Sonntag, 30. Dezember 2018

Nachhaltiger Konsum - aber echt

Nachhaltiger Konsum – was bringt er – und wo hält er nicht, was er verspricht? Diese Fragen stellt sich der Ökojournalist Peter Carstens in einem Geo-Artikel und erläutert dabei 14 Thesen zu „Scheitern des nachhaltigen Konsums“:

1. Das Potenzial nachhaltigen Konsums wird überschätzt.
Wärme, Strom und Mobilität sind die Schwergewichte bei den privaten Emissionen. Jeder könnte da weniger verbrauchen, kaum jemand macht das freiwillig. „Der Klassiker: Einkauf im Bio-Hofladen mit dem SUV.“

2. Wer energiesparende Geräte kauft, verbraucht mehr Strom.
Einsparungen führen zu Verschwendung: „Wer seinen Haushalt mit sparsamen LED-Lampen ausstattet, erliegt leicht der Versuchung, das Licht länger brennen zu lassen. Verbraucht ja nichts. Selbst wer disziplinierter ist, kann das bei der Stromrechnung eingesparte Geld in ein neues Auto, einen Urlaubsflug oder fossile Aktien investieren.“

3. Steigende Ansprüche machen Effizienzgewinne zunichte.
Unsere Ansprüche an ein gutes Leben steigen unaufhörlich. Wir wollen mehr Wohnraum, elektronische Geräte und Reisen – und vielleicht ab und zu, aber nicht prinzipiell auf das Fleischessen verzichten. 

4. Umweltbewusstsein hin oder her: Wer viel verdient, schädigt die Umwelt mehr.
Das deutsche Umweltbundesamt hat erhoben, dass mit steigendem Verdienst die Umweltbelastungen ebenso ansteigen. „Jede Umwandlung von Geld in Dinge oder Dienstleistungen wird sich klima- und umweltschädlich auswirken.“ Von allen Parteianhängern fliegen die Grünwähler in Deutschland am meisten, weil sie überdurchschnittlich viel Geld verdienen.

5. Kompensationssysteme machen umweltschädliches Verhalten moralisch erschwinglich.
Fliegen ist diejenige Verhaltensweise, „mit der wir in kürzester Zeit am meisten Schaden für das Klima anrichten.“ Wer den Schaden über Onlinesysteme kompensiert, fliegt eben mit besserem Gewissen – und der Flugverkehr dehnt sich weiter aus. Es gibt Berechnungen, dass sich der Flugverkehr in Europa - und die Emissionen daraus – bis 2035 verdoppeln wird. Diesen Trend korrigieren kann offensichtlich nur eine Maßnahme: Die adäquate Besteuerung von Treibstoffen und die Einberechnung von Umweltschadenkosten in die Flugpreise. Dazu ist die Politik gefordert.

6. Echte grüne Produkte sind immer schwerer zu erkennen.
Klima- und umweltfreundlich zu produzieren, ist chic und klingt gut. Oft steckt nur ein Marketingtrick dahinter. Das bewusste Einkaufen wird immer aufwändiger und kann bald überfordern.

7. Umweltbewusste Konsumenten werden mehr. Die anderen auch.
„Es gibt immer mehr aufgeklärte Konsumenten, die wirklich was für die Umwelt tun wollen. Gleichzeitig gibt es immer mehr Egal- und Hauptsache-billig-Konsumenten. Unter dem Strich verliert die Umwelt. Es gibt immer mehr Radler, immer mehr Führerschein-Verweigerer, autolose Menschen und Carsharer – aber auch immer mehr schwere Autos auf immer mehr Straßen, immer mehr Einfamilienhäuser auf der grünen Wiese und Flugreisen in ferne Länder.“

8. Die nachhaltige Produktwelt wird immer supermarktiger.
Wir gehen in die Bioläden einkaufen und fühlen uns gut. Haben wir wirklich auf die Herkunftsländer der Produkte geschaut? Woher kommen die Bio-Kiwis, Avocados und Kartoffel? Beanspruchen wir für unsere netten Bio-Produkte Flächen und Wasser in ärmeren Ländern?

9. Freundliche Einladungen zum Ausprobieren wirken genauso wenig wie Moralpredigten.
Die Slogans haben sich abgenutzt. Die meisten wissen schon alles und haben ihre Ausreden und Selbstrechtfertigungsstrategien fest abgespeichert: „Ich esse ja sowieso weniger Fleisch als früher.“ „Ich esse gar kein Fleisch, dafür kann ich nach Herzenslust Flugreisen machen.“ „Die anderen sollen erst ihren Konsum ändern, dann verzichte ich auch.“ „Von den grünen Moralaposteln lasse ich mir gar nichts vorschreiben.“

10. Nachhaltigkeit ja - aber bitte nur, wenn sie nicht wehtut.
„Im Schnitt ist jede/r Deutsche für jährlich zwölf Tonnen Klimagas-Emissionen verantwortlich. Global verantwortbar wäre: höchstens eine.“ Wenn wir von hier nach dort kommen wollen, geht es nicht ohne massive Änderungen, und da kommen wir mit „Anreizen“, wie die österreichische Bundesregierung naiv meint, nicht weiter. Es geht um Vorschriften, an die sich alle halten müssen. Nur: Wer steht auf und sagt die Wahrheit: „Eine Tonne und mehr nicht!“ – und hält dann den Shitstorm aus? In dieser Regierung sehe ich niemanden.

11. Falsche Vergleiche sollen den „nachhaltigen“ Konsum ankurbeln.
Um das eigene Verhalten sauberzuwachsen, braucht man nur einen geschickten Vergleich. Zum Beispiel sagt jemand, er kauft sich ein neues Auto statt der alten Dreckschleuder. Da sieht dann nach ein paar Jahren die Energiebilanz besser aus – allerdings nur, wenn die Umweltbilanz der Produktion und Entsorgung des neuen Autos außer Acht gelassen wird. Berechnungen aus Deutschland gehen davon aus, dass ein E-Mobil an die 60 000 bis 80 000 Kilometer fahren muss, um die Ökobilanz eines benzingetriebenen Autos auszugleichen. Auf der sicheren Seite wäre man nur, wenn man das alte Auto seltener benutzt – oder es verkauft. „Alt oder neu, fossil oder elektrisch: Es gibt kein umweltfreundliches Autofahren.“

12. Solange die Preise nicht die Wahrheit sagen, wird die Produktion umweltschädlich bleiben.
In der Marktwirtschaft wird das Konsumverhalten durch den Preis diktiert. Wenige bedienen die Nischen der teureren und umweltfreundlichen Produkte. Nur die Politik kann für eine umfassende Kostenwahrheit sorgen, indem alle Umweltkosten (für die ja die Allgemeinheit aufkommen muss) in die Preise eingerechnet werden. „Wenn im Preis von Fleisch alle Klima- und Umweltschäden enthalten wären (vom Tierleid ganz zu schweigen), wäre mit einem Schlag ein riesiger Posten unserer ernährungsbedingten Emissionen erledigt.“

13. Konsumenten konsumieren. Politik machen müssen Politiker.
„Wir werden mit dem Kassenzettel keine drastischen Geschwindigkeitsbegrenzungen, kein Straßenbau-Moratorium erwirken, keine CO2-Steuer einführen oder gar Emissions-Budgets für jeden.“ Es muss politische Entscheidungen geben, die weitsichtig und mutig sind, sonst wird da und dort Kosmetik betrieben, die niemandem weh tut, während es zunehmend wärmer wird und irgendwann alle sagen: „Ach, hätte ich das früher gewusst…“

14. Die Idee des nachhaltigen Konsums verkennt das Wesen der Konsumgesellschaft.
Nachhaltiger Konsum widerspricht der kapitalistischen Ideologie, die immer mehr Produkte in immer kürzerer Zeit auf den Markt werfen will. Sie widerspricht auch der Doktrin vom ewigen Wirtschaftswachstum. Nachhaltig konsumieren heißt, weniger einzukaufen und stattdessen „Dinge pflegen, reparieren, tauschen, lange nutzen. … Wie wir auch ohne Wachstum gut leben können, das erzählen uns Postwachstumsökonomen seit Jahren. Nur hört irgendwie niemand zu.“ 

Zum Weiterlesen:

Freitag, 28. Dezember 2018

Die "Schande" und ihre Rolle bei der sozialen Kontrolle

In Märchen und Sagen wird oft ein entlarvter Missetäter „mit Schimpf und Schande“ verjagt. Das bedeutet eine ganz schlimme Demütigung, die den Ausschluss aus der Gemeinschaft verdient hat. Jede Würde ist verloren, und das Leben muss irgendwo anders von vorne begonnen werden. Was hat es mit der Schande auf sich?

Die Schande ist eine enge Verwandte der Scham. Sie trägt einen offizielleren Charakter, der viel mit öffentlicher und moralischer Bewertung zu tun hat. (Im Englischen oder Französischen gibt es übrigens diese Unterscheidung gar nicht.) Schande ist gewissermaßen die explizite, von außen kommende Form der Scham. Sie wird angewendet, wenn etwas geschehen ist, wofür sich jemand (innerlich) schämen müsste, während sich die Öffentlichkeit verpflichtet fühlt, das Geschehene als Schande zu brandmarken und den Täter der allgemeinen Verachtung preiszugeben.

Es gilt schon als Schande, wenn jemand sein Potenzial nicht ausschöpft und die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Es gilt erst recht als Schande, wenn jemand absichtlich und unverfroren Böses tut. Und ganz besonders gilt es als Schande, wenn jemand moralische Normen übertritt. Jedes angeprangerte Fehlverhalten, für das sich jemand schämen sollte, kann von den Mitmenschen als Schande bezeichnet werden.

