Freitag, 28. April 2023

Vom Gruppenegoismus zur globalen Ethik

Wir Menschen sind keine genetisch programmierten selbstsüchtigen Egoisten, wie der seinerzeitige Bestseller „Das egoistische Gen“ von dem Neo-Darwinisten Richard Dawkins suggeriert. Mittlerweile wissen wir, dass Menschen genetisch auf ein soziales Miteinander angelegt sind, u.a. dadurch, dass sie das Hormon Oxytocin zur Verfügung haben. Dieser Botenstoff sorgt dafür, dass sich Menschen aneinander binden und füreinander sorgen. Menschen können nur als Gruppenwesen wachsen, gedeihen und überleben. Die altruistische Rücksichtnahme und Kooperation in der Gruppe ist eines der Erfolgsgeheimnisse des homo sapiens, der es als einzige Art geschafft hat, zur dominanten Tierart auf diesem Planeten zu werden, mit der Fähigkeit, die Existenz aller anderen Arten zu bedrohen.  

Wir verfügen noch immer über das Gehirn und das Menü an Botenstoffen unserer frühsteinzeitlichen Vorfahren. Allerdings sind wir schon viele Jahrtausende in größeren Verbänden organisiert, für die unsere genetische Ausstattung nur mangelhaft eingestellt ist. Die Ur-Menschengruppen waren überschaubar, die Kommunikation lief unter Bekannten und Vertrauten, meist auch Verwandten. Das ist die Reichweite der Oxytocin-Bindungen, darüber hinaus schlägt der Effekt ins Gegenteil um. Denn das hochgelobte Hormon steckt auch hinter Neid und Schadenfreude. Es beeinflusst die Menschen, die eigene Gruppe gegenüber anderen zu bevorzugen. Deshalb spielt es auch eine Rolle beim Ethnozentrismus, bei der Hochschätzung der eigenen Gruppe oder Großgruppe, verbunden mit dem Misstrauen gegen andere Gruppen. Die Binnenbindungen werden verstärkt, und die Abneigung gegen das Außen, gegen alle, die nicht zur Gruppe gehören, wird gesteigert.

Wir können also auf keine genetische Hilfe zurückgreifen, wenn es darum geht, soziale Beziehungen über die eigene Vertrauensgruppe hinaus zu stiften. Solche Beziehungen sind allerdings für das Funktionieren von größeren sozialen Gruppen, geschweige denn für Formen der globalen Kooperation unerlässlich. Wir müssen die Einstellungen, Fähigkeiten und Kompetenzen dafür aus anderen Quellen schöpfen. Wir haben gewissermaßen keine Wahl darin, die Nächsten, das heißt die vertrauten Menschen um uns herum, zu lieben, und das ist auch keine besondere Leistung und erfordert kein Lernen. Wir wissen, dass grausame SS-Schlächter liebevolle Familienväter waren, und das ist kein Widerspruch, sondern ein Beweis für die Mächtigkeit von Botenstoffen und von deren Grenzen. Es zeigt den eklatanten Mangel an der Ausbildung von Mitmenschlichkeit über den Rahmen der familialen Kleingruppe hinaus, der in weiten Bereichen der Gesellschaft verbreitet ist.

Der Hass auf das Fremde

Der Hass auf das Fremde und Andersartige, an dem viele Menschen leiden und häufig dieses Leiden in Aggression ummünzen, ist aus der Angst vor etwas Unbekanntem gespeist, vor etwas oder jemandem, dessen Reaktion nicht vorhersehbar ist. Denn außerhalb der engen Bezugsgruppe ist das Netz an Erwartungen und an der Bereitschaft, Erwartungen zu entsprechen, viel gröber beschaffen. Deshalb steigt die Unsicherheit darin, wie andere auf einen selber reagieren, je weiter man sich von der Ursprungsgruppe entfernt. Die Gesichter, Minen, Gesten der bekannten Menschen haben wir verinnerlicht und können ihre verbalen und nonverbalen Sprachsignale lesen und übersetzen. Wir wissen, woran wir sind. Kaum redet jemand in einer anderen Sprache oder verwendet andere Gebärden, setzt die Unsicherheit ein, und ängstliche Naturen wittern sogleich Gefahren und geraten in Stress. 

Das Einfachste ist es dann eben, den Gebrauch einer fremden Sprache oder das Praktizieren fremder Gebräuche im eigenen Bereich zu verbieten. Aber das ist der feige Weg in die Isolation, in die engen Grenzen der Herkunftsgruppe. Es ist das Verharren im Immergleichen, in den Gewohnheiten und Gepflogenheiten, wie in einer Freundesgruppe, in der immer die gleichen Witze erzählt werden. Es ist der Rückzug auf vermeintliche Inseln der Seligkeit.

Fremdenliebe ist eine Lernaufgabe

Der größere Horizont der Menschlichkeit beginnt an den Grenzen der Menschen, die uns bekannt und vertraut sind. Der Respekt vor dem Fremden ist uns nicht in die Wiege gelegt, sondern ist eine Lernaufgabe, eine höhere Stufe der moralischen Einstellung. Es geht um eine Haltung, die nicht selbstverständlich ist und die nicht einfach zur Verfügung steht, sondern erworben werden muss. Sie stellt vor eine Wahl: Zwischen einer eingeschränkten, bedingten und einer allumfassenden Menschenliebe.  Es geht um die Entscheidung für das Wachstum in der Humanität, also dafür, dass das Gute allen Menschen zukommen soll und dass wir uns dafür einsetzen. 

