Mittwoch, 27. Juli 2022

Der Pflegenotstand und unser Denken

Stellen wir uns eine Runde von Menschen vor, die sich noch nicht kennen. Eine Person sagt: „Ich bin Pfleger in einem Krankenhaus.“ Die nächste sagt: „Ich arbeite als Krankenschwester.“ Der dritte teilt mit: „Ich bin Oberarzt mit einer Privatpraxis.“ Die inneren Reaktionen auf diese Mitteilungen werden ganz unterschiedlich ausfallen. Es entsteht unvermeidbar in der eigenen Fantasiewelt eine innere Rang- und Statusordnung. Der Pfleger bekommt weniger Achtung und Respekt als der Arzt. Ohne es zu merken, werde ich mit dem Arzt anders reden als mit dem Pfleger.

Jeder von uns trägt die gesellschaftliche Rangordnung in sich und wendet sie fortwährend an. Niemand würde sagen, dass eine von den drei Menschen als Person mehr wert wäre als eine andere. Aber innerlich ist uns klar, für wen wir mehr Wertschätzung und Respekt haben und für wen weniger. Alle diese Personen haben viel dafür eingesetzt, um sich für ihren Beruf zu qualifizieren. Da gibt es natürlich Unterschiede. Ärzte müssen länger lernen als Krankenschwestern oder Pfleger. Aber in ihrer Arbeit wird allen viel abverlangt, und da ist es schon schwerer zu sagen, wer mehr leistet, weil die Anforderungen sehr unterschiedlich sind.

Die gesellschaftlichen Rangordnungen richten sich nicht nach der tatsächlichen Leistung, sondern nach vordefinierten Kriterien, die die Bewertungen dessen, was als Leistung gilt, steuern. Dazu gehört die Macht, die jemand kraft seiner Verantwortung trägt. Auch der Grad der Bildung wird einberechnet, wenn es um das Image geht.

Der Arztberuf steht weit oben auf der Rangliste. Auch wenn das blütenweiße Image dieses Berufs in letzter Zeit Flecken erhalten hat und manche Menschen den Ärzten immer weniger vertrauen, steht ihr Image noch immer viel weiter oben als das aller anderen Personen, die im Gesundheitsbereich arbeiten. Die „Götter/Göttinnen in weiß“ haben schließlich das letzte Wort, wenn es um Leben und Tod geht.  Wer mehr Macht hat, verdient mehr Respekt. Denn sich mit jemand Mächtigen anzulegen ist immer riskant.

Diese Macht wissen die Standesvertreter der Ärzteschaft weidlich zu nutzen und wollen sie nicht teilen. Wer will es sich schon mit den Ärzten anlegen? Schließlich kann uns allen blühen, dass wir hilflos an Schläuchen in einem Krankenbett liegen, ausgeliefert dem ärztlichen Urteil, das über uns verhängt wird und unser weiteres Schicksal bestimmt.

Der Pflegenotstand wird allseits ausgerufen, weil die Menschen älter werden und die Pflege durch die Angehörigen in vielen Fällen nicht geleistet wird und weil zu wenig Menschen diesen Beruf ergreifen bzw. längerfristig ausüben. Es ist ein sehr anstrengender Beruf mit niedrigem Image, d.h. die Menschen mühen sich ab und kriegen wenig Anerkennung dafür. Hier ist der Hebel anzusetzen, um den Notstand zu beheben. Wir sehen zwar, dass eine Schere in diesem Bereich immer weiter auseinander klafft, und meinen, dass sich etwas ändern müsste, denken aber nicht daran, dass diese Änderung in unseren Köpfen beginnen sollte. Denn solange wir nur mitleidig und etwas verächtlich auf die Pflegeberufe herabschauen, wirken wir an dem Bewusstsein mit, dass die Angehörigen dieser Berufsgruppe auf den unteren Rängen der Statuseinstufung bleiben. Daraus folgt, dass die Bezahlung und sonstige Vergünstigungen auf der untersten Ebene verbleibt. Und darauf folgt dann wieder, dass sich wenige Menschen für diesen Beruf entscheiden oder dauerhaft dabei bleiben. Viele Pfleger werfen den Job nach wenigen Jahren wieder hin, u.a. auch wegen der fehlenden sozialen und monitären Anerkennung.

Denn die Höhe der Bezahlung folgt in weiten Bereichen der Gesellschaft nicht der Leistung, sondern der Einstufung auf der Rangleiter. Damit hier mehr Gerechtigkeit walten kann, ist es notwendig, dass wir unsere inneren Bewertungen ändern und erkennen, wie wichtig jede Arbeit ist, die in der Gesellschaft und für die Gesellschaft geleistete wird. Es darf auch Unterschiede in der Bezahlung geben, die als Anreiz für bessere Qualifizierungen dienen kann. Doch braucht es auf den unteren Stufen der Rang- und Einkommensskala deutlichere Anhebungen, nicht nur als Anreize, in diese Berufe einzusteigen, sondern auch als Ausdruck der Wertschätzung der Gesellschaft, für deren alle Dienste wichtig und wertvoll sind. Wir sind zuständig für die inneren Bilder, die wir uns von all den Berufen machen und können aufpolieren, was wir bisher in ein abschätziges Eck gerückt haben.

Mit dem Schritt, vorurteilsbehaftete Bewertungen, durch die bestimmte Berufsgruppen und ihre Leistungen geringgeschätzt werden, zurechtzurücken, schwächen wir bestehende Machtverhältnisse. Wir tragen auch dazu bei, den Patriarchalismus zurückzudrängen. Denn die Statusverhältnisse, um die es in diesem Artikel geht, sind auch geschlechtlich konnotiert: Auf der Statusleiter im Gesundheitswesen stehen die Ärzte oben, mehrheitlich männlich, die Kranken-"Schwestern" in der Mitte und die Pflegekräfte unten, diese beiden Gruppen sind mehrheitlich weiblich. Wir können die Bilder in unseren Köpfen zurechtrücken, die den Männern die prestigeträchtigen und lukrativen Berufe und Posten zubilligt und den Frauen die weniger angesehenen und schlechter bezahlten Rollen überlässt. Wir können all diese Vorannahmen, auch wenn sie noch teilweise der Realität entsprechen, durch geschlechtsneutrale Einstellungen ersetzen und dadurch einen Beitrag für mehr Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und zwischen den unterschiedlichen Gruppen in der Gesellschaft leisten.

Der Pflegenotstand hat in unseren Köpfen begonnen. Wir können unsere Stereotypen überwinden und damit unseren Beitrag zur Lösung des Problems beitragen. Gesellschaftliche Richtungsänderungen geschehen auf diesem Weg.

Montag, 25. Juli 2022

Die kollektiven Traumatisierungen durch den Kapitalismus

Kollektive Traumen bilden sich nicht nur als Folge von Katastrophen, Kriegen und systematischen Gewaltanwendungen. Sie geschehen auch schleichend, ähnlich wie bei Entwicklungstraumatisierungen auf der individuellen Ebene. Solche kontinuierlich ablaufenden, aber nie kulminierenden Traumaerfahrungen wirken nachhaltig schwächend und zehrend und verändern das Bewusstsein von Vertrauen und Sicherheit zu Wachsamkeit, Kontrollzwang und Bedrohungsahnungen. Dabei entsteht eine unterschwellige chronische Stressbelastung.

Der Kapitalismus ist direkt verantwortlich für Katastrophentraumen, die kollektive Auswirkungen auf viele Menschen hatten, wie z.B. die Weltwirtschaftskrise von 1929 oder die Finanzkrise von 2008. Massive Spekulationen, also Hasardspiele von Investoren bei fehlenden staatlichen Kontrollen führten zu Zusammenbrüchen von wirtschaftlichen Strukturen und erzeugten eine Massenarmut, 1929 viel stärker als 2008, weil inzwischen Lernprozesse stattgefunden haben, sodass die ärgsten Folgen durch staatliche Maßnahmen abgefangen werden konnten.

