Dienstag, 29. Juni 2021

Nationalismus und Opferstolz

Der Opferstolz und die österreichische Identität

Viele Kollektive haben ihre Identität auf einem Opferstolz errichtet. Ein Beispiel bietet die zweite Republik in Österreich seit 1945, die sich lange Zeit als erstes Opfer des Nationalsozialismus definiert hat und u.a. mit dieser Erzählung die Besatzungszeit nach dem 2. Weltkrieg nach 10 Jahren beenden konnte. Dieser Opferstolz wirkte andererseits dabei mit, dass die Gräueltaten, die Österreicher während der Nazi-Diktatur begangen haben, unter den Teppich gekehrt wurden, ebenso wie die Mitläuferschaft einer großen Zahl bekennender Nationalsozialisten und Sympathisanten unter den Österreichern. Neben den offenen Anhängern der Nazis gab es einen noch größeren Anteil jener, die die neuen Machthaber mit Duldung und Unterordnung unterstützten, aber die sich nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft gerne als deren Opfer sahen.  Die Täterscham suchte sich ein Schlupfloch mit dem Opferstolz

Die erste Republik tat sich schwer mit dem Opferstolz, denn sie entstand als Überbleibsel der Habsburgermonarchie und als Verlierermacht des 1. Weltkriegs. Das kollektive Gefühl war eher eines der Demütigung und existenzbedrohenden Verkleinerung. Der Stolz konnte allein im kulturellen Bereich aufrecht bleiben, in dem zumindest die Stadt Wien als Weltmetropole erhalten blieb. Die Demütigung machte viele Österreicher anfällig für die Großmauligkeit der Nationalsozialisten, die versprachen, gerade diese verletzte Ehre durch eine aggressive Eroberungspolitik wieder gutzumachen.

Zur deutschen Geschichte des Opferstolzes

Denn typisch für die Nazi-Propaganda war das Ummünzen der Opferscham („Der Verrat von Versailles“ und die Dolchstoßlegende) in einen Opferstolz („Deutschland über alles“), aus dem wiederum die Grundlagen für den Täterstolz gezimmert wurden.  Die Verletzung des nationalen Stolzes Deutschlands, der aufstrebenden Zentralmacht in Europa, durch den als schändlich, demütigend und ungerecht wahrgenommenen Vertrags von Versailles wurde genutzt, um die eigene Gewalttätigkeit und Aggressivität zu rechtfertigen. Das Opfer fordert eine Wiedergutmachung, und wenn diese nicht freiwillig gewährt wird, muss sie mit aller Gewalt erzwungen werden. 

Angesichts des materiellen, emotionalen und ideologischen Trümmerhaufens nach dem Ende des Krieges brachte die Nation die Scham der Täter zum Schweigen, zu überwältigend und monströs waren die Verbrechen wider die Menschlichkeit, die das nationalsozialistische Regime, dem sich viele Deutsche mit Leib und Seele verschrieben hatten, zu verantworten hatte. Nur vereinzelt meldete sich der Opferstolz bei jenen, die die Täterscham nicht tragen wollten, z.B. bei der Anprangerung von Kriegsverbrechen der Alliierten an den Deutschen. Diese hat es auch gegeben, aber sie stehen in keinem Vergleich mit den Taten der Deutschen, vor allem ihrer Vernichtungstruppen von der SS, aber auch von vielen Angehörigen der Wehrmacht, also der regulären Armee. Dennoch ist bis heute vor allem aus rechten und nationalen Kreisen zu hören, dass bei der Bombardierung von Dresden vom 13. – 15. Februar 1945 250 000 Tote zu beklagen waren, eine Zahl, die die NS-Propaganda verbreitete, die aber durch historische Forschungen auf ein Zehntel reduziert wurde, sodass heute offiziell von 25 000 Toten ausgegangen wird. Doch viele wollen bis heute an der größeren Zahl festhalten, um ein inneres Gegengewicht gegen die Scham zu haben, die z.B. mit der Verantwortung verbunden ist, dass durch die Nazis 6 000 000 Juden ermordet wurden. So kann man gegenrechnen, obwohl die Zahlenverhältnisse lächerlich sind, aber scheinbar einen moralischen Gutschein verbuchen: Wir haben ja auch unschuldige Opfer zu beklagen, was regt ihr euch über uns auf und macht uns schlecht? 

Serbien und die Opfergeschichte

Ein anderes Beispiel für den Opferstolz liefert die Geschichte Serbiens, das seine moderne Identität auf der im Jahr 1389 verlorenen Schlacht am Amselfeld (Kosovo) gegen die Türken begründet. In dieser Schlacht wurde nicht nur der Großteil des serbischen Adels getötet, sondern auch die bis ins 19. Jahrhundert reichende Unterwerfung unter das osmanische Reich besiegelt. Bis heute wird der Jahrestag dieser Schlacht gefeiert, zeitweilig mit Unterstützung der serbisch-orthodoxen Kirche und der Verwendung des Vergleichs der Geschichte Serbiens mit der Leidens- und Auferstehungsgeschichte Jesu. Der serbische Präsident Slobodan Milošević hat dieses Gedenkereignis 1989 genutzt, um den serbischen Nationalgeist zu stärken und offensichtlich auf kriegerische Auseinandersetzungen vorzubereiten, die dann bald darauf begonnen haben und den Zerfall von Jugoslawien herbeiführten. 

Dazu kommt, dass das Land 1914 das erste Opfer des österreichisch-ungarischen Angriffskrieges war und im zweiten Weltkrieg von den kroatischen Faschisten und den Deutschen unterdrückt wurde. In den Zerfallskriegen von Jugoslawien konnten Serben endlich die Täterseite ausleben. Die inzwischen verurteilten Kriegsverbrecher genießen in manchen Kreisen bis heute Heldenstatus. Andererseits kam Serbien wieder in einen Opferstatus, als die NATO begann, Serbien zu bombardieren, um die Gräueltaten und ethnischen Säuberungen im damaligen albanischen Teil Serbiens, dem Kosovo, zu beenden.

Nationsbildung und Opferstolz

Diese Beispiele lassen sich beliebig vermehren. Nationsbildungen, die die Bewohner eines Staates emotional zusammenhalten sollen, sind mit der Symbolik des Opferstolzes aufgeladen und nutzen ihn, meist in Verbindung mit dem Täterstolz, für den Zweck des Aufbaues einer nationalen Identität. Jeder Staatsbürger soll auf seinen Staat stolz sein, sei es auch nur für die Opfer, die in seinem Namen begangen wurden. Mit diesen Mitteln ist es gelungen, aus Menschen, die ein bestimmtes Gebiet bewohnen, Nationen zu formen, und ihnen eine einheitliche Identität zu verpassen. Es gibt nicht mehr nur Menschen als Einwohner eines bestimmten Tales oder Landstriches, sondern als Zugehörige zu einem weit umfassenderen Gebilde, dessen Identität mit allen Stolz- und Schamanteilen sie mit der Geburt übertragen bekommen und ihr Leben lang weitertragen, ob sie es wollen oder nicht. 

Erst die bewusste Beschäftigung mit der eigenen Geschichte löst aus dem Bann dieser emotionalen Fallen, die mit den Opfermythen und Heldengeschichten errichtet werden, um die Menschen an abstrakte Staatsgebilde zu binden. Der Kontakt und die Begegnung mit den Angehörigen anderer Nationen kann ebenso den Blick für die Beschränktheit der nationalen Perspektiven, die vor allem von rechten Parteien immer wieder in ihre Propaganda eingebaut werden*, öffnen und die eigene Identität aus den Engen des Nationalen in das Weltbürgerliche weiten. 

Kriegerdenkmäler: Institutionalisierter Opferstolz

Die Erhaltung und Pflege der Kriegerdenkmäler gehören in diesen Zusammenhang mit Scham und Opferstolz. Tote verdienen eine Ehrung durch ihre Angehörigen, dafür sind Friedhöfe da. Dass aber den Soldaten, die im Krieg gefallen sind, besondere Ehrungen auf öffentlichen Plätzen gewidmet werden, hat mit dem Opferstolz zu tun, der durch diese Traditionen hochgehalten werden soll. Den nachfolgenden Generationen soll das Bewusstsein bleiben, dass der Tod von Soldaten in einem Krieg eine wesentlich wichtigere Bedeutung trägt als jede andere Form des Todes. Die Denkmäler sollen symbolisieren, dass die Nachkommen stolz auf ihre opferwilligen Vorfahren sind, die für irgendeine Sache im Krieg ihr Leben gegeben haben. Das Opfer wird Teil der nationalen Identität und soll überindividuelle Motivationskraft erzeugen, die dann im Fall eines Krieges mobilisiert werden kann.

Wieweit die Symbolik von Leid, Opfer und Auferstehung, wie sie im Zentrum des christlichen Glaubens steht, an dieser Thematik beteiligt ist, wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung.

