form des Selbstbelügens und der Wirklichkeitsverleugnung!

Die Erfahrung des Ganzen umfasst auch alle Schmerzen und alle Leidensformen, die in ihr enthalten sind. Sie werden nur beurteilungsfrei wahrgenommen, ohne Erklärungen und Theorien. Sie wirken wie ein Stachel, der die Kritik und das aus ihr entwachsende Handeln aktiviert.                

Wir sind Teil des Ganzen, und andere Teile des Ganzen, die leiden, betreffen uns mit. Dessen werden wir uns bewusst, wenn wir uns im Akzeptieren des So-Seins befinden. Dennoch gibt es einen Frieden mit allen Schmerzen und Leiden, denn der Friede umschließt alles, was ist, auch den Unfrieden.

Die Wirklichkeit, die wir so lassen, wie sie ist, und die wir so nehmen, wie sie ist, lässt uns sein, wie wir sind und nimmt uns so, wie wir sind. Die Spannungen, Polaritäten, Konflikte, Ungleichheiten und Machtstrukturen gehören zu dieser Wirklichkeit lassen wir auf uns wirken, indem wir sie ohne Beurteilung und anderes Zutun wahrnehmen. Wir nehmen sie also in uns auf, ohne sie in Denkstrukturen einzuordnen. Damit sind alle ihre Probleme in uns und beeinflussen unsere Aktivitäten.

Wir haben also die Haltung eines mitfühlenden und präsenten Zuhörers, wenn wir uns im Zustand der Akzeptanz befinden. Jemand schildert sein Leid und seine Schmerzen, und wir sind mit ihm, ohne Absicht, Bewertung, Erklärung oder Ratschlag. Wir fühlen mit und lassen sein, was ist. Irgendwann verändert sich etwas, irgendwann werden vielleicht die Schmerzen leichter, vielleicht auch nicht. Es ist, wie es ist, und es darf sein, wie es ist. Wir nehmen am Leid teil im Sinn einer Anteilnahme. Wir lassen das Leid dort, wo es ist, und lassen uns zugleich von ihm berühren. Wir leiden nicht jdas Leid anderer Menschen, sondern werden mit dem eigenen Leid in Kontakt gebracht.

Ähnlich verhalten wir uns zum Ganzen im Zustand der Akzeptanz: Kein Zutun, kein Einmischen, aber das Geltenlassen von allem, was ist, gleich ob es angenehm oder unangenehm, erwartet oder unerwartet, gewollt oder ungewollt, gut oder böse ist. Wir vertrauen darauf, dass aus dieser Haltung des Gelten- und Seinlassens die Orientierung für unser Handeln, also auch für unsere Kritik entspringt, die uns zeigt, wie wir dem Ganzen am besten dienlich sein können.

Wir pendeln also von der Haltung der einfühlenden Präsenz zum dienenden Handeln, wie ein Tanz zwischen dem Sein und dem Tun, umfasst vom Ganzen, in dem sich alles abspielt.

Zum Weiterlesen:

Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)
Akzeptieren, was ist (Teil 6)
Akzeptieren, was ist (Teil 7)
Akzeptieren, was ist (Teil 8)

Freitag, 16. Juli 2021

Akzeptieren, was ist: Teil 4: Die Liebesbeziehung

Es ist, was es ist, sagt die Liebe. (Erich Fried)

Liebe und Akzeptanz

In der Liebe geht es uns nicht ums Akzeptieren – das wäre ein viel zu schwaches Wort für das, was wir empfinden und wollen. Die Liebe nimmt den anderen nicht nur, wie er oder sie ist, sondern sie will auch das Beste für diese Person: Glück, Erfüllung, Wachstum, Reichtum usw. Die Liebe will mehren, was schon ist.

Doch sind es gerade die Liebesbeziehungen, die vor besondere Herausforderungen stellen, was die Akzeptanz anbetrifft. Denn nach den ersten Überschwängen des Verliebtseins stellen sich oft Zweifel und Unzufriedenheiten ein. Unmerklich verschiebt sich der Pol der Liebe von der anderen Person auf das eigene Selbst und dessen Bedürfnisse: Werden sie genügend gestillt, kriegen wir ausreichend von dem, was wir meinen, unbedingt zu brauchen? Unmerklich melden sich die inneren Mängel und die unbewusst gesteuerten Erwartungen und Forderungen, der Partner müsse sie erfüllen. Unmerklich mischt sich die eigene Kindheit mit ihren Mangelerfahrungen in die Erwachsenenbeziehung ein.