Viele der Traumatisierungen, die von unserem Wirtschaftssystem ausgelöst werden, sind schwerer greifbar. Es gibt keinen Feind, der mit militärischer Gewalt im eigenen Land einfällt. Vielmehr lautet die Botschaft von den Propagandisten des Kapitalismus, dass jeder seines Glückes und seines Unglückes Schmied ist. Jeder ist verantwortlich für seine Erfolge und Misserfolge, auch wenn die meisten Faktoren dafür nicht der eigenen Kontrolle unterliegen. Menschen, die als Arbeitskräfte „freigesetzt“ werden, also aus dem Arbeitsprozess aussteigen und auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, sehen vielleicht im Chef oder in der Firma den Verursacher des Notzustandes, gegen den sie aber keine Chance haben. Der Chef leidet vielleicht selber darunter, einen geschätzten Mitarbeiter kündigen zu müssen, fühlt sich aber unter Druck durch die Marktsituation und mächtige Konkurrenten, die billiger produzieren können. Es ist das Wirtschaftssystem, das solche Belastungen erzeugt, und die Menschen sind seine Akteure, ob sie es wollen oder nicht. Wenn sich solche Phänomene häufen, entstehen kollektive Felder der Unsicherheit und Angst, die alle in ihren Bann ziehen, die, die Arbeit haben und die, die sie verloren haben, die Unternehmer mit guter Auftragslage und jene mit schlechter Auslastung.

Anonymisierung und Verantwortungsüberladung

Damit bleibt die ganze Verantwortung bei der Einzelperson, die als Opfer der Vorgänge, bei denen es keine identifizierbaren Täter gibt, die Schambelastung alleine tragen muss. Denn das Versagen im System geht mit einem sozialen Stigma einher: Er/sie hat es nicht geschafft, war zu schwach oder zu wenig clever. Wer am Markt nicht reüssiert, ist selber voll dafür verantwortlich und muss sich schämen.

Die Entsolidarisierung hat dazu geführt, dass die Schicksale vereinzeln, während die Traumafelder übergreifend wirken und auch die mitbetreffen, die in Zeiten des ökonomischen Wandels ihre Stellung behaupten oder verbessern können. Denn sie sind dem gleichen Stress ausgesetzt wie die, deren ökonomischen Weiterexistenz unmittelbar bedroht ist.

Obwohl alles, was im ökonomischen System geschieht, von Menschen gemacht ist, wirkt es so, als wäre ein übermenschlicher Akteur am Werk, ähnlich wie die „invisible hand“ nach Adam Smith, die die Marktabläufe reguliere. Bezogen auf die verletzbare menschliche Seele wird mit diesem Anschein erreicht, dass die Traumatisierungen als nicht-menschengemacht wahrgenommen werden, obwohl sie menschengemacht sind. Bekanntlich lösen menschengemachte Katastrophen wesentlich stärkere Traumabelastungen und posttraumatische Störungen aus als nicht-menschengemachte, z.B. Naturkatastrophen im Vergleich zu Kriegen oder Misshandlungen. Es findet also eine Täuschung statt, mit deren Hilfe menschliches Handeln anonymisiert und damit scheinbar verharmlost wird. Es gibt keine Schuldigen, keine Verantwortlichen, sondern nur ein anonymes Netzwerk von undurchschaubaren Zusammenhängen, das das Schicksal der Menschen in der Hand hat und die einen belohnt und die anderen bestraft.

Scheinlösung Verschwörungstheorie

Es tauchen immer wieder Verschwörungstheorien auf, die versuchen, die Kräfte hinter dieser Anonymisierung aufzudecken und ans Licht zu bringen. Sie wollen damit die Täter anprangern und damit ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit vermitteln. Das Wissen, wer schuld am eigenen Schicksal ist, eröffnet zumindest einen Horizont für mögliche Gegenaktionen, auch wenn völlig unklar ist, wie das geschehen sollte. Die Verbreiter dieser Theorien bringen allerdings auch nur eine Scheinlösung zustande, weil sie die komplexen Vorgänge auf individuelle Bösewichter oder Bösewichtergruppen herunterbrechen. Sie reden von Geheimklüngeln, die sich die Macht auf die Welt aufteilen wollen, obwohl es unzählige Akteure in dem weiten Feld des globalen Wirtschaftsgefüges gibt, die dadurch reich bis superreich werden, durch Korruption oder ohne. Nicht einmal hundert Wirtschaftsbosse wären in der Lage, die Weltwirtschaft zu dirigieren, sollten sie sich überhaupt untereinander einig werden, in welche Richtung das gehen sollte und wer welchen Happen davon kriegt.

Die Verschwörungstheorien befriedigen nur ein psychologisches Bedürfnis nach Überblick und Verständnis der Abläufe sowie nach Sündenböcken für alle Fehlentwicklungen, leisten aber keinen Beitrag zum besseren Verstehen der Zusammenhänge, geschweige denn zu praktischen Lösungswegen. Sie wirken höchstens wie Placebos auf die Traumabelastungen, während sie tatsächlich bei allen, die an sie glauben, retraumatisierend wirken, weil sie die reale Ohnmacht verstärken und das Böse noch mächtiger erscheinen lassen, als es ist.

Für den Durchblick angesichts der komplexen Zusammenhänge sind die Wirtschaftswissenschaften zuständig und mühen sich, Licht ins Dunkel zu bringen, schaffen aber nur, wie es im Wesen der Wissenschaften liegt, Einblicke in Teilaspekte des Geschehens, das in seiner Ganzheit und Dynamik in kein ökonomisches Modell passt. Denn es wirken daran alle Menschen auf diesem Planeten mit und verändern durch ihr Tun das Ganze in jedem Moment. Die vielen aufeinander bezogenen Aktionen von bald 8 Milliarden Menschen ergeben eine unvorstellbar hohe Anzahl von wirtschaftlichen Interaktionen, die nur annähernd in ihren Zusammenhängen verstanden werden können. Die Wissenschaften bauen dennoch eine Basis der Verlässlichkeit auf, die als Ressource wirken kann und damit Traumafolgen abmildert.

Die Pandemie hingegen hat die latente Traumatisierung als Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems vielerorts an die Oberfläche gebracht und zahlreichen Menschen deutlich gemacht, auf welch fragilen Pfeilern ihre wirtschaftliche Existenz ruht. Sie waren und sind angewiesen auf staatliche Unterstützung, um nicht in die Armut abzurutschen. Das Wirtschaftssystem als solches war nicht in der Lage, für die zahlreichen Probleme eine Abhilfe zu schaffen. Auch die Kriegsereignisse am Rand der EU und die damit verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten haben die hohe Störungsanfälligkeit des kapitalistischen Systems unter Beweis gestellt und dadurch auf viele Menschen retraumatisierend gewirkt.

Alle Krisen auf dieser Welt sind zugleich Krisen des Wirtschaftssystems. Manchmal werden sie direkt von ihm ausgelöst, manchmal haben sie einen anderen Ursprung. Aber die wirtschaftlichen Auswirkungen werden immer hautnah spürbar, auch wenn sich die Krisengebiete weit entfernt von den eigenen Lebenskreisen befinden. Deshalb lädt auch das kapitalistische System bei jeder Krise das kollektive Traumafeld zusätzlich auf und verstärkt seine destabilisierende Wirkung auf die Menschen.

Resilienz gegen die kollektive Traumatisierung

Wie können wir uns davor schützen, in die Energie des kollektiven Traumas, das der Kapitalismus nährt, hineingezogen zu werden? Klar ist, dass wir aus den Zusammenhängen der ökonomischen Verflechtungen nicht austreten können wie aus einem Tennisclub. Wir sind Teil davon und könnten anderweitig nicht überleben. Wir können als Individuen daran arbeiten, unsere eigenen Gierneigungen zu verringern oder unsere Konsumgewohnheiten zu verändern, um unsere Beteiligung an den Ausbeutungsvorgängen so weit wie möglich einzuschränken. Wir können unsere Bewusstheit darauf richten, was „unsere“ Bedürfnisse sind und welche Bedürfnisse durch die Werbewirtschaft einkonditioniert wurden, um deren Einfluss zu brechen. Auf der sozialen Ebene können wir unsere politische Ausrichtung schärfen, sodass unser Einsatz einer sozial gerechten und ausgleichenden Gesellschaft dient. Wir können in unserem praktischen Engagement für Solidarität eintreten und in persönlichen und virtuellen Netzwerken die Menschlichkeit fördern. Wir können dort aufstehen, wo Menschenrechte mit den Füßen getreten werden und wo die kapitalistische Denkweise z.B. im neoliberalen Gewand den Ton angeben will. Wir können all die Kräfte unterstützen, die der Erweiterung und Vertiefung der Menschlichkeit dienen. Wir können neue Möglichkeiten des Wirtschaftens, die nicht profitorientiert sind, unterstützen und fördern. Wir können uns an der Utopie orientieren, in der irgendwann einmal der Kapitalismus nur mehr den Güteraustausch regelt und nicht den Arbeitsmarkt und den Konsum, wo also Menschen nicht zu Waren und Warenverbrauchern gemacht werden, sondern wo sie auf gerechte Weise an den Erträgen der Wirtschaft beteiligt sind und auf mündige und sozial verantwortliche Weise konsumieren. Wir können konstruktive Träumer und mutige Realisten sein, die an ihrer Ethik und Integrität festhalten und sich nicht durch die Verlockungen des Kapitalismus korrumpieren lassen.

