Sonntag, 31. Mai 2020

Über die Einfalt

Naiv bedeutet soviel wie unwissend und leichtgläubig. Ein naiver Mensch gilt als kindliches Gemüt, vielleicht gesegnet mit der biblischen „Armut im Geiste.“ Einfältige Menschen sind meist leichter beeinflussbar und manipulierbar. 

Klar ist, dass wir alle über naive Seiten verfügen; nur wer alles wüsste, wäre über die Naivität erhaben. Wir tragen ein Sammelsurium an ungeprüften Theorien und Ideen mit uns herum und verbreiten aus diesem Fundus Meinungen, die wir für Wissen halten. 

Allerdings gibt es jenseits der durchschnittlichen Naivität Menschen, die die Naivität als Persönlichkeitsmerkmal angenommen haben, als eine Form der erlernten Verdummung. Sie verfügen über ausgeprägte Selektionsmechanismen, die die Wirklichkeitserfahrung filtern, um ein möglichst einfaches Weltbild zu erzeugen. Oft handelt es sich um eine erlernte Selbstunterschätzung mit dem Gewinn, sich vor Anforderungen und Leistungserwartungen zu schützen: man gibt vor, etwas nicht zu können, was man wohl könnte, weil man es nicht machen will oder weil es zu anstrengend ist oder weil man erwartet, sich zu blamieren. Man verfügt zwar über die entsprechende Kompetenz, eine vorweggenommene Scham hindert aber daran, sie auszuüben und für die eigenen Ziele einzusetzen. 

Es handelt sich bei der Naivität um eine Spielart der erlernten Hilflosigkeit. Durch das Zeigen von Inkompetenz bekommt man die Aufmerksamkeit, wenn auch auf negative Weise. Die Naivität fällt auf und wird bemerkt. Das scheint manchmal vorteilhafter zu sein als missachtet und ignoriert zu werden und kann sich deshalb in der Kindheit als Verhaltensmuster etablieren und als erwachsene Infantilität weiterwirken. Das Muster schützt vor Überforderung und Nichtbeachtung.

Der Preis liegt in der Einengung des Wirklichkeitskontaktes. An die Stelle von fließenden Weltmodellen, die sich laufend verändern und durch die Verarbeitung von neuen Informationen umgestalten, treten starr fixierte Konzepte mit einfachen Elementen und Kausalbeziehungen, in denen das Gute und das Böse eine zentrale Ordnungsfunktion ausüben. Solche Vereinfachungstendenzen können sich zu Wahnsystemen und damit zur Paranoia auswachsen, wenn eine fixe Idee zu einem übergreifenden Zusammenhang ausgebaut wird, der die gesamte Wirklichkeit nach einem einzigen Muster interpretiert. Ein Beispiel ist der Antisemitismus, der alles Schlimme auf der Welt durch eine einzige Menschengruppe verursacht sieht.

Die Prediger der heilen Welt


Der Glaube an das Gute im Menschen ist weder naiv noch abwegig. Wenn er sich jedoch mit Schönfärberei und rosaroten Brillen verbindet, wenn also das Schlechte in der Welt übersehen oder umgedeutet wird, bildet sich ein vereinfachtes Weltmodell, das aus inneren Gefühlen gespeist ist und durch das Ausblenden von Außeninformationen aufrechterhalten wird. Es sind kindliche Fantasien, überall nur das Gute zu sehen

Die „Gutmenschen“ und „Weltverbesserer“ werden häufig spöttisch karikiert. Sie würden aus einer beschränkten Weltsicht heraus vereinfachte und deshalb unbrauchbare Strategien propagieren, die nur scheitern können und die Probleme zusätzlich verschlimmern. Diese Kritik pauschaliert oft selber, indem sie alles, was nicht ins eigene Bild passt, mit dem Naivitätssiegel abstempelt, ohne sich näher damit auseinanderzusetzen. Die „Gutmenschen“ sind in der Migrationsdebatte eine Zielscheibe für Kritiker, die meinen, dass jede Wohltat, die einem Flüchtling gewährt wird, nur einen Effekt hat, nämlich noch mehr Flüchtlinge ins Land zu ziehen. In der Klimadebatte gelten die „Klimahysteriker“ als naive Weltverbesserer, die den Konsumenten ein schlechtes Gewissen aufgrund von unbewiesenen Theorien einreden wollen und meinen, dass mit einem Verzicht auf Plastiksackerl die Welt gerettet werden kann. In solchen Fällen wird also der Naivitätsvorwurf selber auf naive Weise vorgebracht.