Aber nicht nur Einzelpersonen können Schande auf sich laden. Es wird von vielen als Schande angesehen, wie die Schweiz in der Zeit des Nationalsozialismus schutzsuchende Juden abgewiesen hat. Ebenso können wir es schändlich finden, wenn reiche Länder asylsuchende Jugendliche ausweisen, die sich jahrelang im Integration bemüht haben, die Sprache erlernt und Ausbildungen absolviert haben. Und es darüber hinaus grenzt es an ein schändliches Verbrechen, wenn Behörden solche Schritte setzen, wissend, dass abgeschobene Asylsucher in manchen Rückkehrländern mit hoher Wahrscheinlichkeit bald umgebracht werden.


Schändliche Sexualität


Eine enge Verbindung gibt es zwischen dem Sexualverhalten und der Schande, vor allem dort, wo dieses Verhalten einer starken moralischen Kontrolle unterliegt. In ländlichen Gegenden galt es durch den Einfluss der katholischen Kirche vor einigen Jahrzehnten noch als schändlich, wenn Kinder unehelich empfangen und geboren wurden. Im katholischen Irland wurden den Müttern unehelich geborene Kinder systematisch von der Kirche weggenommen und in Heimen ausgebeutet, wenn nicht überhaupt umgebracht. Soweit die Macht der katholischen Kirche reichte: Wer aus welchen Gründen auch immer die Norm nicht einhielt, dass Kinder in einer aufrechten Ehe empfangen und geboren werden müssen, wurde sozialer Verachtung und Ausgrenzung ausgesetzt, die bis zur physischen Vernichtung reichte.

Hier spielt die seltsame Einschränkung und Moralisierung der Sexualität in der christlichen Tradition die maßgebliche Rolle, die man selber schändlich finden kann. Sexualität gilt nach dieser – ca. 300 Jahre nach Jesus Christus in das junge Christentum eingeführten – leibfeindlichen Auffassung als sündige Fleischeslust, die einzig zur Fortpflanzung als notwendiges Übel gerechtfertigt ist und dafür den Bestand einer ehelichen Gemeinschaft erfordert. Im Grund beginnt nach dieser Theorie die Schande schon dort, wo jemand die Sexualität als solche genießt, ohne mit ihr einen Vermehrungszweck zu verfolgen. Doch öffentlich sichtbar und damit zur Schande wird das Fehlverhalten, wenn es zur Schwangerschaft ohne ehelichen Kontext kommt.


Der Schatten fällt auf das Kind


Welche Auswirkungen kann die Schande auf das empfangene Kind haben? Wenn die Umstände des eigenen Lebensanfangs unter einem moralischen Problemdruck standen, weil sie von den Eltern und ihrer Umgebung als Schande erlebt wurden, kann sich dieses dunkle Gefühl über die Seele des Kindes breiten und dessen Leben überschatten. Das menschliche Zellgedächtnis speichert die Gefühle und Einstellungen der Eltern am Anfang des neuen Lebens und bewahrt sie im Unterbewusstsein auf. Von dort aus wirken sie als Hemmungen und Blockierungen später im Leben weiter. 

Als Folge kommt es zu Beeinträchtigungen für den Selbstwert und das Selbstvertrauen. Betroffene Personen haben auf einer tiefen Ebene das Gefühl, dass mit ihnen etwas nicht in Ordnung ist und dass sie keinen vollwertigen Platz in der Gesellschaft einnehmen dürfen. Sie müssen sich dauernd beweisen und denken dennoch, dass sie nicht genug tun. Ihre Aufmerksamkeit ist stark auf das Außen bezogen, auf die Angemessenheit des eigenen Tuns und die Reaktionen der anderen Menschen darauf. Sie neigen dazu, sich selber zu überwachen und leiden an einer latenten Angst, etwas Unrechtes oder zu wenig des Guten zu tun. 

Der Schatten der Schande kann eine destruktive Lebensspannung in Gang setzen, die in manchen Phasen stärker und in anderen schwächer aktiviert wird: Wegen des mangelnden Selbstvertrauens gelingt wenig im Leben, und in der Eigenwahrnehmung sehen alle Anderen diesen Mangel überdeutlich mit ihren kritischen und abwertenden Augen, was wiederum die eigene Motivation schwächt. Es kann über einige Zeit gelingen, sich immer wieder anzustrengen, um in der Gesellschaft Anerkennung zu gewinnen, aber viele Bemühungen werden oft vor dem Erfolg abgebrochen, wie z.B. bei einem Studienabbruch – gleichsam um der Außenwelt zu beweisen, dass man es nicht Wert ist, Erfolg zu haben. 

Diese selbstquälerische Dynamik kann dann schließlich in Burnout und Depressionen versiegen. Damit stellt sich erst recht ein Zustand her, der subjektiv stark mit Scham verbunden wird und, von außen betrachtet, als Schande. Ähnlich wie bei der Scham, entfaltet die Schande ihre selbstschädigende Wirkung, indem von den anderen Leuten vermutet wird, dass sie heimlich mit dem Finger auf einen zeigen und „Was für eine Schande!“ rufen, wodurch dann die eigenen Gefühle der Minderwertigkeit und moralischen Unzukömmlichkeit ausgelöst werden. Es findet keine Realitätsprüfung statt, indem nachgefragt würde, was andere Menschen wirklich über einen selbst denken, wie sie werten und urteilen. Die vermuteten Verurteilungen werden ohne Widerspruch angenommen. Da diese Vorgänge unbewusst ablaufen, findet auch keine Konfrontation mit der Realität statt, in der geklärt werden könnte, wem überhaupt ein Urteil über die eigene Person zusteht und nach welchen Wertkriterien dieses gerechtfertigt wäre.


Die ererbte Schande


Die ererbte Schande gehört zu den Eltern, die sich durch ihre Handlungen einem sozialen Druck ausgesetzt haben. Wenn jemand, der von dieser Form der Schande betroffen ist, erkennt, dass die Last auf dem eigenen Leben eigentlich ins Leben der Eltern gehört, löst sich der Schatten. Aus Liebe zu den belasteten Eltern nehmen die Kinder die Lasten der Eltern auf sich, in diesem Fall die Schande. In einem nächsten Schritt darf und muss den Eltern die Last zurückgegeben werden, wodurch das eigene Leben erleichtert und befreit wird.

Aus dieser Einsicht heraus wird dann erst deutlich, in welcher Zwangslage zwischen Leidenschaft und rigider Sexualkontrolle sich die Eltern befanden. Das Verständnis für den Mut der Eltern, sich für ihre Gefühle gegen die gesellschaftlichen Zwänge zu entscheiden, kann den Weg zur Dankbarkeit für das eigene Leben öffnen: trotz widriger Anfangsbedingungen sind viele Kräfte und Potenziale mit auf den Weg gegeben worden, die es, unbeschadet aller Schatten, zu nutzen gilt.

Das Einnehmen und Verstehen dieser Perspektive fördert das Engagement, mit dem solche menschenfeindlichen sozialen Normierungen und Kontrollvorkehrungen angeprangert und relativiert werden können. Mit diesem Bewusstsein wird der Vergangenheit mit ihren moralischen Verengungen die Macht über das eigene Leben genommen. 


Repressive Normen


Generationen haben unter Normen gelitten, die einem stark reduzierten und repressiven Menschenbild entsprungen sind. Eigentlich gehört dieses Menschenbild zu einem System gesellschaftlicher Zwänge, das in vormodernen Zeiten maßgeblich war. Damit das Erbrecht im landwirtschaftlichen Bereich das Weiterbestehen von ausreichenden Flächen gewährleisten kann, wurden die ehelichen und die unehelichen Kinder strikt unterschieden („mit Kind und Kegel“). Die einen erbten, die anderen nicht; die einen waren geachtet, die anderen verachtet. Den unehelichen Kindern wurde gewissermaßen die „Schandtat“ der Eltern umgehängt, als wären sie schuld daran, und sie waren deshalb dazu verurteilt, ein Leben lang die untersten Arbeiten zu verrichten, ohne jede Chance, selbst heiraten und einen Hof führen zu können. 

Immer wieder im Verlauf der Geschichte können wir solche Produktionen und Proklamationen von schändlichem Verhalten zum Zweck der Herrschaft und des Machterhalts beobachten. Den beherrschten Menschen werden Ängste eingeredet, damit sie ihre spontanen oder auch überlegten Impulse unterdrücken und kontrollieren und damit sie ein Misstrauen untereinander sowie zu sich selbst entwickeln. Menschen, die einander nicht vertrauen können, sind leichter zu beherrschen. Vor allem in Hinblick auf die Sexualmoral hat die Kirche dabei eine Schlüsselfunktion in der Machtausübung übernommen und über viele Jahrhunderte ausgespielt.

Die fehlende Einsicht in die historische Bedingtheit dieser Zusammenhänge ist mit verantwortlich dafür, dass die kirchlich verordnete Sexualkontrolle weiter wirken konnte, auch wenn sich die sozioökonomischen Umstände schon lange verändert hatten und das bäuerliche Erbrecht kaum mehr eine Rolle spielte. Umgekehrt haben die gesellschaftlichen Veränderungen, die der Landwirtschaft und den damit verbundenen sozialen Regulierungen nur mehr eine Randfunktion überließen, auch zum rapiden Einflussverlust der Kirchen und der von ihnen vertretenen Moralvorstellungen geführt. Immer weniger Menschen billigen der Religion eine Mitsprache bei ihren Entscheidungen und Werten zu, offenbar unter dem Eindruck des massiven Schadens an den Seelen der Menschen, den die beschränkten und beschränkenden Gebote, die mit Hilfe des Instruments der Schande durchgesetzt wurden, hinterlassen haben. Niemand will sich heute noch wegen sexueller Vorlieben und Leidenschaften an einen moralischen Pranger stellen lassen, noch dabei mitwirken, dass gegen andere so verfahren wird. Solange sich die involvierten Personen mit Respekt und Achtung begegnen und solange die Verantwortung für entstehende Schwangerschaften gemeinsam übernommen wird, braucht es auch keine übergeordnete Normierungen und braucht es keine Vorgabe von Beschämung und keine Erklärungen von Schande in diesem Bereich.