Die Wirtschaft ist für die Menschen da und nicht umgekehrt. Das sollten wir uns und allen anderen immer wieder klarmachen. Wir verfügen immer über mehr Möglichkeiten, um uns von den scheinbar übermächtigen Einflüssen des Wirtschaftssystems zu befreien. Je mehr wir sie nützen, desto leichter lösen wir uns von den kollektiven Traumen, die uns und unseren Vorfahren der Kapitalismus aufgeladen hat.

Zum Weiterlesen:

Unverschämtheit, ein Merkmal des Kapitalismus

Bedürfnisse und Konsumgewohnheiten

Brauchen wir Krisen, um die globalen Probleme zu lösen?

Kapitalismus und Sozialismus: Angstorientierung und Schamorientierung

Das Giersystem im Kapitalismus

Eine Krise des Neoliberalismus

Wirtschaft ohne Gier?


Mittwoch, 20. Juli 2022

Unverschämtheit, ein Merkmal des Kapitalismus

Der Kapitalismus kennt keine Rücksichtnahme auf die Natur und auf die Menschen und deshalb hat die Scham im Rahmen des Kapitalismus und des dahinterstehenden materialistischen Bewusstseins keinen Platz. Das kapitalistische System kann nur funktionieren, wenn die Scham gründlich ausgeblendet und unterdrückt wird. Das Gesetz des Profits regiert und steht über jeder Form der Menschlichkeit.

Menschen können nicht einfach nur skrupellose Materialisten sein, weil sie nicht zu hundert Prozent unmenschlich sein können. Selbst die hartgesottensten Geschäftsleute und skrupellosesten Manager haben einen menschlichen Kern in sich, der sich in bestimmten Situationen meldet, etwa wenn sie mit Kindern zusammen sind oder wenn sie Kunst und Natur erleben. Allerdings korrumpiert das System die Menschlichkeit, je länger und intensiver man sich darin aufhält und je mehr man sich damit identifiziert. Der Druck zur Kostenminimierung und zur Profitsteigerung schlägt durch auf die inneren Schichten der Körperlichkeit und der Seele aller Beteiligten. Je höher oben sich jemand in diesem System befindet, desto stärker wirkt der Druck und desto höher ist die Stressbelastung und desto größer die Entfernung vom Menschsein.

Gefühle sind in diesen Zusammenhängen unwillkommen, denn wie würden an das Menschsein erinnern. Als einzige Gefühlsenergie hat die Aggression einen fixen Platz. Sie bildet die systemimmanente Antriebskraft, die das ganze Regelwerk in Gang hält. Wütend werden die Mitarbeiter angetrieben, wütend werden die Konkurrenten bekämpft. Das Konkurrenzprinzip, das als wesentlicher Motor den Kapitalismus antreibt, erfordert eine permanente Aggressionsbereitschaft bei allen Mitspielern: Es geht um Kampf – auf Gedeih und Verderb. Wer sich durchsetzt, fürchtet schon den nächsten Gegner, wer am Markt unterliegt, geht unter oder muss wieder von vorne anfangen wie beim Mensch-ärgere-dich-nicht.

Die Aggression im Kapitalismus

Diese dem Kapitalismus innewohnende Aggression bewirkt auch, dass die Natur zum Freiwild wird und rücksichtslos ausgebeutet werden kann. Sie ist einzig und allein Objekt der Begierde nach mehr Geld. Der Raubbau an den Ressourcen des Planeten erscheint dem Kapitalisten höchstens als notwendiges Übel, dem von außen Betrachtenden allerdings als das Absägen des Astes, auf dem alles sitzt. Aggressiv werden der Natur die Rohstoffe entrissen, oft im 21. Jahrhundert noch unter sklavenähnlichen Bedingungen, und aggressiv werden die daraus produzierten Güter am Markt vertrieben.

Diese Aggression betrifft aber auch Kulturen, die sich diesen Zwängen noch nicht untergeordnet haben. Sie werden sukzessive ausgehöhlt und vereinnahmt. Im 18. und 19. Jahrhundert erfolgte die Zerstörung von lokalen außereuropäischen Kulturen noch mit militärischer Gewalt, seither wirkt die Übermacht des westlichen Wirtschaftsmodells subtiler und nachhaltiger, indem die Verlockungen moderner Bequemlichkeiten und Unterhaltungen die auf das lokale Überleben ausgerichteten Kulturen zur Entfremdung von den eigenen Traditionen verführen.

Die Unbarmherzigkeit dieses Systems erleben zum Beispiel Menschen auf ihrer eigenen Haut, die andere kündigen müssen, weil deren Posten wegrationalisiert wurden oder die Produktion in einen anderen Erdteil verlegt wird. Manchmal enden solche Personalmanager in der inneren Kündigung d.h. im Burnout, weil es so schwer fällt, die Scham, die auftritt, wenn man Menschen ihre berufliche Existenz wegnehmen muss, zu verkraften. Dann scheiden sie selber aus dem Arbeitsprozess aus. Ein anderes Beispiel: Ein Unternehmensberater hat von seinen Auftraggebern die Aufgabe, Anbieter für bestimmte Dienstleistungen gegeneinander auszuspielen, um das günstigste Ergebnis herauszuholen. Er weiß, dass einige Anbieter nicht zum Zug kommen und dadurch frustriert sind und auch bei ihren Vorgesetzten Schwierigkeiten bekommen. Es macht ihm ein schlechtes Gewissen, weil er sieht, dass sein vom System erzwungenes Handeln andere Menschen unglücklich macht und in ihrer Existenz bedroht.

Weg mit dem Kapitalismus?

Wir werden den Kapitalismus nicht los, indem wir ihn revolutionär zerstören. Denn er hat längst von unseren Körpern Besitz ergriffen und sich in unserem Verstand festgesetzt. Der Sturz der Kapitalisten könnte nur wieder von kapitalistisch geprägten Menschen durchgeführt werden. Niemand ist frei von dem süßen Gift. Darin liegt der Grund, dass alle diesbezüglich unternommenen Revolutionen nur andere Formen des Kapitalismus hervorgebracht haben, mit anderen Formen der politischen Machtverteilung.

Wir sind auf die eine oder andere Weise eingespannt in den Stressmotor der kapitalistischen Gesellschaft, und wir sind so oder so Konsumidioten in der Warenwelt und halten damit das Getriebe in Gang. All unsere Fluchtbemühungen in ferne Länder, entlegene Landstriche, einsame Gegenden oder veränderte Konsumgewohnheiten haben wir uns erkauft mit unserem Einsatz für das System. Theodor W. Adorno hat einmal geschrieben: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Wir alle sind Teil dieser falschen Schamlosigkeit, naschen mit an ihren Erträgen und zahlen mit an den Schäden, die angerichtet werden. Die Umweltkrise, die vielen Kriege auf der Welt und selbst die Pandemie sind Auswüchse des giergetriebenen ökonomischen Systems, das uns fest im Griff hat und Schritt für Schritt unsere Lebensgrundlagen untergräbt, unsere Gesundheit bedroht und Hass unter den Menschen erzeugt. Dafür sollten wir uns schämen. Wo aber die Scham fehlt, geht die Menschlichkeit flöten.