Dummheit


In der Nähe der Naivität befindet sich die Dummheit. Sie beruht nicht auf einem Mangel an Wissen, sondern auf dem Unwillen, sich Wissen zu beschaffen. Dummheit ist eine Wahl, die im Fall der verfestigten Naivität früh getroffen wird und sie hat mit Trägheit und Angst zu tun. Dumme Menschen leiden unter der Einbildung, genug zu wissen, um über Gott und die Welt reden zu können, oder unter der irrigen Überzeugung, zum Wissenserwerb nicht fähig zu sein. Dummheit ist also eine Ausrede, genährt aus einer in der Kindheit erlernten Gewohnheit der Selbstabwertung.

Der im vorigen Artikel beschriebene Narr ist kein Dummkopf; er ist im besten Fall ein meisterhafter Spieler mit der Naivität. Narren vereinfachen und verzerren die Theorien, die sich die Menschen über die Wirklichkeit erschaffen. Sie kontern nicht mit Wissen, sondern hebeln die plumpen Vorannahmen mit Spott aus den Angeln. Sie entlarven die Naivität, indem sie ihre Begrenztheit augenscheinlich machen.

Die aggressive Naivität


Die naive Haltung kann sich mit Aggression paaren und verliert den unschuldigen Charakter der Einfalt. Es gesellt sich ein scheinbar moralischer Antrieb zum simplen Modell der Wirklichkeit und die Basis für eine explosive Mischung entsteht. Zum Unterschied von den Gläubigen der heilen Welt geht die aggressiv naive Person von einer elementaren Dichotomie des Guten und des Bösen aus.

In dieser Weltsicht gibt es z.B. einen Bösewicht, der bekämpft werden muss. Oder die Übel in der Welt haben eine Ursache: Eine Technologie (z.B. G5), eine medizinische Methode (z.B. die Impfung) oder eine ökonomische Strömung (z.B. die Globalisierung). Wenn das Böse enttarnt und namhaft gemacht wurde, muss dafür gesorgt werden, dass es keinen Schaden mehr anrichten kann. Nach der Devise, dass der Zweck die Mittel heiligt, darf man sich nicht wundern, wenn auch Gewalt eingesetzt wird. An der Grenze zwischen fixer Idee und Wahnsystem taucht stets das Argument auf, dass mit allen Mitteln gekämpft werden muss, weil das „System“ oder die „gleichgeschalteten Medien“ die Gefahr verschleiern oder sogar heimlich fördern.

Der aggressive Vertreter der naiven Weltrettung argumentiert nicht mehr, sondern missioniert und agitiert. Auf Kritik oder abweichende Meinungen reagiert er mit Verdächtigungen und Rechthaberei. Er fühlt sich verraten, wenn jemand anderer seine Ansichten nicht teilt und bedauert dessen Ferngesteuertsein und Manipulierbarkeit. Für ihn zerfällt die Menschheit in zwei Gruppen, diejenigen, die durchschauen, was gespielt wird, und diejenigen, die blind ihren Verführern ins Verderben nachrennen. Deshalb müssen Menschen, die die eigenen Sichtweisen nicht teilen, als Personen angegriffen und abgewertet werden. Denn sie spielen mit bei dem verderblichen Spiel, ohne seine Regeln zu kennen.

Der Weg aus der Naivität


Die komplexe Wirklichkeit stößt auf den menschlichen Verstand, der vereinfachen muss, um sich orientieren zu können. Sobald diese Grundverfasstheit, der wir alle unterliegen, erkannt ist, gilt es, den nächsten Schritt ins Auge zu verfassen. Der Weg aus der Naivität, aus der kindlichen Sicht auf die Wirklichkeit, ist Differenzierung und Erkenntniskritik. Diese Taktiken verfolgen uns, seit wir denken können. Auch wenn Kinder zunächst ein naives Weltbild aufbauen, entwickeln sie zugleich die Fähigkeit, sich selber zu reflektieren und in  Frage zu stellen. Was ist richtig, was ist falsch? Was ist gut, was ist böse? Diese Fragen begleiten uns seit unseren frühen Tagen auf dem Prozess des Erwachsenwerdens.

Erwachsensein bedeutet nicht, frei von Naivität zu sein, sondern dazu fähig und bereit zu sein, die eigene Naivität immer wieder zu überprüfen und mit der Realität zu konfrontieren, also die eigenen Wirklichkeitskonstruktionen, die Weltmodelle im Kopf mit der Erfahrungswelt abzustimmen und laufend weiterzuentwickeln. 

Die Bereitschaft zu Kritik und Selbstkritik führt uns aus der Naivität heraus. Wo diese Bereitschaft fehlt, bleibt die Weltsicht auf einem primitiven Niveau stecken und klafft unweigerlich drastisch mit der Wirklichkeit auseinander, ist also dann nicht mehr praxistauglich. Je undifferenzierter und blindgläubiger die Motive der eigenen Handlungen sind, desto schädlicher sind die Folgen dieser Handlungen für die Gesellschaft. Denn Handlungen, die auf einer mangelhaften Wirklichkeitserkenntnis beruhen, verfehlen naturgemäß das Ziel, das sie anstreben. Sie erzeugen ein Chaos, das mit naiven Mitteln erst recht nicht geordnet werden kann.