* Der neugewählte Vorsitzende der Freiheitlichen Partei Österreichs sprach bei seiner Parteitagsrede davon, er wolle „nicht in einem Islamistengrätzel leben, sondern unter meinesgleichen.“ Der Generalsekretär dieser Partei bemerkt bei dem gleichen Ereignis: „Wir sind die einzige Partei …, die vorbehaltslos hinter unseren Vorfahren steht.“ (Er erklärte dabei nicht, wie man hinter den Vorfahren steht, die man sich meistens hinter sich selber vorstellt.) Der Vorvorgänger des neuen Vorsitzenden hatte bekanntlich von einer „ideologischen Missgeburt der österreichischen Nation“ gesprochen, um zu belegen, dass die Österreicher sich gefälligst wie Angehörige der deutschen Nation fühlen sollten und ohne zu bedenken, dass damit gesagt ist, dass jede Nation und nationale Identität aus dem Schoß von Ideologien entsprungen ist.

Sonntag, 27. Juni 2021

Der Stolz der Opfer

Der Opferstolz ist ein verstecktes und geheimnisvolles Gefühl, vom Unbewussten gesteuert und zumeist auch dort verwahrt. Geraten wir in eine Opferposition, so gesellt sich sogleich ein Schamgefühl dazu. Denn jede Opfersituation ist beschämend: Wir sind unterlegen und werden in unserem Selbstwert nicht geachtet. Umgekehrt gilt auch: Jede Beschämungserfahrung führt in eine Opferposition. Es tut sich ein Machtgefälle auf, in dem der Täter die Kontrolle über die Situation hat und das Opfer ausgeliefert und hilflos ist. Das kann soweit gehen, dass das Opfer bis zur Ohnmacht und in eine innere Erstarrung gerät. Es entsteht ein tiefsitzendes Trauma, während der Täter als übermächtig und bestimmend erfahren wird. Emotionaler, physischer und sexueller Missbrauch, den viele Kinder erdulden müssen, ist eine schwer beschämende und traumatisierende Erfahrung. Es ist bei solchen Taten so, als würde beim Opfer jeder Stolz ausradiert und die Würde in den Schmutz gezogen. Die Schwere der Schambelastung verhindert es, in eine ausgleichende, kompensierende Position zu kommen, in der sich ein Funken Stolz melden könnte. Denn die Scham füllt die Seele aus. 

Der Stolz kann sich nachträglich bilden, wenn klar wird, dass es gelungen ist, trotz der Opferrolle zu überleben. Bei schweren Missbrauchserfahrungen erfordert es viel Mühe, diese Erkenntnis ins Bewusstsein zu rufen, denn die aus den Erfahrungen entstandenen Belastungen wirken sich hemmend auf alle Lebensbereiche aus und lassen das eigene Leben eher als Qual denn als Quelle von Zufriedenheit erscheinen. Meist braucht es eine kompetente therapeutische Begleitung, damit die Selbstsicherheit zurückkommen kann und sich langsam die Würde aufrichtet und ein Quäntchen Stolz entsteht, trotz der schwierigen Anfangsbedingungen zu einem eigenständigen Leben gefunden zu haben.

Diese Form des Stolzes bringt den Selbstwert wieder ins Gleichgewicht. Was in der beschämenden Tat zerstört wurde, darf innerlich heilen. Jeder Schritt bei diesem Prozess, der das eigene Leben erleichtert, erlaubt ein Stück mehr Stolz. Er hilft, das eigene Schicksal anzunehmen, positiv zu deuten und kraftvoll die eigene Zukunft in die Hand zu nehmen.

Der toxische Opferstolz

Zum Unterschied vom Stolz der Traumaopfer, die ihre Erfahrungen bearbeitet haben, gibt es eine Form des Stolzes, die unbewusst regiert und bei weniger intensiven Beschämungserfahrungen mitspielt. Er entsteht dann, wenn die Entwicklung des Selbstgefühls und der inneren Stabilität weiter gediehen ist, als es bei den ganz frühen Traumatisierungen der Fall ist. Es handelt sich um einen Kompensationsvorgang, der in der Seele abläuft, um das in Mitleidenschaft gezogene Selbstgefühl zu verbessern.

Dieser Opferstolz unterscheidet sich von dem klaren und bewussten Stolz, der als Resultat eigener Anstrengungen in der Bewusstseinsarbeit auftritt. Der unbewusste Opferstolz hält an der Opferrolle fest und will daraus einen sekundären Gewinn erzielen. Die Opferrolle scheint unentrinnbar, also gilt es, das Beste aus der misslichen Situation zu machen. Nach der Tat und nach der Überwindung des Schocks wird das Geschehen bewertet und die Täterperson wird angeklagt, verurteilt und verachtet. Es geht bei dieser Dynamik um den Ausgleich des Selbstwertes. Das Machtgefälle, das zwischen Täter und Opfer entstanden ist, wird durch ein moralisches Gefälle ersetzt, in dem der Täter unten und das Opfer oben ist. Es hat jetzt die Kontrolle über die Beziehung, denn der Täter kommt aus seiner moralisch unterlegenen Position nur heraus, wenn ihm das Opfer verzeiht.

In einem weiteren Schritt werden Verbündete gesucht, die Verständnis und Unterstützung geben und bei der Verurteilung und Verachtung des Täters mitwirken. Diese Menschen werden zwar eingeladen, indirekt die Opferposition zu unterstützen, sie führen aber das Opfer auch wieder zur eigenen Kraft zurück und vermitteln ihm die Zugehörigkeit und die soziale Sicherheit, Grundbedürfnisse, die in der Opfererfahrung missachtet wurden. 

Je mehr Menschen das Opfer mit der eigenen Opfergeschichte befasst, desto mehr wächst der Stolz. Diese Form des Stolzes bleibt allerdings an den Opferstatus gebunden, solange sie sich aus der aggressiven Anklage gegen den Täter nährt. Der unbewusste Opferstolz, der das moralische Gefälle zum Täter errichtet, beinhaltet selber einen Täteraspekt. Das erklärt seine kompensatorische, also seelisch ausgleichende Wirkung. Indem aber das Unbewusste Regie führt, bleibt die innere Ambivalenz aufrecht und schwankt zwischen Opferscham und Opferstolz.

Die Konkurrenz der Opfer

Manchmal entwickelt sich eine Konkurrenz im Opferstolz unter den Kollegen und Freunden, mit denen die Opfererfahrung geteilt wird: Wer hat am meisten gelitten, wer wurde am stärksten gedemütigt und beschämt? Manche Menschen spielen die eigene Opfererfahrung in den Vordergrund, im Bestreben, Verständnis für das Opfer zu zeigen. Statt des stärkenden Effekts der Solidarität und des Mitgefühls kommt es zu einer Aneinanderreihung von Leidenserfahrungen, mit dem heimlichen Ziel, einander zu übertreffen, damit schließlich die eigene Opferrolle den Sieg davonträgt, nach dem Motto: Ich bin noch viel traumatisierter als du. 

Die Konkurrenten um den Opferstatus berauben sich in dieser Dynamik der Kräftigung, die im Solidarisieren und Mitfühlen gewonnen werden kann. Stattdessen wird die Täter-Opferdynamik auf die Suche nach Unterstützung und Heilung übertragen: Wer verdient am meisten Bestätigung für das eigene Leid? Wer trägt die größere Opferlast? Wird die eigene Opferlast nicht ausreichend anerkannt, entsteht sogleich wieder eine Opferposition, und die andere Person gerät in die Täterrolle; diese hingegen kann den Vorgang spiegelgleich wahrnehmen.

Der Opferstolz verhindert auf diese Weise den Weg zur eigenen Kraft und schlägt sich auf die Seite des Konkurrenzierens, bei dem jeder lieber Täter als Opfer ist, weil damit die moralische Rechtfertigung gesichert werden kann. Es wird aber bei dieser Form des Wettlaufes keinen Sieger geben, vielmehr bleiben alle Beteiligten am Schluss als Verlierer übrig.

Erinnerungskonformität

Eine andere Spielart des Opferstolzes zeigt sich im Übernehmen und Anhäufen von Opfersituationen, ein Vorgang, den man den additiven Opferstolz nennen könnte. Er entsteht aus dem Mechanismus der Erinnerungskonformität. Vor allem in Selbsterfahrungsgruppen, aber auch in anderen Kommunikationssituationen gibt es das Phänomen, dass traumatische Themen durch das Mitteilen von einer Person auf andere überspringen. Es erzählt jemand von einer Missbrauchserfahrung, und bei jemand anderem, der zuhört, entsteht plötzlich das Gefühl, selber auf diese Weise missbraucht worden zu sein. Erst eine genaue Innenerforschung wird ergeben, ob hier eine im Unterbewusstsein abgespeicherte Erinnerung aufgetaucht ist oder ob es sich um ein Beispiel für Erinnerungskonformität handelt: dem Bestreben, sich mitfühlend zu zeigen, indem die Erfahrung, von der gesprochen wird. in die eigene Geschichte eingebaut wird. Wir zeigen uns als jemand, der versteht, wenn wir sagen können: Ja, das habe ich auch erlebt. Wir geben der anderen Person das Gefühl, nicht alleine mit dieser Erfahrung zu sein. 

Allerdings sollten wir achtsam sein, weil wir der anderen Person ihre Geschichte und die damit verbundene Last wegnehmen könnten, indem wir unsere eigene Geschichte in den Vordergrund spielen. Die oben besprochene Konkurrenz um den höchsten Opferstatus kann immer auch mitspielen. Unser Unbewusstes ist so trickreich, dass es in der Lage ist, Traumatisierungen zu erfinden, um die eigentlichen Traumaerfahrungen vor der Aufdeckung schützen zu kommen. 