Die Wurzeln der Destruktivität

Wir entkommen dieser Knechtschaft nur, indem wir uns ihre destruktiven Zusammenhänge bewusst machen. Unsere Verantwortung liegt darin, die Fahnen der Menschlichkeit hochzuhalten und das kapitalistische Treiben einzuhegen und einzugrenzen. Wir können es nicht abschaffen, wir können es nur entmachten. Es muss „Schutzzonen“ der Menschlichkeit geben, in denen nicht die Prinzipien des Kapitalismus herrschen, sondern die Prinzipien der Menschlichkeit. Beispiele sind das Aufwachsen der Kinder, alle Bereiche der Bildung und der Kultur, die Pflege alter und bedürftiger Menschen und gemeinwohlorientierte Formen der Wirtschaft. Es muss eine Politik geben, die nicht den Geldgötzen anbetet, sondern die sich als Hüterin der Gerechtigkeit sieht, die die Erträge und Lasten aus der Güterproduktion gleichmäßig in der Bevölkerung verteilt.

Der Kapitalismus ist nicht in sich böse. Er ist ja kein Subjekt. Er ist ein System, das im Lauf der Menschheit von den Menschen erschaffen wurde und äußerst erfolgreich weite Bereiche der verschiedenen Gesellschaften in dieser Welt bestimmt. Er ist aber ein System, das viel Bosheit, gepaart mit Schamlosigkeit hervorbringt und er hat in sich kein Gegenmittel dazu.

Wir brauchen also ein anderes Bewusstsein als das kapitalistische oder materialistische, und wir verfügen auch darüber. Wir sind in der Lage, menschlich zu denken, zu handeln und zu fühlen. Wir wissen im Grund, was das heißt, sobald wir aus den Beschränkungen des egoistischen Gewinn- und Gierdenkens heraustreten. Wir können uns mehr darum bemühen, in die Hintergründe und psychodynamischen Kräfte des kapitalistischen Bewusstseins hineinzuleuchten. Dort werden wir erkennen, dass all das Destruktive in dieser Weltsicht durch psychische Verletzungen und Traumatisierungen entstanden ist, auf individueller und auf kollektiver Ebene. Menschen sind nicht von sich aus und von Anfang an gierig, skrupellos und unverschämt. Sie werden so, als Reaktion auf die Frustration von Grundbedürfnissen als Individuen und von sozialen Bedürfnissen als Kollektive.

Wenn wir diese Wurzeln der Destruktivität in uns selbst so weit wie möglich aufgearbeitet und integriert haben, steht uns mehr Energie für konstruktives menschliches Handeln zur Verfügung. Davon brauchen wir mehr als genug zur Bewältigung all der Krisen, in die wir uns selber durch den blinden Glauben an das System des Kapitalismus gebracht haben. Wir können uns von den Abhängigkeiten und Manipulationen lösen, mit denen dieses System versucht, uns in Geiselhaft zu halten und damit seine Macht Schritt für Schritt zurückdrängen. Dort, wo die ego-getriebenen Gefüge weichen, entsteht der Raum für mehr Menschlichkeit.

 Zum Weiterlesen:
Brauchen wir Krisen, um die globalen Probleme zu lösen?

Kapitalismus und Sozialismus: Angstorientierung und Schamorientierung

Das Giersystem im Kapitalismus

Eine Krise des Neoliberalismus

Wirtschaft ohne Gier?

 

Donnerstag, 14. Juli 2022

Brauchen wir Krisen, um die globalen Probleme zu lösen?

Wir leben in Krisenzeiten, hört man oft. Wann nicht, könnte man fragen, wenn man schon einige Jahrzehnte am Buckel hat. Aber die Pandemiezeit und der Ukrainekrieg haben das Krisenbewusstsein in unseren Breiten enorm verstärkt. Die Wetteranomalitäten konfrontieren hautnahe mit dem Klimawandel, von dem Wissenschaftler und Aktivisten seit Jahrzehnten warnen. Das Gefühl, die Entwicklungen nicht mehr unter Kontrolle zu haben, haben wir viel stärker als je zuvor. Daran zeigt sich auch unsere privilegierte Position, da wir in den reichsten und sichersten Ländern der Welt leben und seit dem 2. Weltkrieg das Krisenbewusstsein weitgehend von unseren Lebensräumen fern halten konnten. Alle, die im ex-jugoslawischen Raum leben oder gelebt haben, sehen das naturgemäß anders, ebenso jene, die aus anderen Kriegsgebieten flüchten mussten oder flüchten müssen. Menschen, die in Dürre- und Hungerzonen leben und ihr Überleben von Tag zu Tag sichern müssen, kennen nicht einmal eine Alternative zur Krise, die ihr Leben ausfüllt.

Das Bewusstsein, in einer Krisenzeit zu leben, verunsichert und bereitet Ängste und Sorgen, erzeugt also Stress. Es fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt nur, wenn aus der Krise eine Katastrophe wird, wenn z.B. ein Krieg ins eigene Land überschwappt oder wenn ein Dorf von Unwettern weggeschwemmt wird. Ängste mobilisieren egoistische Überlebensstrategien, die Bestrebungen, die eigene Haut zu retten. Wohin könnte ich auswandern, um den Klimaveränderungen zu entgehen und vor Kriegen und Seuchen sicher zu sein? Wo kann ich einen sicheren Ort finden, ohne dass die anderen davon wissen? Welchen Urlaub muss ich mir noch gönnen, bevor das Reisen nicht mehr möglich ist? Wie kann ich meine Schäfchen ins Trockene bringen, bevor das Finanzsystem zusammenbricht?

Angst als Veränderungsmotor

Die von Ängsten gesteuerte Reaktion auf Krisen ist die am weitesten verbreitetste. Sie ist aber auch die primitivste. Sie steht im Bann des Wiederholungszwanges von schon früh erlebten Traumatisierungen oder von kollektiven Traumen, die sich in tiefen Schichten der Seele festgesetzt haben. Deshalb ist die verbreitete Reaktion auf Krisen zunächst die Verleugnung („Das hat nichts mit mir zu tun.“ „Das ist alles übertrieben.“ „Da stecken ganz andere Interessen dahinter.“ „Das geht alles wieder vorüber.“ usw.). Mit Beschwichtigungen soll die Angst beruhigt werden, damit das Leben in den gewohnten Bahnen weiter verlaufen kann.

Erst wenn einem die Krise auf den eigenen Pelz rückt, wenn Leute in der Umgebung an einer Seuche versterben, Verwandte zu Kriegsopfern werden oder durch die Hitze getötet werden, wenn das eigene Haus weggeschwemmt wird, entsteht der Impuls zum Handeln und zur Änderung von Gewohnheiten. Es handelt sich dabei um ein reaktives Handlungsmuster: Es wird erst dann etwas getan, wenn das Wasser bis zum Hals steht, wenn die Krise so augenfällig ist, dass sie unmittelbar das eigene Leben betrifft. Solange sich die Katastrophen irgendwo anders ereignen, kann man ein wenig Mitgefühl aufbringen und ansonsten die Hände in den Schoß legen.

Deshalb entsteht der Eindruck, dass Menschen nur durch Krisen auf dieser Ebene lernfähig sind. Erst wenn man einen Hitzekollaps erlitten hat, überlegt man, was man selber tun könnte, um die Krise zu bekämpfen. Erst wenn der Öl- und Gaspreis rasant nach oben geht, denkt man daran, wie man fossile Brennstoffe einsparen könnte.

Diese reaktive Orientierung hat sich bei vielen Problemlagen bewährt. Sie ist aber für große Krisen viel zu schwach und nicht geeignet, nachhaltige Richtungsänderungen zu bewirken. Denn sie schwenkt sofort in alte Muster zurück, wenn sich die Bedingungen ändern: Gehen die Energiepreise wieder nach unten, wird weiter konsumiert, als wäre nichts gewesen. Wenn die Infektionszahlen runtergehen, werden sofort alle Vorsichtsmaßnahmen über Bord geworfen. Wenn der Krieg vorbei ist, geht es darum, die Geschäfte mit allen Beteiligten möglichst schnell zu reaktivieren.