Die „Rassenschande“


Als besonders bösartiges Beispiel des Missbrauchs der Schande für ideologische Zwecke sei hier der von den Nationalsozialisten propagierte Begriff der „Rassenschande“ erwähnt. Der Geschlechtsverkehr zwischen „Ariern“ und Juden wurde als „Schändung des deutschen Blutes“ (damit auch als Blutschande) dargestellt und ab 1935 unter Strafe gestellt. Der Begriff der Rassenschande diente zur Vorbereitung der systematischen Vernichtung der Juden im Dritten Reich.  Erfolgreich wurden mit den Mitteln der Propaganda soziale Ängste aufgebaut, indem Handlungen auf einmal massiv in aller Öffentlichkeit als Schande bezeichnet wurden, die vorher niemanden gestört hätten. Menschen auf dieser Weise mit Schimpf und Schande der öffentlichen Beschämung preiszugeben, war ein erster Schritt, sie ihrer Menschenwürde zu entkleiden; wer keine Würde hat, dessen Leben ist nichts mehr wert.

Mit dieser Indienstnahme der Schande als politisches Machtmittel griff der Nationalsozialismus, wie auch in anderen Bereichen, auf vormoderne gesellschaftliche Konventionen zurück. Damit wurden vor allem bei verunsicherten Menschen tiefer liegende Gefühlsschichten angesprochen, die dann als zerstörerische Brutalität zum Ausdruck kamen. Der Faschismus wird von vielen Forschern als Reaktion auf die Modernisierung der Gesellschaft und Wirtschaft verstanden, und von daher wird es auch verständlich, warum er sich extrem konservativer Wertvorstellungen bedient. Denn zur Modernisierung gehört die Schwächung der traditionellen freiheitsbeschränkenden Werte und der Aufbau und die Verbreitung der grundlegenden Menschenrechte.


Befreiung durch Modernisierung


Der Modernisierungsschub durch die Industrialisierung seit dem 18. Jahrhundert hat viele Menschen aus den Fesseln von moralischen Zwängen befreit und dem personalistischen Bewusstsein mit den Werten der Toleranz und der Entdiskriminierung zum Durchbruch verholfen. Der kreativen menschlichen Individualität wurde dadurch mehr Einfluss auf die Kulturentwicklung gegeben. Der Preis war allerdings die Entfremdung von der Natur, mit der frühere Gesellschaften noch enger verbunden waren.

Der Begriff der Schande hat seinen Anwendungsbereich seither von der Bewertung des individuellen Tuns mehr in den kulturellen und politischen Bereich verlagert, ausgenommen der Bereich der Kriminalität und Gewalttätigkeit. Was die Varianten der menschlichen Verhaltensweisen im Bereich der Sexualität anbetrifft, herrscht heutzutage viel mehr Toleranz, sodass Beurteilungen, die hier mit Schade operieren, antiquiert und verschroben klingen. Damit steigt der wechselseitige Respekt und die Achtung der Menschen füreinander, ein Beitrag zum sozialen Frieden.

Samstag, 22. Dezember 2018

Demokratie und Gefühle

Wir Menschen werden stark durch unsere Emotionen beeinflusst, und wir können auch stark von außen in unseren Emotionen beeinflusst werden. Wie wirkt sich diese Konstitution auf die Demokratie aus, die vielen als die entwickelteste Form zur Regulation von Gemeinwesen gilt? Wenn das zoon politicon kein animal rationale, sondern zuallererst ein Gefühlstier ist, muss das Auswirkungen auf die Willensbildungen in Demokratien haben. 

Gefühle sind einfache Formen der Wirklichkeitsverarbeitung. Sie arbeiten im Wesentlichen nach den Kriterien von sicher/bedrohlich und sympathisch/unsympathisch. Im ersteren Fall geht es darum zu spüren, was mir für mein eigenes Überleben weiterhilft bzw. gefährdet. Im zweiten Fall schätzen wir die Chancen ab, die wir im sozialen Feld haben und die dort den Grad unserer Zugehörigkeit und Sicherheit bestimmen. 

Die Demokratie in einem modernen Staat erfordert allerdings ein hohes Maß an Rationalität. Sie ist einerseits notwendig, weil so viele Aspekte beachtet werden müssen und andererseits, weil immer wieder eigene Interessen zugunsten des Gemeinwohls zurückgesteckt werden müssen. Es braucht weiters ein Eingehen auf die Interessen und Bedürfnisse anderer, und dazu sind viele der Emotionen im Weg. Drittens können wir nur mit Hilfe unserer Rationalität zwischen unseren Gefühlen und unseren Werten unterscheiden. 

Die Gefühle entstehen aus unseren Erfahrungen mit Bedürfnissen und deren Befriedigung in der Kindheit. Daraus haben sich unbewusst gesteuerte Gewohnheiten des Fühlens entwickelt, Muster, die aus unseren frühen Erfahrungen gespeist sind, auf Schlüsselreize reagieren und unser Verhalten lenken. 

Die Werte bilden sich im Lauf unserer Lebensgeschichte aus, beeinflusst von unserer Kultur, familialen Herkunft und unseren Erfahrungen. Wir können unsere Werte jederzeit rational überprüfen und mittels unseres Denkens sowie über den diskursiven Austausch mit anderen an ihrer Widerspruchsfreiheit arbeiten. Dadurch gelangen wir zu einer standfesten und zugleich flexiblen Position, die aktuelle Entwicklungen mit den eigenen Grundeinstellungen in Verbindung bringen und daraus klare Einschätzungen ableiten und Entscheidungen treffen kann. 

Emotionen sind vage und flüchtig. Sie verändern sich dauernd und werden häufig durch die immer gleichen oder ähnlichen Auslöser aktiviert. Wir hören ein bestimmtes politisches Argument und schon läuten die inneren Alarmglocken und wir fahren mit unseren Geschützen auf, ohne Rücksicht auf die näheren Umstände und Hintergründe. Solche Muster können wir nur verändern, wenn wir uns bewusst machen, was da gerade abläuft. Dazu brauchen wir eine innere Distanz zu den Gefühlen. Mit unserem Denken können wir daraufhin überprüfen, ob unsere Reaktion angemessen ist und ob es noch Aspekte der Realität gibt, die mitbeachtet werden sollten. 

Emotionen sind auch die Triebkraft hinter allen Entscheidungen, die wir treffen. Die Rationalität vermittelt die Werte und stellt Positionen klar, zwischen denen dann die Entscheidung getroffen wird. Oftmals überlegen Leute lange hin und her, wem bei einer Wahl die Stimme gegeben werden soll oder ob überhaupt gültig gewählt werden soll. Da werden im Kopf oder in einer Diskussion Argumente abgewogen, bis dann eine Seite stärker ist, für die das Gefühl aus dem Unterbewussten das Gewicht in die Waagschale legt.

Wird die Rationalität beiseitegelassen, entscheidet nur das Gefühl, das auch von äußeren situativen Einflüssen stärker abhängig ist als das Denken. Das machen sich die Manipulatoren und Populisten zunutze, die mit vielfältigen Tricks auf das Unterbewusste der Menschen einwirken wollen, um ihre Ziele durchzubringen – im Wirtschafts- wie im Politikmarketing. Sie brauchen nicht auf die Komplexität der Wirklichkeit Rücksicht zu nehmen, weil sie an die einfachen Emotionen appellieren. Ein Psychologieprofessor aus den USA hat festgestellt, dass der gegenwärtige Präsident die Gefühle von Fünfjährigen anspricht, dass er sie auf dieser Ebene erreicht und motiviert. 

Demagogen richten ihre Behauptungen nur nach dem Zweck, den sie erreichen wollen. Die “Wahrheit” einer Aussage wird nur mehr dadurch definiert, dass sie mit Autorität und Überzeugungskraft ausgesprochen wird. Kriterium ist die Person des Sprechers, der einen bedingungslosen Glauben an seine Deutungsautorität verlangt. Diese Form des Glaubens bringen nur Kleinkinder auf, die noch so wenig über die Wirklichkeit wissen, dass sie glauben müssen, was ihnen ihre Eltern erzählen. So wundert es nicht, wenn man in den begeisterten Augen von Populistenanhängern das kleinkindliche Staunen über die Zauberkraft ihrer Idole ablesen kann. 

Die Wahrheit von Aussagen unter Erwachsenen bezieht sich auf die Wirklichkeit: Inwieweit wird diese durch die Aussage korrekt beschrieben? Ideologien und Ideologen bedienen sich eines anderen Bezugspunkts, nämlich eben dieser Ideologie und ihres Wertesystem. Wahr sind Aussagen, die mit dem eigenen Konstrukt übereinstimmen, und wenn jemand kommt und sagt, die Realität ist aber anders, dann wird die eigene Position mit „alternativen Fakten” oder ähnlichen Verschleierungen gerechtfertigt.

Die Populisten vermitteln also ein Bild von der Wirklichkeit, das sie mit Hilfe ihrer Ideologie geschaffen (konstruiert) haben. Sie fordern ihre Anhänger dazu auf, diese Konstruktion kritiklos zu übernehmen, und diese tun dies auch, weil sie auf den Gefühlsstand von Kleinkindern regrediert sind. Kinder nehmen an, dass die Eltern immer Recht haben. Erst wenn sie größer sind, schauen sie in wikipedia nach, ob das Sonnensystem wirklich so viele Planeten hat, wie die Eltern behaupten. 

Die Nutzung der Rationalität ist anstrengend und manchmal mühsam. Gefühlsgesteuert zu sagen: Das gefällt mir und das gefällt mir nicht, ist einfach und geschieht schnell. Die „Arbeit des Begriffs”, wie sie der Philosoph Hegel genannt hat, erfordert Genauigkeit, Ausdauer, Forschergeist und die Bereitschaft zur Selbstüberprüfung. Das sind Qualitäten, die Erwachsene brauchen und über die sie auch verfügen, wenn sie ihren Aktivitäten nachgehen.  