Wir wollen uns des Wohlwollens eines Gesprächspartners oder Gruppenteilnehmers versichern. Unser Unterbewusstsein erfindet zu diesem Zweck eine neue Traumageschichte, und wir fühlen uns der anderen Person näher und vertrauen ihr mehr. So verläuft der Vorgang der Erinnerungskonformität, der zur Ausprägung eines „falschen Gedächtnisses“ führen kann. 

Diese Falle unseres Unterbewussten sollten wir im Auge behalten, bevor wir uns aus Solidaritätsgründen zu multitraumatisierten Menschen erklären, denen jede Form des Missbrauchs geschehen ist und die noch dazu alle Traumatisierungsmöglichkeiten aus der pränatalen Zeit in sich tragen. Allerdings gibt es auch das Phänomen, dass Traumaerzählungen die eigene Traumaerinnerung anrührt und auf den Weg zu einem verdrängten Seelenanteil führt. Auch hier ist die Unterstützung durch eine erfahrene Begleitung unerlässlich, um zu unterscheiden, was Einbildung und was Realität in Hinblick auf die eigene Lebensgeschichte bedeutet.

Die Rückgewinnung der Verantwortung

Was wir aus den Erkenntnissen über den Opferstolz lernen können, ist die Rolle der Verantwortung in der Opfer-Täter-Dynamik. Das Opferdasein hat mit einem Verlust an Verantwortung zu tun. Die Fixierung auf die Opferrolle, wie sie durch den Opferstolz geschieht, führt dazu, dass die Verantwortung nicht wiedererrichtet und zurückgeholt wird. Die Selbststärkung durch den Opferstolz ruht auf schwachen und ambivalenten Fundamenten. 

Die Verantwortung wird alleinig beim Täter belassen. Als Folge bleibt die eigene Ohnmacht mit der Verantwortungslosigkeit verbunden. Sobald die beschämende und demütigende Situation des Opferseins durch eine aggressive Grenzüberschreitung vorbei ist, geht der Weg der bewussten Verarbeitung über die Rückholung der Verantwortung und damit der eigenen Kraft. Wo dies nicht geschieht, und das ist in der Regel bei allen derartigen Kindheitserfahrungen der Fall, sucht die Seele Wege zur Kompromissbildung, von denen der Opferstolz eine Form darstellt. 

Kompromiss bedeutet, dass die Opferhaltung beibehalten wird, aber durch den Gewinn aus der Haltung ein Stück ausgeglichen wird und damit das Über- und Weiterleben erträglicher macht. Solange das Opfer an der eigenen Opferrolle festhält, verbleibt auch der Täter in der Fantasie des Opfers in seiner Rolle, und behält weiterhin seine Macht.

Erst wenn es gelingt, die Machtthemen aus der Erfahrung herauszufiltern – die aggressive Macht des Täters und die moralische Macht des Opfers –, öffnet sich ein Ausweg aus der Verstricktheit. Die Erfahrung der Demütigung wird bewusst angenommen, die praktischen Konsequenzen für die Beziehung zur Täterperson werden bewusst gezogen und die eigene Würde wird voll in ihr Recht gesetzt. Für die eigene Lernerfahrung wird die Verantwortung übernommen. Die Täterperson wird im eigenen Inneren entmachtet. Die unangenehme Erfahrung kann in die Vergangenheit verabschiedet werden, und die eigene Lebensverantwortung wird voll übernommen.

Das Kontinuum zwischen Opfer- und Täterrollen

In einem weiteren Kontext kann sich jedes Opfer einer Grenzüberschreitung für die Erkenntnis öffnen, dass jeder Täter einmal selber Opfer war und aus dieser Erfahrung heraus in die Täterrolle geraten ist. Daraus folgt auch, dass aus jeder eigenen Opfererfahrung eine Form des Opferstolzes und über diese eine eigene Form der Täterrolle entstanden ist. Es gibt also ein Kontinuum, das von der Opferscham über den Opferstolz zum Täter führt. Die Täterrolle enthält selbst wiederum einen Scham- und einen Stolzanteil. Der einzig sinnvolle Gewinn aus diesen Einsichten ist die Vermehrung und Vertiefung der eigenen Bewusstheit.

In dieser Perspektive geht es nicht um ein Gefälle, sei es zwischen Macht und Ohnmacht oder zwischen Moral und Bosheit, sondern um die Einsicht in die Vielschichtigkeit des Menschlichen. Wir alle kennen Opfer- und Täterrollen und die mit ihnen verbundenen Gefühle von Scham und Stolz.

Zum Weiterlesen:
Die Ursprünge der Opferrolle
Der Opferstolz in Beziehungen
Die innere Geschichte der Täter-Opfer-Dynamik
Die Täter-Opfer-Umkehr als Wurzel für Schuldkomplexe
Kinder in der Täterrolle


Montag, 21. Juni 2021

Die Ursprünge der Opferrolle

Kinder sind zunächst immer Opfer, weil ihnen die Alternativen im Erleben, Interpretieren und Handeln fehlen. Sie kommen mit einem intuitiven Wissen auf die Welt, sie sie sein sollte, damit sie gut gedeihen und aufwachsen können: Zwei sich liebende Eltern, die ihre Liebe dem Kind schenken, das sie aus vollem Herzen bejahen und willkommen heißen. Fehlen einige dieser Elemente oder gibt es einen Mangel an Liebe, dann leidet das Kind und muss sich an die vorgegebenen Möglichkeiten anpassen. Es nimmt an, dass es an der eigenen Fehlerhaftigkeit und Unvollkommenheit liegt, dass es nicht bekommt, was es bräuchte, dass also die Bedürfnisse nicht adäquat gestillt werden. Folglich glaubt das Kind, dass seine Bedürfnisse nicht stimmen und dass es sich verändern muss, um zumindest einen Teil der Bedürfnisse befriedigen zu können.

Obwohl das Kind glaubt, dass es selber schuld an der Misere ist, dass es selber in der Täterrolle ist, entspricht das nicht dem ganzen Bild. Dieser Glaube stammt aus der Anpassungsreaktion des Kindes und aus der unbedingten Liebe, die es den Eltern gegenüber empfindet. Es zieht den Schluss: Eltern, zu denen die ganze Liebe fließt, können nichts falsch machen, der Fehler muss bei ihm selbst liegen.

Von außen betrachtet ist hingegen klar, dass das Kind Opfer der Umstände ist: Opfer der Unvollkommenheiten oder, therapeutisch formuliert, der Traumatisierungen der Eltern. Es kann nichts dafür, dass die Eltern selber eine schwere Kindheit hatten, selber Opfer von emotionalen Mängeln und Verletzungen, und dass sie deshalb mangelhaft und verletzend mit dem Kind umgehen.

Desillusionierung

Die Entzauberung des Glaubens an die Täterrolle ist ein wichtiger Teil jeder Innenerforschung und therapeutischen Arbeit. Mit der Verabschiedung der Täterschaft melden sich die Gefühle von Hilflosigkeit, Bedürftigkeit und Ohnmacht, die aus der Position des Opfers kommen, die zum Kind und zu seiner Unschuld gehört. Es gilt, das Schamvolle dieser Position anzunehmen, um zu verstehen, was ihr Preis war. Es gilt zu erkennen, dass das Kind keine Alternative hatte und gezwungen war, sich anzupassen, indem die eigenen Bedürfnisse zurückgestellt wurden.

Entzaubert werden in diesem Prozess auch die Eltern, die von den Kindern häufig über viele Jahre auf einem Podest verbleiben und verehrt werden. Die Aufrechterhaltung eines Glorienscheins um die Eltern („Ich hatte die besten Eltern der Welt“) dient der Schamvermeidung: Mit so perfekten Eltern kann meine Kindheit nur perfekt gewesen sein. Würde ich mir eingestehen, was alles gefehlt hat und was alles schlimm war, würde ich mich meinen Eltern gegenüber nicht loyal verhalten und müsste sie anklagen. Außerdem würde ich in Kauf nehmen, dass ich selber in vielen Bereichen mangelhaft bin. Ich müsste mich also für meine Eltern und für mich selber schämen.

Gelingt dieser Prozess, so ersetzt eine realistische Sichtweise die Illusionen und das Geflecht der Annahmen, die zum Zweck der Anpassung an die ungünstigen Bedingungen aufgestellt wurden. Als Kinder waren wir diesen Bedingungen ausgeliefert, ohne danach gefragt zu werden. Wir haben unser Bestmögliches gegeben, um unter diesen Umständen einigermaßen heil zu überleben, haben unsere Wunden und Schrammen daraus mitgenommen und tragen heute, als Erwachsene, die Verantwortung dafür. Unsere Eltern waren haben das gegeben, was sie geben konnten, und es war in vielen Fällen zu wenig. Dennoch und trotzdem ist aus uns etwas geworden, durch das, was wir von den Eltern bekommen haben, und durch das, was wir uns selber erschaffen haben. Wir waren ursprünglich die Opfer in der Konstellation, die wir vorgefunden haben. Wir sind vielleicht da und dort später in unserem Leben zu Tätern geworden, um der Scham, die mit der Opferrolle verbunden ist, zu entkommen. Dafür tragen wir die Verantwortung. Nachdem wir diese Zusammenhänge verstanden haben und die damit verbundenen Gefühle angenommen haben, können wir uns aus allen Opfer- und Täterrollen verabschieden und ganz zu unserer Kraft stehen.

