Montag, 30. November 2020

"Jemanden ausrichten" - eine perfide Form des Mobbing

Im Österreichischen gibt es den interessanten Ausdruck: „Jemanden ausrichten“. Damit ist gemeint, über jemanden, der gerade nicht anwesend ist, Schlechtes und Abwertendes zu reden. In dieser Redewendung verbirgt sich der Zweck des Bewertens: Jemand, der die von einer Gruppe vorgegebene Linie verfehlt oder von ihr abweicht, soll wieder ausgerichtet, also in die richtige Richtung gelenkt und auf den allgemeinen Kurs gebracht werden. Zugleich verständigen sich die Sprecher, die „Ausrichter“, dass sie einer Meinung sind und damit ein Recht darauf haben, die abwesende Person zu kritisieren.

Weiters steckt in dem Ausdruck auch das Richten, also die Ausübung eines Richteramtes. D.h. die Gruppe derer, die über jemanden herziehen, maßt sich die Befugnis an, diese Person zu richten, also feststellen, was an deren Tun oder Verhalten oder „Sein“ Recht und was Unrecht ist. Die Gruppe der Ausrichter stellt sich über die Einzelperson und gefällt sich in der Rolle, eine Norm gegen Abweichler zu sichern. 

Das Wohlgefühl, das solche Aktionen für die Ausrichtenden mit sich bringen mag, liegt darin, sich in einer überlegenen Position der Sicherheit zu fühlen: Mir kann nichts passieren, denn abgewertet und ausgegrenzt wird die abwesende Person. Ich bin mit den Anwesenden darüber einig, was sich gehört und was daneben ist. Damit bin ich auf der sicheren Seite. 

Doch bleibt die Gefahr bestehen, dass auch ich Opfer der ausrichtenden Recht-Sprechung werde, die hinter meinem Rücken abgehalten wird, wenn ich gerade nicht dabei bin. Um dem vorzubeugen, muss ich mich besonders bemühen, immer wieder und rechtzeitig zu den „Ausrichtern“ zu gehören, und am besten in diesem Sektor eine führende Rolle einzunehmen. So sichere ich meine Position und Zugehörigkeit ab, auf Kosten der ausgerichteten Menschen. 

Die Dynamik der Abwertung

Die weite Verbreitung des Phänomens, dass Menschen Zeit damit verbringen, über andere Menschen Schlechtes zu reden, also das zu benennen, was ihnen nicht gefällt, was sie stört oder ärgert, kann aus dieser selbstverstärkenden Dynamik verständlich werden. Sie erklärt auch, warum es schwer ist, aus der Dynamik auszusteigen. 

Da der Inhalt dessen, was die „Ausrichter“ bereden, in der Regel der betroffenen Person nicht mitgeteilt wird, ihr also nicht ausgerichtet wird, wird auch der Grund des verdeckten Ausrichtens weiter bestehen und stellt unversiegbare Nahrung für neuerliches Gerede zur Verfügung.

Damit bleiben die Spannungen bestehen, und die ausgerichtete Person kann sie zwar spüren und sich mit den Personen, die hinter ihrem Rücken Abwertungen oder Kritik geteilt haben, unwohl fühlen, ohne aber genau zu wissen weshalb.  

Das Netz des Misstrauens

Das Schlechtreden sät also Misstrauen und Unklarheit, nicht nur im betroffenen System, sondern auch in den beteiligten Einzelnen, den Tätern der Abwertungen, und den Opfern. Die Feigheit, die mit dem Hinter-dem-Rücken-Abwerten verbunden ist, ist von einer Angst getrieben, selber ausgegrenzt zu werden. Mit jedem Ausrichten wird sie scheinbar verringert, doch das Misstrauen wird mit jedem entsprechenden Akt tiefer ins Netz des Systems eingewoben und setzt alle unter Angst.

Das Mobbing, das schon viele Menschen in schwierige Situationen gebracht hat und sogar für manche Selbstmorde verantwortlich zeichnet, hat seine Wurzeln in solchen Dynamiken des Schlecht-über-Andere-Redens. 

Der Ausstieg

Wie kann ich aussteigen? Zunächst kann ich mir vorstellen, was es für mich bedeuten würde, wenn jemand gleichermaßen über mich herziehen würde. Als nächstes ist es wichtig, an die positiven Eigenschaften der Person zu denken und sich vorzustellen, dass diese Person auch in der Lage ist, etwas Gutes zu tun. Das kann auch die innerliche Aufregung und den Ärger besänftigen, der sich mit dieser Person verbunden hat.  

Wie kann ich andere zum Aussteigen aus der Ausrichte-Dynamik motivieren? Hier müssen wir sehr achtsam vorgehen, wollen wir nicht in den Angriffskreis des Opfers der schlechten Handlung kommen. Es könnte uns schnell dem feindlichen Lager zurechnen und der Illoyalität und des Bruches der Freundschaft verdächtigen: „Aha, du hältst also nicht zu mir, sondern zu dem Bösewicht, bist also selber einer.“ 

Der erste hilfreiche Schritt kann sein, dem Opfer Recht zu geben und verstehen, dass es sich verletzt fühlt und dass solche Handlungen der Korrektur bedürfen. Dann können wir darauf hinweisen, dass niemand immer alles richtig machen kann und dass es gut wäre, dem „Täter“ zu verzeihen. Dann kann sich das Opfer wieder entspannen und die Welt in einem größeren Ganzen sehen. Die beengende und Ärger erzeugende Perspektive auf das Erlittene weitet sich in diesem Schritt und kann angenehmeren Gefühlen Platz geben.

Jede Form von Mobbing sollte bewusst gemacht und überwunden werden, denn Mobbing ist Gift in der Gesellschaft und richtet viel Schaden an Menschen und Gruppen an, die zum Opfer gemacht werden. Es vergiftet aber auch die Mobber.

Zum Weiterlesen:
Bewertung: Anmaßung und Beziehungsstörung
Bewertung im bewertungsfreien Bereich
Das Bewerten der Bewerter



Montag, 23. November 2020

Das Bewerten der Bewerter

In esoterischen oder spirituellen Kreisen ist es üblich, das Bewerten als schlimmer Verstoß gegen die Regeln der Achtsamkeit anzusehen. So lautet die Ansicht: Wer andere Menschen bewertet, verstößt gegen die universelle Menschenliebe. Er stellt sich über andere und schaut auf sie herab und begibt sich in eine Position der Überordnung, die keinem Menschen zusteht.

In hierarchischen Verhältnissen wird angenommen, dass die Bewertung eine wichtige Sache ist, um die Herrschaftsordnung aufrechtzuerhalten. Aber die Aufklärung deckte diese Ideologie und ihre machtlüsternen Grundlagen auf und propagierte stattdessen den Grundgedanken der Gleichheit aller Menschen. Auch in vielen religiösen Traditionen ist von der Gleichheit aller vor Gott die Rede. Vor diesem Hintergrund ist die Ansicht gut fundiert, dass es wichtig ist, von Bewertungen abzulassen und allen Personen die gleiche Wertschätzung zukommen zu lassen. Vor allem in einer ganzheitlichen Sichtweise, der sich spirituelle Kreise verpflichtet fühlen, ist jede Bewertung fragwürdig.

Die Bewertung der Bewerter

In einem anderen Sinn fragwürdig ist dagegen das Hervorstreichen der Bewertungsfreiheit: „Dauernd bewertest du, du solltest endlich davon wegkommen und mit dem Bewerten aufhören.“ Das Bewerten wird bewertet, ein Zirkel tut sich auf. Wie komme ich aus dem Bewerten der Bewerter heraus?

Wenn wir uns eingestehen, dass wir nicht nicht bewerten können, wenn wir Stellung beziehen, reihen wir uns ein ins Glied der Bewerter, die dennoch eine wichtige Botschaft haben, aber nicht aus einer überlegenen Position, sondern als Angebot an Gleichrangige: „Auch ich bewerte immer wieder und komme besonders dann ins Bewerten, wenn ich merke, was andere mit dem Bewerten anrichten. Ich weiß, dass ich einen Bewertungsstandpunkt einnehme, wenn ich aufzeige, was passiert, und bin bereit, anzuhören und aufzunehmen, wenn mich jemand aufs Bewerten aufmerksam macht. Wir alle können voneinander lernen.“ Selbstreflexion ist also immer wieder der Ausweg. Die „Auch-ich“-Schleife befreit uns schnell aus der Projektionsfalle: Ich habe alles in mir, was mich an anderen stört.

Die Notwendigkeit der Bewertungsbewertung

Es macht andererseits keinen Sinn, einfach nur den Mund zu halten oder den anderen blind rechtzugeben, weil man nicht bewerten will. Denn da steckt man schnell wieder in einer Arroganzfalle: „Ich bin so nobel und bewerte nie, wie es diese unbewussten Proleten dauernd machen.“ Vielleicht ist da jemand nur zu feig, seine Meinung zu sagen und versteckt sich unter dem Mantel der Bewertungsfreiheit – aber das ist natürlich auch eine bewertende Außensicht. 