Langsam schleichen sich auf diese Weise Stränge des Nicht-Akzeptierens in die Liebe ein und führen zu Streitereien und Konflikten. Bei ihnen geht es hintergründig darum, die Partnerin dafür in Dienst zu nehmen, um für die Kompensationen der eigenen Kindheitsschäden zu sorgen und die Erfüllung der damals entstandenen Mangelhaftigkeit einzumahnen. Mit jedem Stück der Selbstbezogenheit verringert sich die Liebeskraft und die Verbundenheit. Mit jeder Ablehnung, die dem Verhalten des Partners entgegengebracht wird, wird das verbindende Band geschwächt.

Anklagen, Vorwürfe und Bewertungen fließen ein, und das Akzeptieren der anderen Person in ihrem So-Sein wird schwieriger. Sie sollte doch anders sein als sie ist, damit wir kriegen, was uns nach unserer eigenen, ins Unbewusste eingeschriebenen Agenda zusteht. Es entstehen Macht- und Manipulationsbestrebungen, die den Partner nach den eigenen Wunschfantasien zurechtbiegen wollen. Hinter diesen Fantasien rumort das verzweifelte innere Kind, das sich nach bedingungsloser Liebe sehnt und den erwachsenen Persönlichkeitsanteil drängt, endlich bereitzustellen, was den Mangel nachträglich auffüllt.

Illusionäre Wünsche und Erwartungen

Doch ist es eine Illusion, von einem Liebespartner die Nachnahrung für den kindlichen Gefühlshunger zu erwarten. Der Beziehungspartner ist weder Vater noch Mutter, und die Zeit der Kindheit ist lange vorbei. Erwachsensein besteht darin, die Verantwortung für die Stillung der eigenen Bedürfnisse selbst zu tragen und nicht an andere Personen auszulagern, schon gar nicht an den Beziehungspartner, obwohl dieses Muster in den intimen Beziehungen besonders häufig vorkommt.

Die zweite Illusion, die sich dazu gesellt, ist der Glaube an die vollkommene, die wahre Liebe, eine Beziehung, in der alle Bedürfnisse abgedeckt sind und alle Wünsche ihre Erfüllung finden. Wohl gibt es Momente und Zeiten der innigen Verbindung bis hin zu Erfahrungen des Einsseins unter den Fittichen der Liebe, aber diese Erfahrungen sind genau so flüchtig wie alles andere im Leben. Gerade der Verlust der Innigkeit wird häufig zur Quelle von Zerwürfnissen, weil auf  beiden Seiten der Beziehung Trennungstraumen aktiviert werden und der andere als Täter identifiziert wird. Jedenfalls bewirkt jedes Auseinanderdriften nach dem Verlust des Verbundenseins Gefühle der Unzufriedenheit.

Wenn solche Gefühle auftauchen, geht es üblicherweise nicht um den Ursprung des Gefühls in einem selbst, sondern um den Mangel in der Beziehung. Solange die Beziehung nicht vollkommen ist, muss die Partnerin zum Besserwerden gebracht werden. Denn wie soll die Beziehung vollkommen werden, wenn die Partnerin solche Schwachstellen hat? Allerdings: Der Glaube scheint vermessen, weil es nur unvollkommene Menschen gibt und weil deshalb in jeder Beziehung unvollkommene Personen aufeinander treffen. Wie sollten unvollkommene Menschen vollkommene Beziehungen erschaffen und die wahre Liebe leben?

Der Weg aus dem Land der Projektionen zurück in die Liebe erfordert das Durchschauen dieser Illusion. Ist sie einmal erkannt, so entsteht auch der Wunsch, sie zu verabschieden. Wir alle wollen im vollen Sinn erwachsen werden. Abschied geht allerdings nicht ohne Schmerz, und dieser Schmerz muss durchgespürt und durcherlebt werden. Es werden sich auch Schamgefühle melden wegen all den Irrwegen, die durch die illusionären Erwartungen an Partnerschaften viel Energie verschlungen und Leid erzeugt haben.

Das ist der Königsweg, der zurück zur eigenen Verantwortung für die unerfüllten Bereiche der Seelenlandschaft führt. Er führt wieder über das Akzeptieren: Es geht darum, das eigene Lebensschicksal und die eigene Lebensgeschichte anzunehmen, alles so, wie es war, mit dem Guten und dem Schlechten, mit dem Schönen und dem Schrecklichen. Alle Gefühle, die damit zusammenhängen und aus der Vergangenheit hängen geblieben sind, wollen ihren Platz bekommen und angenommen werden.