Sollten wir uns je nochmals als Opfer fühlen, können wir uns daran erinnern, dass wir gerade unser Kindheitsschicksal abspulen und dass wir die freie Wahl haben, diesen alten Film zu beenden und unsere erwachsene Klarheit und Aufgerichtetheit leben können.

Die Opferhaltung in der Pandemie

Wenn wir Opfer von widrigen Umständen werden, die wir nicht beeinflussen können, fühlen wir uns frustriert, geschwächt und ohnmächtig. Die Pandemie beispielsweise hat viele Menschen mit dieser Erfahrung konfrontiert: Die eigenen Absichten und Pläne wurden durchkreuzt, Einkommensquellen sind versiegt, Jobs wurden gekündigt. Die Betroffenen konnten selber nichts dagegen machen.

Wenn wir zum Opfer der Übermacht anderer Menschen werden, geht es uns ähnlich, und zu den Ohnmachtsgefühlen können noch Gefühle der Demütigung kommen. Auch hier gibt es viele Beispiele im Zusammenhang mit Corona. Sobald wir die Einschränkungen und Rückschläge nicht als notwendige Konsequenzen interpretieren, um überall wirksame Dynamiken (die Ausbreitung von Viren) einzudämmen, sondern als willkürlich gesetzte Maßnahmen, für die einzelne Menschen verantwortlich zeichnen, tritt ein Gefühl der persönlichen Verletzung und Herabwürdigung dazu. Im ersten Fall richtet sich unsere Handlungsfähigkeit auf einen flexiblen und kreativen Umgang mit der herausfordernden Situation aus, und wir überwinden damit die Ohnmacht. Im zweiten Fall zielt unsere Aktivität darauf, die erlittene Demütigung durch Widerstands- oder Rachehandlungen zu kompensieren. Ziel der Aktionen ist es, aus einer Scham- in eine Stolzposition zu gelangen. Die verlorene Kontrolle, die zur Ohnmachtserfahrung geführt hat, wird wiedererlangt, indem Täter und Schuldige ausfindig gemacht und bekämpft werden können.

Doch bleiben wir in der Opfer-Täter-Dynamik gefangen, solange wir uns in einer Ohnmachtsposition erleben. Frei werden wir nur, wenn wir uns von beiden Rollen distanzieren und unseren Weg mit unseren Kräften weiterverfolgen, was auch immer die Herausforderungen sind, die sich in den Weg stellen. Im Grund gibt es nur eine Herausforderung, der wir nicht auf Augenhöhe begegnen können, und das ist der Tod. Von allem, was vorher passiert, brauchen wir nicht von unserer Eigenmächtigkeit abbringen lassen. 

Zum Weiterlesen:
Der Stolz der Opfer
Die innere Geschichte der Täter-Opfer-Dynamik
Der Opferstolz in Beziehungen
Die Täter-Opfer-Umkehr als Wurzel für Schuldkomplexe
Kinder in der Täterrolle

Dienstag, 15. Juni 2021

Die Schwachen und die Nächstenliebe

In zumindest zwei der verbreitetsten Religionen, dem Christentum und dem Buddhismus, steht nicht der eigene Läuterungs- und Erwachungsweg im Zentrum, sondern die Zuwendung zu anderen Menschen, und zwar gerade zu denen, die am meisten leiden, zu den Schwachen, Kranken und Beladenen. Die christliche Nächstenliebe, ähnlich wie die buddhistische Praxis des Mitgefühls, enthält im Kern eine radikale Absage an jede Form der Kategorisierung der Menschen und den Appell, die Aufmerksamkeit und das Engagement dorthin zu richten, wo am meisten Hilfe von Nöten ist, also dorthin, wo am meisten Leid besteht. Die im vorigen Blogartikel beschriebene spirituelle Überheblichkeit wird durch diese Perspektive ausgehebelt.

Diese Wendung vom Ich zum Du ist frei von Selbstbestätigung des Ichs durch das Du. Es geht also nicht darum, sich wegen einer karitativen Arbeit selbst aufzuwerten. Vielmehr ist ein Akt der Hingabe gemeint, oder, wie es im Buddhismus heißt, des selbstlosen Mitgefühls. In dieser Perspektive gibt es keine Unterschiede unter den Menschen in Hinblick auf Reifegrade oder individuelle Erleuchtungsfortschritte, sondern nur im Hinblick auf die Unterstützungsbedürftigkeit. Jedes Leid verdient Mitgefühl. Je mehr Leid besteht, desto mehr Mitgefühl und Nächstenliebe braucht es.

Es ist die Haltung der Du-Orientierung, die für das eigene innere Wachstum entscheidend ist, nach der biblischen Feststellung: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25, 40). Der Maßstab für das gelungene Leben ist also der Geringste, nicht der am weitesten Entwickelte oder spirituell Fortgeschrittenste. Vervollkommnung vollzieht sich durch aktives Tun, durch den Einsatz für Leidende. Solange es Menschen gibt, die leiden, braucht es Menschen, die sich ihnen zuwenden und für sie da sind. Solange es irgendwo auf der Welt leidende Lebewesen gibt, leidet jedes Lebewesen.

Dass diese Auffassung auch im Islam vertreten ist, belegt das wunderbare Gedicht des persischen Dichters Sa`di:

ند بنى آدم اعضای یکدیگر

که در آفرینش ز یک گوهرند

چو عضوى بدرد آورَد روزگار 

دگر عضوها را نمانَد قرار

تو کز محنت دیگران بی غمی 

نشاید که نامت نهند آدمی

Die Kinder Adams sind Glieder eines einzigen Körpers,
da sie alle aus derselben Essenz erschaffen sind.
Wenn ein Glied schmerzt,
bleibt den anderen Gliedern keine Ruhe.
Wenn du den Schmerz der anderen nicht spürst,
verdienst du es nicht, Mensch genannt zu werden.

Grundlage der Gesellschaft

Es handelt sich bei der Idee der Nächstenliebe nicht um ein idealistisches Konzept für die Anhänger bestimmter Religionen. Vielmehr geht es um zentrale Grundlagen für jede Gesellschaft, die Sicherheit und Zusammenhalt gewährleistet, die also einen langfristigen Bestand haben will. Hier gilt das Beispiel der Kette, die so gut ist wie ihr schwächstes Glied. Denn Gesellschaften, die die Schwachen aussondern oder „ausmerzen“ (ein Lieblingswort der Nationalsozialisten), erzeugen ein hohes Maß an Angst: Jeder kann einmal schwach werden, jeder wird einmal schwach werden. Sie können nur mit massiver Gewaltandrohung bestehen.

Sicher fühlen können wir uns nur, wenn wir darauf vertrauen können, dass jemand für uns da ist, wenn wir schwach sind, und nicht, dass wir fallen gelassen werden, sobald wir unsere Leistungen nicht mehr erbringen können. Diese Sicherheit geben wir uns, indem wir uns immer wieder darin üben, uns dem Leiden der anderen zu widmen.

Die Ideologie der Vereinzelung

Jeder ist nicht nur seines Glücks, sondern auch seines Überlebens Schmied. So lautet die Losung der Moderne. Die Auffassung, dass jeder für sein eigenes Fortkommen verantwortlich ist und sich nicht um andere zu kümmern braucht, ist der Ideologie des Kapitalismus zu verdanken. Sie hat die Idee dekretiert, dass der individuelle Überlebenstrieb und nicht die sozialen Bedürfnisse die Grundlage für die Gesellschaft darstellen, und damit wurde den Konkurrenzkampf aller gegen alle um die Lebenschancen und Ressourcen entfesselt. Im Neoliberalismus lebt dieses Modell weiter. 

Die Konsequenz liegt in der Entsolidarisierung des menschlichen Zusammenlebens, der der Sozialismus mit der Errichtung eines Sozialstaates entgegenwirken wollte. Doch auch dieser Bereich ist mittlerweile voll in die scheinbaren Sachzwänge des Kapitalismus eingepasst, mit dem Streben nach Kosteneffizienz als oberster Maxime. Gesundheit wird mehr und mehr zur individuellen Verantwortung: Wer bessere Behandlung will, muss dafür tiefer in die Tasche greifen.

Deutungsverluste der traditionellen Religionen

Im Zug dieser Entwicklung ist auch die Bedeutung der christlichen Kirchen mit ihrer Botschaft der Nächstenliebe zurückgegangen und verhallt oft folgenlos angesichts der gewinngetriebenen Vorgänge auf diesem Planeten und in unseren Gesellschaften. Abgesehen von den vielen Beispielen des Hasses und der Gewalt aus der Geschichte der Kirchen haben die Belastungen und Verlockungen des Kapitalismus das Ihre dazu beigetragen, dass die religiösen Botschaften ihre Attraktivität und Glaubwürdigkeit verloren haben. Die Menschen sind voll beschäftigt mit den ökonomischen Drucksituationen, die auf den Einzelnen lasten, und den materiellen Vorteilen, die zum ausgleichenden Konsumieren und Genießen verleiten. Das Weiterwirken der Botschaft der Nächstenliebe in karitativen Nischen ist löblich, erscheint aber angesichts der stetig auseinanderklaffenden Schere zwischen den Reichen und den Armen sowie der Zunahme der Lebensprobleme durch die exzessive Wirtschaftsform wie ein paar Tropfen auf die vielen heißen Steine.