Die Demokratie ist ein System, das diese Haltung auch in der Politik verlangt. Sie beruht auf der Annahme, dass Menschen, die ihre Arbeit verrichten, Geschäfte abschließen, Projekte verwirklichen, das tägliche Leben managen und Kinder großziehen, in der Lage sind, in Hinblick auf das Gemeinwesen die erwachsenen rationalen Qualitäten einbringen. Demokratie kann nicht funktionieren, wenn einer Masse von Kleinkindern die Entscheidung überantwortet wird, ob Krieg geführt wird oder nicht, wie es im Faschismus geschehen ist. Heute geht es um Fragen, ob es besser ist, bei einem gesamteuropäischen Gemeinschaftsprojekt mitzumachen oder nicht, ob man einem „Migrationspakt” beitreten soll oder nicht usw. Es scheint in weiten Bereichen so, und das lässt sich aus den vielfältigen Meinungskundgaben in Foren leicht herauslesen, als würden da nicht Erwachsene mit Argumenten und Wertüberlegungen diskutieren, sondern Kinder, die nur von diffusen Gefühlen geleitet sind und auch gar nicht verstehen, was sie damit anrichten. 

Viele Untersuchungen über Hassposter haben gezeigt, dass diese Menschen aus einem Zustand der Verantwortungslosigkeit heraus ihre Meldungen abschicken, ohne Rücksicht auf die Folgen – eben wie Kleinkinder, die losschreien, wenn ihnen etwas nicht passt, gleich wo und mit wem sie sind. Doch sind die Hassposter nur die Spitze eines Eisberges, den die vielen Menschen bilden, die ungeprüfte „Fakten” und Theorien übernehmen und mit dem Brustton der Überzeugung und Empörung weitergeben. 

Wir sollten uns bewusst sein, dass solche Aktionen und Haltungen, die allein von unbewussten Gefühlen gesteuert sind, die Demokratie untergraben und destabilisieren. Wir sollten uns bewusst sein, dass es in unserer Verantwortung liegt, solche Einstellungen in uns selber zu überprüfen und andere auf ihre ideologischen Engstellen aufmerksam zu machen. Demokratie ist ein gemeinschaftliches Projekt, das der permanenten Anstrengung des Diskurses und der rationalen Auseinandersetzung bedarf. Diese Anstrengung muss jeder aufbringen, der ein solches System will. Wer es nicht will, sollte sich über die Alternativen bewusst sein: Autoritäre Lenkung oder Chaos. Beides kennen wir aus der Geschichte, und wir leiden noch immer an den Folgen dieser Katastrophen.

In der aktuellen Oper „Die Weiden”, in der es um Populismus und Manipulation geht, heißt es: „Dreitausend Jahre Denken, und jetzt das?” Die Jahrtausende der Geistesgeschichte enthalten Schätze, die wir nutzen sollten, um unser Gemeinwesen so einzurichten, dass möglichst viele Menschen in ihm ein gutes Leben führen können. Für dieses Ziel ist es notwendig, die vielfältigen Qualitäten der Rationalität einzusetzen und unsere Gefühle zu verstehen und zu distanzieren. 

Der berühmte englische Psychoanalytiker Donald Winnicott hat 1952 geschrieben, dass die frühe Kindheitsentwicklung bestimmt, ob Demokratie möglich wird oder nicht. „Denn diejenigen, die gehemmt werden in der Entwicklung ihres Selbst, wirken destruktiv der Demokratie gegenüber.” 

Das bedeutet auch, dass jede Arbeit an der Entwicklung des Selbst ein aktiver Beitrag zur konstruktiven Weiterentwicklung der Demokratie darstellt. Und es ist dringend notwendig, dass an den Voraussetzungen für diese Entwicklung gearbeitet wird – von allen Teilnehmern an der Demokratie und noch mehr von den Hauptverantwortlichen, eben den gewählten und von den Staatsbürgern bezahlten Politikern. Denn wer als Politiker in die eigene ideologische Tasche arbeitet und nicht fürs Gemeinwohl, ist korrupt.  

Montag, 10. Dezember 2018

Empfindlichkeiten in Beziehungen

Warum können uns nahestehende Menschen besonders leicht und besonders stark kränken? Warum reagieren wir bei den Menschen, die wir am meisten lieben, besonders empfindlich?

Je mehr Zeit wir mit anderen Menschen verbringen, desto mehr werden diese Beziehungen mit Projektionen aufgeladen, natürlich immer wechselseitig. Auf nahestehende Personen übertragen wir unsere unerfüllten Bedürfnisse, emotionalen Mängel und Frustrationen. Besonders stark sind diese Tendenzen bei Intimbeziehungen, denn dort wiederholen wir eine Intimität, die wir ganz früh in unserem Leben mit unserer Mutter und vielleicht auch mit unserem Vater hatten. Gerade aus diesen frühen Nahebeziehungen stammen unsere tiefsten Verletzungen und Missachtungen, die wir dann speziell mit Beziehungspartnern wie in einem Theaterstück wiederbeleben. 

Dazu kommt ein pragmatischer Gesichtspunkt: Die Menschen, mit denen wir am meisten Zeit verbringen, sollten besonders nett sein, denn wir wollen eine angenehme Zeit mit ihnen verbringen. Wenn sie uns kränken, befürchten wir, dass das immer wieder passieren könnte und damit unser Alltag zur Hölle wird. Deshalb reagieren wir schnell und heftig, um dieser Tendenz sofort Einhalt zu gebieten.

Außerdem sammeln unser Unbewusstes gerne mit den Menschen in unserer Umgebung ganze Archive von Kränkungsgeschichten mit allen Details aus all den Jahren. Unser Angstgedächtnis speichert akribisch, was uns irgendwann angetan wurde, und stellt es sofort mit all den dazu gehörigen Gefühlen zur Verfügung, sobald sich eine auch nur entfernt ähnliche Situation einstellt. Deshalb neigen wir dazu, bei kleinen Kleinigkeiten allzu leicht unsere mit alten Geschichten vollgefüllten Kränkungskisten zu öffnen, die ihren Inhalt mit unangemessener Heftigkeit in die gegenwärtige, möglicherweise ziemlich harmlose Situation hineinschwemmen.

Empfindlichkeiten als Zeichen von Selbstwertmangel


Je vielfältiger die möglichen Auslöser für Beleidigungen bei jemandem sind und je häufiger sie auftreten, desto schwächer ist das Selbstwertgefühl der betreffenden Person ausgeprägt. Menschen, die sehr an sich selbst zweifeln, neigen dazu, sich sofort in Frage gestellt zu fühlen, wenn sie irgendwo eine Ablehnung auch nur vermuten. Oft stellt sich heraus, dass es von anderen Personen gar nicht so gemeint war. Aber der Verdacht kommt leicht und schnell, dass andere einen selbst nicht mögen könnten und kritisch einschätzten. Menschen mit dieser Disposition haben ihre Sensoren auf Ablehnungsreize geschärft und scannen permanent die Umwelt nach möglichen Anzeichen für eine Zurückweisung ab. „Kleinigkeiten“ können dann schon die Kränkungsreaktion auslösen und eine Wunde im Emotionalkörper erzeugen oder reaktivieren. Allerdings meint die betroffene Person in so einem Fall überhaupt nicht, dass es eine Kleinigkeit ist, sondern ist überzeugt von der Gravität der Ungerechtigkeit oder Respektlosigkeit ebenso wie von der Angemessenheit der Intensität ihrer Reaktion darauf.

Es wirkt, als hätte die Außenhaut bei diesen Menschen viele Löcher, in die alle möglichen Widrigkeiten von außen sehr schnell tief nach innen eindringen. Oder, um ein anderes Bild zu versuchen, als wäre die Haut so dünn, dass sie leicht von Außenreizen durchbrochen werden kann wie von vergifteten Pfeilen. Jedenfalls kommt es zum Kippen von der Selbstmächtigkeit in die Ohnmacht, sobald die zerstörerische Kraft der Kränkung in das innere System eindringt, ähnlich wie ein Virus, der das Immunsystem überwunden hat und sich nun unbeschränkt vermehren und ausbreiten kann.

Und jede ablaufende Kränkungsgeschichte samt den mit ihnen verbundenen Gefühlsverläufen fügt dem Selbstwertkonto einen weiteren Minuspunkt hinzu. Wir sollten es doch endlich geschafft haben, uns nicht über jede Misslichkeit gleich so maßlos aufzuregen und jede kleine Unbedachtheit unserer Mitmenschen mit so viel Wut oder so viel beleidigtem Rückzug zu erwidern. Wir sind unzufrieden mit unseren Mitmenschen, die uns da kränken und wir sind unzufrieden mit uns selber, weil wir wieder darauf hereingefallen sind. Damit trennen wir uns noch mehr von uns selber ab und verlieren noch mehr an Selbstachtung.

Die Kränkungsabwehr


Es gibt auch die vermeidende Reaktionsvariante auf Kränkungen, die darin besteht, die eigene Verletztheit infolge einer ungerechten Kritik oder eine offensichtlichen Missachtung nicht zu zeigen und scheinbar nach außen die überlegene Rolle dessen zu spielen, dem nichts etwas anhaben kann. Sie geben sich den Anschein, über den Bosheiten ihrer Mitmenschen zu stehen.

Kränkungsunempfindliche Personen sind nicht automatisch selbstwertstärker. Auf einer subtilen Ebene rächen sich Menschen, die sich immer überlegen und unverletzbar zeigen (müssen), bei denen, die sie verletzen, mit Verachtung. Sie folgen dem Motto: „Wenn du dich so aufführst, hast du dich selbst als Mitmensch disqualifiziert. Ich nehme dich nicht einmal soweit ernst, dass ich mich von dir beleidigen lasse.“ Wenn jemand dieses Reaktionsmuster ausspielt, geht er in die Rolle eines Adelsangehörigen der vornehmen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, der sich nur mit Seinesgleichen duellierte, während alle, die weniger hochwohlgeboren waren, selbst im Fall einer ehrenrührigen Beleidigung nicht satisfaktionsfähig waren, also wegen ihres minderen Ranges nicht einmal als Duellgegner geachtet wurden.