Global denken und handeln

Wir brauchen also eine andere Ausrichtung, wenn wir mit den großen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, zurechtkommen wollen – was wir in Wirklichkeit müssen, weil nicht nur die Qualität unseres Weiterlebens, sondern unsere Existenz als Individuen und als Menschengattung auf dem Spiel steht. Wir müssen uns der systemischen Vernunft bedienen, d.h. einen wichtigen Schritt in der Evolution des Bewusstseins vollziehen, vor allem in Hinblick auf die Krisenphänomene. Das systemische Bewusstsein führt uns heraus aus der Selbstbezogenheit, aus den individuellen und kollektiven Egoismen. Es ist getragen von der Einsicht, dass die großen Probleme nur durch globale Zusammenarbeit gelöst werden können, zu der möglichst viele Menschen durch ihr Wollen und ihren Einsatz beitragen. Wir kennen diese Art des Denkens und des aus ihr abgeleiteten Handelns, doch wenden es noch viel zu wenige Menschen an. Es sind wiederum Ängste, die davon abhalten, das, was eigentlich als vernünftig erkannt ist, in das Tun zu übersetzen. Ängste zwingen uns, am Gewohnten festzuhalten und erst zu handeln, wenn die Bedrohung unübersehbar ist. Ängste zwingen uns zu Reaktivität. Alles, was von einer Angst angetrieben ist, hält nur kurzfristig an, denn Ängste konsumieren viel Energie, sodass sehr bald die Erschöpfung auftritt und damit die alten Muster zurückkehren.

Wir müssen also unsere Ängste überwinden, wenn wir unser Handeln proaktiv leiten, indem wir uns nicht von äußerem Druck motivieren lassen, sondern von unserer Einsicht und unserem Wollen. Wir verzichten auf Annehmlichkeiten oder Bequemlichkeiten, auf Konsumgewohnheiten nicht, weil es nicht anders geht, sondern weil uns die Lösung globaler Probleme wichtiger ist als die Befriedigung von Luxusbedürfnissen.

Was wir also aus den gegenwärtigen Krisen lernen können, ist die Wichtigkeit, unsere Motivations- und Handlungsmuster zu verändern. Wir können unseren Blick weiten und ein globales Bewusstsein entwickeln, das unsere Handlungen danach ausrichtet, wie es im Blick auf die gesamte Menschheit und ihre Zukunft am sinnvollsten, nutzbringendsten und hilfreichsten ist, bzw. wie es am wenigsten Schaden anrichtet. Und wir können andere motivieren, ebenso über ihre Eigeninteressen hinaus zu blicken, und laden auf diese Weise mehr und mehr Menschen ins systemische Bewusstsein ein.

Die Grundzüge dieser Bewusstseinsform sind einfach dargestellt. Wir berücksichtigen unsere eigenen Bedürfnisse und Wünsche, nehmen sie aber nicht als oberste Richtschnur für unsere Entscheidungen. Vielmehr achten wir darauf, möglichst viele andere Interessen mitzubedenken, soweit sie global ausgerichtet sind. Wir agieren aus einem Verständnis der geteilten Verantwortung, im Prinzip mit allen Menschen und sogar allen Lebewesen. Wir tragen unseren Teil dieser Verantwortung so gut es uns möglich ist und bemühen uns darum, in dieser Fähigkeit zu wachsen. Wir nutzen Krisen als Chance zur Weiterentwicklung, brauchen aber keine Krisen dafür, sondern sind von der Überzeugung getragen, dass das Leben an sich Weiterentwicklung und permanente Veränderung ist. Wir versuchen, diesen Entwicklungs- und Veränderungsprozessen eine Richtung zu geben, die dem Überleben der Menschheit in sozial ausgeglichener, gesunder und friedlicher Weise am besten dient.

 

Dienstag, 12. Juli 2022

Bedürfnisse und Konsumgewohnheiten

Wir kommen als bedürftige Wesen auf die Welt. Wenn etwas unserem Organismus und unserer Psyche fehlt, wird es als innere Spannungen spürbar und führt dann zu spontanen Unmutsäußerungen. Erfolgt die passende Reaktion aus der Umwelt, dann löst sich die Bedürfnisspannung auf und es kehrt Friede und Glück ein. Mit der Zeit lernen die Kleinkinder, mit ihren Bedürfnissen umzugehen. Die Frustrationstoleranz wächst und die Befriedigungsreaktion muss nicht sofort, sondern kann auch zeitverzögert erfolgen. So erfährt das Kind, dass es sich darauf verlassen kann, dass Bedürfnisse früher oder später gestillt werden. Und es kann sich verlassen, dass auf das Bedürfnis die richtige Form der Befriedigung folgt. Auf diese Weise bleibt es mit der Weisheit seines Organismus und seiner Psyche verbunden. Es erhält beständig Rückmeldungen darüber, was gerade fehlt, welcher Mangel besteht und wie er beruhigt werden kann. Jede erfolgreiche Befriedigung wirkt als bestätigende Rückmeldung: Es ist in Ordnung, Bedürfnisse zu haben, zu äußern und es kann darauf vertraut werden, die passende Befriedigung zu bekommen.

Soweit das Idealbild. In der Regel vollziehen sich die Abläufe nicht so reibungslos und einfach. Es kann zu Fehlinterpretationen der Bedürfnisäußerungen des Kindes kommen, sodass auf die Bedürfnisäußerung eine andere Form der Befriedigung kommt, z.B. auf das Bedürfnis nach Zuwendung wird das Kind mit Nahrung gefüttert. In diesen Fällen entwickeln sich andere Rückkoppelungsschleifen mit dem Resultat: „Meine Bedürfnisse sind nicht richtig; was sie eigentlich sind, zeigt sich an dem, wie die anderen darauf reagieren. Entsprechend muss ich lernen, meine Bedürfnisse neu zu verstehen und mich an diese Änderung zu gewöhnen.“

Es zählt dann nicht mehr das innere Wissen, sondern maßgeblich wird die Reaktion, die von außen kommt. Die äußeren Instanzen übernehmen die Deutungshoheit. Als Folge wird der Selbstbezug mit dem inneren Sinn und dem Spüren von organischen Bedürfnissen geschwächt. In diese Schneise schmuggeln sich immer mehr künstliche Bedürfnisse ein, die sich, wenn sie regelmäßig befriedigt werden, zu Gewohnheiten verfestigen. Das Kind geht mit in den Supermarkt und erwartet sich eines von den Schleckereien an der Kassa.

Bedürfnisproduktion im Kapitalismus

Schritt für Schritt wächst das Kind in eine Gesellschaft hinein, in der die Bezüge zur organismischen Weisheit systematisch zurückgedrängt werden, weil damit kein Profit gemacht werden kann. Das kapitalistische Wirtschaftssystem funktioniert nur auf der Basis einer maximalen Distanz zwischen Natur und menschlichem Geist. Es beruht auf der Ignoranz der organischen Bedürfnisse, die durch künstliche Bedürfnisse ersetzt werden, also solche, die das kapitalistische System hervorbringt und die ihm dienen.

Die Verlockungen bestehen in den Versprechen nach mehr Sicherheit und Bequemlichkeit. Die produzierten und vermarkteten Waren sollen unser Leben und vorhersehbarer und angenehmer machen. Wir bekommen mit dem Warenerwerb die Vorspiegelung von Entspannung und Kontrolle mitgeliefert. Die Fülle der dargebotenen Güter in den Konsumtempeln verleitet zur Illusion, dass Waren emotionale Bedürfnisse befriedigen und dass schließlich selbst das Glück käuflich ist.

Emotional labile Menschen sind die optimalen Mitspieler in der kapitalistischen Konsumwelt. Deshalb ist es im Interesse dieses Systems, dass die Menschen emotional verunsichert sind und bleiben. Menschen, die ihre organismischen Bedürfnisse von anerzogenen und sekundär erworbenen unterscheiden können und die ihre Kaufentscheidungen nach rationalen, vielleicht sogar noch ökologischen Kriterien abwägen, sind schlechte Mitspieler im Produktions-Konsumationskreislauf. Sie tragen zu wenig zum Wirtschaftswachstum und zum Bruttonationalprodukt bei.

Die Werbung, der Motor der kapitalistischen Wirtschaft, will mit emotionalen Botschaften ins Innere der Menschen eindringen und sich dort festsetzen. Das geht umso leichter, wenn der Adressat innerlich unsicher ist und den Bezug zu seinen organismischen Bedürfnissen verloren hat. In solchen Fällen kann sich eine Werbebotschaft wie ein Implantat oder ein Chip im Inneren festsetzen. (Vermutlich halten deshalb viele Menschen die Angst vor Chips, die angeblich über Impfungen in den Körper eingeschleust werden, für real, weil sie die Erfahrung mit den emotionalen Chips der medialen Werbung schon kennen.) Solche Fremdkörper sind wie Symbolträger des Selbstentfremdungsprozesses, der hier abläuft. Sie etablieren Gewohnheiten, die über fixierte Nervenbahnen im Gehirn abgesichert werden. Möglichst viele Nervenzellen werden darauf getrimmt, ihre Glücksbotenstoffe nur dann freizusetzen, wenn ein bestimmtes Produkt konsumiert wird, sei es eine Zigarette, ein Auto oder ein modisches Kleid.