Genug Menschen, die sich ein wenig vom Wohlstand erarbeitet haben, sind von der Angst getrieben, dieses Niveau wieder zu verlieren und vertreten deshalb die neoliberale Ideologie von der Leistungsverantwortung. Sie lassen sich von den entsprechenden Parteien vor ihren Wagen spannen. 

Die herrschende Pandemie hat hier die Gewichte wieder etwas verschoben und die eminente Wichtigkeit des Sozialstaates und des öffentlichen Gesundheitswesens bezeugt, auch hat sich die Diskussion um den Schutz der Schwachen, in diesem Fall der Todkranken auf den Intensivstationen zu deren Gunsten gedreht. Wir wissen aber nicht, wie es nach diesen Erfahrungen weitergeht. In Hinblick auf die Finanzierung der Auswirkungen der Infektionswelle werden sich wieder die wirtschaftsliberalen Stimmen einbringen und nach dem schlanken Staat und dem Zurückfahren der Sozialleistungen rufen.

Die Psychologie der Nächstenliebe

Es gibt auch noch andere, immanente Gründe, warum das Engagement für die Schwachen in ein schiefes Licht geraten ist. Sie sind psychologischer Natur. 

Die Hilfe und Unterstützung, die den Schwachen zukommen, kann die verschiedensten Formen annehmen. Oft wurde kritisiert, dass die Hilfe in Gestalt von Überheblichkeit, Besserwisserei und Entmündigung daherkommt. Eine Hilfe, die die Hilflosen noch hilfloser macht, ist fehlgeleitet. Außerdem: Eine Hilfe, die dem Ruhm der helfenden Person dienen soll, ist heuchlerisch. 

Dazu kommt, dass der Anspruch, das Leid der Mitmenschen zu lindern, angesichts des Ausmaßes an Leid, das es in nächster Nähe und global gibt, zu scheitern. Wenn der vordringliche Daseinszweck der Menschen darin liegt, das Los der Leidenden und Schwachen zu verbessern, entsteht, angesichts all der anderen Motiven und Bedürfnisse, die Menschen abdecken müssen und wollen, ein fortwährender innerer Konflikt: Was darf ich mir selber gönnen angesichts all der Misslichkeiten? Die Folge sind unlösbare Schuldgefühle und eine permanente innere Überforderung. Das Helfersyndrom ist geboren. Friedrich Nietzsche hat von der Sklavenmoral gesprochen, von einer Form der inneren Unfreiheit, die darin besteht, um jeden Preis, auch den der Selbstverleugnung, Nächstenliebe pflegen zu müssen. 

Eine andere, ebenso mangelhafte Form des Umgangs mit dieser ethischen Herausforderung bietet sich in der zynischen Aufkündigung des Anspruchs überhaupt. Es macht ja doch keinen Sinn, weil nur minimal Verbesserungen in der Welt erzielt werden können, während die eigentlichen und hauptsächlichen Probleme, die immer wieder Schwachstellen hervorbringen, unberührt bleiben. Da und dort zu helfen, bringt nicht wirklich etwas, solange sich grundlegend nichts ändert. Oder: Die Schwachen tun nur so, als hätten sie keine Möglichkeiten und machen sich in Wirklichkeit schmarotzend einen Lenz.

Die Nächstenliebe als universelle Aufgabe

Für die Bewältigung der Aufgabe der Nächstenliebe, die sich jedem Menschen stellt, sind alle vorgefertigten oder moralisch formulierten Konzepte überflüssig und hinderlich. Entsprechende Appelle an die Moral sollten wir vordringlich nicht an andere, sondern an uns selber richten. Die Mitte zwischen der Selbstausbeutung im Tun für andere und der autarken Selbstbezogenheit zu finden, erfordert einen lebenslanger Suchprozess, der nie zu Ende ist. Jede neue Situation braucht eine Neubewertung, die auf die äußeren wie auf die inneren Zustände Rücksicht nimmt und die rechte Balance anstrebt. Die Zuwendung zum Du umfasst auch Formen wie ein stilles Mitgefühl, ein Gebet oder ein liebevolles Präsentsein angesichts von Leidenszuständen.

Es ist niemandem geholfen, wenn wir uns im Helfen ausbluten und ausgebrannt dann selber Hilfe brauchen. Wir müssen immer auch auf unsere eigenen Ressourcen achten und für sie ausreichend sorgen. Wir dürfen die Verantwortung für uns selber nie aus den Augen verlieren.

Es ist aber auch uns selbst nicht geholfen, wenn wir uns gegen Bedürftigkeit und Schwäche um uns herum oder weiter entfernt abhärten und unser Herz vor der Not verschließen und abschotten. Wir werden mit dieser Form der Abwehr ein Stück unmenschlicher. Leute, die die Bettler aus ihrer Stadt vertreiben wollen, machen das nur, weil ihnen das Bild der Armut Angst und Scham einjagt: Die Angst, selber abstürzen zu können, und die Scham, auf der fetteren Seite gelandet zu sein. 

Mitverantwortung für das Wohlergehen aller

Mensch sein heißt, mitverantwortlich zu sein für die Menschengemeinschaft, d.h. für das Wohlergehen aller. In der Praxis gibt es natürlich immer Grenzen, in denen wir diese Verantwortung wahrnehmen können. Doch dürfen diese Grenzen nicht starr werden, indem wir uns vor bestimmten Formen des leidenden Menschseins, die uns Angst machen, Ekel auslösen oder mit Scham konfrontieren, schützen wollen.

Die Herzlosigkeit, die z.B. in Zusammenhang mit der Migrationsfrage, in der Öffentlichkeit und im privaten Rahmen von vielen Menschen propagiert wurde und wird, ist aus Ängsten vor Übervölkerung, Überranntwerden, vor dem legendären Boot, das wegen Überfüllung sinkt, genährt. Sie hat also irrationale Gründe, die tiefer in der Seele verwurzelt sind, als den Betroffenen bewusst ist. Indem diese irrationalen Ängste verbreitet werden, steigt das Unsicherheitsgefühl in der Gesellschaft, das wiederum auf die Protagonisten der Fremdenangst rückwirkt und deren propagandistischen Eifer verstärkt. 

Die offene Gesellschaft, die Karl Popper 1945 proklamiert hat, ist eine Gesellschaft der Solidarität, der gelebten Nächstenliebe, die sich aller, und damit auch der Schwachen und Schwächsten annimmt und zwischen reich und arm, oben und unten ausgleicht, nicht im Sinn einer Gleichmacherei, sondern im Sinn einer gerechten Verteilung und einer gerechten Teilhabe am Ganzen. Grundlage ist die prinzipielle Gleichheit aller Menschen und die unbedingte Werthaftigkeit jedes Menschenwesens.

Die Idee der Gleichheit aller Menschen, was ihre Geburts- und Lebensrechte anbetrifft, ist ein Abkömmling des Begriffs der Nächstenliebe aus dem Christentum, der aber erst durch die Aufklärung im 18. Jahrhundert Breitenwirkung erlangte und in die ersten Verfassungen aufgenommen wurde. Seither gilt er als Grundbestandteil von modernen Staatswesen und wurde auch von der UNO weltweit deklariert. Das oben zitierte persische Gedicht ziert einen Sitzungssaal im UNO-Hauptquartier in New York. 

Zum Weiterlesen:
Spirituelle Überheblichkeit
Bescheidenheit als Tugend
Die Solidaritätsschranke
Armut ist ein Ärgernis - dem kann abgeholfen werden
Reich und arm - Demut und Würde


Dienstag, 8. Juni 2021

Spirituelle Überheblichkeit

Eine Falle auf dem Weg zur inneren Freiheit liegt in der Überlegenheit, die sich als Resultat innerer Fortschritte und überwundener Hindernisse zeigt. Wenn jemand konsequent meditiert, fleißig zu spirituellen Lehrern geht und entsprechende Bücher liest, wenn jemand immer wieder nach innen schaut und die Ängste, Schamgefühle und Zweifel konfrontiert, also viel Zeit und Energie aufwendet, wird sich leicht im Hintergrund das Ego melden, das sich auf solche Errungenschaften etwas einbildet. Auf dieser Schiene steigt die Empfänglichkeit für ideologische Versatzstücke, die im Kleid von spirituellen Weisheiten oder Eingebungen auftreten.

Die Rede von unterschiedlichen Seelen und Energiefrequenzen, von höher entwickelten Wesen und jungen und alten Seelen birgt diese Gefahr. Sie teilt die Menschheit auf Entwicklungsstufen auf, nach subjektiv definierten Kriterien. Solche Einteilungen werden ja nicht von jenen verwendet, die sich nach solchen Kategorisierungen auf unteren Stufen befinden, sondern von jenen, die schon weiter oben angelangt sind, und da ist unvermeidlich die Sicht dabei, sich besser zu fühlen als die, die es nicht so weit nach oben geschafft haben, also der Blickwinkel der Arroganz und der Verachtung. Wer solche Kategorien und Abstufungen zum Einteilen der Menschen braucht, hat ein Defizit im eigenen Ego, das mit solchen Schubladen, in die die Menschen gesteckt werden, aufgepäppelt werden soll.