Mit jedem Stück Selbstannahme und Selbstakzeptanz wächst auch die Außenakzeptanz und die Toleranz für die Mängel anderer Menschen, vor allem der Beziehungspartner. Im Verständnis, aufgrund der eigenen Lebenserfahrungen und Traumatisierung selber kein vollkommener Mensch zu sein und Dellen und Löcher in der eigenen Liebesfähigkeit aufzuweisen, entsteht mehr Bereitschaft und Offenheit, mit unvollkommenen Mitmenschen zusammen zu sein und sich auszutauschen. Die eigene Leidensgeschichte kann draußen bleiben, und die Leidensgeschichte der Partnerin bekommt Mitgefühl und Verständnis, aber nicht die Projektionen und illusionären Erwartungen, die daraus abgeleitet sind und aus der Liebe aufs Glatteis sich verhakender Muster abgleiten.

Beziehungen als Lernfelder

Der Austausch und das Zusammensein mit anderen Menschen beinhalten immer das Lernen der Akzeptanz für die eigenen Unvollkommenheiten und jene der Partner. In Zweierbeziehungen ist diese Lernchance besonders hoch, weil die Kommunikation sehr dicht ist und viele Bereiche und Details des Lebens umfasst. Also werden gerade dort besonders viele Unvollkommenheiten sichtbar und wollen mit liebevollen Augen wahrgenommen werden und nicht mit abwertenden und kritischen.

Lernen in Beziehungen beinhaltet aber nicht nur die Bewusstheit über das Akzeptieren, sondern auch das gegenseitige Herausfordern zu noch mehr Bewusstheit. Diese Form des Lernens, die auch kritische Rückmeldungen, Änderungserwartungen und Veränderungswünsche enthält, trägt dann zum aneinander und miteinander Wachsen bei, wenn sie in einer akzeptierenden und Freiheit gewährenden Weise angewendet wird. Alle Machtthemen müssen mit der Illusion verabschiedet werden und der Akzeptanz Platz machen, mit der die Liebe wieder ins Blickfeld gerät.

Denn die Selbstmitteilungen, mit denen dem Beziehungspartner die eigenen Bedürfnisse und Verletzungen verständlich gemacht werden, fallen nur dann auf fruchtbaren Boden, wenn sie von Akzeptanz begleitet sind. Wo sich Machtaspekte und Elemente der Gewaltsprache in die Mitteilungen einmischen, gerät der Partner unter Druck und wird mit passivem Widerstand oder Gegendruck reagieren.

Es ist also für die gelingende Kommunikation in der Zweierbeziehung erforderlich, dass beide Partner einen verlässlichen Zugang zur Akzeptanz des So-Seins des anderen haben. Auf diese Weise kann der Weg zu diesem Tor leicht gefunden werden, wenn er einmal in der Hitze eines Gefechts verloren gegangen ist. Die Akzeptanz wiederum bildet die Brücke zur Liebe und Verbundenheit. Wie schon erwähnt, kommt es mit jeder Nichtakzeptanz zu einer Trennung von der Wirklichkeit, in dem Fall von der Beziehungsperson. Das Bewusstsein kreist im eigenen Bereich der unerfüllten Bedürfnisse und gräbt sich dort ein. Es sieht die andere Person als Belastung, Störung oder Bedrohung.

Mit der Erkenntnis, dass solche Sichtweisen aus sehr frühen Erfahrungen gespeist sind und dass es nichts bringt, den Partner nach den eigenen Vorstellungen zu ändern, also dem eigenen Modell anzugleichen, erwacht die Bereitschaft, besser zu erkennen und wahr-zunehmen, wer die andere Person ist. Wo es gelingt, die eigenen Bewertungen und Erwartungen wegzulassen, wird es möglich, einen realen Kontakt mit der Beziehungsperson herzustellen, frei von den eigenen Angst- und Wunschprojektionen. In diesem Kontakt wächst und entfaltet sich die Liebe aufs Neue.

Liebe jenseits von Narzissmus

Die reife Liebe (die den Narzissmus überwunden hat) unterscheidet sich von einem einfacheren Mögen dadurch, dass sie gerade das schätzt, was anders ist als das Eigene. Sie erkennt das Unterschiedene und Gegensätzliche als das eigentlich Bewunderswerte und Schätzenswerte, und nicht das Wiedererkennen des Eigenen im Anderen. Die Welt der Wunder, zu der die Liebe den Zugang eröffnet, enthält das Überraschende, das immer wieder aus der Andersheit des Liebespartners entspringt. Beziehungen bleiben nicht durch Angleichung und Anpassung an die jeweiligen Erwartungen lebendig, sondern durch die kreative Spannung, die sich aus der Verschiedenheit immer wieder auflädt.