Zweierlei Gewohnheiten

Wir bilden Gewohnheiten aus, um uns das Leben zu erleichtern. Routineabläufe ersparen uns energetisch aufwändige Entscheidungsprozesse. Jeden Tag neu überlegen zu müssen, wie man sich die Zähne putzt oder die Schuhe bindet, verschwendet unnötig Ressourcen. Denn für Entscheidungen verbraucht unser Gehirn viel Glukose und Sauerstoff. Deshalb werden viele Abläufe an das Unterbewusste delegiert, das sie dann in der immer gleichen Form abspult.

Es gibt aber auch Gewohnheiten, die zwar nach dem gleichen Muster funktionieren, aber unser Leben nicht erleichtern, sondern ihm zusätzliche Lasten aufbürden. Jede Form der Sucht beruht auf Gewohnheiten und ihren Mechanismen. Solche substanzgebundene oder substanzungebundene Abhängigkeiten bestehen in Routineabläufen und fixierten Ritualen, z.B. die Zigarette beim Morgenkaffee, der Blick ins Mobiltelefon nach dem Aufstehen oder der Kauf einer Süßspeise beim Konditor. Es entsteht eine innere Unruhe, wenn der Akt der Suchthandlung ausbleibt oder sich verzögert. Stress baut sich auf, als würde die im Inneren verankerte Gewohnheit schreien wie ein Baby, das seinen Schnuller verloren hat.

Suchtverhalten tritt also bei Erwachsenen auf, die sich dann wie Babys verhalten. Sie sind die Sklaven ihrer Gewohnheiten, die ihnen diktieren, was wann geschehen muss. Solche Gewohnheiten erleichtern nicht das Leben, sondern engen es ein. Sie beschneiden die Freiheit, in Extremfällen so stark, dass alles andere dem Suchtverhalten untergeordnet wird.

Doch sind solche Gewohnheiten derart weit verbreitet, dass sie gar nicht mehr so auffallen wie die Extremfälle. Kaum jemand ist frei von selbstdestruktiven Gewohnheiten. Einesteils liegen die Wurzelursachen in der Kindheit, andernteils ist es die Umgebung in einer Gesellschaft, die von Leistung und Konsum beherrscht ist. Die Konsumwirtschaft versucht, Kauf- und Konsumgewohnheiten zu verbreiten, um ihre Absätze und Gewinne zu steigern. Ein Beispiel: Die Nahrungsmittelindustrie entdeckte, wie durch das Beimischen von Industriezucker zu verschiedenen Nahrungsmitteln der Absatz gesteigert werden konnte. Dass Tomatensoße Zucker enthalten muss, war vorher nicht notwendig. Sobald sich aber die Gaumen der Kunden daran gewöhnt haben, wird der Zucker unverzichtbar, „weil es sonst nicht schmeckt“. Die Geschmacksknospen wurden umerzogen, die Mund- und Darmbakterien verlangen nach mehr Zucker, damit sie ihre Kolonien pflegen können, und die Gewinne der Produzenten wachsen. Dass der Volksgesundheit damit kein guter Dienst erwiesen wird, steht auf einem anderen Blatt, und all die dadurch entstehenden Schäden trägt die Allgemeinheit, sprich wiederum werden die Konsumenten zur Kassa „gebeten“.

Das Wiederfinden der organismischen Bedürfnisse

Gibt es einen Weg zurück zu den organismischen Bedürfnissen, wenn so viele Bereiche der Innenwelt sowohl auf der psychischen wie auf der physischen Ebene von solchen manipulativen Fremdeinflüssen besetzt sind? Es braucht Disziplin, um Gewohnheiten loszuwerden, so auch hier. Ein Beispiel liefert das Fasten. Durch den disziplinierten Verzicht auf feste Nahrung ändern sich viele Stoffwechselprozesse im Körper. Auch das Mikrobiom gestaltet sich um. Viele Menschen berichten, dass einfache Nahrungsmittel nach dem Fastenbrechen viel besser und intensiver schmecken. Was vorher fixe Gewohnheit war, z.B. die Marmelade aufs Brot, hat auf einmal seinen Reiz verloren. Doch wenn wir nachhaltige Änderungen erzielen wollen, ist es wichtig, die alten Gewohnheiten nicht wieder einreißen zu lassen. Die Disziplin muss also auch nach dem Ende des Fastens aufrecht bleiben, sonst sind die alten Muster ganz schnell wieder da. Wenn es gelingt, die Erträge des Fastens zu sichern und weiterhin fruchtbar zu machen, dann gelingt die Rückkehr zu den inneren, vom Organismus und von der Psyche gesteuerten Bedürfnissen, zumindest auf der Ebene der Nahrungsaufnahme.

Ein anderes Beispiel für die Selbstdisziplin liegt darin, sich zu entscheiden, auf bestimmte Nahrungsmittel gänzlich zu verzichten, z.B. auf Fleisch, Zucker oder Weizengebäck. Es hilft bei einem derartigen Entschluss, sich eine entsprechende neue Identität zu geben, z.B. sich nun als Vegetarier oder Zuckervermeider oder Glutenverzichter zu bezeichnen und dieses Etikett im Freundes- und Bekanntenkreis zu verbreiten.

Einen weiteren Weg bietet jede Form von Achtsamkeitstraining und Meditation. Die Aufmerksamkeit nach innen zu richten und auf den gegenwärtigen Moment zu beschränken, stärkt die Besinnung auf sich selbst und führt zur Stärkung der Unterscheidungskraft zwischen dem, was wir wirklich brauchen und dem, was uns als Bedürfnis eingeredet wurde.

Gewohnheiten, die einen zwanghaften Charakter haben und von künstlich erzeugten Bedürfnissen kontrolliert werden, engen unsere Freiheit ein und entfremden uns von uns selbst. Denn sie machen sich in unserem Inneren als Fremdkörper sesshaft und lassen sich, wenn sie einmal eingewurzelt sind, nur mehr schwer vertreiben. Doch leisten wir uns selber einen guten Dienst, wenn wir alten Gewohnheiten mutig, diszipliniert und konsequent Lebewohl sagen, die wir als selbstschädigend und selbsteinschränkend erkannt haben. Wir finden auf diesem Weg zurück zur Weisheit unseres Organismus und machen uns ein Stück unabhängiger von den Manipulationsmechanismen der Konsumgesellschaft. Auch das dauerhafte und tiefe Glück können wir nur in diesem unseren Inneren finden.

Zum Weiterlesen:
Disziplinierung und Selbstdisziplin

Der Verlust des Selbstgefühls

Schönheitsideale und Wahrnehmungsschwächen

Samstag, 9. Juli 2022

Selbstdienliche Verzerrungen

Wir neigen dazu, uns in ein positives Licht zu setzen, vor allem dann, wenn andere Kritik an uns üben oder uns abwerten. Die Soziologie hat diese Neigung genauer untersucht und ist auf das eigenartige Phänomen der „selbstwertdienlichen Verzerrung (self-serving bias)“ gestoßen. Das Phänomen besteht darin, die eigenen Erfolge sich selber und die Misserfolge äußeren Ursachen zuzuschreiben. Für alles, was gut läuft, bin ich selber verantwortlich und kann mich dafür anerkennen. Für alles, was schiefläuft, mache ich die Umstände oder die anderen Menschen verantwortlich und bin damit aus dem Schneider.

Diese zweite Komponente des Verzerrungsmechanismus dient dem Schutz des Selbstwertes und der Vermeidung von Scham. Sie besteht darin, sich selbst von der Verantwortung für Fehler zu entlasten, indem sie anderen Instanzen zugeordnet wird. Damit geraten der Selbstwert und die Selbstachtung nicht in Gefahr. Wenn ich in einen Stau gerate und nicht weiterkomme, schimpfe ich auf den Verkehr und die anderen Autofahrer und komme nicht auf die Idee, mich selber zu fragen, ob ich vielleicht zu spät weggefahren bin und eventuelle Verkehrsbehinderungen nicht einberechnet habe. Wenn der Computer abstürzt, ist auf jeden Fall er schuld und nicht meine Aktionen, die zum Absturz geführt haben. Wenn ich auf einen Termin vergessen habe, ärgere ich mich über die anderen Leute, die dauernd etwas von mir wollten und mich abgelenkt haben.