Vollends dubios werden solche Sichtweisen, wenn es heißt, dass jene, die weiter oben sind, die zukünftigen Herausforderungen der Menschheit überleben werden, während diejenigen, die spirituell schwächer auf der Brust sind, bei den kommenden Polsprüngen oder Alienslandungen oder Maya-Kalender-Katastrophen untergehen werden. Auch das Problem der Weltübervölkerung findet auf diese Weise eine scheinbar gütliche Lösung: Die besseren Menschen überleben und machen eine bessere Welt, die schlechteren Menschen bleiben auf der Strecke und stehen nicht mehr im Weg, damit endlich dem Frieden und der Harmonie zum Durchbruch verholfen werden kann. 

Auserwählungsreligionen

Das Motiv des Auserwähltseins gibt es in verschiedenen religiösen Traditionen. Zum Beispiel berufen sich die Juden auf einen exklusiven Bund mit Gott, der sich dem Volk Juda in besonderer Weise zugewandt hat. Die Christen nehmen als Zeichen ihrer Besonderheit Jesus und seine Botschaft, der als Gott Mensch geworden ist und damit die christliche Religion begründet hat. Für Muslime ist die Wahrheit Gottes, die über den Propheten vermittelt wurde, Anlass für die herausragende Stellung gegenüber den anderen Religionen. Während es bei den meisten religiösen Texten um die Beziehungen der Menschen untereinander, mit sich selbst und mit Gott geht und nicht um die Beziehungen zu anderen Religionen, nimmt dieses Thema bei vielen Gläubigen eine zentrale Stellung ein. 

Offenbar geht es darum, den eigenen Selbstwert über die Überlegenheit des eigenen Glaubens zu stabilisieren. Der Gedanke der Mission, der in den meisten monotheistischen Religionen (mit Ausnahme des Judentums) vertreten ist, wird von dieser Überlegenheitsdoktrin angetrieben. Die heidnischen Seelen müssen mit der besseren Religion aus ihrem Elend erlöst werden, notfalls auch mit Gewalt.  Zugleich stärkt jede bekehrte Person die Sicherheit, dem richtigen Glauben anzuhängen. 

Nationalismen und Rassismen

Im profanen Bereich wurde die Idee der Auserwählung vor allem vom Nationalismus und Rassismus übernommen. Der koloniale Imperialismus, unter dessen Flagge ganze Kontinente mitsamt ihren Bewohnern von der „weißen Rasse“ unterworfen wurden, hat seine Rechtfertigung in der intellektuellen und, man glaubt es kaum, moralischen Überlegenheit über die Primitivlinge in den zurückgebliebenen Erdteilen. Die Zerstörung der einheimischen Kulturen und Traditionen haben bis heute ihre Spuren hinterlassen.

Die Vorgeschichte des 1. Weltkriegs ist geprägt von nationalstaatlichen Arroganzen und eitlen Machtdemonstrationen der europäischen Großmächte. Systematisch wurde mit der Propaganda der eigenen nationalen Überlegenheit gegenüber den anderen Staaten oder Bevölkerungen und Volksgruppen geschürt, sodass zu Kriegsbeginn der wechselseitige Hass so stark war, dass die Soldaten mit Begeisterung und Wut in den mörderischen Krieg zogen.

Verschärft wurde diese Einstellung von den faschistischen Parteien in der Zwischenkriegszeit, die Nationalismus mit Rassismus verknüpften. Die eigene Nation mit rassisch definiertem Untergrund („deutsche Arier“) sollte nicht nur die Überlegenheit über alle anderen symbolisieren, sondern auch den Anspruch auf Herrschaft und Unterdrückung der minderrassischen Angehörigen anderer Nationen. 

Diese Konzepte der nationalen und rassischen Selbstbestätigung können aufgrund der von ihnen verursachten Katastrophen als überholt betrachtet werden, als kolossale Irrtümer und Verirrungen der Menschheit. Natürlich ist der Nationalismus noch lange nicht tot, und bis heute versuchen Politiker, mit diesem Begriff an die Macht zu kommen, zunehmend als Vorwand für die eigene Bereicherung, der aber immer noch von genügend vielen Menschen nicht durchschaut wird.

Die Aufklärung und die Spiritualität

Jedenfalls sollte gerade die spirituelle Szene frei von solchen menschenfeindlichen und narzisstischen Konzepten und Ideen sein. Andererseits ist auch sie eine Wiederspiegelung der Gesellschaft mit ihren erlösten und unerlösten Themen. Sie schleichen sich in spirituelle Lehren ein, vor allem wenn die Lehrer und Lehrerinnen zwar ihre inneren Entwicklungsschritte durchlaufen haben, aber ihnen die Dimension der gesellschaftlichen Aufklärung fremd geblieben ist. Dadurch haben sie keinen Blick auf die Implikationen von Ideengebäuden, die scheinbar einen hohen spirituellen Erklärungswert aufweisen, aber aufgrund ihrer ideologischen Vorprägungen Egoismen bedienen, statt die innere Aufklärung weiterzutreiben.

Spirituell Lehrende tragen eine hohe Verantwortung, weil ihren Worten von den Lernenden viel Autorität zugebilligt wird. Schüler kommen zur Meisterin und nehmen sie zum Vorbild, denn sie repräsentiert einen Zustand des inneren Friedens, den sie auch erreichen wollen. Die Worte und Konzepte, der verbale Inhalt der Lehre, werden für bare Münze genommen, weil es oft heißt, dass sich der kritische Verstand nicht einmischen soll. 

Auf diese Weise öffnet sich allerdings die Falle, indem Ideologien und Machtthemen in die Lehre ungeprüft in den Lehrraum eindringen können. Die Schülerin steht dann vor der Entscheidung, auf die Vernunft zu hören, die ihr rät, Ideologien nicht auf den Leim zu gehen, sondern dem aufklärerischen Geist des kritischen Denkens treu zu bleiben, und dem Wunsch, dem Treiben des Verstandes im eigenen Kopf Einhalt zu gebieten. 

Vernunft und Verstand

Selten reden Lehrer über den wichtigen Unterschied zwischen der Vernunft, dem Forum des kritischen Geistes auch und gerade gegenüber den Worten, mit welchen die Spiritualität vermittelt wird, und dem Verstand, dem Hort der Widerstände gegen die spirituelle Hingabe. Wo diese Ebenen nicht auseinandergehalten werden, entsteht entweder Verwirrung oder spirituelle Überheblichkeit. 

Es braucht die kritische Unterscheidungskraft zwischen genuin spirituellen Inhalten und historisch-bedingten Versatzstücken, die in den Köpfen aller Gesellschaftsmitglieder, also auch der spirituellen Lehrer, herumspuken. Wo sie fehlt, machen sich allzu leicht Theorien breit, die die spirituelle Arroganz und damit das Ego verstärken. Wo im Zeichen der Überwindung des Verstandesdenken auch die Vernunft, die für diese Unterscheidungskraft zuständig ist, geopfert wird, kommt es schnell zu einer Vermischung von spiritueller Lehre und ideologiegetränkter Propaganda.

Zum Weiterlesen:
Vom Vergleichen
Das Unterscheiden des Absoluten und Relativen in der Lehre

Freitag, 4. Juni 2021

Schönheitsideale und Wahrnehmungsschwächen

Schönheit liegt im Auge des Betrachters, heißt es so schön. Dennoch gibt es einflussreiche Deutungsmächte, die unsere Augen und ihre Sehgewohnheiten vorprägen und kanalisieren. Sie bestimmen dadurch unterschwellig, was wir als schön empfinden. Es sind vor allem die Bilder der Medien, die unsere Schönheitsideale vorformulieren, propagieren und in die inneren Netzwerke einspeisen. Sie erzeugen Maßstäbe und Kriterien und zwingen die Rezipienten, sich damit zu vergleichen und daran zu messen. All das geschieht fortlaufend, ohne unsere Zustimmung wird unsere Wahrnehmung zurechtgerichtet und möglicherweise deformiert.

Die Macht der vorgeschriebenen Ideale

Das heimliche Diktat der Ästhetik ist vor allem für Frauen tragisch, die vermutlich stärker nach ihrem Äußeren beurteilt werden als Männer, vom anderen wie vom eigenen Geschlecht. Doch auch Männer leiden unter dem Diktat des äußeren Scheins. Es gibt Gründe zur Annahme, dass Männer sogar noch mehr als Frauen zur zwanghaften Selbstoptimierung neigen, um einem Ideal zu entsprechen. Jedenfalls ist das „Body-Shaming“ auch unter Männern verbreitet, vor allem in den jüngeren Jahren: Wer zu dünn oder zu dick ist, wer zu klein ist oder zu wenig Muskeln aufweist, wird zum Objekt der Abwertung und Beschämung.