Also stellt sich gleich wieder die Selbstreflexion ein und hilft uns nachzufragen, was unsere Tendenzen zur Überheblichkeit sind, denen wir immer wieder auf den Leim gehen. Niemand ist frei von solchen Versuchungen, aber jeder ist zur Selbstbesinnung fähig. Wir können diese Fähigkeit auch bei unseren Mitmenschen einmahnen, aber eben nicht aus einer lehrerhaften Position, sondern aus einer mitfühlenden Grundhaltung. 

Die Ursprünge von Bewertungen

Bewertungsneigungen stammen meist aus Erfahrungen mit unfairer Behandlung, Herabsetzung, Ignoriert- und Verletztwerden. Bewertungen dienen häufig zu Kompensation von Beschämungserfahrungen. Besonders fiese Abwertungen sind die Folge von besonders verletzenden Erfahrungen in der Kindheit.

Die Bitte um Selbstreflexion

Das Verstehen der Hintergründe enthebt uns einerseits nicht, Bewusstheit bei denen, die uns bewertend begegnen, einzufordern. Schließlich sind wir auch dazu auf der Welt, um voneinander zu lernen, wie wir bessere Mitmenschen werden können. Andererseits sollte dieses Einfordern nie mehr sein als eine Bitte zur Selbstreflexion, die es jedem freistellt, darauf einzugehen oder bei der eigenen Perspektive zu bleiben. Nur aus dieser Haltung kann die Macht der Bewertung gebrochen werden und die eigene innere Freiheit wachsen. 

Je mehr wir davon für uns gewonnen haben, desto geringer fällt die emotionale Reaktion aus, die wir als Adressaten von abwertenden Bemerkungen erleben. Desto schwächer wird auch die Neigung sein, uns aggressiv, lehrerhaft, arrogant oder verächtlich für die Bewertung zu revanchieren. Wenn wir besonders gut gelaunt sind, wird uns der Humor zur Seite stehen, um die Macht der Bewertung zu entschärfen. Dem heiteren Lachen hält keine noch so gemeine Abwertung stand. 

Zum Weiterlesen:
Bewertungsfreiheit als Geschenk
Bewertung: Anmaßung und Beziehungsstörung
Bewertung im bewertungsfreien Bereich


Samstag, 21. November 2020

Bewertungsfreiheit als Geschenk

Häufig befinden wir uns in einem Bewertungszustand. Wir wollen über unsere Umwelt und unsere Mitmenschen Bescheid wissen und taxieren sie deshalb nach bestimmten Kriterien.  Diese Validierungen helfen uns, uns zu orientieren und Entscheidungen zu treffen. Makler bewerten Wohnungen und Häuser, und die möglichen Käufer ebenfalls. Ingenieure bewerten den Zustand einer Brücke, um festzustellen, ob sie saniert werden muss. Broker bewerten Aktien, um zu entscheiden, ob sie gekauft oder abgestoßen werden sollen. Lehrer bewerten Schülerinnen, ob sie zum Aufstieg in die nächste Klasse ausreichend vorbereitet sind usw. 

Bewertungen sind also ein integraler Teil des sozialen Lebens und beschäftigen unser Denken in vielerlei Hinsicht. Es gibt aber auch einen Raum jenseits von Bewertungen, der seine eigenen Qualitäten hat. In ihm atmet es sich freier als im Bewertungsraum. Wir fühlen uns menschlicher, und merken, dass es uns leichter fällt, unsere Mitmenschen so anzunehmen, wie sie sind, und mit der Umwelt in Frieden zu sein.

Wenn wir uns in einem bewertungsfreien Zustand befinden, können wir dafür dankbar sein. Wir haben ein Geschenk erhalten, das uns innerlich reich macht. Wir fühlen uns frei und verbunden. Wir können die Welt, die Menschen und uns selbst wertschätzen. Wir fühlen uns in einem tieferen Sinn menschlich als wenn wir uns in Bewertungszusammenhängen  befinden.

Abhängigkeit durch Bewertungen 

Bewertungen binden uns an das Objekt der Bewertung. Wir hängen uns gewissermaßen an dessen Eigenschaften an, ob sie nun im Licht unserer Bewertung gut oder schlecht sind. Wir sind innerlich entweder damit beschäftigt, das andere, das uns nicht passt, zu verändern, damit es uns passt, oder uns selbst zu verändern, damit wir zu dem passen, wie wir gerne wären oder wie wir meinen, dass uns die anderen gerne hätten. Wir sind nicht bei uns im Ganzen, sondern haften an dem Teil von uns, der wertet und uns mit dem Bewertungsobjekt vergleicht.

Das Bewerten macht uns kleiner und enger, weil wir die Welt um uns herum auf bewertbare Aspekte reduzieren müssen. Wir verlieren also immer an Qualität, was wir an Quantität herausstreichen. Menschsein ist jedoch eine Qualität, die in keiner Quantität abgebildet werden kann.

Das Privileg der Bewertungsfreiheit

Die Freiheit von den Bewertungsbindungen ist ein „Privileg“  nach Hanzi Freinacht: Wir sind in eine Position geraten, die uns innere Freiheit schenkt, im Wesentlichen ohne unser Zutun. Wir meinen vielleicht, dass wir besser sind als jene, die bewerten. Wir befinden uns allerdings nicht in einer Position moralischer Überlegenheit, denn eine derartige Position beruht ihrerseits auf Bewertung und Abwertung. Sobald wir uns moralisch über andere drüberstellen, die wir als weniger moralisch einschätzen, sind wir damit schon bestenfalls auf deren moralischer „Stufe“. 

Frei sind wir nur, wenn wir erkennen, dass unsere Tendenz zum Werten gerade einmal ausgesetzt und eine Pause gemacht hat und dass wir mit einem Moment der Bewertungsfreiheit beschenkt wurden. Wir brauchen uns dieses Geschenk nicht als Wirkung einer Leistung oder eines Einsatzes, also als eine persönliche Errungenschaft  gutschreiben, denn damit zerstören wir es gleich wieder. Die Kunst liegt darin, es als etwas Wundersames stehen lassen zu können. Der besondere Genuss dieses Zustandes öffnet sich für uns nur dann, wenn wir die Verantwortung, die in der Geschenkhaftigkeit liegt, übernehmen: Rücksichtnahme, Barmherzigkeit, Geduld, Gleichmut, Mitgefühl – das sind die emotionalen und moralischen Qualitäten, die aus der Bewertungsfreiheit fließen und die wir unseren Mitmenschen schulden, als Ausgleich für das Geschenk, das uns gewährt wurde. 

„Schulden“ heißt hier nicht, dass es eine einforderbare Pflicht gäbe, die uns zwingt, diese Haltungen unseren Mitmenschen gegenüber einzunehmen, sondern dass wir uns selber nur treu bleiben können, wenn wir andere an unserem Zustand teilhaben lassen. Noblesse oblige, Adel verpflichtet, hieß es in der vormodernen Gesellschaft. Eine privilegierte Stellung innezuhaben ist mit einem Auftrag verbunden, der vom Ich zur Menschheit führt.

Die der Bewertungsfreiheit innewohnende Qualität ist also nur dann wirksam ist, wenn sie durch uns zu anderen durchfließen kann, statt in uns selbst zu kreisen, indem wir uns an ihr delektieren. Wenn wir also der Energie und der Orientierung folgen, die in dem bewertungsfreien Zustand enthalten ist, geschieht es von selbst, dass wir uns menschenfreundlich und liebevoll verhalten. Wir können nicht anders, weil es in dem Moment ganz unserem Wesensausdruck entspricht.

Sobald wir uns jedoch als etwas Besonderes fühlen und mit anderen vergleichen, die an dieser Besonderheit nicht teilhaben, sind wir schon wieder herausgefallen aus dem begnadeten Zustand. Dessen sollten wir uns bewusst sein. Bewertungsfreiheit gibt es nur zusammen mit spiritueller Demut, nicht mit spiritueller Egobestätigung. 

Die Erfahrung, dass die Bewertungsfreiheit etwas Bezauberndes und Wunderbares ist, motiviert uns, sie immer wieder aufzusuchen. Aufsuchen heißt, sie in Momenten wahrnehmen, uns ihrer bewusst werden, wenn sie sich gerade in uns geoffenbart hat. Es ist also eine Achtsamkeitsübung, die wir mit uns selber durchführen und die über das Erkennen und Loslassen unserer gewohnheitsmäßigen Bewertungstendenzen führt. 