Die Herzbeziehung

Das Geheimnis der Liebe liegt in der Beziehung zweier Herzen. Damit ist einerseits eine Metapher angesprochen, die darauf hinweist, dass die Liebe kein Verstandes- oder Denkphänomen ist, sondern auf einer anderen Ebene lokalisiert ist. Sie entzieht sich also der Kontrolle und dem Verständnisrahmen des Mentalen. Andererseits wissen wir, dass das Herz über eigene Nervenzellen und damit über eine eigene Intelligenzform verfügt. Drittens gibt es noch die Lehre von den Chakren, bei der das vierte Chakra (Anahata) dem Herzen zugeordnet ist und mit Liebe und Mitgefühl assoziiert wird. Und schließlich ist das Herz das „Zentralorgan“ der romantischen Liebe und als solches eine prominente Metapher für die verschiedenen künstlerischen Auseinandersetzungen mit dieser Spielart der Liebe.

Für unseren Zusammenhang bedeutet der Zugang zur Liebe über das Herz, dass sie das Akzeptieren voraussetzt, also das Anerkennen und neutrale Wahrnehmen der Andersheit des Beziehungspartners. Sie geht einen wichtigen Schritt weiter, indem sie gerade diese Andersheit wertschätzt, sich an ihr erfreut und sie genießt. Ohne die Lust auf die Andersheit gibt es keinen sexuellen Austausch.

Die Weisheit und die Liebeskraft des Herzens sind die Qualitäten, die eine Liebesbeziehung tragen, fördern und lebendig erhalten. Dort, wo diese Qualitäten verloren gehen, weil sich die Ängste der Egos in den Vordergrund drängen, führt der Weg über das Akzeptieren, das oft über das Gespräch, also über das Abgleichen der Unterschiedlichkeiten gefunden werden kann, zurück zur Herzebene.

Zum Weiterlesen:

Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 5)
Akzeptieren, was ist (Teil 6)
Akzeptieren, was ist (Teil 7)
Akzeptieren, was ist (Teil 8)

Mittwoch, 14. Juli 2021

Akzeptieren, was ist: Teil 3: Mitmenschlichkeit

Der zwischenmenschliche Bereich bietet ein breites Übungsfeld für das Akzeptieren. Wir brauchen nur unseren Weg durch eine Stadt nehmen und unsere Reaktionen auf die verschiedenen Menschen beobachten. Da gibt es welche, die uns gefallen, andere, die uns nicht gefallen, andere, die uns auf die Nerven gehen, andere, die etwas machen, was wir nicht gut finden, und wieder andere, die wir beneiden usw. Vieles gibt es, was uns an anderen Menschen aufregt und stört und was wir glauben, nicht akzeptieren zu können.

Der soziale Bereich, der zur äußeren Wirklichkeit gehört, stellt eine besondere Herausforderung für unser Streben nach Glück dar. Denn er ist ganz eng mit vielen Quellen für unser Unglück verantwortlich. Viel Unbill haben wir im Lauf unseres Lebens von unseren Mitmenschen erlitten, und unsere Psyche neigt stark dazu, diese Erfahrungen auch auf andere Menschen zu übertragen, die mit unserer Leidensgeschichte gar nichts zu tun haben. Es ist die Neigung zur Projektion, die so schnell in uns abläuft, dass wir meistens nicht mitkriegen, wenn wir ihr unterliegen. Schon kriegt jemand ein Etikett umgehängt, ein Bewertungsmaßstab wird ihm aufgenötigt, und ein Abgrund klafft zwischen uns und dieser Person. Gefühle der Abneigung sind immer mit Ängsten verbunden, die uns meist nicht bewusst sein. Unsere Abwertung will uns schützen vor möglichen Gefahren, die von der Person ausgehen könnten. Ängste verursachen innere Spannungen, und wir befinden uns in einem Alarmzustand, der vielleicht gar nicht notwendig ist.

Projektionen und Fantasien

Solche Prozesse laufen ständig in uns ab, und wir können sie nur mit Bewusstheit beenden: Stimmt es überhaupt, dass von dieser Person eine Gefahr ausgeht, ist es berechtigt und notwendig, dass wir uns bedroht fühlen? Sind die Urteile, die wir über eine Person fällen, berechtigt? Befinden wir uns auf dem Boden der Wirklichkeit oder sind wir in Fantasien, Projektionen oder Illusionen gefangen? Indem wir die Realität prüfen,  gewinnen wir die Kontrolle über jene Gefühle zurück, die hinter unserer Abneigung stecken. Wir gewinnen die Chance, die Anfangs- und Hintergründe dieser Gefühle zu erforschen, also zu erkennen, welche unerledigten und ungeheilten Wunden aus unserer Kindheit Regie bei unseren Vorlieben oder Abneigungen gegenüber unseren Mitmenschen führen.