Als schön gilt bei den Frauen, wer nach Maß, Gestalt und Formung einem Model-Aussehen entspricht, also dem, was von den Protagonistinnen einer Modeschau erwartet wird. In die Nähe dieser Idealformen kommen  nach statistischen Erhebungen ca. 10 % der weiblichen Bevölkerung. Die anderen 90 % sind von Natur aus benachteiligt und damit potenzielle Objekte von böswilligen Beschämungen.

Bei den Männern sind eher andere Vorbilder maßgeblich, vor allem Muskelpakete und Heldentypen oder smarte und coole Aufreißer aus diversen Filmen. Im Unterschied zu den Frauen können Männer im Fitnessstudio zu ihren Vorbildern aufschließen; andererseits werden sie kritisierbar und beschämbar, wenn sie sich zu wenig anstrengen, um den Idealen zu entsprechen. Schönheitsideale und individuelle Verantwortung geraten in eine Dynamik, die Druck und Stress erzeugt, angetrieben von der Schamangst, nicht zu entsprechen und ausgegrenzt zu werden.

Die Normierung der Schönheit

Da die Natur die Variabilität und breite Streuung der Phänotypen vor einer Einheitlichkeit und Uniformität bevorzugt, ist es klar, dass es nur eine kleine Minderheit geben kann, die einem bestimmten Schönheitsprofil entspricht. Dadurch entstehen allerdings gesellschaftliche Spaltungen zwischen den Schönen und den Weniger-Schönen, auch dadurch, dass schönen Menschen zusätzlich andere positive Eigenschaften unterstellt werden. Schöne Menschen müssen sich also weniger anstrengen als die ästhetisch Benachteiligten.

Was passiert weiters, wenn eine der vielen Möglichkeiten, Schönheit zu definieren, verallgemeinert  und zur Norm erklärt wird, an der sich alle anderen messen sollten? Der Schönheitsbegriff wird von einigen einflussreichen Medien in Geiselhaft genommen. Er wird massiv eingeschränkt und nach der Maßgabe der Verwertbarkeit in der Mode- und Medienwelt vorgeschrieben. Denn alles, was rar ist, ist wertvoller und am Markt besser verwertbar. Was von der Norm abweicht, fällt dann nicht mehr unter Schönheit und ist uninteressant. Und alles, was weniger schön ist, hat auch weniger Chancen und Möglichkeiten in der Gesellschaft.

Da die Welt, in der wir leben, immer stärken von visuellen Reizen und Anreizen geprägt wird, die nach relativ einheitlichen Mustern gefertigt sind, verengt sich der Schönheitsbegriff auf die optisch wahrnehmbaren Erscheinungsbilder, die die von den Schönheitsproduzenten auserwählten Menschen präsentieren. Und daraus resultiert der Zwang, diese Bilder auf- und nachzubessern, wo sie von Natur aus von der Norm abweichen: Die Nase ist zu groß, also wird sie entweder operativ verkleinert oder photogeshoppt. Ein Markt für Schönheitsoperationen und andere Optimierungsmittel steht bereit und bietet seine Dienste an, mit dem Versprechen, neben den äußerlichen Korrekturen auch die Lebenschancen im Beziehungs- wie im Geschäftsbereich zu steigern.

Schönheit und Kapitalismus

Schönheit zieht Reichtum an, sagt man nicht zu Unrecht, weil beide Phänomene in einem Kontext des materialistischen oder kapitalistischen Bewusstseins miteinander verflochten sind. Dieser Komplex versucht, seine Vorherrschaft mit dem Ergreifen und Monopolisieren der Deutungsmacht abzusichern. Und die Mainstream-Medien spielen mit. Der Schönheitsbegriff und seine Normierung spielt dabei eine zentrale Rolle. Die Macht der von ökonomischen Kriterien bestimmten Schönheitsdefinitionen wird daran sichtbar, dass die meisten Individuen von ihnen in Bann gezogen sind und permanent vielfältige Anstrengungen unternehmen, um ihm gerecht zu werden. Schönheit ist ein Industriezweig.

Die Schönheitsideale und die Scham

Die Scham wartet an jeder Stelle im Kontinuum zwischen Schönheit und Hässlichkeit. Scheinbar haben es die weniger Schönen schwerer mit ihrem Selbstwert, weil sie sich selber mit den Schöneren vergleichen und weil sie auch verglichen werden oder zumindest annehmen, dass sie verglichen werden. Es liegt auf der Hand, sich für äußere Mängel zu schämen, und es erfordert beträchtliche Anstrengungen, mit offensichtlichen Mäkeln den eigenen Selbstwert zu festigen. Viele Menschen kompensieren solche Unvollkommenheiten, indem sie sich bemühen, in anderen Bereichen zu brillieren oder zumindest überdurchschnittliche Leistungen zu erbringen.

Aber auch die Schönen, von den anderen beneidet, begegnen der Scham. Äußere Schönheit ist ein Geschenk, eine Gnade und kein Verdienst. Die Scham macht darauf aufmerksam, und auch darauf, wie ungerecht es ist, dass andere davon weniger abbekommen haben. Es gibt also auch die Scham der Auserwählten oder Bevorzugten.

Diese Menschen kennen zwar auch den Stolz, der von der Anerkennung ihrer Schönheit stammt. Aber die Einsicht,  dass der Gegenstand dieses Stolzes auf keiner Leistung beruht, wirkt manchmal allzu bewusst und manchmal sehr im Verborgenen. Die verzweifelte Suche nach Anerkennung für anderes ist die Folge: Ich will nicht wegen meiner Schönheit geachtet werden, sondern wegen meiner mathematischen Fähigkeiten oder wegen meiner Kochkünste.

Schöne Menschen haben oft das Gefühl, von den anderen auf ihr Äußeres reduziert zu werden, und viele Menschen gehen dieser Falle auf den Leim und fixieren sich auf die äußere Schönheit, die ihnen begegnet, die anziehen wirkt.

Oft aber gibt es auch eine innere Gegenreaktion bei den Neidern, die den verehrten Schönheiten andere menschliche Werte absprechen. Das Klischee von der ebenso hübschen wie dummen Blondine ist geboren. Die Neidkomplexe spiegeln sich: Die bewunderte Schöne muss unmoralisch oder unintelligent sein oder sonst einen gravierenden Makel haben. Die Schöne neidet in der Folge den Wenigerschönen, dass sie nicht auf äußere Merkmale reduziert werden, während sie sich bemühen muss, wegen innerer Werte Anerkennung zu finden.

Die intelligente Schöne bemerkt nicht selten, dass sie gemieden wird, sobald sie ihre Geisteskräfte in die Kommunikation einbringt. Anscheinend verkraftet es der Selbstwert von vielen Zeitgenossen nicht, wenn bei einem Menschen zu einer Qualität eine zweite dazukommt. Ein Übermaß an Begabungen beschämt die, die weniger davon bekommen haben. Es beschämt aber auch die, die allein mit ihren Geschenken dastehen, weil sich die anderen vor ihnen schämen. Diese Scham ist zwar subtiler als die, die durch einen offensichtlichen Neid ausgelöst wird, wirkt aber ebenso unangenehm, weil sie oft zu einem Vermeidungsverhalten und zum inneren Rückzug führt.

Die Befreiung der Sinne

Um den Schönheitsbegriff aus seiner verhängnisvollen Inbesitznahme durch die Medienindustrie zu befreien, bedarf es einer Veränderung unserer Sinne. Wir haben zwar gelernt, unsere Augen auf das, was herkömmlich als das Schöne gilt, zu fixieren, weil es leichter fällt, bequemer ist und den einkonditionierten Sehgewohnheiten entspricht. Aber wir können uns aus dieser Versklavung unserer Sinne befreien. Dazu müssen wir unsere Blicke freilegen, indem wir die in sie eingeprägten Bewertungen herausnehmen. Auf diese Weise beginnen wir eine Entdeckungsreise – in die Feinheiten und Nuancen der Schönheit, die die unerschöpfliche Vielfalt ihrer Erscheinungsformen.

Jeder in einem oberflächlichen Sinn hässliche Mensch hat eine Schönheit auf einer tieferen Ebene. Wir müssen nur unsere Aufmerksamkeit darauf richten, und schon finden wir in jedem Menschen ein besonderes Strahlen, eine besondere Melodie, eine gelungene Gestalt. Ähnlich ergeht es uns, wenn wir mit geweiteter und vertiefter Wahrnehmung die Natur betrachten.

Es gibt nichts in der Welt, das an sich hässlich ist. Es gibt zwar vieles, das wir hässlich finden (z.B. das Äußere der Spinnen oder die Schreie der Reiher) – auch die Hässlichkeit liegt im Auge der Betrachterin. Aber sobald wir uns bewusst machen, dass die Hässlichkeit von der Beschränktheit unserer Gewohnheiten der Wahrnehmung stammen, können wir erkennen, dass das Wahrnehmen von Hässlichkeit aus einer unserer Wahrnehmungsschwächen entsteht.

Das Weiten und Vertiefen der Sinne verhilft uns zu neuen Quellen der Lebensfreude und des Staunens. Sie erlöst uns von Langeweile und Frustrationen, denn es gibt in dieser unendlich komplexen Welt unendlich viele unentdeckte Schönheiten. Jede noch so winzige Schönheit, die uns begegnet und die wir wertschätzen, steigert unsere Lebensqualität. Es liegt daran, wie wir schauen und die Welt auf uns wirken lassen.