Mit dieser Form, mit Kränkungen umzugehen, vermeiden wir die Konfrontation mit der Täterperson und ziehen uns mit verachtungsvoller Miene aus dem kommunikativen Kontakt zurück. Dann verkapseln wir uns in der eigenen Unversehrtheit und erklärten die menschliche Umwelt zum Feindesland, der nur mehr mit Vorsicht und Misstrauen begegnet werden kann. Der eigene Selbstwert braucht für seine Stabilität die strikte Abgrenzung von außen, er ruht nicht in sich selbst, sondern zeigt sich vor allem in der Fähigkeit, das eigene Territorium schützen zu können und nicht in der Fähigkeit, mit Klarheit und Kraft in der kommunikativen Auseinandersetzung mit den anderen Menschen diesen Raum zu sichern. Hinter der Maske der überlegenen Verachtung versteckt sich das vergrabene Beleidigtsein, und dahinter findet sich wiederum ein mangelhaftes Selbstwertgefühl.

Kränkungsvermeider wappnen sich mit allen Mitteln gegen Kränkungen, wie jemand, der sich aus Angst vor einer Erkältung dick einpackt und noch alle möglichen Pillen schluckt, bevor er in die Kälte raus geht. Kränkungsvermeidende Personen vertrauen nicht auf ihr natürliches Immunsystem, sondern haben so viel Angst vor ihren vielen Ängste in sich, dass sie dauernd auf der Hut sein müssen, nicht nur, um bedrohliche Situationen zu vermeiden, sondern auch, um darauf zu achten, dass die Fassade gewahrt bleibt.

Als kleine Kinder haben sie gelernt, dass sie für den Ausdruck ihrer Gefühle kein Verständnis kriegen, sondern Belehrungen und Erklärungen. Wenn sie sich frustriert und verletzt fühlten, ist niemand darauf eingegangen. So haben sie gelernt sich zu schützen und eine glatte Fassade aufzubauen. Die erlittenen Belehrungen und Erklärungen haben sie mit der Zeit gelernt, in Zynismen und Spott umzuwandeln und auf die Mitmenschen anzuwenden.

Die Meisterschaft


Wie können wir die  kränkungsvermeidende Person von einer unkränkbaren unterscheiden?
Vielleicht gibt es von außen gar keinen sichtbaren Unterschied. Denn die Erregung bei der vermeidenden Person bleibt im Inneren, und sie hat gelernt, sie gut zu überdecken, so weit, dass sie sie unter Umständen selber gar nicht mehr spüren kann. Aber der Ärger kommt im Verhalten zum Ausdruck, etwa durch eine verächtliche oder spöttische Form der Abwendung.

Es zeigt sich eine andere Haltung, wenn jemand tatsächlich von einer Beleidigung nicht betroffen ist. Die Person bleibt ruhig und zugewandt, vielleicht verwundert oder überrascht, und wenn sie mit Humor reagiert, so ist dieser nicht boshaft oder gespielt. Statt sich subtil zu rächen, entsteht ein Mitgefühl und Verständnis für die angreifende Person, jedoch ohne Anzeichen von Überheblichkeit oder Verachtung. Die Bereitschaft ist da, sich zu entschuldigen, wenn es etwas zu entschuldigen gibt, aber auch klar zu sagen, wenn es ein Missverständnis oder eine falsche Anschuldigung war.

Diese Meisterschaft im Umgehen mit Kränkungen erscheint uns möglicherweise übermenschlich oder nur besonders hoch entwickelten Wesen vorbehalten. Doch können wir aller ihrer mächtig sein, wenn wir uns im Mitgefühl und in der Achtsamkeit üben. Paradoxerweise wird sie uns dort am schwersten fallen, wo die meiste Liebe da ist. Da wir aber wissen, dass Intimität mit Empfindlichkeit und Verletzbarkeit zusammenhängt, können wir auch in diesem Bereich verständnisvoll mit uns selber und unseren Schwächen sein sowie an unseren Stärken arbeiten. Mit jedem Schritt in diese Richtung fördern wir unsere Liebesfähigkeit.

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Donnerstag, 6. Dezember 2018

Reaktionsweisen auf die Scham nach dem Enneagramm

Das Enneagramm ist ein Persönlichkeitsmodell mit neun Typen, und es dient zur Selbstfindung, um die eigenen Potenziale und Schattenseiten besser aufspüren zu können. Beim Enneagramm handelt es sich nicht um ein fixes Lehrgebäude, das ein für alle Mal feststeht, sondern um ein Modell, das nur mit viel Intuition und Flexibilität angewendet werden kann. Es entwickelt sich laufend weiter, und jeder Mensch, der seinen eigenen Typen erforscht, fügt dem Modell eine neue Facette hinzu. Es gibt eine große Zahl von Büchern und anderen Quellen zum Enneagramm, und jede dieser Darstellungen zeigt einen eigenen Zugang zum Modell und verweist dennoch wieder auf die gemeinsame Grundlage, eben die neun Enneagramm-Typen.

In diesem Sinn ist die folgende Zusammenstellung zu verstehen: nicht als eine lehrbuchmäßige Aufzählung von feststehenden typischen Reaktionsweisen, sondern als eine Denk- und Erforschungsanregung, die aus meiner Erfahrung mit dem Modell stammt und die von jeder Leserin und jedem Leser aus der eigenen Erfahrung modifiziert und verändert werden kann. Auf diese Weise wachsen das Wissen über das Modell und der Weisheitsschatz, der im Modell verborgen ist, beständig weiter.

Zunächst zur Orientierung und Übersicht die neun Enneagramm-Typen:


1. Der rechtschaffene Reformer 
2. Die gütige Helferin
3. Der effiziente Macher
4. Die vielseitige Romantikerin
5. Der friedliche Denker
6. Die treue Heldin
7. Der optimistische Abenteurer
8. Die beschützende Kämpferin
9. Der gelassene Vermittler

In diesem Artikel geht es darum, wie die einzelnen Enneagrammtypen mit dem Gefühl der Scham umgehen, zu welchem Verhältnis zu diesem Gefühl sie neigen und was sie lernen können, wenn sie ihre eigene Scham annehmen. Scham ist ein Gefühl, das jeder Mensch kennt, aber auf unterschiedliche Weise damit umgeht. Durch die verschiedenen Reaktionsweisen können wir ein differenzierteres Verständnis dafür bekommen, wie Menschen damit umgehen, wenn sie Scham spüren.

Typische Verhaltensweisen, wie die einzelnen Typen mit dem Schamgefühl umgehen:
  1. Bei der Eins ist die Scham ein großes Hintergrundthema: Sie macht alles, um Situation zu vermeiden, in denen sie beschämt werden könnte. Die Rechtschaffenheit wird perfektioniert, damit es ja keinen Anlass für Scham gibt; wenn aber der große Schein vor den eigenen nicht gelebten Antrieben und Neigungen gelüftet wird, schlägt die Scham erbarmungslos zu, wie beim berühmten Moralprediger, der im Bordell ertappt wird. Die Eins wandelt gerne jedes Fremdschämen in moralische Zurechtweisungen um.
  2. Die Zwei schämt sich häufig, weil sie schnell das Gefühl kriegt, zu wenig zu geben. Deshalb ist der Impuls stark, durch das Tun des Guten mögliches Beschämtwerden hintan zu halten. Leicht schämt sie sich auch für andere und versucht dann, deren Fehler auszugleichen. Wenn sie andere beschämt, dann vor allem durch das viele Geben. Sie bringt immer ein größeres Geschenk mit als die anderen.
  3. Die Drei ist Meisterin im Überspielen. Sie ist virtuos und wendig im Vertuschen von Peinlichkeiten und lenkt sofort ab, wenn etwas auftaucht, was die Scham auslösen könnte. Da sie gerne im Mittelpunkt steht, achtet sie auf eine saubere und polierte Fassade, die keinen Makel verträgt. Deshalb vertuscht die Drei gerne alles, was beschämend sein könnte.
  4. Bei der Vier sind Scham und Drama eng verknüpft: Sie exponiert sich gerne, manchmal bis an die Grenze zur Schamlosigkeit, leidet intensiv an der Scham und zieht gerne andere mit rein. Sie veranstalten ein emotionales Theater, damit alle sehen, was los ist.
  5. Die Fünf neigt zur Rationalisierung: Sie erklärt, warum was geschehen ist, um die Scham nicht spüren zu müssen. Sie findet Rechtfertigungen und Begründungen für die eigenen Fehler. Sie versteht die Scham als eine Privatsache, die niemanden etwas angeht und gehen Menschen aus dem Weg, die sie beschämen könnten.
  6. Die Sechs hat von allen Enneagrammtypen die größte Schambereitschaft. Sie meint ständig, etwas falsch gemacht zu haben und irgendjemandem etwas schuldig zu bleiben. Sie läuft mit einer Haltung herum, sich sofort zu entschuldigen, was auch immer gerade passiert.
  7. Die Sieben versteht nicht, worum es dabei geht, wenn jemand von Scham redet. Sie wähnt sich in einem unschuldigen Kindheitsstadium; wenn es doch zu peinlichen Situationen kommt, erwirbt sie das Verständnis der anderen dadurch, dass sie sich in voller Naivität schämen kann. Das Ganze geht schnell, und dann ist schon wieder etwas anderes interessant. Die Sieben versteht es, es sich so zu richten, dass sie mit all ihren Fehlern davonkommt, ohne dass irgendwer böse sein könnte.
  8. Die Acht verfügt über eine starke Tendenz zur Schamlosigkeit, und ist Meisterin im Beschämen, indem sofort und vorsorglich die Fehler und Schwächen der Mitmenschen angeprangert werden. Sie kann zwar zur eigenen Scham stehen, verbindet sie aber häufig mit einem Angriff auf die anderen, die für die Beschämung verantwortlich gemacht werden.
  9. Die Neun gleicht gerne aus, wenn es um Beschämen geht, hält sich selber raus, weil sie sich mit allen gut stehen will. Die Scham-Prävention der Neun funktioniert so, dass im Vorfeld die Beziehungen gepflegt werden, damit es zu keinen Störungen kommen kann. Ein ausbalanciertes Netz an Beziehungen wird aufgebaut, in dem jeder sich sicher fühlen kann.
Typische Reaktionsweisen auf die Scham: 