Es handelt sich um ein Stück Reflexionsarbeit, wenn wir aus dem Dickicht unserer Projektionen herausfinden wollen. Der Lohn dafür liegt im Glück, das uns zuteil wird, sobald wir erkennen, dass unsere Mitmenschen nicht so gefährlich oder böse sind, wie wir vermeinten. Wir können uns entspannen und uns in der Gegenwart anderer sicherer fühlen. Unser Vertrauen in die Menschen wächst, und damit auch das Vertrauen in uns selbst.

Die Einsicht, dass jeder Mensch in jeder Situation das ihm in dieser Situation zur Verfügung stehende Beste macht und einbringt, versöhnt uns mit der Wirklichkeit und hilft uns, überhebliche Wertungen und überzogene Erwartungen zurückzunehmen. Die Mitmenschen als Menschen wie wir selber anzunehmen oder, wie es manchmal ausgedrückt wird, als Kinder Gottes, d.h. als gleichwertige Geschwister in der Menschheitsfamilie wahrzunehmen, verhilft uns zu innerem Frieden.

Mitfühlende Akzeptanz

Das Akzeptieren der Unterschiedlichkeit der Menschen einschließlich ihrer Motive und Unachtsamkeiten öffnet uns die Türen zum Mitgefühl. Die Übung besteht darin, alles, was uns an unseren Mitmenschen nicht gefällt und was wir deshalb ablehnen, als Quelle für Mitgefühl zu nutzen. Damit ist gemeint, dass Menschen unachtsam oder gemein sind, weil sie ein inneres Leiden in sich tragen, ein unaufgearbeitetes Thema oder Trauma, eine Krankheit im Körper, einen Schatten in der Seele. Statt zu urteilen, um sich selber überlegen zu fühlen, haben wir die Wahl, die Brille des Mitgefühls aufzusetzen, die uns die menschlichen Schwächen weichzeichnet. Sie bettet sie ein in den Kontext der Leidensgeschichte, die jedes Menschenleben enthält. Weichzeichnen bedeutet nicht verharmlosen oder bagatellisieren. Vielmehr geht es darum, die Härte des Abwertens und Verachtens abzulegen und statt dessen unsere eigene Begrenztheit in den Unvollkommenheiten der Mitmenschen zu erkennen.

Mit dem Mitgefühl stellen wir uns auf eine Stufe mit denen um uns herum, denen wir begegnen. Wir sind nichts Besseres und nichts Schlechteres. Wir sind alle Menschen, die versuchen, bestmöglich ein menschliches Leben zu führen, mit den unterschiedlichsten Mitteln. Manche davon finden wir toll, andere stoßen uns ab. Die Menschen sind nicht das, was sie tun oder nicht tun, sondern verletzte und fähige Seelen, die nach dem Glück streben. Dort, wo sie unzulänglich sind oder scheitern, stellen wir unser Mitgefühl zur Verfügung, ohne Bedingungen oder Erwartungen von Gegenleistungen.

Das Mitgefühl ist also keine überhebliche Geste, die von einer Position der Besserstellung oder des Besserwissens kommt. Es geht auf das Leiden und die Schwächen der Menschen ein, im Bewusstsein, selber zu leiden und Schwächen zu haben. Es kippt nicht ins Mitleid, das beide, den Adressaten und den Sender, schwächt. Es hat nicht vergessen, dass jedes Menschenleben reich an Möglichkeiten und Kräften zur Überwindung des Leidens ist. Es kann gut abschätzen, wann es hilfreich und stärkend ist, unterstützend einzugreifen, und wann es angebracht und ausreichend ist, mit bewertungsfreier, präsenter und liebevoller Zuwendung Mut und Selbstvertrauen zu vermitteln.

Das Staunen über die Verschiedenartigkeit

Erst die Akzeptanz unserer Mitmenschen in ihrem So-Sein führt uns zur Wahrnehmung und Wertschätzung der Vielfalt menschlicher Erscheinungsweisen. Obwohl wir mit manchen Exemplaren der Menschheit besser können als mit anderen, weil sie uns ähnlich sind oder weil wir leicht eine „gemeinsame Wellenlänge“ finden, hilft es uns für unsere innere Weitung, das Besondere in jedem Menschen zu erkennen und zu bewundern.