Zum Weiterlesen:
Bewertung: Anmaßung und Beziehungsstörung
Bewertung im bewertungsfreien Bereich
Das Bewerten der Bewerter


Donnerstag, 19. November 2020

Krisenängste und ihr Jenseits

Krisen lösen Ängste aus. Das ist wohl klar, sonst würden wir Krisen nicht als Krisen erleben. Durch die ausgelösten Ängste werden äußere Problemsituationen zu Krisen im Kopf. 

Interessant scheint mir weiters, welche spezifischen Ängste bei verschiedenen Menschen durch die gleiche objektive Schwierigkeit getriggert werden. Man stößt ja angesichts der herrschenden Pandemie auf unterschiedliche Angstprofile. Es handelt sich dabei, nüchtern und profan betrachtet, um Varianten der Todesangst, die uns allen in den Knochen sitzt. In Hinblick auf die aktuelle Viruskrise entwickeln wir Menschen unterschiedliche Fantasien darüber, wie wir am ehesten umkommen könnten. Alle diese Ängste haben einen realen Bezugspunkt, sind aber oft aus tieferliegenden Quellen emotional zusätzlich aufgeladen.

Für die einen steht im Vordergrund, dass sie direkt von der Krankheit betroffen und dahingerafft werden könnten; für die anderen, dass sie angesteckt werden und dann andere anstecken könnten; für die nächsten, dass sie Zeuge einer Massenhysterie werden und die Menschen um sie herum verrückt werden; andere wiederum befürchten das Ende der Rechtsstaatlichkeit und/oder der demokratischen Freiheitsrechte; wieder andere fürchten, dass sie die Einschränkung ihrer Lebensmöglichkeiten nicht aushalten werden; noch andere haben die Angst, wegen dem Verlust an Sozialkontakten und körperlicher Nähe zu vereinsamen; viele befürchten den Verlust ihrer wirtschaftlichen Existenz oder mangelhafte Lebenschancen wegen Bildungsverlusten usw. Natürlich gibt es vielerlei Querverbindungen und Kombinationen dieser Angstprofile, wodurch sich die Angstbelastungen individuell potenzieren können.

Viele Ängste – ähnliche Strategien

Der Vielzahl an Angstszenarien, die durch die Krise ausgelöst werden, stehen recht ähnliche Umgangsformen oder Bewältigungsstrategien dieser Ängste gegenüber. Der erste Schritt besteht darin, dass die Krise und all die Phänomene, die mit ihr einhergehen, mit der spezifischen Angst verknüpft und assoziiert werden. Das führt dazu, dass jede Erwähnung der Krise oder jeder Gedanke darüber sofort die entsprechende Angst hochbringt. 

Als nächstes versucht jeder Geängstigte, Verbündete zu finden, die ihm in der Angstsituation beistehen, weil sie die Gefahrenquelle ähnlich sehen. Für diesen Zweck sind deshalb nur jene geeignet, die eine gleiche oder ähnliche Angstprägung haben. Gegenseitig kann man sich bestätigen, dass die eigene Angst berechtigt ist. Diese Übereinkunft gibt einerseits ein wenig Sicherheit: Ich bin nicht alleine mit meiner Angst. Andererseits hält sie die Angst aufrecht, die ja das Bindeglied in der Angstverbindung darstellt.

Dazu kommt das selektive Sammeln von Informationen, die den Bedrohungscharakter der eigenen Situation belegen und stützen. Die Medienlandschaft ist dafür ideal geeignet, weil sie für jede Angstprägung eine Menge von bestätigender und verstärkender Informationen bereitstellt. Welche Einstellung wir auch immer zur Pandemie und zu den Maßnahmen haben, die von den jeweiligen Behörden getroffen haben – wir können zu jeder Variante Konvolute an Berichten, Datenaufbereitungen, Stellungnahmen, Expertenmeinungen usw. sammeln. Wieder gewinnet jeder für sich und seine Meinungsgruppe ein Stück an Sicherheit dazu: So viele prominente oder szenebekannte Personen sind der gleichen Meinung und teilen das Angstprofil, also ist die Angst sinnvoll und sollte aufrechterhalten bleiben. 

Die Suche gilt auch Informationen, die die Situation noch schlimmer darstellen, als wir selber es glauben. Wir wollen uns keinen Illusionen hingeben und uns auf die ärgsten vorstellbaren Konsequenzen einstellen. Dadurch wird zwar die Angst stärker, aber das Gefühl der Zugehörigkeit in der Meinungsgruppe ebenso. In dem Erleben der Angst hilft uns das weiter. Wir glauben dann, über das ganze Ausmaß der Bedrohung informiert zu sein und brauchen uns nicht der Massivität unserer Angst zu schämen.

Die Informationssuche und Wissenssammlung, wenn sie den eigenen Ängsten zweckdienlich sein soll, muss selektiv sein. Es geht auch gar nicht anders, weil niemand die Gesamtheit der zur Verfügung stehenden Information überblicken kann. Allerdings heißt Selektivität hier, dass gesucht wird, was die eigene Einstellung bestätigt und verstärkt und ausgefiltert wird, was ihr widerspricht.

Es sind also wirksame Filter notwendig, die alles ausblenden oder niederargumentieren, was der eigenen Einschätzung und damit dem eigenen Angstprofil widerspricht. Gegenansichten werden relativiert, für obsolet oder als gekauft taxiert, die Personen, die sie vertreten, werden abgewertet und für korrupt oder ignorant erklärt usw. 

Die Angst kann nur ernstnehmen, was eindeutig, einfach und spezifisch zum Angstprofil passt und es bestätigt. Komplexitäten, Mehrdeutigkeiten und Vorläufigkeiten im Wissen verstärken die Unsicherheit und steigern offensichtlich die Bedrohtheitsgefühle. Sie müssen mit einem Meta-Filter ausgesondert werden. 

Auf diese Weise entstehen Meinungsblasen, die zugleich Angstblasen sind und in denen sich Menschen mit gleicher Angstprägung treffen und sich über die Bewertung und Einschätzung der Gefahrenlage austauschen. Die Blasen tragen dazu bei, dass das Sicherheitsgefühl im Inneren bestärkt und das Angstgefühl nach außen gesteigert wird. 

Das Außen ist dabei nicht nur die Krise, sondern wird auch durch die anderen Blasen gebildet, die mit ihren abweichenden Ansichten die Problematik verschärfen und deshalb bekämpft werden müssen. Deshalb haben sich regelrechte Propagandakriege in den diversen Medien entwickelt, nach dem Sandkistenmotto: Mein Experte ist besser als deiner. Mein Experte hat die Wahrheit, deiner ist von dunklen Mächten besessen und gelenkt oder einfach inkompetent.

Angst und Wut

Jede spezifische Angst steht in Verbindung mit einer spezifischen Wut. Der Angstbefallene fühlt sich ausgesetzt, ohnmächtig und hilflos. Die Aktivierung der Wut bringt die Überlebenskraft zurück und führt zum Eindruck, Einfluss auf die Situation nehmen zu können und etwas gegen die Bedrohung tun zu können. Angst lähmt, Zorn mobilisiert. Die Wut meldet sich mit dem Anspruch, die Quelle der Angst zu vernichten, um für immer die Angst zu bannen. Psychodynamisch betrachtet ist sie aber nur eine Kompensation der Ohnmacht, die mit der Angst verbunden ist. Denn nachdem die Wut Raum erhalten hat und sich ausdrücken konnte, sobald also die Wutenergie verpufft ist, tritt schnell wieder die Angst auf den Plan, verbunden mit dem Ohnmachtsempfinden. 

Die Wut wird oft eingesetzt, um andere aufzurütteln und auf die Gefahr aufmerksam zu machen, wie jemand, der als einziger einen Brand wahrnimmt und allen schleunigst mitteilen muss, um die Katastrophe abzuwenden. So fühlt sich die Energie um viele Meldungen, Diskussionen, Demonstrationen und individuelle Ausbrüche an, die im Rahmen der Corona-Krise auftreten: In der Umgebung sind lauter Idioten, die nicht erkennen, worum es wirklich geht und wo die eigentliche Gefahr schlummert.  Die Aufgerüttelten sollen dazu gebracht werden, sich der eigenen Angstgruppe, der eigenen Meinungsblase anzuschließen und sie zu stärken, bis sie so mächtig ist, dass sie das Ruder in die richtige Richtung umreißen kann.

In der Blase gibt es keine wirkliche Entspannung, denn solche Blasen leben davon, dass sich ihre Mitglieder in ihrer Angst bestätigen. Was es dort gibt, ist eine Klarheit über die Guten und die Bösen, also jene, die die Bedrohung verkörpern und Angst machen, und jene, denen vertraut werden kann, weil sie die Angstprägung teilen. Die Blasenmitglieder müssen freilich auch darauf wachsam sein, dass die Ängste im engeren Bereich geteilt werden, dass also alle gleich ticken. Ein gewisses Maß an Misstrauen gehört zum Grundbestand jeder Blase – Misstrauen nach innen und nach außen.