1. Verleugnung und Rechtfertigung
2. Selbstanklage und Aktivität
3. Ausreden, Schönreden, Kleinreden
4. Leiden und Aufmerksamkeit finden
5. Erklärungen ausdenken und zurückziehen
6. Verzweiflung und Jammern
7. Ablenkung und Beschönigen
8. Anklage und Vorwürfe
9. Bagatellisieren und Ausgleichen

Was die Scham lehren kann:
  1. Ich bin nicht vollkommen, brauche nie vollkommen zu werden und muss es auch nicht von den anderen zu verlangen. 
  2. Ich gebe genug dadurch, dass ich da bin. Meine guten Taten und meine Fürsorge für andere sind nicht das einzige Kriterium, von Menschen geschätzt zu werden.
  3. Ich kann es aushalten und verliere nichts dadurch, mich zu schämen, wenn ich etwas Falsches oder Unrechtes getan habe. 
  4. Ich stehe zu meinen Fehlern und übe mich in Gelassenheit. Ich nehme mich und meine Gefühle weniger wichtig und bin dadurch offener für andere Menschen.
  5. Schämen ist ein Teilaspekt des Menschseins, ich kann das Gefühl zulassen und spüren, und, wenn nötig, Handlungen setzen, um einen Schaden wieder gutzumachen. Ich sehe ein, dass ich Menschen besser verstehen kann, wenn ich meine eigene Scham kennenlerne.
  6. Ich lerne bei jedem Schämen ein Stück von mir tiefer anzunehmen und zu akzeptieren, dadurch erkenne ich mehr und mehr, wie wertvoll ich bin, gleich ob ich es den anderen Recht mache oder nicht.
  7. Wenn ich meine Scham akzeptiere, kann ich mich tiefer mit mir selber verbinden und zu mir kommen.  
  8. Ich achte besser darauf, wenn und wofür ich mich schäme, dann wird meine Tendenz schwächer, andere zu beschämen, was mir eigentlich nur Probleme beschert. Ich übe mich in mehr Toleranz.
  9. Ich stehe zu meiner Scham, wenn sie da ist, und damit stehe ich mehr zu mir selber und nehme mich so wichtig wie die anderen. Ich wende das Verständnis, das ich für andere habe, auch auf mich an.
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Donnerstag, 29. November 2018

Fremdschämen - ein eigentümliches Gefühl

Wenn Kinder sich daneben benehmen, können sich Eltern für sie schämen, vielleicht weil sie meinen, dass sie schlechte Eltern sind und die Mitmenschen mit verstecktem Zeigefinger auf sie zeigen. Wenn Kinder sich für ihre Eltern schämen (meist erst in der Pubertät), dann meinen sie vielleicht, dass ihre Eltern verzopft und altmodisch sind und bei ihren Freunden als uncool ankommen. Beim Fremdschämen sind wir mit den betreffenden Personen über-identifiziert oder von ihnen mangelhaft abgegrenzt.

Das Phänomen des Fremdschämens hat deshalb eine ganz besondere Stellung, weil es das einzige Gefühl ist, das wir für jemand anderen, also stellvertretend empfinden. Wir sind nicht für jemand anderen traurig, wütend oder eifersüchtig; das geht nur bei der Scham, auch ein Grund, warum sie ein derartig komplexes Gefühl ist. Dazu kommt, dass wir das Gefühl für vollkommen fremde Personen empfinden können, z.B. für jemandem im Fernsehen, dem ein blödes Missgeschick passiert oder der bei einer gestellten Aufgabe versagt oder während der Sendung völlig den Faden verliert. Forscher haben außerdem herausgefunden, dass das Gefühl des Fremdschämens genauso stark sein kann, wenn der peinliche Fehler absichtlich oder unabsichtlich passiert und unabhängig davon, ob die Person überhaupt bemerkt, was geschieht.

Laut Gehirnstudien werden bei dieser Art der Scham die gleichen Areale aktiviert, die bei körperlichem Schmerz und beim Beobachten von schmerzhaften Situationen von Mitmenschen (Spiegelneurone) reagieren. Es tut also buchstäblich weh, jemand anderen in einer peinlichen Situation zu beobachten. Es geht, genauer gesagt, um den vorderen zingulären Kortex und die anteriore Insula. Das sind die Gehirnareale, die aktiv sind, wenn man Mitleid mit Menschen hat, die eine körperliche Verletzung erlitten haben, und dabei den Schmerz des anderen in sich selber spürt.

Die Forschungen haben auch gezeigt, dass es individuelle Unterschiede beim Ausmaß des Fremdschämens gibt. Es reagieren nicht alle Menschen gleich stark und gleich oft. Offenbar gibt es einen Zusammenhang mit der Fähigkeit zur Empathie, die unter den Menschen verschieden ausgeprägt ist. Das könnte der Grund sein, warum diese Form der Scham bei Frauen stärker ausgeprägt ist als bei Männer, denn Frauen sind durchschnittlich besser in der empathischen Kommunikation als Männer. Autisten dagegen, die sich mit Empathie schwer tun, haben auch schwächere Tendenzen zum Schämen für andere. 

Empathie sollte in diesem Zusammenhang allerdings klar von der Identifikation unterschieden werden, die eine wichtige Rolle beim Fremdschämen spielt. Empathie ist die Fähigkeit, die Gefühle anderer Menschen „lesen“ zu können und dafür Verständnis aufzubringen. Identifikation, ein Abwehrmechanismus in der Theorie der Psychoanalyse, geschieht dagegen, wenn die Gefühle eines anderen Menschen zu den eigenen werden und nicht mehr davon unterschieden werden können. Diese Unterscheidung wird weiter unten noch genauer besprochen.

Ähnlich wie die Scham von kulturellen Trends und Standards abhängig ist, gilt das auch für das Fremdschämen. Kleidungsstile, die vor einigen Jahrzehnten peinlich und unmöglich empfunden wurden, können heutzutage Teil der Mode sein, an der sich niemand stößt. Es scheint so, als würde die Schamabhängigkeit der Kunden vom Modemarketing ausgenutzt, um sie davon zu überzeugen, die Garderobe regelmäßig zu erneuern, nach dem Motto: „Sie wollen doch nicht das Objekt des Fremdschämens Ihrer Mitmenschen werden, also ziehen Sie an, was gerade die Mode diktiert!“


Fremdschämen fürs Kollektiv


Die Kultur, in der wir leben, prägt nicht nur die Schamthemen, sondern bietet auch reichlich den Anlass für den Aufbau von Identifikationen bei ihren Mitgliedern. Wenn andere Mitglieder aus dem kulturellen Konsens ausscheren, meldet sich schnell das Fremdschämen. Im Jahr 2014 gewann die österreichische Sängerin Conchita Wurst den Europäischen Songcontest, und vielen ihrer Landsleute war es äußerst peinlich, bis hinauf zum damaligen Vizekanzler, auf eine transsexuelle Kunstfigur und einen besonderen Menschen wegen einer ausgezeichneten künstlerischen Leistung stolz sein zu sollen.

Ein anderes Fremdschäm-Thema liefert in vielen Ländern der Sport, insbesondere der Fußball: Die Nationalmannschaft des eigenen Landes hat eine blamable Vorstellung abgegeben und das wichtige Spiel kläglich verloren – wie konnte „uns“ das nur passieren? Wie stehen „wir“ jetzt da vor allen anderen, die uns ab jetzt nur mehr abschätzig bemitleiden? Die Identifikation mit der Nation über das Vehikel Sport spielt eine zentrale Rolle im Seelenleben vieler Menschen.

Auch andere, vom Mainstream abweichende Kulturproduktionen können Fremdschäm-Reaktionen hervorrufen – abstrakte Denkmäler, atonale Musikstücke, unkonventionelle Inszenierungen, provokante Filme usw. bieten Anlass für peinliches Berührtsein bei Menschen, die nur Äußerlichkeiten oder Nebensächlichkeiten wahrnehmen und den Kontext und die künstlerische Aussage nicht verstehen. Um solche Schamreaktionen zu vermeiden, tendieren autoritäre Staaten dazu, solche Werke einfach zu verbieten und aus der Öffentlichkeit zu verbannen, vgl. die  Bücherverbrennungen und die Brandmarkung von „entarteter Kunst“ im Nationalsozialismus.


Die psychologischen Hintergründe 


Wir vollziehen die Schamreaktion an der Stelle der anderen Person, wir nehmen ihr gewissermaßen ab, was sein soll, damit die soziale Ordnung nach der Störung wieder ins Gleichgewicht kommt. Es ist etwas Blamables geschehen, das muss mit Scham zur Kenntnis genommen und entschuldigt werden und dann kann das Leben nach den gewohnten Regeln weitergehen. Wir wollen für die andere Person ausbessern, was durch deren Fehlverhalten, Unachtsamkeit oder Missgeschick aus dem Lot geraten ist. 

Solche stellvertretende Manöver, die ja vom Unbewussten unseres Seelenlebens gesteuert sind, wirken ein wenig schräg und tragen zu dem zwiespältigen Bild bei, das wir vom Fremdschämen haben. Einesteils trägt es den Anschein des Altruismus, einfühlend mit einer Person in einer Notlage zu sympathisieren und ihr ein Stück der Last abnehmen zu wollen. Allerdings passiert das Ganze nur in der Vorstellungs- und Gefühlswelt der nichtbeteiligten Person. Die vom Fremdschämen betroffene Person hat nichts davon, im Gegenteil, es kann ihre Notlage sogar noch verstärken. Jemand stolpert vor laufenden Kameras auf die Bühne; sofort meldet sich die eigene Scham, aber das Wissen, dass alle sehen, was geschehen ist, und dass sich alle für einen schämen, erschwert die Situation zusätzlich. Die Peinlichkeit erleichtern würde es, wenn alle Zuseher einfach über das Missgeschick hinwegsähen und nicht davon Kenntnis nähmen, geschweige denn selber beschämt wären. Jeder Akt des Fremdschämens belastet die eigene Scham zusätzlich.