Kunst und Wahrnehmung

Eine Nebenbemerkung: Die Abwendung der Kunst sowohl in der Musik als auch in der darstellenden Kunst vom herkömmlichen Schönheitsbegriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat einer Neubestimmung dessen, was wir als Schönheit erleben, schon vor 100 Jahren den Weg geebnet. Die Schwierigkeiten vieler Menschen, die Schönheit in der atonalen Musik oder der abstrakten Kunst zu entdecken, die oft zu aggressivem Verächtlichmachen führen, zeigen, wie hartnäckig die Wahrnehmungsgewohnheiten von uns Besitz ergriffen haben. Zugleich ersehen wir daraus, wie notwendig eine Revolution unserer Sinne ist, wenn wir an innerer Freiheit interessiert sind und nicht weiterhin die Sklaven einer Schönheitsproduktion bleiben wollen, die fortwährend in unser Unterbewusstsein eingespeist wird.

Eine spekulative Nebenbemerkung zur Nebenbemerkung: Hätten sich mehr Menschen vor hundert Jahren bemüht, die aktuelle Kunst zu verstehen und auf sich wirken zu lassen, hätten sich ihre Wahrnehmungsgewohnheiten verändert und wir hätten uns zwei katastrophale Weltkriege erspart. Bitte auf heute ummünzen!

Mittwoch, 2. Juni 2021

Die Zerbrechlichkeit und Unzerstörbarkeit der Menschenwürde

Eine würdevolle Person stellen wir uns vermutlich aufrecht stehend vor, mit festem Blick und kräftiger Figur, fest verankert am Boden, wie ein zur Ruhe gekommener Held – jemand, dem nichts was anhaben kann. Doch gibt es auch die feine und zarte Seite der Würde, die mit der Verletzbarkeit und Zerbrechlichkeit zusammenhängt. Da die Menschenwürde der Ausdruck des Menschlichen im Menschen ist und die Verletzbarkeit das Menschliche in besonderer Weise deutlich macht, spielt sie eine ganz wichtige Rolle im Selbstbild der Würde, das erst durch sie vollständig wird.

Religionsgeschichtlich betrachtet  handelt es sich bei der Integration der Verletzlichkeit in die Würde um einen Beitrag des Christentums zum Konzert der Weltreligionen: In Jesus ist Gott Mensch geworden und hat alle Leiden des Menschseins erfahren bis hin zur äußersten Verletzung der Menschenwürde durch die Kreuzigung. Diese Schwäche wird dann zur eigentlichen Heilsbotschaft, in der sich die Größe Gottes zeigt, umgewandelt.

Die Verletzungsgeschichte

Wir verfügen alle über eine Geschichte von Verletzungen und Verwundungen, voll von Blessuren, die wir uns im Lauf unseres Lebens zugezogen haben oder die uns zugefügt wurden. Wir verfügen auch über andere Geschichte: solche voll von Erfolgen oder von schönen Erlebnissen oder von erfüllenden Begegnungen. All diese Erzählungen tragen dazu bei, wer wir sind. 

Eine besondere Ehre gebührt unserer Verletzungsgeschichte. Denn sie verbindet uns mit der Verletzlichkeit, die Teil unseres Wesens ist. Sie zeigt auf, dass wir viele Wunden erlitten und viele Herabwürdigungen und Beschämungen erfahren haben. Sie ist auch der Beweis dafür, dass wir all diese Schwierigkeiten überlebt haben und über sie hinausgewachsen sind. Mit jeder Verletzung, die wir überwunden haben, gewinnt unsere Würde an Kraft.

Die Würde umfasst die Gesamtheit unseres Wesens, mitsamt all den Geschichten, die uns ausmachen. Die besondere Rolle der Verletzlichkeit besteht darin, dass sie aufzeigt, wo und wie unsere Würde in Gefahr geraten ist, wo wir sie aber auch nicht verloren haben. Es ist die Geschichte des erfolgreichen Überlebens und Weitergehens, eine besonders achtenswerte und strahlende Seite unserer Würde. 

An dieser Stelle wird allerdings auch die Endlichkeit unseres Lebens deutlich. Die Fragilität unserer Existenz, die in jedem Moment zugrunde gehen kann, macht uns darauf aufmerksam, jeden Moment, in dem das Leben durch uns durchfließt, in besonderer Weise wertzuschätzen und in Dankbarkeit hochzuhalten. 

Die Würde in der Landschaft der Gefühle

Im Spektrum der Gefühle drückt sich unsere Verletztheit und Verletzlichkeit in vielfacher Weise aus. Es gibt ein Weinen, in dem der Schmerz mit Würde getragen wird. Es gibt eine Verzweiflung, in der nur die Würde nicht aufgibt. Es gibt eine Schwäche und Bedürftigkeit, die würdevoll einbekannt wird. Es gibt einen Zorn, der zugleich die in ihm steckende Hilflosigkeit zugibt und in der Würde bleibt. Es gibt eine Angst, in der das Innere würdevoll aufrecht bleibt, dem Furchterregenden ins Auge sieht und an der Begegnung wächst.

Ein Mensch, der Zugang zu all diesen Gefühlen hat, zu ihnen stehen kann und sie aushält, ist mit dieser Dimension seiner Würde verbunden. Sie hilft ihm, auch im Aufwallen heftiger Gefühle bei sich zu bleiben und nach außen hin gelassen zu reagieren. Dabei bleibt die Achtung der Würde der anderen Menschen aufrecht, die an der Auslösung der Gefühle mit beteiligt sind. Die Verantwortung für die Gefühle übernimmt aber die Person, in der sie entstehen. Denn jeder Versuch, die Verantwortung für Gefühlsabläufe an andere Personen zu übertragen, würde einen Verlust an Würde bedeuten. 

Wenn wir zu unserer Verletzungsgeschichte stehen und dafür die Verantwortung tragen, zeigen wir unsere Würde in einem besonderen Licht. Die Zerbrechlichkeit gehört zur Würde dazu und verleiht ihr einen besonderen Glanz, der den weiten Bogen zu dem Ende unseres Erdendaseins spannt. Die Würde bleibt bei uns, bis zuletzt, in der Begegnung mit dem Tod. Der Tod ist vielleicht die letzte Begegnung, die wir in Würde angehen, und die letzte Hürde, die wir würdevoll überwinden.

Die Würde im Sterbenlernen 

Der lebenslange Prozess des Weisheitserwerbs (als Erlernen des Sterbens nach Sokrates), beinhaltet auch, die Würde in ihrer Unendlichkeit und Endlichkeit gleichzeitig zu umfassen. Die Endlichkeit zeigt sich in ihrer Verletzbarkeit und letztlich Sterblichkeit, also in ihrer Hinfälligkeit, die Unendlichkeit erscheint darin, dass sie keine Verletzung zerstören kann, nicht einmal der Tod.

Die Verletzbarkeit unserer Würde führt uns zur Einsicht, dass auch unsere Mitmenschen in ihrer Würde verletzbar sind und deshalb unbedingten Respekt und achtsame Achtung verdienen. Sie ermöglicht uns den Schritt über unser begrenztes Wesen hinaus, hin zu den anderen Menschen. Wir anerkennen uns als Menschen wechselseitig, indem wir einander die Würde, gerade in ihrer verletzbaren Dimension, bestätigen. 

Weil und soweit wir unsere Verletzungsgeschichte kennen, können wir uns in die Verletzungen der anderen Menschen einfühlen. Zum Mitgefühl werden wir durch die Einsicht in die Zerbrechlichkeit jedes menschlichen Lebens befähigt. Die Universalität des Leidens, das in den Details, aber nicht im Kern zwischen den Menschen verschieden ist, verbindet die Seelen und bindet sie aneinander. 

Die Würde der Schöpfung

Die Würde, die unser Menschsein im Kern ausmacht, ist nicht unser Verdienst oder das Resultat von irgendwelchen Leistungen. Sie ist uns mit unserer Empfängnis und Geburt mitgegeben und wird gewissermaßen von der Menschheitsfamilie garantiert. Sie steht uns aufgrund der natürlichen Weitergabe des Lebens zu, bleibt bei uns und kann uns nicht genommen werden. Aus ihr leiten sich alle unsere Geburtsrechte ab, alle Existenzbedingungen, die wir von Natur aus zum Überleben benötigen. 

Mit diesem Verständnis weitet sich das Zusprechen der Würde über den Kreis der Mitmenschen auf alles andere Leben und auf die Natur als ganze aus. Die Achtung, die wir uns selber zuerkennen, auch und gerade für unsere Verletzlichkeit, gilt dann für die gesamte Natur, für alles, was außerhalb unseres Selbst ist. So wie das große Leben und das große Ganze unsere Würde anerkennen, so ist es an uns, jedem auch noch so winzigen Teil dieses großen Ganzen in seiner Würde die Ehre zu geben.

Zum Weiterlesen:
Verletzlichkeit und Würde
Scham und Verletzlichkeit
Wer die Würde nicht respektiert, verliert seine eigene.
Demut und Mitmenschlichkeit