Ja, wir bewundern in unseren Mitmenschen die Vielfalt dessen, was das Leben hervorbringt, wir stehen da staunend vor einem Wunder, das jeder Mensch repräsentiert. Es gibt natürlich viele Eigenschaften, Verhaltensweisen und Ausdrucksformen, die uns wider den Strich gehen oder irritieren und die wir deshalb überhaupt nicht bewundern. Da sind wir in der Welt unserer ästhetischen und ethischen Maßstäbe, die ihre Wichtigkeit und Bedeutung haben. Wir müssen keine Menschen dafür bewundern, böse Taten zu begehen oder in ihrem Leben nichts weiterzubringen. Aber jenseits von diesen in sich auch wichtigen Bewertungsbereichen gibt es in jedem Menschen das Menschliche, das ihn zu einem Unikat macht, zur unvergleichlichen Individualität. Der Weg der Akzeptanz führt uns genau dorthin und zeigt uns, dass es jenseits der Deformationen und Verbiegungen, die wir alle erlitten haben, einen unversehrten und unschätzbar wertvollen Kern in jedem Menschen gibt, dem weisesten und dem dümmsten, dem integersten und dem korruptesten, dem schönsten und dem hässlichsten.

Es ist ein Reichtum, in dem wir unseren Geist baden, wenn sich diese Welt über das Akzeptieren des So-Seins unserer Mitmenschen öffnet. Wir lassen unseren Blick unbelastet von Wertungen und Projektionen über die vielen Gesichter und Gestalten der Mitmenschen schweifen wie über einen Haufen funkelnder und glitzernder Edelsteine.

Mit dieser Einstellung bewegen wir uns elegant und geschmeidig durch die Menschenwelt, uns des Reichtums bewusst, den wir einander genau dadurch schenken, dass wir so sind, wie wir sind. Unser Herz öffnet sich und unsere Sinne weiten sich im Licht eines liebevoll annehmenden Geistes.

Zum Weiterlesen:
Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)
Akzeptieren, was ist (Teil 5)
Akzeptieren, was ist (Teil 6)
Akzeptieren, was ist (Teil 7)


Akzeptieren, was ist (Teil 8)

Dienstag, 13. Juli 2021

Akzeptieren, was ist: Teil 2

Akzeptieren und Aktivität

Wir sollen um des lieben inneren Friedens willen den Moment so akzeptieren, wie er ist. Aber heißt das jetzt, dass ich alles so lassen muss, wie es ist, und nichts gegen das machen soll, was mir nicht passt? Bin ich also durch das bedingungslose Akzeptieren zur Passivität verurteilt? Muss ich mir z.B. alles gefallen lassen, wenn andere gemein sind zu mir?

Die Bewusstheit ist die Brücke zur Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Sie macht uns darauf aufmerksam, wenn eine Trennung geschehen ist, und mit dieser Einsicht können wir die Verbindung wieder herstellen. Im nächsten Schritt können wir dann überlegen und entscheiden, was zu tun ist. Unser Tun wird umso sinnvoller und situationsadäquater sein, je mehr wir die Wirklichkeit in ihrem Sosein bestätigt haben.

Wir können also nach dieser Reflexion bewusst entscheiden, ob wir Handlungen setzen, um unguten Entwicklungen vorzubeugen, oder ob wir die Dinge sich weiter entwickeln lassen, im Vertrauen, dass es sich selber einregulieren wird.

Die Wirklichkeit ist in dauernder Veränderung, und wir sind Teil von ihr und von dem Veränderungsprozess. Wir wirken permanent dabei mit. Wenn wir etwas ändern können oder wollen, steht es uns frei, das zu tun. Doch können wir jeweils nur von der aktuellen Wirklichkeit ausgehen, vom Annehmen dessen, was ist, sonst tappen wir mit unseren Änderungsversuchen unweigerlich daneben und fallen schnell auf die Schnauze. Deshalb ist es unsere Aufgabe, immer wieder Bewusstheit in das zu bringen, was wir in die Wirklichkeit einbringen und an ihr verändern. Mit Bewusstheit tragen wir dazu bei, dass sich die Welt in eine Richtung verändert, die uns stimmig erscheint, manchmal mit unserem Zutun, manchmal von selbst.

Dazu gehört auch, dass wir aufzeigen, was schief läuft und was uns gegen den Strich geht. Auch wenn wir akzeptiert haben, dass uns jemand missverstanden oder abgewertet hat, hindert uns das nicht daran, anzusprechen, was uns gestört oder verletzt hat. Es geht auch darum, uns selbst in unserer Verletztheit zu akzeptieren, und aus dieser Erfahrung folgen Handlungen, die wir wieder akzeptieren können – auch hier wieder: unbeschadet, ob sie uns gefallen oder nicht.