Um es noch tiefer zu formulieren: Wir sprechen hier von einer Liebe, die keine prinzipiellen Grenzen hat, sondern alle Menschen umfasst, darüber hinaus alle Lebewesen und noch einmal darüber hinaus alles, was überhaupt existiert.  Die Fremden-, Fernen- und Feindesliebe gehört nicht zu unserer Grundausstattung, vielmehr können wir sie als Teil der Lebensaufgabe begreifen. Sie ist eine Stufe der moralischen Entwicklung, die uns von dem Gruppenegoismus zur allgemeinen Menschlichkeit führt. 

Die Religionen und die Menschenliebe

Die großen Religionen, die lange nach den großen Staatsgründungen entstanden sind, haben diese Erweiterung der Liebe in ihre zentralen ethischen Anliegen aufgenommen, eben weil sie nicht aus dem Grundrepertoire des Menschseins entspringt und weil sie für die Organisation des Zusammenlebens in größeren Staatsgebilden notwendig sind. Die meisten Religionen wollen die Menschen motivieren, ihren ethischen Horizont zu erweitern, über die eigenen Bedürfnisse und die der unmittelbaren Bezugsgruppen hinaus. Da die Impulse zu dieser Orientierung aufgrund der fehlenden hormonellen Ausstattung immer wieder versiegen, appellieren die Religionen mittels Geboten und Weisungen und motivieren mit Lohn- und Strafe-Versprechungen: Wer sich in seiner Haltung und in seinen Handlungen über den Gruppenegoismus hinaus entwickelt, kann mit einem bevorzugten Platz im Jenseits rechnen.

Im Christentum ist es die Nächstenliebe, die eben nicht auf die engsten Familienmitglieder und Freunde beschränkt ist, sondern sich auf jeden bezieht, der gerade in der Nähe ist und Not leidet. Das universelle Mitgefühl mit allen Wesen ist ein wichtiger Teil des buddhistischen Weges, ohne den niemand zur Erleuchtung gelangt. Die soziale Wohltätigkeit ist eine der Grundtugenden des Islams. Zumindest was die Mitmenschlichkeit und die Solidarität unter den Muslimen anbetrifft, geht diese Religion über den Tribalismus, also über die sozialen Verpflichtungen den eigenen Angehörigen gegenüber hinaus. Die Mitzwa ist ein Brauch im Judentum, bei dem regelmäßig die Mildtätigkeit gegenüber Bedürftigen praktiziert wird.  

Am weitesten geht wohl Jesus in der Bergpredigt: „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten?“ 

Die zu lieben, die einen selber lieben und die einem sympathisch sind, ist einfach und selbstverständlich und erfordert keine ethische Anstrengung oder Selbstüberwindung. Die ethische Herausforderung beginnt bei den Menschen, bei denen es uns schwer fällt, in der Liebe zu bleiben. Das sind Andersdenkende, Fremde, Angehörige anderer Rassen, Menschen, die wir aus moralischen Gründen verachten, 

Die Kraft der ethischen Evolution

Die globalen Krisenphänomene im Verhältnis von Mensch und Natur, mit denen wir allerorts zu tun haben, sind – ohne jede Hysterie – schon viel zu weit fortgeschritten als dass wir in den nächsten Generationen zu den Werten von früher zurückkommen könnten. Sie stellen uns vor die Wahl: Den Kopf in den Sand stecken, wie das das Gros der Politiker mit Zustimmung des Gros der Bevölkerungen tut, oder eine Schritt in der Bewusstseinsevolution riskieren. Im Rahmen dieser Diskussion bedeutet es, den Schritt vom Gruppenegoismus zu einer ökologischen Ethik zu gehen, die die Interessen der Menschen mit den Belangen der Natur ausgleicht. Dieser Schritt gelingt nur, wenn wir unsere Liebesfähigkeit von den gewohnten Kleingruppen auf alle Mitglieder der Menschheit und auf die Natur ausweiten.

Die Evolution des moralischen Bewusstseins verläuft  nicht beliebig, sondern sie führt mit logischer Notwendigkeit vom Einzelnen zum Allgemeinen. Sie befindet sich in Einklang mit der Evolution der anderen Bereiche der Gesellschafts- und Bewusstseinsentwicklung. Die Ethik, wie wir schon lange wissen, muss ihren Bezugsrahmen von der Kleinräumigkeit auf die Globalität ausweiten, so wie sich Wirtschafts- und Rechtssysteme global ausgeweitet haben. Sie muss darüber hinaus die Natur mit umfassen, die schon immer Gegenstand der Ausbeutung war und nun in den Status eines Rechtssubjekts und eines ethischen Partners gehoben werden muss. Dieser Schritt ergibt sich aus den Anforderungen, vor denen wir stehen. Er wird nur dann geschehen, wenn sich immer mehr Menschen zu ihm entschließen, bis die notwendige kritische Masse erreicht ist. 

Zum Weiterlesen:
Die Schwachen und die Nächstenliebe
Keine Nachhaltigkeit ohne soziale Konfliktlösung
Erstspracheverbote und Zweitsprachgebote
Wann ist das Boot voll?


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