Scham und Stolz


Die Verantwortung für Fehler zu übernehmen fällt uns schwer, weil das Eingeständnis von eigenen Unzulänglichkeiten mit Scham verbunden ist. Wenn wir äußere Ursachen finden, die unsere Fehlleistungen bewirken, brauchen wir uns selber nicht zu schämen und unser Selbstwertgefühl bleibt intakt. Stattdessen kehren wir die Orientierung um und beschämen andere, denen wir die Schuld geben für das, was schiefläuft.
Die andere Seite dieses psychologischen Phänomens, die selbstwertstärkende Komponente, bei der wir uns als einzige Verursacher unserer Erfolge wahrnehmen, hat mit Stolz zu tun. Der Stolz ist die psychische Kraft, die unseren Selbstwert stärkt, solange er in einem maßvollen Rahmen bleibt, also verschiedene Aspekte der Realität mit einschließt, z.B. all die Beiträge, die von außen zu den eigenen Erfolgen beitragen.
Es ist wiederum die Scham, die den überschießenden Stolz in die Schranken weist und darauf hinweist, dass alles, was wir tun, immer in einem sozialen Feld stattfindet. Es gibt immer andere Akteure, die mitwirken, dass wir erfolgreich sind und ohne die wir nicht zu den Resultaten kommen, die wir erschaffen. Die Scham erinnert uns daran, zum Feiern unserer Erfolge auch die Bescheidenheit und die Dankbarkeit einzuladen.
Auf diese Weise bleibt unser Selbstwert in Balance. Er findet die Mitte zwischen Selbstüberschätzung und Selbstabwertung und ermutigt uns zu einer angemessenen Verantwortungsübernahme und entlastet uns selbst von einer übermäßigen Verantwortung. Wir stellen uns der Realität in einem weiteren Rahmen als der, den uns unsere unbewussten Egomechanismen anbieten und der auf Ausblendungen und Verzerrungen beruht.

Die umgekehrte Dynamik


Es gibt auch Menschen, bei denen diese unbewusst ablaufende Dynamik umgekehrt verläuft. Sie sehen ihre Erfolge als vor allem von außen bewirkt und stellen ihr Licht gerne unter den Scheffel. Andererseits nehmen sie ihre Fehler ganz persönlich, ohne an äußere Verursachungen zu denken. Sie schämen sich dafür, wenn sie in einem Bereich nicht schaffen, was sie schaffen sollten, was auch zu einer depressiven Verstimmung führen kann. Ihre Erfolge nehmen sie weniger wichtig, sondern sind mehr auf Misserfolge fixiert. Damit schädigen sie ihren Selbstwert.
Andere Menschen schwanken situationsbedingt zwischen der selbstwertstärkenden und der selbstwertschwächenden Form der Realitätsverzerrung. In manchen Situationen sind sie stolz auf ihre Erfolge und schieben ihre Verantwortung für die eigenen Fehler auf andere ab. In anderen Situationen beschuldigen sie sich selbst für ihre Fehler, nachdem sie sich über die Verursachung durch andere beschwert haben.
Für diese Unterschiede sind neben Charakter und Temperament auch die Erziehungsstile in der Kindheit und die damit verbundenen Werthaltungen verantwortlich. Eltern leben durch ihre Art des Umgangs mit Erfolg und Misserfolg vor, wie solche Erfahrungen am besten verarbeitet werden. Die Kinder orientieren sich an ihren Vorbildern und übernehmen diese oder wandeln sie in ihr Gegenteil um. Wenn es um Erfolge geht, gibt es eine Bandbreite von Umgangsweisen zwischen scheinbescheidenem Kleinreden und großspuriger Protzerei. 

Ebenso breit ist die Palette bei Misserfolgen. Sie können übergangen und ignoriert, bagatellisiert oder dramatisiert werden. Häufig werden Ausreden mit Scheinursachen genutzt, um die psychischen Folgen eines Misserfolgs vor sich selbst und die sozialen Folgen bei den anderen abzuschwächen. Niemand will schlecht dastehen, weder vor sich selbst noch vor den Mitmenschen. 

Selbst die Variante, die eigenen Erfolge abzuwerten und die Misserfolge aufzubauschen, dient der Aufrechterhaltung der Selbstachtung und der sozialen Wertschätzung. Die Zügelung des Stolzes bei Erfolgen dient einem Selbstbild der Bescheidenheit, und die Selbstbeschuldigungen beim Versagen sollen Mitgefühl und Mitleid mobilisieren. Die Verzerrung der Wirklichkeit zielt also immer auf einen innerpsychischen und einen sozialen Nutzen. Unser Unterbewusstsein glaubt, dass es besser fährt, wenn es Wirklichkeitsfilter anwendet, die in anderen Zusammenhängen, also vor allem in der Kindheit ausgebildet wurden. Bessere hat es nicht zur Verfügung.

Da die Verzerrungen meist auf solchen ungeprüften Annahmen in Bezug auf die Selbstbeziehung und auf das soziale Umfeld gesteuert sind, führen sie zu selbstbestätigenden Zyklen. Die Vorannahmen erweisen sich als gültig, insofern sie sich selbst beweisen: Wenn ich mit meinen Ausreden durchkomme und Beschämungen vermeiden kann, dann ist das die einzig richtige Strategie, um mit Misserfolgen zurechtzukommen. Wenn ich mich selber für Misserfolge geißle, bekomme ich Sympathie und aufmunternde Zuwendung.

 

Wirklichkeitsverzerrung bedeutet Freiheitsverlust


Die gewohnte Strategie erzeugt Sicherheit, engt aber die Freiheit ein. Denn jeder Verlust an Wirklichkeitswahrnehmung reduziert die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Das innere Erleben unterliegt einer Selbstmanipulation und führt damit zur Selbstentfremdung.
Solche Strategien funktionieren nur, wenn sie unbewusst ablaufen und nicht reflektiert werden. Sie sind scheinbar alternativ- und konkurrenzlos in Geltung und haben ihren angestammten Platz im psychischen Notfallkoffer. Wird allerdings verständlich, dass sie eingeübte Formen der Wirklichkeitsverzerrung sind, die nicht automatisch ablaufen müssen, sondern auch geändert werden können, so ergibt sich der erste Schritt zu mehr Autonomie. Hilfreich ist zusätzlich die Erforschung der Hintergründe und Quellen solcher Reaktionsmuster, indem die dahinterstehenden Kindheitserfahrungen und übernommenen Werthaltungen durchleuchtet werden. Je mehr Bewusstheit gewonnen wird, desto mehr Freiheitsräume öffnen sich.

Donnerstag, 7. Juli 2022

Böse sind immer die anderen, oder?

Was andere falsch machen und uns antun, merken wir meist schneller als das, was wir selber angestellt haben. Wenn andere unsere Grenzen überschreiten oder missachten, reagiert unser System sofort mit Alarmreaktionen, und wir merken uns solche Vorfälle auch leichter, weil sie in unserem Angstgedächtnis solide abgespeichert werden. Deshalb kommen wir schnell zur intuitiven Auffassung, dass das Böse um uns herum geschieht und wir selber nur ganz selten, wenn überhaupt, seiner Versuchung unterliegen. Außerdem meinen wir, dass unser Leid schlimmer ist als das der Menschen, die sich bei uns über unser Verhalten beklagen. Den eigenen Schmerz spüren wir allemal stärker als jenen der Mitmenschen.

In Beziehungen entstehen aus diesen Sichtweisen die bekannten Ping-Pong-Spiele, die wir schon im Sandkasten mit Gleichaltrigen gelernt haben: Du warst zuerst gemein zu mir; du warst viel böser zu mir als ich zu dir; du hast mich tiefer verletzt als ich dich, usw. 

Wenn wir nicht ganz unverschämt sind, sehen wir einen Teil der Schuld an solchen Streitereien bei uns, aber üblicherweise den kleineren. Wir wähnen uns als die Besseren und können damit unsere Selbstachtung aufrechterhalten. Zugleich geraten wir in die Opferrolle, denn wenn wir schwerer betroffenen sind als die andere Person, sind wir als Opfer einem mächtigeren Täter in die Hände geraten. Die Opferrolle ist mit Ohnmacht und Hilflosigkeit verbunden, und deshalb ist sie uns sehr unsympathisch, auch wenn sie uns dazu dienen kann, diejenigen, die uns Böses antun, anzuprangern. Tätersein ist noch unsympathischer als die Opferrolle. Schließlich können wir mit der Unterstützung und Empathie der Umwelt rechnen, wenn wir unschuldig einer Bosheit zum Opfer fallen.