Wir kommen nicht darum herum, unser Wissen beständig zu erweitern und auf die Wirklichkeit anzuwenden. Die Schönheit, die in diesem Bestreben liegt, anerkennen zu können, führt uns von selbst aus der Naivität heraus. Wissenserwerb kann Genuss sein, und die Vermehrung des Wissens steht in keinem Gegensatz zur Einfachheit, die das Leben in sich birgt, wenn wir es einmal auch aus einer naiven Perspektive betrachten. 

Zum Weiterlesen:

Freitag, 22. Mai 2020

Der Narr

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Der Archetyp des Narren hat eine besondere Stellung unter den verschiedenen Gestalten des kollektiven Unterbewusstseins. Nicht zufällig rangiert er als die Karte Null im Tarot. Die Null steht für das Nichts, die Leere und das Unbestimmte. Die Null steht auch für den Anfang, und deshalb muss der Narr etwas mit unserem eigenen Anfang zu tun haben.

Der Narr ist jemand, der nicht ganz zurechnungsfähig ist, dem es also an der allgemeinmenschlichen Vernunft mangelt. Er weiß auch nicht über die gewohnten Regeln des Zusammenlebens Bescheid oder kümmert sich nicht darum. Deshalb genießt er die Narrenfreiheit und beansprucht damit eine Sonderstellung in der Gesellschaft.

Diese Sonderstellung gleicht der des ungeborenen Wesens und des Kleinkindes. Aufgrund der mangelnden Kompetenzen in fast allen Bereichen benötigen die kleinen Erdenbürger diese spezielle Position, sonst können sie nicht wachsen und gedeihen. Die Menschen werden ja im Vergleich zu anderen Säugern viel zu früh geboren und brauchen viel Zeit, um selbständig lebensfähig zu werden. Durch die Entwicklung der Zivilisation hat sich diese Zeit noch weiter verlängert, nachdem immer mehr schulische Bildungsvorgänge zur gesellschaftlichen Überlebensfähigkeit notwendig sind.

In der Schonposition, die Kinder und Jugendliche für ihre Anfänge brauchen, kann vieles ausprobiert und als Fehlern gelernt werden. Spielerisch wird die Welt Schritt für Schritt erschlossen. Der „Ernst des Lebens“ ist noch weit entfernt. Auch wenn die Kinderseele Dramen und Traumen überleben muss, ist es wichtig, zur Leichtigkeit und Spielfreude zurückkehren zu können. Das Närrische auszuleben, ohne starre Regeln und fixierte Gewohnheiten ist ein Privileg der Kindheit.

Pränatale Hilflosigkeit und Weisheit


Die pränatale Wurzel des Narren liegt in der Naivität des winzigen Wesens, das von nichts eine Ahnung hat, was für die Großen so wichtig ist. Und dennoch weiß es ganz genau, was stimmt und was nicht, was es braucht und was fehlt. Es weiß, wie die Ordnung beschaffen sein sollte, in die es hineingeboren werden wird. Es hat allerdings keine Möglichkeiten, das, was stimmt, zu fördern und das, was nicht stimmt, abzustellen. Es ist den Umständen machtlos ausgeliefert und trachtet danach, wie es sich in die vorgegebenen Bedingungen einpassen kann, so gut es eben geht.

Der Fetus verfügt über eine einfache und doch universell gültige Wahrheit über das zentrale Thema: Was Menschsein bedeutet und wie es gestaltet werden muss. Es geht dabei um die Kraft der Liebe, der Verbindung zwischen den Menschen, des Verstehens und des einander Dienens. Das ist seine Weisheit, die im Prozess des Erwachsenwerdens meistens verloren geht und in der komplexen Welt der Moderne zum Randphänomen verkümmert.


Das Abbild des Kindlichen


Der Narr ist das Abbild des Kindes im Erwachsenen. Er vertritt beides: Die naive Unvernunft und die Weisheit. Er lebt also die Ambivalenz aus und nutzt sie, um die Denkgewohnheiten und Erwartungen der Menschen zu verwirren. Selber durcheinander, irritiert er die erstarrten und betonierten Strukturen der Erwachsenenwelt, die sich so vernünftig und verantwortungsbewusst gibt. 