Es geht beim Akzeptieren nicht darum, einen Leidensmasochismus zu pflegen oder sich als Weichei zu outen. Es hat nichts mit Feigheit oder Unterwürfigkeit zu tun. Es ist keine psychologische Schwäche oder charakterliche Untugend involviert, sondern es handelt sich um eine spirituelle Übung. Das Akzeptieren enthält keine Handlungsanweisungen. Ob wir den Gleichmut und die menschliche Größe aufbringen wie Jesus von Nazareth, der die andere Backe hinhält, wenn ihm auf eine geschlagen wird, oder nicht, ist für die Übung  des Akzeptierens egal. Es gehört auch akzeptiert, dass wir so auf Grenzüberschreitungen reagieren, wie wir reagieren.

Das Äußere und das Innere akzeptieren

Geht es beim Akzeptieren also nicht nur um die Wirklichkeit um uns herum, sondern auch um uns selbst?

Die Wirklichkeit umfasst alles, wir haben nur zwei prinzipiell unterschiedliche Zugänge zu ihr: Die äußere Wirklichkeit nehmen wir über unsere Außensinne wahr, während uns die inneren Sinne mit der inneren Wirklichkeit verbinden. Das Akzeptieren der Innenwelt, also die Selbstakzeptanz ist für unseren inneren Frieden genauso wichtig wie das Akzeptieren der Außenwelt. Wann immer wir uns durch das Nichtakzeptieren von der Außenwelt trennen, trennen wir uns genauso von uns selbst, als wenn wir uns selbst ablehnen. Das Äußere ist immer in unserem Inneren vertreten, und dadurch enthält das Äußere in unserer Erfahrung immer Anteile von uns selbst. Auch in dieser Weise besteht eine intensive und dichte Beziehung zwischen innen und außen, aus der die Erfahrung des Einsseins, wie wir sie in besonderen spirituellen Momenten erleben, herauswächst.

Diese enge Verflochtenheit ist aber auch der Grund, warum es zu Verwechslungen des Inneren mit dem Äußeren und des Äußeren mit dem Inneren kommen kann und warum Unklarheiten entstehen, was wohin gehört. In der Psychose versagt die Unterscheidungskraft zwischen den Zugängen zur Realität, und die interne Koordination bricht zusammen, weil nicht mehr eingeordnet werden kann, was zum Innen und was zum Außen gehört. Demgegenüber steht die Erfahrung der Erleuchtung, in der es diesen Unterschied nicht mehr braucht und dennoch die innere Stabilität erhalten bleibt. Im Alltagsbewusstsein sind es die angstgeleiteten Projektionen, die häufig dafür sorgen, beide Zugänge zur Erfahrungswelt miteinander zu verwechseln, was uns in Verwirrung bringt und Missverständnisse erzeugt.  Wir tendieren immer wieder dazu, Inneres für Äußeres und Äußeres für Inneres zu halten und uns damit in die Irre zu führen.

Projektionen zurücknehmen

Was können wir tun, um solche Verwechslungen zu vermeiden?

Zunächst ist es wichtig zu wissen, dass es solche Vertauschungen gibt, die unser Unterbewusstsein vornimmt. Wir sind fehleranfällig, vor allem dort, wo es alte Wunden und Verstörungen in unserer Seelenlandschaft gibt. Dazu kommt, dass unsere Wahrnehmung immer zugleich eine interpretierte Wahrnehmung ist, dass wir also an jedes Erleben eine Theorie anhängen und dass wir dazu neigen, die Theorie für wichtiger zu nehmen als das, was wir erleben.

Dann geht es, wie gesagt, darum, die Bewusstheit dafür zu schärfen, wenn wir solche Projektionen produzieren. Wir fragen nach: Was nehme ich wahr, was also kann ich über die Sinne bestätigen, und was geben wir dazu durch unser Interpretieren? Ein Mensch begegnet mir auf der Straße, ich sehe seine schmutzigen Schuhe. Möglicherweise ordnet mein Bewerten diese Person sofort in eine Kategorie ein und denkt, dass der Mensch arm oder unordentlich oder zerstreut ist. Jede dieser Annahmen könnte zutreffen oder auch falsch sein. Das Einzige, was wir wahrgenommen haben, war der Schmutz auf den Schuhen.

Mit der Bewusstheit lenken wir also unsere Aufmerksamkeit von den Gedanken und Fantasien wieder zurück zur Wahrnehmungsrealität. Was ist, ist; was wir interpretieren, sind unsere Eigenproduktionen. Unsere Produkte dienen unserer Sicherheit und Orientierung in der Welt, also unserer inneren Homöostase, während die Wahrnehmung dazu da ist, uns mit der Wirklichkeit zu verbinden, so, wie sie ist.