Diese Dynamik kennen wir aus vielfältigen Beziehungserfahrungen. Anderen Böses zuzuschreiben haben wir früh gelernt, als unsere Eltern einer Verwechslung aufgesessen sind: Wir haben als Kinder etwas gemacht, was nicht den Regeln oder Erwartungen entsprochen hat, und wurden dafür mit moralischen Zuschreibungen zurechtgewiesen: Du bist böse, wenn du so etwas machst. Die Eltern haben unser unschuldiges und unwissendes Verhalten mit unserer Person verwechselt und diese infrage gestellt, was uns auf einer tiefen Ebene getroffen, verunsichert, beschämt und verletzt hat.

Später nutzen wir als Waffe, was uns früher verletzt hat. Unser Unbewusstes will sich rächen für Verletzungen, die uns früh zugefügt wurden. Andere Menschen werden zur Projektionszielscheibe, obwohl die Beschädigung, die uns leiden lässt, schon lange vorher zugefügt worden ist.

Die Notwendigkeit und Relativität der moralischen Kritik 

Wenn es nun so heikel und missverständlich ist, wenn wir das Böse in anderen wahrnehmen und rückmelden, sollten wir deshalb lieber den Mund halten? Sollten wir wegschauen oder darüber hinweggehen? Wir müssen Akte des Bösen, die andere begehen, benennen. Denn die Untaten von Mitmenschen zu ignorieren, zu vertuschen oder zu entschuldigen, ist selber eine Untat, weil sie das Bestehen von Amoralität unterstützt oder begünstigt. Wir sind also beim Wegschauen, Schönreden, Bagatellisieren oder Ablenken von bösen Handlungen selber mit dem Bösen im Bunde. Böses, das nicht in die Schranken gewiesen wird, neigt zur Wiederholung und Ausbreitung. Wer mit Betrug Erfolg hat, wird zu weiteren Betrugshandlungen ermutigt. Wer mit gewaltsamer Konfliktlösung durchgekommen ist, wird schneller den Impuls verspüren, den anderen niederzureden oder zuzuschlagen.

Wir helfen grundsätzlich dem Guten, wenn wir Böses aufzeigen und auf Täter und ihre Taten aufmerksam machen. Allerdings ist das Benennen des Bösen nur gut, wenn die angeprangerte Tat wirklich böse ist, was oft nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann. Es kann sein, dass wir die Sachlage nicht ausreichend überprüft haben und deshalb eine ungerechtfertigte Kritik anbringen, die aus Projektionen gespeist ist und der anderen Person Unrecht tut.

Dazu kommt, dass es individuelle Maßstäbe für das Gute und das Böse gibt, die durch Kindheitserfahrungen entstanden sind. Dazu kommen noch kollektive Einflüsse. Sie stammen aus dem sozio-kulturellen Umfeld, in dem wir aufgewachsen sind und enthalten häufig gewichtige Anteile an ungeprüften Ideologien und Glaubenssystemen. All diese Maßstäbe sind von Emotionen und emotional geprägten Erfahrungen getränkt, die meist über das Unbewusste die inneren Bewertungskriterien beherrschen und in der öffentlichen Debatte mitmischen. Die rationalen Begründungen bei solchen Bewertungen und daraus abgeleiteten Maßstäben spielen im Allgemeinen nur die zweite Geige.

Die Rolle der Scham

Moralische Kritik ist also für die Pflege des Zusammenlebens notwendig. Sie bedient sich der Scham als emotionalem Hebel: Wer eines asozialen Verhaltens beschuldigt wird, soll mit Scham reagieren und mit deren Unterstützung sein Verhalten ändern. Das schlechte Gewissen für eine schlechte Handlung entsteht, wenn ihre Sozialschädlichkeit erkannt und benannt wird. Oft meldet sich das Schamgefühl gleich nach der Tat, manchmal braucht es die Nachhilfe durch aufmerksame Mitmenschen. In diesen Fällen war eine Schamabwehr aktiv, die die eigene Schamreaktion unterdrückt hat, indem es ein Gefühl der Selbstrechtfertigung erzeugt hat.

Die Zwiespältigkeit der moralischen Kritik

Was noch zu beachten ist: Bei der Kritik am Verhalten anderer Menschen begeben wir uns allzu leicht in die übergeordnete Position einer moralischen Autorität, die uns eigentlich nicht zusteht. Wir sind ja keine besseren Menschen als all die anderen, wir verfügen nicht über das Monopol der moralischen Bewertung. Vielmehr befinden wir uns grundsätzlich mit allen Menschen auf einer Augenhöhe. Nur wenn jemand durch sein Tun aus dem konsensuellen Rahmen des Zusammenlebens ausgeschert ist und auf Kosten der Mitmenschen den eigenen Vorteil betreibt, wenn also jemand die Ebene der Augenhöhe verlassen hat, muss die Überschreitung der Regeln kritisiert und eine Korrektur eingemahnt werden. Vorausgesetzt, es handelt sich um Regeln, die für das Zusammenleben unerlässlich und erforderlich sind, damit es weiterhin funktionieren kann.

Wir befinden uns also in einer Zwickmühle: Wir müssen das Böse in den anderen Menschen aufzeigen und begeben uns selber ins Reich des Bösen, sobald wir uns auf ein moralisches Podest stellen und von dort mit Verachtung auf die Übeltäter herabschauen. Dieser Falle entgehen wir nur, wenn wir unsere Kritik möglichst frei von Ego-Einflüssen halten. Im Grund handelt es sich um einen selbstlosen Dienst, den wir damit der Gemeinschaft leisten. Wir sollten dabei nicht zulassen, dass sich Impulse zum Beschämen einschleichen, wie z.B. bei einer herabwürdigenden oder lächerlichmachenden Kritik. Auch spöttische Belehrungen, haltlose Unterstellungen, Erpressungen oder Drohungen fallen unter diese Kategorie, die aus moralischer Arroganz gespeist ist. 

Egofreie Rückmeldungen

Stattdessen gilt es, darauf zu achten, dass die Kritik von einem Ort der Wertschätzung kommt. Die kritisierte Person sollte als Mensch respektiert werden und sich so fühlen können, und diese Haltung sollte auch in der Form der Kritik zum Ausdruck gebracht werden, indem wir sie mit Respekt und Höflichkeit äußern. Was auch immer Menschen Böses tun, berechtigt uns nicht, eine Position der verachtenden Überheblichkeit einzunehmen, aus der heraus wir die andere Person als ganze aburteilen. Sobald sich also unser Ego einmischt, richten wir mehr Schaden an als wir an Nutzen erzeugen können.

Wir alle verfallen selber manchmal dem Antrieb zum Bösen, ohne dass wir es wirklich wollen. So geht es auch den anderen, wenn sie Schaden anrichten: Ihr Unbewusstes hat sie im Griff. Wir sind in unserer Anfälligkeit für das Böse gleich. Wir können nur selber dafür sorgen, dass sich diese Antriebe verringern. Von den anderen können wir nur hoffen, dass sie zu besseren Menschen werden wollen.

Kritik, die wir im Rahmen von Respekt und Wertschätzung ausüben, hat viel höhere Chancen darauf, dass sie angenommen und umgesetzt wird, als aggressiv oder abschätzig geäußerte Rückmeldungen. Sobald eine moralische Kritik mit druckvollen Änderungserwartungen verstärkt wird, erzeugt sie Ängste und Schamgefühle, die zu Abwehrformen und Widerstand führen. Wenn hingegen spürbar ist, dass es die Person, die uns kritisiert, grundsätzlich gut mit uns meint, tun wir uns leichter, unser Verhalten zu ändern. Umgekehrt heißt das, dass wir, wenn uns das Verhalten anderer stört oder verletzt, nur mit einer achtungsvollen Einstellung bewirken können, dass sich die andere Person ändert. Jeder Druck, jeder Stress, den wir in die Rückmeldung hineinlegen, läuft unseren eigenen Intentionen zuwider und führt zum Gegenteil von dem, was wir eigentlich erreichen wollen.