Und das ist die andere Seite: Je stärker das Fremdschämen wirkt, desto wirksamer sind wir mit der Person, für die wir uns schämen, identifiziert. Wir schaffen es nicht, ihr zuzutrauen, aus dem Schlamassel herauszufinden und die Situation aus eigenen Kräften zu meistern. Wir nehmen ihr einen Teil der Verantwortung ab, ohne Rücksicht darauf, ob sie den nicht ohnehin selber tragen könnte. Dazu kommt: Wir nutzen unsere sichere Position des Außenstehenden, um uns ein Stück besser zu fühlen als die in ihrer Peinlichkeit bloßgestellte Person. Denn unsere Fremdscham tut uns zwar weh, aber wir spüren diesen Schamschmerz im Rahmen einer moralischen Rechtschaffenheit, dem Objekt unseres Schämens scheinbar das Leben zu erleichtern und nach dem Fehltritt die Rückkehr in die Gesellschaft der Normalos zu beschleunigen.

Die Identifikation liefert uns die Brücke: Wären wir selber in der Situation, würden wir uns schämen. Wir versetzen uns in die Person und in deren peinliche Situation, leiden mit, aber genießen zugleich die Gewissheit, tatsächlich auf der sicheren, unbetroffenen Seite zu sein, ähnlich wie wir uns mit dem Opfer eines Verbrechens in einem Krimi identifizieren, aber immer auch wissen, dass uns nichts geschehen kann, weil wir sicher im Lehnstuhl vor dem Fernseher sitzen.

Darin liegt offenbar der Gewinn beim Fremdschämen: Wir fühlen uns als Mensch, der Gutes geleistet hat und sozial eingestellt ist, als jemand, der sich um andere kümmert und stets bereit ist, ihnen eine Last abzunehmen. Dafür verdienen wir Anerkennung und Wertschätzung. Wir nehmen das Schicksal anderer Menschen ernst und bleiben deshalb im sozialen Netz verbunden. Ob die Form des Ernstnehmens und Gutes Tuns beim Fremdschämen tatsächlich hilfreich ist, ist allerdings zweifelhaft.

Die Spiegelneuronen sind der Schlüssel zur Fremdscham. Studien konnten zeigen, dass das bloße Beobachten von jemandem, der gerade in einer peinlichen Situation feststeckt, in unserem Hirn die gleichen Areale anspringen lässt, als wenn wir selbst in der Situation wären. Dafür ist es aber nötig, dass der andere sich auch selbst darüber bewusst ist, dass er sich gerade die Blöße gibt.

Ist dem nicht der Fall, können wir uns natürlich trotzdem fremdschämen. Nur spiegeln wir jetzt eben nicht die Scham des anderen, sondern schämen uns an seiner statt – dafür vielleicht manchmal auch doppelt so stark.


Die Schadenfreude


Die Schadenfreude ist gewissermaßen das Gegenteil des Fremdschämens. Statt den anderen Menschen, der sich gerade eine Blöße gegeben hat (manchmal sogar im wörtlichen Sinn), zu verstehen und ihm helfen zu wollen, vergönnen wir ihm das Problem. Schadenfreude ist eine Form der Rache und setzt voraus, dass uns die andere Person bereits Böses angetan hat. Wir mögen z.B. bestimmte politische Parteien nicht, weil wir den Eindruck haben, dass sie mit ihrer Politik uns und uns nahestehenden Menschen Lebenschancen beschneiden und Möglichkeiten einschränken. Wenn solchen Parteien oder deren Protagonisten Missgeschicke (schlechte Wahlergebnisse, imageschädigende Korruptionsfälle, Gerichtsverurteilungen usw.) widerfahren, freuen wir uns, weil wir hoffen, dass damit die Bedrohung für uns und unsere Ziele und Ideale verringert wird. 

Bei der Schadenfreude geben wir uns nicht den Anschein der altruistischen Menschenliebe wie beim Fremdschämen, sondern überlassen unserem Egoismus das Feld. Wir fühlen uns als Sieger in einem Kampf, zumindest auf Zeit, und können unsere Racheimpulse befriedigen. 


Empathie oder Identifikation?


Das Fremdschämen ist ein ambivalentes Gefühl. Es hängt auch mit der eigenen Beschämungsgeschichte zusammen, denn in ihr liegt der Schlüssel, ob wir dazu neigen, Empathie und Identifikation zu vermischen oder klar unterscheiden zu können. Identifikation ist in der Psychoanalyse der reifste der Abwehrmechanismen, der bis zu einem gewissen Grad notwendig für eine gesunde seelische Entwicklung ist (kleine Kinder identifizieren sich mit ihren Eltern, um deren Fähigkeiten, Einstellungen und Werte zu übernehmen und darauf die eigene Identität aufzubauen). Aber unbewusst wirkende Identifikationsvorgänge hindern die eigene Entwicklung, vor allem, wenn sie auf Scham gegründet sind.

Um also erkennen zu können, dass wir uns in einer Identifikation und nicht in der Empathie befinden, müssen wir in der Kindheit gelernt haben, klar zwischen eigenen und fremden Gefühlen zu unterscheiden. Wenn die eigenen Eltern keine oder zu wenig Verantwortung für die eigenen Gefühle übernommen haben, also den Kindern ihre Gefühlsreaktionen unbefragt und unreflektiert überstülpen, dann lernen die Kinder, sich vorrangig mit den Gefühlen der Eltern zu identifizieren statt selber zu spüren, was in ihnen vorgeht. Es kommt dann leicht zur Vermengung von eigenen Gefühlen und den Gefühlen der anderen, die oft auch nur vermutet werden. Auf dieser Basis steigt die Empfänglichkeit für das Fremdschämen.

Eine zweite Grundlage für eine verstärkte Ausprägung der Neigung zum Fremdschämen liegt in der eigenen Kindheitsgeschichte mit ihrem Ausmaß an Beschämungen. Eltern oder später andere Autoritäten, die besonders erpicht auf Ungeschicklichkeiten, Fehler und Peinlichkeiten der Kinder sind, sorgen dafür, dass die Kinder ein spezielles Sensorium für beschämende und peinliche Situationen entwickeln. In der Folge bildet sich eine starke Neigung zum Selbst- wie zum Fremdschämen. Hier kann auch der Grund dafür liegen, warum Millionen Menschen Youtube-Videos anschauen, in denen alle möglichen Peinlichkeiten dargestellt werden, von Prominenten wie von Normalsterblichen.  


Vertrauen statt Fremdscham


Welche Möglichkeiten haben wir, um unsere Tendenzen zum Fremdschämen zu verringern?
  • Bei sich selber bleiben und die Identifikation unterbrechen: Dieser ganz einfache Satz kann oft Wunder wirken: „Ich hier, du dort.“ „Ich bin in meiner Situation, du in einer anderen. Ich bin im Zuschauerraum, du auf der Bühne.“ 
  • Mitgefühl für den Menschen entwickeln, der gerade in einer peinlichen Situation steckt: „Es tut mir leid für dich, dass du in diese Situation geraten bist, ich kann nachvollziehen, wie es dir geht.“ 
  • Entscheiden über den Handlungsspielraum: „Kann ich in irgendeiner Weise hilfreich eingreifen oder nicht? Wenn ja, was ist zu tun?“ Wenn nein, geht es darum, sich herauszuhalten und auf Distanz zu gehen. Es genügt, beim Mitgefühl zu bleiben, das sich mit dem Vertrauen verbinden kann, dass es immer einen guten Ausweg aus einer misslichen Situation gibt.
  • Die Verantwortung bei der Person lassen: Wo es nichts zu tun gibt, besteht auch keine Verantwortung. Die Person muss und wird die blamable Situation bewältigen und überwinden.
  • Auf positive Eigenschaften fokussieren: Meist ist die peinliche Angelegenheit nur eine Kleinigkeit im Vergleich zu dem, was alles an der Person, die in die Situation kam, anerkennens- und bewundernswert ist, was sie gut kann und was sie als Mensch wert ist.

Zum Weiterlesen:
Empathie

P.S. in eigener Sache: Diese Blogseite hat dieser Tage den 200 000sten Aufruf zu verzeichnen.

Montag, 26. November 2018

Die Rückkehr aus der Scham

Die Scham ist nicht nur das schwierigste, sondern auch das unangenehmste Gefühl. Wir wollen ihm so schnell wie möglich entrinnen, manchmal wünschen wir uns, in der Erde zu versinken – Mutter Erde soll uns gnädig in ihr Reich aufnehmen, in dem alle Fehler, die wir jemals begangen haben, keine Rolle mehr spielen. In ihrem Schoß kann es nichts Peinliches mehr geben, weil sie alles schon kennt, was Menschen falsch machen können.

Soweit unsere Errettungsfantasie in den Momenten der Pein, in denen es scheinbar kein Entkommen vor der Missbilligung unserer Mitmenschen und dem Verlust unserer Selbstachtung gibt. Wir stehen auf der Rednerbühne und merken plötzlich, dass der Hosenzipp offen ist, wir erzählen in der Runde etwas, was alle schon längst wissen, wir haben einen wichtigen Termin vergessen oder die Blumen liegengelassen, die wir schenken wollten, wir bringen bei einem Witz die Pointe nicht rüber, wir stellen eine Bekannte mit einem falschen Namen vor… Anlässe zum Schämen gibt es Sonderzahl. 