Wir können zum Identifizieren von Projektionen auch die Frage nutzen: Wie erkenne ich, was in mir und was außer mir ist? Was macht für mich den Unterschied? Mit solchen Übungen schärfen wir unsere Unterscheidungskraft, durchschauen unsere Projektionstendenzen und finden leichter wieder zurück zum Akzeptieren des aktuellen Erlebens.

Das Schicksal und das Akzeptieren

Es gibt Schicksalsschläge, die kann man einfach nicht akzeptieren.

Wenn uns ein Ereignis massiv betrifft wie z.B. der Tod eines nahen Angehörigen, sind wir mit unterschiedlichen Gefühlen konfrontiert: Schmerz, Angst, Wut, manchmal auch Schuld und Scham. Diese Gefühle helfen uns dabei, den Verlust zu verarbeiten, und verarbeiten heißt, zur Akzeptanz zu kommen. Es ist etwas passiert, das uns an unseren Grundfesten erschüttert und aus den gewohnten Bahnen wirft. Wir hadern mit dem Schicksal und möchten es ungeschehen machen. Das sind unsere verständlichen menschlichen Reaktionen, die ihre Zeit brauchen – die Zeit der Trauerarbeit. Irgendwann kommen wir zu dem Punkt, an dem wir in den Frieden kommen mit dem, was geschehen ist. Wir akzeptieren, dass passiert ist, was passiert ist, und hören auf, uns in die Agenden des Schicksals einzumischen. Auch wenn wir nicht verstehen und gutheißen können, was geschehen ist, steht es nicht in unserer Macht, die Bahnen der Ereignisse nachträglich in eine uns genehme Richtung zu lenken.

Akzeptieren heißt auch hier, mit der Wirklichkeit in Verbindung zu sein und setzt voraus, dass der Gefühlssturm in uns zur Ruhe gefunden hat. Unser verletztes Ego, das sich groß aufgespielt hat, indem es sich mit der Wirklichkeit angelegt hat, tritt mit der Heilung seiner Wunden zurück und macht einer Bescheidenheit Platz, in der wir uns als lernende Juniorpartner in Beziehung zur majestätischen Größe und Souveränität des Lebens einreihen. Wir ordnen unsere Erwartungen, Wunschfantasien und Projektionen dem mächtigen Strom der Ereignisse unter, in denen sich das Ganze fortwährend ausdrückt.

Am Beispiel eines schweren Verlustes sehen wir, dass man nicht verlangen kann – von uns selbst oder von anderen –, etwas zu akzeptieren, was unmöglich erscheint zu akzeptieren. Wir erkennen auch, dass es das Zulassen und Durchleben von Gefühlsprozessen erfordert, um mit dem, was das Leben mit uns vorhat, auf Gleich zu kommen. Nach der Befriedung der Gefühle braucht es meistens noch länger, bis sich die Gedanken beruhigen und der inneren Stille Raum geben.

Schicksalsschläge führen uns in eine Krise, weil wir gewohnte Sicherheiten und Kontakte verlieren. Es ist, also ob die schön geordneten Teile unserer Innenwelt durcheinandergewirbelt werden und stattdessen ein Chaos entsteht, mit dem wir so schwer zurechtkommen und das uns viele Kräfte raubt.

Es liegt aber auch eine Chance in jeder Krise: Das Chaos bietet die Möglichkeit, eine neue Ordnung zu schaffen, die zugleich flexibler und stabiler ist als die vorherige. Dazu ist es notwendig, dass wir die Krise nutzen, um mit unseren Gefühlen und Gedanken ins Reine zu kommen. Das Sicherheitsgefühl verlagert sich mehr nach innen und wird weniger abhängig von äußeren Bedingungen. Sobald wir akzeptieren können, was passiert ist, ohne Wenn und Aber, sind wir ein Stück reifer geworden.

Denn menschliche Reife besteht nicht darin, im Leben Erfolg an Erfolg zu reihen, sondern darin, die Krisen des Lebens meistern zu können, indem sie als Lernchancen begriffen werden. Ein wichtiger Teil dieses Lernens besteht darin, mit dem, was geschehen ist, Frieden schließen zu können. Das Hadern, das Zerren am Schicksal und das Betteln, ob es es sich nicht doch anders überlegen könnte, damit wir uns die Krise ersparen können, nimmt ein Ende und zehrt nicht mehr an unseren Nerven. Wir versöhnen uns mit dem, was das Leben uns vorgesetzt hat, und gehen erhobenen Hauptes den Pfad unseres Lebens mit Vertrauen weiter.

Zum Weiterlesen:

Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)