Das ist seine Gabe: Die Mitmenschen aus ihrer Lethargie und ihren Mustern herauszuholen und in ihrem Selbstverständnis zu erschüttern. Wenn er sich der frühen Wurzeln seiner Aufgabe bewusst ist, nutzt er seinen Narrenstab, um an die Grundweisheiten des Menschseins zu erinnern, aber nie mit dem besserwisserischen Lehrerstock und nie mit plakativen Phrasen. Vielmehr zeigt er in seiner Verrücktheit, was alles zurechtgerückt gehört, und zeigt mit dem Finger dorthin, wo die Menschen vergessen haben, dass sie selber oder die anderen Leute Menschen sind.

Der Narr steht für sprudelnde Kreativität, aber weniger im Sinn des produktiven Schaffens von Neuem, sondern mehr in der Zerstörung dessen, was nicht mehr tauglich ist. Er nimmt den Menschen die Selbstverständlichkeiten weg, auf denen sie ihr angepasstes Leben gegründet haben und die sie an ihrem Weiterkommen hindern. Er zeigt die Enge auf, in die sich viele Angstgeplagte hineinentwickelt haben, ohne es zu merken. Er nutzt den Spott, um die Lächerlichkeit des Getriebenseins, der Gier und des Geizes anzuprangern.


Die Verführbarkeit


Die Närrin kann nur am Rand sinnvoll existieren. Sobald sie ins Zentrum geholt wird, verliert sie ihren Nimbus. Sie ist nicht geeignet für die reinen Erwachsenenthemen wie Organisation, Machtverteilung, Ökonomie. Sie kann mit Ordnungsstrukturen nichts anfangen, außer auf ihnen herumzuhüpfen.
Die Narren haben auch ihre Anfälligkeiten für den Narzissmus. An den Schalthebeln der Macht sind sie äußerst gefährlich und destruktiv in einem fundamentaleren Sinn als oben angesprochen. Es ist nicht die Zerstörungskraft des Narren, die auf Gewohnheiten bezogen ist, sondern das hilflose und ziellose Agieren aus dem Bauch heraus, das nur mehr wild um sich schlagen kann. Narren an der Macht sind in der komplexen relativen Welt der Sachzwänge und Netzwerke verloren und führen sich dort auf wie Kinder, denen man Vernichtungswaffen in die Hand gegeben hat.

Die Mediengesellschaft hofiert den Narren und bittet sie auf die Bühne, damit sie das Publikum unterhalten. Die guten Narren kommen immer mit einem Spiegel auf die Bühne, den sie den Zuschauern vorhalten. Und sie treten wieder ab, sobald die Show vorbei ist. Die schlechten Narren lassen sich blenden und verführen und genießen den Ruhm, den sie erlangen. Sie ergreifen schnell das Zepter, das jemand liegengelassen hat oder das ihnen angeboten wird. Sie lassen sich verehren und in Machtämter wählen, in denen sie dann mit ihrer Verrücktheit maßlosen Schaden anrichten und Schiffbruch erleiden.


Der Hofnarr


Die Stellung des Hofnarren in der früheren Gesellschaft war prekär. Er war wohlgelitten und leistete seinen Dienst im Ausgleichen der inneren Widersprüche und Emotionen des Herrschers. Er dämmte die Machtallüren seines Herrn ein und erheiterte ihn in dunklen Stunden. Er konnte seine Privilegien genießen, doch wenn er den Bogen überspannte, war er der Willkür des Herrschers ausgeliefert. Seine Kunst bestand also auch im Austarieren des Raumes, den er ausreizen durfte. Maßte er sich zu viel Macht an, agierte er also zu erwachsen, dann konnte ihn das schnell den Kopf kosten.


Der Narr in uns


Der Narr, den wir in uns tragen, braucht auch dieses Augenmaß. Er kann es gewinnen, indem er sich immer wieder auf seine Wurzeln besinnt, auf die tiefe und einfache Weisheit des Menschseins, die wir als Grundkapital in dieses Leben mitbekommen haben, um es weise zu nutzen. Er verliert es, wenn er glaubt, etwas Besseres zu sein als all die anderen Narren. Und er verliert sich selbst, wenn er sich mit Verantwortung und Macht zusammentut.

Die Närrin in uns kann uns als Ort der Rekreation dienen. Die Ernsthaftigkeiten des Lebens mit ihren oft unmenschlichen Forderungen und Erwartungen kosten uns viele Kräfte, und das Närrische ist ein unverzichtbarer Ausgleich dazu. Die kindliche Freiheit und Weisheit, die Unbeschwertheit und Unbekümmertheit, das Losgelöstsein von Zwängen und Pflichten, das sind die wirksamen Gegenmittel zur Eindimensionalität der Erwachsenenwelt, die der Archetyp des Narren beisteuert. 

Hier noch ein Beitrag meines eigenen inneren Narrens - zum Corona-Thema.