Wir können zwar den bekannten, fälschlicherweise Wilhelm Busch zugeschriebenen Rat beherzigen: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt’s sich gänzlich ungeniert“, doch müssten wir dazu erst einmal unseren Ruf riskieren. Denn dieser definiert unsere Stellung in der Gemeinschaft, und daran hängen unsere Chancen, angenommen zu sein und sicher dazu zu gehören. Wir wollen, dass uns die anderen vertrauen können, so wie wir ihnen vertrauen wollen. Mit einem ruinierten Ruf riskieren wir das Misstrauen unserer Mitmenschen und damit unsere Sicherheit in der Gesellschaft und Öffentlichkeit.

Andererseits stehen wir in Zusammenhängen des Schämens und des Beschämtwerdens, sobald wir uns auf den Marktplatz der Gesellschaft begeben. Die Gesellschaften, die wir als Menschen bilden, sind so komplex und von unterschiedlichsten Werten und Normen durchzogen, dass wir uns nicht aus dem Haus bewegen sollten, wollten wir der Scham entgehen. Allzu leicht können wir die Grenzen bei anderen verletzen, was uns zur Scham führt, sobald wir das merken. Deshalb haben wir immer wieder versucht, uns all die Regeln und Normen einzuprägen, damit unser Navigieren durch die menschliche Gesellschaft ohne Peinlichkeiten und Scham ablaufen kann. Doch all das Lernen und Verbessern in unseren sozialen Kompetenzen hat uns nicht davor gefeit, doch immer wieder mal in ein Fettnäpfchen zu tappen. 

Der Narr


Die archetypische Gestalt des Narren bezeichnet einen Menschen, der sich nicht schämt, weil er nichts weiß oder vorgibt, nichts zu wissen über das, was sich gehört und was sich nicht gehört. Narren und Kinder sprechen die Wahrheit, so heißt es, und damit ist gemeint, dass wir unangenehme Dinge nur ansprechen können, wenn wir bestimmte soziale Konventionen überwinden. Und das können wir, wenn wir uns in einen Bereich jenseits der Scham begeben. Dem Narren wurde zugebilligt, sogar die Majestät zu beleidigen, weil er eben ohne Rücksicht auf die Normen und Gesetze sagt, was er sich denkt und was er sieht. 

In diesem Sinn wurde auch zu bestimmten Zeiten die Narrenfreiheit ausgerufen, um für die Leute einen zeitlich begrenzten Erfahrungsraum zu öffnen, in dem niemand etwas falsch machen konnte und alles erlaubt war. Jeder sollte sich einmal als Narr aufführen können, um sich dann wieder leichter in die Zwängen der Gesellschaft einfügen.

Der Narr ist frei von Abhängigkeiten, auch von der Abhängigkeit von einem bestimmten Selbstbild. Er ist ein Meister der Widersprüche und des Paradoxen. Er kann einmal so sein und dann wieder ganz anders. Er lässt sich nicht auf ein bestimmtes Image festnageln, sondern wirkt durch seine Unberechenbarkeit. Da er nichts hat, hat er nichts zu verlieren, also gibt es nichts, wofür er sich schämen könnte oder müsste.

Mehr Narrenfreiheit


Wir müssen nicht alle zu Narren werden, das könnte anstrengend werden, wenn wir nicht über das entsprechende Naturell verfügen, aber wir können uns selbst mehr Narrenfreiheit schenken. Was könnten wir uns vom archetypischen Narren abschauen?

Der Narr kümmert sich nicht um Gewohnheiten, Regeln und Vorschriften. Die einzige Regel, der er folgt, verpflichtet ihn zum Aussprechen der ungeschminkten Wahrheit. Kompromisslos steht er dazu, ohne Rücksicht auf das eigene Risiko. Er hält anderen den Spiegel vor, weil er selber leer ist von Eitelkeit und Rechthaberei. Er ist die Symbolfigur für die Verweigerung jeder Anpassung. 

Wir haben von früh an gelernt, die Erwartungen der anderen wichtiger zu nehmen als was wir selber spüren, brauchen und wollen. Der Preis für unsere Anpassungsleistung war die Imprägnierung mit Scham. Indem wir unsere eigene Narretei und die mit ihr verbundene Kreativität, Sinnlichkeit und Lustigkeit einladen und zulassen, finden wir zurück zu dieser Unbefangenheit und Lockerheit, die das Eigene behaupten kann, ohne sich dafür zu schämen. Sie hat auch keinen Impuls, das Andere abzuwerten, abzuwehren oder zu beschämen.

Mit Archetyp ist gemeint, dass wir alle einen närrischen Persönlichkeitsanteil in uns tragen. Er ist bei manchen Menschen stärker ausgeprägt als bei anderen. Wo auch immer wir uns selber auf dieser Skala befinden, können wir die Energie des Narren nutzen, wenn wir uns unserer ursprünglichen Unbefangenheit und Unschuld besinnen. Wir kommen aus dem Reich der Freiheit von Scham und Schuld, und es steht uns zu, immer wieder dort zurückzukehren und in spielerischer Freude herumzutoben. So wandelt sich die Schwere der Scham in die Leichtigkeit des Narren, der sich, auf gut Wienerisch, einfach „nix scheißt“.  

Die Rückkehr aus der Scham


Was hilft uns noch, uns aus den Fängen eines quälenden und hartnäckigen Schamgefühls zu befreien? Der Narr repräsentiert das Gegenbild zum schamerfüllten angepassten und unterdrückten Mitglied der Gesellschaft. Meistens bewegen wir uns zwischen diesen Extremen, mal melden sich kleine, mal größere Schamgefühle. Wie können wir uns von den alltäglich auftauchenden und den längerfristig bedrückenden Schamerfahrungen entlasten?

Der erste Schritt besteht darin, das Gefühl im Moment zu spüren und anzunehmen, auch wenn es lästig und unangenehm ist. Vor allem Schamgefühle lösen sich nicht, wenn wir sie beiseite schieben und verdrängen. Im Akzeptieren des Gefühls erkennen wir es als das, was es ist, nämlich nur ein Gefühl, das nichts mit unserem Persönlichkeitskern und unserer Identität zu tun hat.
  • Im nächsten Schritt können wir uns klarmachen, dass wir Menschen sind, und das heißt, dass wir Fehler machen können und immer wieder Fehler machen werden. Wir sind wie alle anderen, auch wie die, vor denen wir uns schämen. Wir begehen auch den Fehler, perfekt sein zu wollen, der zusätzlich dazu beiträgt, dass wir uns öfter schämen, als es notwendig ist.
  • Weiters sollten wir unser Verhalten von unserer Person unterscheiden. Wir sind keine unhöflichen oder unachtsamen Menschen, wenn wir einmal unhöflich oder unachtsam reagiert haben. Wir sind immer in der Lage, für unser Verhalten die Verantwortung zu übernehmen und dort, wo es notwendig, ist, den Schaden wieder reparieren.
  • Hilfreich ist es auch, wenn wir unser Selbstmitgefühl vertiefen, allerdings sollten wir darauf achten, nicht in ein Selbstmitleid, das uns in einer Opferrolle festhalten will, zu verfallen. Mitgefühl heißt, dass wir uns nicht als unbarmherzigen Richter über uns selbst aufbauen, sondern uns selbst gegenüber das Verständnis aufbringen, dass wir unsere Schwächen und Mängel haben und dass wir als Menschen nie fertig sind. Wir werden immer wieder da und dort straucheln und unsere Sicherheit verlieren, und dann wieder festen Boden unter den Füßen gewinnen. So ist unser Leben und das der anderen auch.
  • Die Scham will uns einreden, dass wir die einzigen sind, die fehlerhaft sind und die immer wieder was falsch machen. Doch stimmt das überhaupt nicht, im Gegenteil: Wir sind in bester Gesellschaft – mit all den anderen menschlichen Wesen. Wenn wir glauben, jemand anderen wegen seiner Vollkommenheit bewundern und beneiden zu müssen, haben wir nur nicht genau genug hingeschaut und deshalb die Unvollkommenheiten dieser Person übersehen.
  • Wir reden mit anderen aus vielerlei Gründen. Einer ist immer mit dabei: Wir vergewissern uns, dass uns die andere Person wohlgesonnen ist. Denn dann können wir entspannen, weil wir uns nicht schämen müssen. Wir können so sein, wie wir sind, und wenn Fehler passieren, passieren eben Fehler und nicht mehr.
  • Wenn es uns gelingt, mit vertrauten Menschen über Erlebnisse zu sprechen, die uns beschämt haben, ist das ein weiterer Schritt zur Auflösung eines Schamgefühls. Wir erhalten die Bestätigung von der anderen Person, dass wir in Ordnung sind, auch wenn – oder sogar: gerade weil – wir etwas Beschämendes erlebt haben. Wir brauchen keine Angst mehr zu haben, dass wir nicht dazugehören. Vielmehr gehören wir ganz besonders dazu, wie alle, die sich ihre Scham eingestehen und sich damit von ihrer Last befreien können.

Das Reich der Würde


Sobald wir den Bann der Scham verlassen, treten wir voll in den integren Raum unserer Würde ein. Wir nehmen unsere aufrechte und gerade Haltung ein und begegnen auf diese Weise der Welt. Es gibt nichts, was wir zu verbergen hätten und es gibt nichts, was uns einschüchtert. Es gibt nichts, was in diesem Raum der Würde keinen Platz hätte. Wir zeigen uns in unserer Kraft und in unserer Verletzlichkeit, in unserer Anfälligkeit für die Scham. Je mehr wir mit ihr Freundschaft schließen, desto weniger wird sie sich hinterrücks einschleichen und unseren Lebensfluss blockieren. Und wenn es doch passiert, treffen wir auf ein befreundetes Gefühl und können es nutzen, mehr Bewusstheit in unser Inneres zu bringen. 

Zum Weiterlesen:
Scham - unser schwierigstes Gefühl
Unterschiedliche Reaktionsweisen auf die Scham
Das Vergleichen und der Selbstwert