Jenseits der Blasen

Die Ängste, Schamgefühle und Wutemotionen, die im Zusammenhang mit der laufenden Krisensituation auftreten, haben ihre Wurzeln in der Lebensgeschichte der betroffenen Menschen. Voll erwachsene Menschen reagieren auf Krisen mit der Bereitschaft, dort zu handeln, wo es sinnvoll und notwendig ist, dort aufmerksam zu bleiben, wo nichts zu tun ist, aber der Überblick wichtig ist, um zu erkennen, wann etwas zu tun ist, und dort in Gleichmut geschehen zu lassen, was geschieht, wo die eigene Handlungsmöglichkeiten nicht wirken können.

In diesem Sinn wird es wohl wenige voll erwachsene Menschen geben, aber viele, die über ihre Ängste hinauswachsen und ihr Leben nicht von ihnen dominieren lassen wollen. Für sie gilt der Weg, die Ursprünge ihrer Ängste aufzuspüren, zu verstehen und zu integrieren. Jede Angst lähmt, jede verstandene und überwundene Angst gibt uns unsere Handlungsfähigkeit zurück. Wenn wir  die Selbstverantwortung für uns selbst zurückgewinnen, brauchen wir keine Ängste, die unseren Blick, unser Denken und unser Tun beeinträchtigen, und keine Blasen mehr, in denen von der Pflege von Ängsten und Filtern gelebt wird. 

Je weniger Ängste uns blockieren, desto mehr Teile der Wirklichkeit können wir in unser Weltbild einbauen und dadurch unsere Erkenntnis- und Handlungsfähigkeiten ausweiten. Umschließen wir unsere Ängste mit der liebevollen Energie unseres Herzens, so weiten wir den Raum unseres Mitgefühls für uns und für alle. Die Krise bleibt dann im Außen und wird mit unserer Kraft bewältigt, in der Zeit, die es braucht.


Dienstag, 17. November 2020

Manipulation erkennen und entzaubern

Soziale Beeinflussung geschieht fortlaufend und stellt eine Grundlage unseres Soziallebens dar. Wir wollen aus den verschiedensten Gründen aufeinander einwirken: Um unsere Bedürfnisse durchzusetzen, andere zu einer Verhaltensänderung zu motivieren, Anerkennung zu bekommen, uns abzugrenzen usw. 

Zur Manipulation werden diese Aktionen unter bestimmten Bedingungen: Die Einflussnahme erfolgt unterschwellig und indirekt, wir stehen also nicht offen zu unseren Interessen und Bestrebungen, sondern wollen die anderen dazu bringen, dass sie von sich aus unsere Wünsche zu den ihren machen. Wir sparen uns die Mühe und das Risiko, uns selber zu offenbaren und dafür vielleicht abgelehnt oder kritisiert zu werden. Stattdessen versuchen wir, uns gewissermaßen bei der Hintertür ins Innere der Mitmenschen einzuschleichen und dort eine neue Software zu installieren, die dann automatisch unsere Wünsche erfüllen soll.

Typisch für die Manipulation ist also die Verschleierung der eigenen Absichten und das respektlose Übergehen der Rechte und der Integrität der Mitmenschen sowie die Verfolgung des eigenen Nutzens, gleich ob die betroffenen Personen Schaden erleiden oder nicht. 

Es gibt Manipulationen, die ohne direktes Wissen des „Täters“ geschehen, wie z.B. in der Erziehung und im Schulsystem, und solche, die geplant und absichtlich in Szene gesetzt werden, z.B. in der Werbung oder in der politischen Propaganda. Manipulation ist also häufig aus unbewussten Antrieben gespeist und wird von den Akteuren gar nicht bemerkt oder für selbstverständlich genommen. In diesem Fall stammt sie aus Überlebensstrategien, die sich in der Kindheit ausgeprägt haben.

Bei der Manipulation geht es nicht nur um Verhaltensweisen, die insgeheim bei anderen hervorgerufen werden sollen, sondern auch um Einstellungen und Sichtweisen, zu denen wir andere ohne deren bewusste Zustimmung bringen wollen. Der Nutzen dieser Zielrichtung von Manipulation ergibt sich indirekt: Indem andere Leute die eigenen Einstellungen und Werte übernehmen, können sie für unsere Interessen leichter in Dienst genommen werden. Wenn es z.B. einer Firma gelingt, spezifische Ängste vor einer Glatze oder vor Krankheitskeimen auf Türschnallen zu säen, die gleichzeitig ein Mittel bereithält, das den Ängsten abhilft, kann sie gute Geschäfte machen. Ähnlich agieren politische Parteien und Interessensgruppen vor allem auf der demagogischen und populistischen Seite. 

Die erzieherische Manipulation will oft auch in ihren Objekten, den Kindern, Einstellungen und Werte implantieren, die als besser erachtet werden. Die Kinder sollen den eigenen Rollenerwartungen angepasst und in die Erwartungsstrukturen eingepasst werden, dann brauchen sich die Eltern selber nicht in Frage stellen und in ihren Auffassungen weiterwachsen.

Psychotechniken

Zum Zweck der Manipulation werden verschiedene Psychotechniken genutzt – der US-Forscher George Simon unterscheidet rund zwanzig solcher Techniken, von der Lüge bis zum Mitläufereffekt („Alle nutzen schon das neue Pflegeshampoo”).

Bekannt ist z.B. die Manipulationstechnik der Ablenkung: Der Manipulator gibt keine direkte Antwort auf eine klare Frage, sondern lenkt das Gespräch auf ein anderes, für ihn sichereres Thema. Oder der Einsatz von Beschämung: Die Manipulatorin setzt den Gesprächspartner herab und behandelt ihn verächtlich, um Angst zu erzeugen. Damit soll er seinen Widerstand gegen die eigenen Absichten verlieren.

Die andere Seite der Manipulation stellen deren Opfer dar. Die Empfänglichkeit dafür, manipuliert zu werden, also auf einen Manipulator hereinzufallen, zeigt sich in einer ganze Liste von Persönlichkeitsmerkmalen, z.B. Naivität, geringer Selbstwert, emotionale Abhängigkeit.

Welche Persönlichkeitseigenschaften machen Menschen zu Manipulatoren? Dazu zählen alle Formen der Unverschämtheit, also der Respektlosigkeit für die Intimitäts- und Integritätsgrenzen der Mitmenschen, rücksichtloses Macht- und Gewinnstreben, die Feigheit, offen zu eigenen Wünschen zu stehen usw. 

Ist das Manipulieren unausweichlich? Können wir nicht nicht manipulieren?

Angelehnt an ein Kommunikationsaxiom von Paul Watzlawick spricht Eike Rappmund (Praxis-Handbuch Manipulation. Tredition Verlag 2014) davon, dass wir nicht nicht manipulieren können: “Wir haben gelernt, zu manipulieren, um zu bekommen, was wir (zum Überleben) brauchen. Und wir haben gelernt zu akzeptieren, dass dies auch für unser Gegenüber gilt.” Aufgrund unserer Herkunft aus tribalen Sozialstrukturen haben wir gelernt, dass wir andere Menschen zu unseren Gunsten beeinflussen müssen, um unser Überleben zu sichern. Da wir wissen, dass die anderen die gleichen Strategien verfolgen, ist das Manipulieren ein verbreitetes soziales Phänomen, das unverdientermaßen einen schlechten Ruf genießt, so die These des Buches. Ich möchte diese Form der “Reinwaschung” der Manipulation im Folgenden kritisch erörtern. 

Die frühen Sozialstrukturen, die von Menschen gebildet wurden, waren nämlich nicht darauf ausgerichtet, dass die einzelnen Individuen ihr Überleben durch Manipulation sichern müssen. Vielmehr wurde darauf geachtet, dass die Bedürfnisse von allen Mitgliedern der Gemeinschaft möglichst ausgeglichen befriedigt werden, sodass niemand um sein Überleben fürchten muss. Die Überlebensbedrohungen befanden sich im Außen - feindliche Menschengruppen, wilde Tiere, Naturkatastrophen. 

Die Individualisierung des sozialen Überlebens ist eine spätere Entwicklung, die vor allem mit der Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems in Verbindung gebracht werden kann. Jeder muss selber schauen, dass er/sie nicht draufgeht. Also ist es wahrscheinlich, dass sich das Phänomen der Manipulation erst in diesem Entwicklungsstadium der Menschheit herausgebildet hat. Die Anwendung von Manipulation setzt das Schwinden des Vertrauens in die Bezugsgruppe voraus. Wir wollen unseren Vorteil erschwindeln, am besten so, dass die andere Person gar nicht merkt, dass sie zu unserem Nutzen agiert, sondern meint, sie hätte selbst am meisten davon. Wir wollen also andere hintergehen und riskieren die Zugehörigkeit zum sozialen Netz, mit der Gewissheit, dass wir es nicht wirklich brauchen, sondern uns jederzeit eine neue Bezugsgruppe erschaffen können.

