Bei dem Satz: „Ich weiß besser als du, was für dich gut ist“ handelt es sich um eine subtile Variante der Formel, mit Bösem Gutes schaffen zu wollen. Das Böse ist in diesem Satz nicht aufs Erste sichtbar, scheint er doch von wohlmeinender Fürsorge auszugehen: „Da ich es gut mit dir meine, muss ich dir sagen, was für dich gut und was schlecht ist.“ Allerdings findet eine Grenzüberschreitung statt, die nicht aus der Liebe sondern aus einem Machtanspruch kommt: „Ich weiß besser über dein Innenleben Bescheid als du selbst. Deshalb kann ich bestimmen, wie du dein Leben leben sollst.“
Es handelt sich also um Bevormundungen, wenn dieser Satz fällt. Sie erscheinen in der Regel wohlgesonnen – sie meinen es gut mit der angesprochenen Person. Doch kommen sie schlecht an, weil sie verletzende Abwertungen enthalten, vor allem die Unterstellung, selbst nicht zu wissen, was hilfreich und gut für das eigene Leben ist, und keine Verantwortung übernehmen zu können. Sie stammen aus einer überheblichen Position, aus der wie bei einer Entmündigung mit dem Innenleben des Kindes umgegangen wird.
Die Unterscheidung zwischen innen und außen
Eltern wissen natürlich in vielerlei Hinsicht besser als die Kinder, was für sie gut ist. Sie haben ein weitgespanntes Wissen über die Funktionsweise in der äußeren Erwachsenenwelt, das sich die Kinder schrittweise aneignen. Es ist besser für das Kind, wenn es nicht auf die Straße läuft, obwohl es den Impuls dazu hat. Es ist gesünder, nur wenig Süßigkeiten zu essen, obwohl ihm das schmeckt.
Wichtig ist die Unterscheidung, was die Außenwelt und was die Innenwelt anbetrifft. Denn manche Eltern neigen dazu, ihr überlegenes Wissen bezüglich der äußeren Welt auf die Innenwelt des Kindes zu übertragen, also auf die Gefühle, Bedürfnisse und Interessen des Kindes. Dort kommt es zu Grenzüberschreitungen, die auf das Kind herablassend und entmündigend wirken. Sie melden Herrschaftsansprüche über das Innere des Kindes an und berauben es eines Teiles seiner Innenwelt. Selbst wenn Eltern ihre Kinder besser kennen als alle anderen Menschen, verfügen sie nie über sicheres Wissen über deren Innenleben so, wie sie ein angemessen sicheres Wissen über die Außenwelt haben können. Sie geben vor, die Experten für das Innenleben des Kindes zu sein und maßen sich die Deutungshoheit über die Seele des Kindes an. Damit nehmen sie dem Kind ein Stück seines Selbstbezuges weg, seines inneren Sinnes, der ihm sagt, was gut ist und was nicht. An die Stelle des Selbstbezuges tritt eine Beziehung zwischen einer verinnerlichten Elterninstanz und den eigenen Bedürfnissen und Strebungen.
Folge von narzisstischen Kränkungen
Solche unbewusst wirkende Tendenzen der Eltern, die Innenwelt ihres Kindes umzudeuten und in Besitz zu nehmen, stammen aus narzisstischen Prägungen. Es sind Tendenzen zur Erweiterung des eigenen Selbst in das Selbst des Kindes hinein, dem damit ein Stück seiner Innerlichkeit weggenommen wird. Statt des Eigenen wird Fremdes eingepflanzt. Solche narzisstischen Übergriffe unterlaufen Eltern, deren Selbstbezug durch Manipulationen und andere Grenzüberschreitungen in der Kindheit geschwächt wurde. Der Mangel an Selbstgefühl, der daraus folgt, führt dann dazu, sich den Mangel an Selbstgefühl von den eigenen Kindern zurückzuholen. Auf diese Weise setzen sich die narzisstischen Muster von einer Generation zur nächsten fort.
Eine Form dieser Übergriffe besteht darin, dass etwa die Eltern ihren Nachkommen eine Berufswahl aufdrängen wollen, weil sie ja besser wüssten, was für sie geeignet wäre. Der Nachkomme, der sich danach richtet, weil er gelernt hat, das eigene Für-richtig-Halten geringzuschätzen, ergreift dann den Wunschberuf der Eltern und fühlt sich unglücklich damit oder führt ihn schlecht aus. Es kann sein, dass sich irgendwann später das verdrängte Innere meldet und auf einen Berufswechsel drängt. Dann ist ein Teil der eigenen Innerlichkeit wieder zurückgewonnen.
Respekt für die Innenwelt
Eltern, die die Innenwelt ihrer Kinder ernst nehmen und respektieren, helfen ihnen, ein gutes Fundament für eigene Willensentscheidungen und Lebensorientierungen zu bilden. Das Kind braucht die Sicherheit, von den Eltern in seinen Gefühlen, Bedürfnissen und Interessen angenommen zu sein. Dann kann es auf dieser Basis seine eigenen Werte entwickeln und ihnen gemäß leben. Natürlich können die Eltern immer wieder Hinweise und Ratschläge geben, die dem Kind helfen, andere Perspektiven einnehmen und Alternativen mitbedenken zu können. Aber sie brauchen die Achtsamkeit und die Achtung, dem Kind Entscheidungsspielräume zur Verfügung zu stellen, in denen es seine Bestrebungen ausleben kann und Erfahrungen mit dem Durchführen von Willensakten sammelt. Es wird sich dann auch später im Leben leichter tun, aus der Vielzahl an Angeboten für ein gelingendes Leben das für es individuell passende herauszufinden.