Die Liste der Manipulationstechniken umfasst die verschiedensten Formen eines misstrauensgeprägten Verhalten, bei dem nicht das gemeinsame und geteilte Wohl, sondern der individuelle Nutzen – zur Not auch auf Kosten der anderen – im Vordergrund steht. Manipulation setzen wir dort ein, wo wir mit „redlichen” Mitteln, also mit der direkten und offenen Kommunikation unserer Bedürfnisse, nicht weiterkommen. In den meisten Fällen ist uns gar nicht bewusst, dass wir manipulativ vorgehen, sondern es unterläuft uns dieses Verhalten, weil wir uns hilflos fühlen und keine andere Strategie zur Hand haben, um unsere Interessen durchzubringen.

Häufig sind es Erfahrungen mit dem Manipuliertwerden, die wir aus unserer Kindheit mitschleppen und die wir dann im Bedarfsfall anwenden, wenn es in einer sozialen Situation eng wird. Man könnte sagen, dass wir später nicht nicht manipulieren können, wenn wir in unserer Kindheit laufend manipuliert wurden. 

Verwirrungsstrategien

Manipulationen verwirren den Wirklichkeitssinn. Als Kinder hatten wir ein feines Gespür über das, was echt und ehrlich ist und was nicht. Fehlende Ehrlichkeit konnten wir jedoch nicht einordnen und benennen, sie hinterließ nur einen Eindruck von Unklarheit und Unstimmigkeit. Als Kinder reagieren wir auf solche versteckten Botschaften, indem wir den Fehler bei uns suchen und die Außenwelt entlasten. Wir versuchen, durch Anpassung oder Widerstand aus der Verwirrung herauszukommen. Aber ein Stück des Vertrauens ist zerstört, und aus dem Misstrauen heraus neigen wir später selber dazu, zu manipulieren statt offen unsere Wünsche und Bedürfnisse zu kommunizieren.

Wir manipulieren also aus einer ursprünglichen Not heraus, und leiten daraus dann später die Rechtfertigung ab, Manipulationsstrategien gewerbsmäßig oder in anderer Weise gezielt einzusetzen. Wir reden uns ein, dass das die anderen auch machen und beruhigen damit unser Gewissen.

Doch sind die Folgen solcher Einstellungen über kurz oder lang äußerst bedenklich: Manipulative Strategien untergraben das Vertrauen, das eine Gesellschaft zusammenhält und das Zusammenleben und den friedlichen Austausch ermöglicht. Deshalb müssen alle verdeckten Aktionen, die dieses Vertrauen für eigene Zwecke ausnutzen wollen, aufgezeigt und angeprangert werden. 

Die Werbewirtschaft schrammt am Rand dieses Phänomens entlang, weil wir wissen oder wissen sollten, dass es bei Werbebotschaften nicht um Ehrlichkeit und Wahrheit geht, sondern um den Zweck des Geschäftemachens. Die Politik gilt aus einem ähnlichen Grund als „garstiges Lied”, als schmutziges Feld voll von manipulativen Verdrehungen. Das Umsichgreifen und Verbreiten der Fake-News mit Hilfe der „sozialen” Plattformen eröffnet früher noch ungeahnte Dimensionen für die Massenmanipulation, vor der wir uns tagtäglich wappnen müssen.

Der Manipulation die Stirn bieten

Die Gegenmittel zur Manipulation haben alle mit Selbststärkung zu tun: Aufbauen und Verankern des Selbstwertes und der Selbstverantwortung, Verfeinern des inneren Spürens (um Authentizität und Verlogenheit unterscheiden zu können), Schulung einer kritischen Unterscheidungsfähigkeit, Wahrheitssuche und Faktenprüfung. 

Die eigenen Tendenzen, andere zu manipulieren, sollten durch offene Kommunikation und das Ausdrücken der eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Interessen ersetzt werden. Das zwischenmenschliche Vertrauen wächst nur auf solchem Grund. Zwischenmenschliches Vertrauen wächst an Selbstvertrauen und umgekehrt.

Zum Weiterlesen:
Wird die Demokratie von Manipulatoren gekidnappt?
Die Begrenzung narzisstischer Manipulation
Astroturfing - Manipulation vom feinsten


Samstag, 14. November 2020

Wer soll das bezahlen? Der Staat als big spender.

Krisenzeiten können auch dazu dienen, altbekannte Konzepte und Vorstellungen zu überdenken und durch neue zu ersetzen. Wir erleben in dieser Zeit, dass der Staat Milliarden in die Hand nimmt, um jene, die von den Einschränkungen durch die Pandemie betroffen sind, unter die Arme greifen zu können, damit Härtefälle und Existenzbedrohungen vermieden werden und die Wirtschaft nicht völlig zusammenbricht.

Wir fragen uns, woher der Staat plötzlich das Geld nimmt, wo uns doch bisher immer eingebläut wurde, dass gespart, gespart, gespart werden muss, wenn es um den Ausbau von staatlichen Förderungen und Sozialleistungen, um Investitionen in Bildung und Forschung ging. Es leuchtet auch ein, dass der Staat nicht verschuldet sein soll, sondern ausgeglichen wirtschaften sollte, wie eben jeder andere Haushalt auch. Aus unserer Praxis wissen wir, dass es nicht angenehm ist, mit einer Kreditbelastung zu leben, weil es uns an den Kragen gehen könnte, falls wir einmal das Geld für die Rate nicht aufbringen. Sobald ein Kredit abbezahlt ist, fühlen wir uns erleichtert. Also können wir nachvollziehen, dass das auch auf der Ebene des Staates so funktionieren sollte. Schließlich sind wir alle der Staat, und ab und zu wird uns vorgerechnet, wie hoch wir als Einzelne verschuldet sind, wenn die Staatverschuldung auf alle Bürger umgelegt wird, und bei solchen Vergleichen wird uns schnell schummrig (pro Österreicher wären das mit Stand 2019 ca. 35000 €): Was, wenn morgen ein Schuldeneintreiber vor der Tür steht und unseren Anteil an der Staatsverschuldung verlangt?

Wir vergessen bei diesen Vergleichen eins: Der Staat ist der Macher des Geldes, nicht das Geld die Basis des Staates. Staatsgebilde waren notwendig, um das Geld zu erschaffen – ein Zahlungsmittel, dessen Wert von allen Teilnehmern einer Gesellschaft akzeptiert wird: Alle glauben an die Zahl auf dem Geldschein, der an sich wertlos ist, und bemessen danach den Wert des Scheins für die Austauschprozesse von Gütern und Dienstleistungen. Solange dieser Glaube solid ist, funktioniert das Geldsystem, und der Staat kann Geld erschaffen, soviel er braucht. Die Grenze zeigt sich dort, wo das Vertrauen schwindet und der Wert des Geldes in Zweifel gezogen wird. Schon im 18. Jahrhundert wurde deutlich, dass das Geld an Wert verliert, wenn der Staat hemmungslos Münzen und Banknoten auf den Markt wirft.

Eine neue Geldtheorie

Soweit ein paar Grundmodelle der Volkswirtschaftslehre, laienhaft dargestellt. Die Modern Monetary Theory (MMT), eine neuere Strömung in der ökonomischen Theorie, behauptet, dass der Staat das Geld der Steuerzahler nicht braucht, um die eigenen Ausgaben zu finanzieren, sondern dass er umgekehrt die Staatsbürger dazu zwingt, die Steuern in Geld abzuliefern und damit das Geldsystem implementiert. Deshalb kann der Staat so viel Geld produzieren, wie er will und für seine Leistungen braucht, gestützt auf die Vertrauensgarantie seitens der staatlichen Institutionen. Es sind also nicht mehr die Steuerzahler, die den Staat am Leben erhalten, sondern der Staat agiert als Schiedsrichter in einem Spiel, in dem sich die Bürger an die vorgegebenen Regeln halten müssen, wenn sie einen individuellen Gewinn aus dem Spiel ziehen wollen. 

Eine Folgerung aus diesem Ansatz besteht darin, dass die Arbeitslosigkeit durch eine staatliche Jobgarantie beseitigt wird. Arbeitslosigkeit führt zu hohen Kosten in der Gesellschaft und zu schädigenden Einwirkungen auf die Betroffenen, denen keinerlei produktive Wirkungen gegenüberstehen. Deshalb sollte der Staat in Krisenzeiten Jobs schaffen, auch wenn sich dadurch das Staatsdefizit erhöht. Sobald die Wirtschaft wieder in ihre Eigendynamik kommt, entstehen dort neue Arbeitsmöglichkeiten. 

Vermutlich lässt sich diese Geldtheorie mit den Ideen des Grundeinkommens kombinieren und kann in ein neues Paradigma einfließen, das zur Einschränkung des neoliberal-kapitalistischen Systems beiträgt. Es ginge dabei um den Ausgleich zwischen Eigenwohl- und Gemeinwohlbestrebungen, der im Neoliberalismus gekippt ist. 

Ich schreibe nicht als Experte in dieser Thematik, sondern als interessierter Wirtschaftsteilnehmer, der besser verstehen möchte, was die Spielregeln sind und wo wir Konstrukten aufsitzen, die einfach für wahr gehalten werden, ohne einer näheren Prüfung standhalten zu können. Dieser Artikel möchte dabei helfen, festgefügte Ansichten über unser Geldsystem zu erschüttern und neue Sichtweisen einzubringen. Diskussionsprozesse könnten dadurch angestoßen werden, um diejenigen Strukturen und Dynamiken, die aufgrund von Denkmodellen entstanden sind, zu verändern und in neue Bahnen zu führen. Es könnte ja sein, dass unsere Wirtschaft nicht von ökonomischen Sachzwängen regiert wird, sondern von den Annahmen ihrer Teilnehmer, die als selbstverständlich unterstellt werden, obwohl sie es nicht sind. Und es könnte sein, dass diese Annahmen Mischungen aus kognitiven Konstruktionen und emotionalen Mustern darstellen, die mehr unbewusste als bewusste Anteile enthalten.

Das Wirtschaftssystem als Glaubenssystem zu verstehen, ermöglicht das Durchschauen und Relativieren von Meinungsmanipulationen und Gefühlsprägungen. Überall wo Ängste ins Wirtschaftssystem eingeschleust werden, ist es wichtig, ihre Berechtigung und Sinnhaftigkeit zu hinterfragen. Ängste, die auf der Grundlage eines fragwürdigen ökonomischen Modells gesät werden, brauchen wir dann nicht mehr ernst zu nehmen. 

Da Vertrauen (und begrenztes Misstrauen innerhalb dessen Rahmen) das Grundnahrungsmittel und den Grundtreibstoff jeder Gesellschaft und damit auch jedes Wirtschaftssystems darstellt, sollten alle Ängste, die durch ideologische Einflüsterungen oder naiven Grundannehmen entstanden sind, benannt und entsorgt werden. Denn sie hemmen nicht nur die Individuen in ihrer Aktionsfähigkeit und reduzieren ihre Lebensqualität, sondern verringern auch die Produktivität und Konstruktivität in den gesellschaftlichen und ökonomischen Abläufen  und damit die Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems, die wieder auf die Lebenszufriedenheit der Teilnehmer zurückwirkt.

Interview zur Modern Monetary Theory

Zum Weiterlesen:
Gründe für ein Grundeinkommen
Die Corona-Krise als Chance
Armut ist ein Ärgernis - dem kann abgeholfen werden



Sonntag, 8. November 2020

Die Krisen und der Sinn

 Gemeinsinn  und Hintersinn

Der niedere oder der gemeine Sinn ist etwas, was wir aus persönlichen Motiven den Ereignissen anhängen. Sinn macht, was uns weiterhilft, was uns einen Erfolg gibt, was uns Freude bereitet, was uns mit anderen verbindet usw. Es gibt auf dieser Ebene die wichtige Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen. Wir können egoistischen und kurzfristigen Sinn darin finden, anderen zu schaden und uns auf ihre Kosten materiell oder emotionell zu bereichern. Der Sinn solcher Handlungen liegt darin, innere Ängste und Frustrationen zu überwinden. Er dient nur einem selber, während er anderen etwas wegnimmt. Das gute Handeln dagegen dehnt den Sinn vom Selbst zum Anderen aus. Es bereichert beide und wirkt wechselseitig.

Weiters gibt es noch so etwas wie einen Hintersinn, den wir mit psychologischen Methoden ausforschen können. Das Unbewusste hat seine eigene Sinnagenda, die der offiziellen Sinngebung nicht immer entspricht. In der psychologischen Innenerforschung oder mit therapeutischer Hilfe finden wir heraus, welche unbewussten Absichten unsere Handlungen antreiben, vor allem jene, die wir als störend, selbstwertschädigend oder sozial problematisch erleben. Indem wir den Hintersinn verstehen, lernen wir uns selber besser kennen und erweitern unsere Handlungsmöglichkeiten. Z.B. erkennen wir, dass wir unfreundlich zu einem unserer Kinder waren, weil wir von den eigenen Eltern in einer ähnlichen Situation abwertend behandelt wurden.

Der höhere Sinn

Einen höheren Sinn suchen wir, wenn uns gravierende Ereignisse, die uns in der Realität begegnen, unverständlich sind oder große Probleme bereiten, mit denen wir hadern und denen wir uns hilflos ausgeliefert fühlen. Vielen Menschen geht es während der gegenwärtigen Covid-Krise so – es gibt keine Verursacher, die einfach ausgeschaltet werden können, keine Strategien, die die Bedrohung restlos ausmerzen, und wir müssen massive Veränderungen und Einschränkungen in verschiedenen Lebensbereichen hinnehmen. 

Das zweite Thema, das dieser Tage in unserem Land präsent ist, ist der Terror, durch den völlig sinnlos Leben ausgelöscht werden, Verletzungen und Traumatisierungen entstehen. Manche Augenzeugen berichten, dass sie dazu auch andere Erfahrungen machten: Über die enorme Hilfsbereitschaft, über gegenseitige Unterstützung und geduldiges Annehmen der Situation bei vielen, die diese Nacht in irgendwelchen Kellern oder verbarrikadierten Lokalen zubringen mussten. Ein Betroffener sagte, dass ihn diese Erfahrungen im Erkennen des Guten im Menschen gestärkt haben – also eine Sinnstiftung aus dem Zentrum der Sinnlosigkeit. Die Sinnfrage führt in Paradoxien.

Wenn das, was geschieht, auf der individuellen Sinnebene jedem Sinn widerspricht, dann stellt sich die Frage, ob es nicht auf einer höheren Ebene einen Sinn gibt, der es erlaubt, die widrigen Umstände zu verstehen und mit ihnen in Frieden zu kommen.

Religiöse Sinnsysteme

Viele religiösen und spirituellen Lehren bieten einen solchen höheren Sinn an, der die Widersprüche des praktischen Lebens überwinden soll. Begnüge dich nicht mit dem, was dir in deiner kleinen Lebensperspektive mit ihrem Auf und Ab Sinn oder Sinnleere gibt, sondern suche den Sinn von allem in einem großen Ganzen: Das ist eine Perspektive, mit der viele Sucher auf den Weg gehen. Der Sinn kann z.B. darin gesehen werden, dass es einen Gott gibt, der das alles so eingerichtet hat und für den Sinn garantiert, auch wenn wir mit unserem beschränkten Geist nicht immer kapieren, worin er gerade liegt. Wir verlassen uns auf eine höhere Instanz, die uns einen höheren Sinn verspricht. 

Hier liegt das Problem in einer gewissen Redundanz. Gott ist die Sinninstanz. Alles, was wir nicht verstehen, versteht Gott. Wenn wir an ihn glauben, wird der Sinn mitgeliefert. Wir glauben also auch an die Sinnhaftigkeit der Welt mit all ihren Vorkommnissen, sobald wir an Gott glauben. Nichts und niemand jedoch garantiert uns, dass es diesen Gott überhaupt gibt. Er ist also nur eine Konstruktion unserer Glaubensimagination, und ebenso konstruieren wir den höheren Sinn, der von dieser Instanz beigestellt wird. Der höhere Sinn hängt also an der Existenz Gottes, die wir nur durch den Glauben sicherstellen können. Manche Theologen sprechen deshalb davon, dass sie glauben, weil es absurd ist. 

Außerdem löst der Gottesglaube die Frage nach der Akzeptanz und Sinnfindung in einem ganz wichtigen Bereich nicht: Wie ist es mit dem Bösen, das in der Welt geschieht, warum verhindert die göttliche Macht nicht jede Unmenschlichkeit? Was ist der Sinn in Mordanschlägen oder in Epidemien, die Menschenleben dahinraffen? Warum lässt ein Gott die Übel zu? Da braucht es umständliche und unbefriedigende Konstruktionen, eine weise und liebende Gottesvorstellung mit dem äußerst mangelhaften Zustand seiner Schöpfung in Einklang zu bringen. Gerade das Zurechtkommen mit den großen Herausforderungen der Menschheit und des individuellen Lebens erfordert intellektuelle Anstrengungen und das Begehen von verschlungenen Umwegen, bei denen der Sinn erst recht wieder auf der Strecke bleibt.

Es stellt sich zusätzlich die Frage, ob wir in der Sinnerwartung, die wir an Gott richten, nicht einem Autoritätsglauben folgen, der uns in der Kindheit selbstverständlich geworden ist. Als Kinder waren unsere Eltern die Haupt- und Zentralsinnstifter, gewissermaßen das Zentralorgan der Wahrheit und Sinnhaftigkeit wie die Parteizeitungen in Diktaturen. Andere konkurrierende Sinninstanzen sind erst später aufgetaucht. In unserer Unerfahrenheit haben wir anfangs alles für bare Münze genommen, was uns die Eltern beigebracht haben, ob es nun der Wirklichkeit und der emotional-sozialen Stimmigkeit entsprochen hat oder nicht. Es war jedenfalls eine relativ geschlossene Welt, in der die Sinnhaftigkeit von den Eltern garantiert war und die wir uns zurückwünschen, wenn wir als Erwachsene mit Unsicherheiten konfrontiert sind. Andererseits beinhaltet das Erwachsenensein die Fähigkeit, mit Ungewissheit zurechtzukommen. Wir neigen zur Regression, zum Flüchten ins Kindsein, wenn wir mit der Komplexität der erwachsenen Welt nicht zurechtkommen. Wir sind nie vollkommene Erwachsene und sollten uns dafür auch nicht verurteilen. Wir sollten uns allerdings bewusst sein, in welchem mentalen Zustand wir uns jeweils befinden, damit wir uns nicht selber täuschen und unsere Mitmenschen verwirren. 

Aus diesem Grund ist nichts falsch an einem Gottesglauben, wie auch am Nicht-Gottesglauben. Wir sollten uns bloß über die Motive im Klaren sein, die das Bedürfnis nach dem Glauben hervorbringt. Brauchen wir eine äußere Sinninstanz, die dem, was uns begegnet, einen höheren Sinn verleiht, dann können wir sie für den Zweck nutzen, uns mit Widrigkeiten auszusöhnen. Nutzen wir diese Sinninstanz nicht, so können wir auf anderen Wegen in Frieden mit der Wirklichkeit kommen.

Die Mystik und der Sinn

Der mystische oder spirituelle Zugang zu dieser Frage ist prinzipiell von religiösen Ansätzen verschieden. Religionen bieten Modelle oder Konstruktionen an, die aus etablierten Traditionen stammen, die meistens von göttlichen oder gottähnlichen Lehrern begründet wurden. Das Glauben selber ist zwar immer ein individueller Akt, aber bezieht sich auf vorgegebene Formen. Dazu kommt der Aspekt der Gemeinschaft der Gläubigen, die den vorgegebenen Modellen eine aktuelle soziale Unterstützung beistellt.

Beim genuin spirituellen Zugang geht es um die Bewusstheit im Moment, in dem, was jetzt gerade ist. Dieses jeweils aktuelle Erleben ist in sich sinnhaft, es braucht deshalb keine äußere Sinngebung oder zusätzliche Sinnperspektive. Im Moment der Erfahrung ist alles so, wie es ist, weder höher noch niedriger in seiner Sinnhaftigkeit. Jeder Moment ist einem anderen gleichwertig. 

Natürlich können wir diesen Grad an Bewusstheit nicht dauernd halten und fallen leicht durch Gewohnheiten, Ablenkungen und äußere Einflüsse heraus, die uns mit Sinnfragen konfrontieren. Wir fallen zurück in das Suchen nach Konzepten und Modellen, die uns verstehbar machen, was so schwer zu akzeptieren ist. Wir klammern uns an äußere Hilfen und Unterstützungsgerüste, um die Wirklichkeit annehmen zu können und handlungsfähig zu bleiben. 

Wir sollten uns in solchen Phasen nur darüber bewusst sein, dass wir gerade nicht unser volles erwachsenes Lebenspotenzial verwenden, sondern auf eine frühere Stufe unserer inneren Entwicklung zurückgegangen sind. Als Erwachsene benötigen wir keinen zusätzlichen Sinn, weil alles, was geschieht, seinen Sinn in sich trägt. Wir tun, was zu tun ist, nicht, weil es den Sinn vermehrt, sondern weil es aus unserem Inneren kommt und unserer Wirklichkeitserfahrung entspricht. Wenn uns unangenehme Erfahrungen begegnen, wenn wir uns mit Katastrophen und Krisen auseinandersetzen müssen, schauen wir darauf, was Abhilfe schaffen kann und setzen uns dafür ein statt nach dem Sinn zu suchen.

Was geschieht, im Außen und im Inneren, ohne oder mit unserem Zutun, braucht keinen Sinn. Sinn benötigen wir dann, wenn wir mit dem, was geschieht, in Zwiespalt geraten, indem wir nicht verstehen können und akzeptieren wollen, was uns die Wirklichkeit präsentiert. 

Zum Weiterlesen:

Vom Anfang und vom Ende der Sinnfrage

Krisenängste und ihr Jenseits


Donnerstag, 5. November 2020

Terror: Eine Chance zum Wachsen oder zum Schrumpfen

Die Situation nach dem Terroranschlag erlaubt zwei Möglichkeiten: Die eine liegt darin, den Ängsten zu folgen und sich zu einzukrampfen. Es ist die Möglichkeit, sich mehr vom Außen abschließen und die Verteidigungsmechanismen hochfahren, die Kampfenergien zu bündeln und aggressiv gegen die Feinde vorgehen oder sich hinter den Mauern zu verschanzen und die Zugbrücken hochzuziehen. Niemand soll mehr herein, der im Innenraum Unsicherheit verbreiten könnte und alle müssen raus, die möglicherweise Böses im Sinn führen

Es geht bei dieser Möglichkeit darum, den eigenen Hass zu kultivieren, der auf jene, die ihren Hass in Gewalttaten ausdrücken, gerichtet ist. Wir begeben uns mit dieser Haltung auf die gleiche Ebene wie die Täter, weil wir meinen, es wäre der einzige Ausweg aus der Opferrolle, selber zum hassgetriebenen Täter zu werden. Scheinbar entkommen wir der Schockstarre nur dadurch, dass wir die eigene Wut und Zerstörungsenergie aktivieren.

Die zweite Möglichkeit liegt darin, in die Öffnung zu gehen. Statt sich abzuschotten und das Bedrohliche auszuschließen oder zu bekämpfen, wird es eingeschlossen und bekommt einen Platz. Das ist der einzige Weg, um der Bedrohung die Übermacht zu nehmen, die es durch seine Außenposition hat. Alles, was uns von außen bedroht, gibt es im Inneren genauso, das gilt sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene. Den Terror gibt es im Innenraum und er wird präsent, sobald er sich über Abgrenzung und Hass äußert. 

Das „Unmenschliche“ verliert seinen Schrecken, indem es ins Menschliche aufgenommen wird, indem deutlich wird, dass es eine Ausdrucksform ist, die jedem Menschen bekannt ist. Menschliches kann deshalb nie unmenschlich sein, sondern höchstens unverständlich und unglaublich. Es kann unser Begreifen übersteigen und uns an Grenzen des Erträglichen führen. Das Einlassen auf das Schreckliche nimmt ihm jedoch den Horror und reduziert es auf eine randständige Ausdrucksweise extremer menschlicher Not und Angst.

In jeder Unmenschlichkeit liegt die Chance, die Menschlichkeit zu vermehren. Das ist vielleicht ein übermenschlicher Anspruch, aber wir sollten uns mit ihm konfrontieren und ihn nicht einfach als illusorisch oder blauäugig wegwischen. Wir sind zu mehr fähig, gerade in der Situation einer extremeren Herausforderung. Wir können solche Situationen nutzen, um zu zeigen, was wir wirklich wollen und wohin wir uns ausrichten möchten. Wir können sie nutzen, um uns klarzumachen, wie weitgespannt das Menschliche in seinen Äußerungsformen ist und wie wir jede Form der Ausgrenzung überwinden können, in uns selber und in der Gesellschaft. Wir können erkennen, dass wir selber wachsen, je mehr wir das Menschliche in allen Formen annehmen.

Der österreichische Bundespräsident sagte anlässlich des Terrorattentats in Wien: „Hass kann niemals so stark sein wie unsere Gemeinschaft in Freiheit, in Demokratie, in Toleranz und in Liebe.“ Hass gibt es nur in der Ausgrenzung, Abwertung und Demütigung. Die Gemeinschaft im Geist der Liebe schließt den Hass nicht aus, sondern gibt ihm einen respektierten Platz. Bei diesem Respekt geht es nicht um die Billigung des Hasses, es geht nicht darum, ihn zu nähren und aufzublähen, sondern darum, ihn in Beziehung zu setzen mit den anderen Kräften und Energien, die ebenso da sind. Was den Hass stark macht, ist die Isolation, was ihn schwächt, ist die Einbindung und das Verstehen des Unverständlichen. 

Wir erleben eine Situation, die es erlaubt, über sich hinauszuwachsen und weiter zu werden oder sich einzuigeln und zu schrumpfen. Wir haben die Wahl, als Einzelpersonen und als Gesellschaft.


Dienstag, 3. November 2020

Wir sind alle Teil von dem Spiel

Wenn Grausames geschieht, wenn extreme Verletzungen der Menschlichkeit stattfinden, reagieren wir – verständlich – mit dem Impuls der Ausgrenzung. Jemand, der andere, Menschen, die ihm nichts getan haben, umbringt, ist ein Unmensch. Er hat sich mit einer derartigen Tat der Zugehörigkeit zur Menschengemeinschaft verwirkt. So jemand kann nicht Teil der Menschheit sein. Außerdem muss auch Gruppe, der er angehört oder die er vertritt und von der er zur Tat motiviert wurde, mit Verachtung und Bestrafung verfolgt werden.  

Wir fühlen uns als die Vertreter des Guten, die gegen das Böse kämpfen müssen, damit es nicht überhandnimmt.  Das Gute kann nur bewahrt werden, wenn das Böse mit aller Gewalt verhindert wird. Der österreichische Bundeskanzler spricht in diesem Zusammenhang von einem „Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei“.  

Es ist klar, dass alles getan werden muss, um böse Handlungen zu verhindern. Es ist aber auch klar, dass Menschen, die Böses tun, nicht einfach missratene Geschöpfe sind, von schlechtem Karma beladen oder vom Teufel besessen. Es sind Menschen mit schwerer Traumabelastung oder großer innerer Verwirrung und Verzweiflung. Sie ziehen ihre Motive nicht nur aus ihrem beladenen und gestörten Geist, sondern auch aus gesellschaftlichen und kulturellen Verwerfungen. Der Hass, den sie in ihren Handlungen ausdrücken, ist der Spiegel für den Hass, den alle Menschen irgendwo in sich tragen. Viel unbewusstes Handeln und Agieren ohne Reflexion in allen Teilen der Welt, in allen Schichten des Wohlstandes nährt den Boden, aus dem dann hassgetränkte Untaten entspringen.

Mit der Einstellung des Kämpfens werden alle Gräben vertieft. Jeder Kampf, auch der gegen den Terror, erzeugt Opfer, und Opfer erzeugen wiederum Täter. Aus dieser Spirale entkommen wir nur, wenn wir die Gefühle zulassen, die mit der Dynamik der Gewalt verbunden sind: Angst, Schmerz und Scham.

Wir werden durch die schlimmen Ereignisse an die Fragilität unserer Existenz erinnert. All die Sicherheiten, mit denen wir unser Leben ausgestattet hat, haben ihre Unsicherheiten. Überall kann der Terror zuschlagen, jeder kann sein Opfer werden. Wie gering auch die Wahrscheinlichkeit ist, betroffen zu sein, löst jede solche Tat Ängste aus. Das sind Ängste, die mit unserer Endlichkeit zu tun haben, die uns auf brutale Weise vor Augen geführt wird.

Wir sollten uns aber auch dem Schmerz stellen, der den Opfern gilt, der aber auch den Umständen gilt, die solche Taten anregen. Solange es massive Ungleichheiten in den Lebenschancen und Ungerechtigkeiten in der Güterverteilung gibt, solange es Verachtung und Überheblichkeit, Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit gibt, solange der Eigennutz vor das Teilen gestellt wird, solange es also strukturelle Gewalt gibt, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass wir unter individueller Gewalt leiden müssen.

All diese Verwerfungen, all diese Unfähigkeiten der Menschenfamilie, menschenwürdige Bedingungen in allen Gesellschaften zustande zu bringen, sind Anlass von Scham. Wir haben alle unseren Anteil an diesem kollektiven Versagen. Wir alle spielen mit bei einem Spiel, dessen Regeln dauernd Verlierer erzeugen und nur wenige gewinnen lassen, und das ist eine Schande.


Sonntag, 1. November 2020

Anpassung als Überlebenszwang

Die Anpassung an äußere Lebensumstände ist ein Grundmechanismus des Lebens. Es gibt immer etwas Äußeres, mit dem sich das Innere auseinandersetzen muss. In dieser Begegnung, die in jedem Moment abläuft, findet Wachstum und Lernen statt. Das Äußere verändert das Innere und das Innere anschließend das Äußere.

Wenn wir uns die menschlichen Entwicklungsbedingungen anschauen, erkennen wir schnell, dass diese Austauschprozesse selten optimal verlaufen. Neue Wesen, die empfangen und geboren werden, stoßen auf die bestehenden Familienstrukturen, gesellschaftlichen Gegebenheiten und Naturbedingungen. Sie bringen ihre Individualität als Bereicherung ein. Schaffen es die äußeren Faktoren, vor allem die familialen Bezugspersonen, in Abstimmung und Resonanz mit den neuen Impulsen zu gehen, so entwickelt sich ein für beide Seiten fruchtbarer Verlauf, bei dem wechselseitiges Lernen stattfindet und emotionales und soziales Wachsen angeregt wird.

Sind hingegen die Außenbedingungen unflexibel und starr, wie z.B. festgefügte Rollenerwartungen, die dem Kind vorgesetzt werden, so bleibt die Wechselseitigkeit des Austausches auf der Strecke. Eltern, die genaue Vorstellungen darüber haben, wie ein Kind zu sein hat und wie es sich verhalten soll, welche Gefühle erwünscht sind und welche abgestellt werden müssen, bringen das Kind in eine Friss-oder-Stirb-Alternative: Entweder du fügst dich dem „Korsett der Erwartungen“ oder du musst schauen, wo du bleibst. Die letzte Möglichkeit ist keine, denn sie würde den sozialen Tod erwarten. Die Anpassung wird unweigerlich zur unumgänglichen Überlebensstrategie.

Das Äußere hat die Übermacht, weil es die Bedingungen fürs Überleben diktiert. Das Innere muss übernehmen, was ihm vorgesetzt wird. Es wird sich zunehmend mit den äußeren Inhalten anfüllen, um sich auf diese Weise ein- und unterzuordnen. Es muss das Eigene zurückstecken und beiseite stellen, oft bis es ganz verkümmert ist und scheinbar nichts mehr vom eigenen Selbst übriggeblieben ist. Gezwungenermaßen müssen die Eigenbestrebungen und -impulse geopfert werden. Der ängstliche Blick auf die Erwartungen, an die man sich möglichst lückenlos anpassen muss, gräbt sich in die Gesichtszüge ein und prägt die unterwürfige Haltung in der Begegnung mit der Welt.

Trotziger Widerstand

Da die Wachstumsimpulse nie ganz unterdrückt werden können, zeigt sich in bestimmten Entwicklungsphasen eine Gegenbewegung gegen die erlernte Überanpassung. Wenn neue Kompetenzen erworben werden, wie z.B. der Eigenwille, erprobt sich dieser an den äußeren Umständen und es kann zu Phänomenen der Rebellion kommen, mit denen gegen den Zwang zur Anpassung und Unterordnung protestiert wird. Gleich wie diese Prozesse dann ablaufen – ob sich der Aufstand gegen die Übermacht der Außenregulierung zumindest teilweise durchsetzen kann oder ob er an der Dominanz und Unerbittlichkeit der äußeren Instanzen zerbricht –, der Anpassungsdruck bleibt bestehen und bestimmt das weitere soziale und emotionale Schicksal. Denn auch die Trotzhaltung als Kompensation der erzwungenen Unterordnung beruht auf der Verleugnung und Weglegung des eigenen Selbst und will es krampfhaft als Imitierung des Zwanges wieder aufrichten. Im Protest wird das Selbst allerdings nicht gefunden, sondern nur die Rache an seiner Beschneidung geübt. Es sollen auch die anderen leiden, indem die Grausamkeit verdeutlicht wird, mit der das Eigene ignoriert wurde. Der Antrieb zum Aufstand stammt zwar aus den Quellen des Selbst, das sich aus den Korsettierungen befreien will. Aber ohne ein verständnisvolles und respektvolles Umfeld kann das Eigene nicht wiedergefunden werden. Eigenes wächst nur dort, wo es vom Anderen bestätigt wird.

Die Suche nach dem Selbst

Es ist nicht verwunderlich und gibt Hoffnung, dass immer mehr Menschen aufbrechen, um ihr Selbst wiederzufinden. Das Leiden an den inneren Konflikten, die eine unvermeidliche Folge der Überanpassungsprozesse sind, wird immer offensichtlicher und verlangt nach Heilung. All die Bestrebungen der Selbsterforschung und Selbstverwirklichung sind nichts anderes als Reisen zur Wiederentdeckung eines verlorenen Kontinents, auf dem das eigene innere Wesen, die Individualität und das Wunderbare der eigenen Lebendigkeit warten.

Zum Weiterlesen:

Das Korsett der Erwartungen

Katzenbuckeln - eine Traumareaktion