Dienstag, 26. Februar 2013

Entscheidungen – Werkzeuge der Freiheit oder der Illusion

Was hat es mit Entscheidungen auf sich? Besteht unser ganzes Leben aus Entscheidungen? Können wir über unser Leben als Ganzes entscheiden? Auf jeder Entwicklungs- und Erfahrungsebene finden Entscheidungen statt. So können wir uns vorstellen, dass schon ein einzelliges Lebewesen in bedrohliche Situationen kommt, in denen es entscheiden muss, ob es standhalten oder fliehen soll. Viele dieser Entscheidungen betreffen einfache Alternativen mit dem Charakter der Bedrohung oder der Anziehung. Es sind also Entscheidungen zwischen Kampf und Flucht oder zwischen Gut und Besser. Z.B. können sich zwei alternative Nahrungsquellen anbieten, und dazwischen ist eine Wahl zu treffen. Hier ist das Lebewesen von einem inneren Bedürfnis angetrieben, und die Entscheidung gibt die Richtung für die Befriedigung des Bedürfnisses vor. 

Wir können annehmen, dass jede Lebensform über eine einfache Art der Selbstbezüglichkeit verfügt. Auch ganz primitive Organismen sollten in der Lage sein, sich auf die inneren Vorgänge eine Rückmeldung zu geben. In all diese Vorgänge sind Evaluierungen eingebaut, z.B. nach dem Muster: förderlich/gefährlich, angenehm/unangenehm, normal/außergewöhnlich usw. Vorgänge, die „positiv“ konnotiert sind, werden verstärkt, sollen also öfter stattfinden, die anderen sollen abgeschwächt werden. Was sich bewährt, wird wiederholt, was nicht funktioniert, wird abgestellt. Dazu sind Feedbackschleifen notwendig, die die Grundlage für das Gedächtnis bilden. 

In der weiteren Entwicklung differenziert sich diese Rückbezüglichkeit. Je komplexer das Lebewesen, desto komplexer ist auch die Reflexionsfähigkeit, die es benötigt. Schließlich kann sie sprachlich ausgedrückt werden (vgl. den Blogbeitrag zur internen Kommunikation vom Jänner 2013). Im Normalfall unterstützt die Reflexion die Entscheidungen, die auf der organischen Ebene im Sinn der Weiterentwicklung des Lebens gefällt werden, also dem Wachstum und der Gesundheit dienen. Kommt es zu Fehlsteuerungen, die als Folge von Traumatisierungen auftreten, kann es auch bei der Rückbezüglichkeit zu Störungen kommen, sodass sie lebensschwächend wirkt. Die dem entsprechenden Gefühle sind: Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Lebensmüdigkeit, die Gedankenmuster: Das Leben ist sinnlos, es wird nie besser, usw. Damit entwickeln sich „teuflische“ Regelkreise, die gerade jene Entscheidungen auf der Zellebene unterstützen, die zu Beschwerden und Problemen führen. 

Esoterische Entscheidungsmodelle 


In manchen Denkmodellen der Esoterik ist – in Anlehnung an hinduistische und buddhistische Lehren – die Rede davon, dass sich jede Seele vor ihrer Inkarnation für dieses neue Leben mit all seinen Details entscheide. Da sich die Seele vor der Inkarnation im körperlosen „Raum“ befinde, sei sie auch jenseits der Zeit und könne deshalb die eigene Zukunft schon voraussehen, für die sie sich entscheidet. Gewissermaßen können wir keine Katze im Sack kaufen. 

Damit verbunden ist die Idee der Verantwortungsübernahme: Du hast dich entschieden für diese Eltern, für diese Familie, für dieses Leben, also löffle gefälligst die Suppe aus, die du dir eingebrockt hast, und hör auf zu jammern. Nachträgliche Reklamationen werden nicht angenommen. Der Konsumentenschutz ist also in jener anderen Welt noch nicht sehr weit entwickelt. 

Unterstellt wird dabei ein voll entwickeltes Ego, das in diese körperlose Seele hineinprojiziert wird, eine Instanz, die Angenehmes und Unangenehmes bewerten, unterscheiden und über den Zeitraum eines ganzen Lebens bemessen kann und sich auf dieser Grundlage entschließt, die Reise zu wagen. 

Dazu gehört übrigens auch die Vorstellung, dass diese Entscheidung, kaum ist sie getroffen, gleich wieder vergessen wird. Wir kommen also nicht auf die Welt mit diesem Wissen und lassen es auch nicht verlauten, sobald wir der Sprache mächtig sind. Erst ein erwachsenes Bewusstsein stößt auf diese Gedankenwelt und kann darin Sinn finden. Denn es kann ja eine gewisse Sicherheit bietet, annehmen zu können, über Kompetenzen zu verfügen, die mit einer derartigen Macht über das eigene Leben verbunden sind: Ich als entscheidungsbefugt über meine eigene körperliche Existenz: Sage ich nein, geht es zurück in die heiteren und unbeschwerten Bardoräume, sage ich ja, wird die Natur beauftragt, ein neues Leben entstehen zu lassen. Da komme ich schon nahe an den Schöpfergott heran. Und Ich dazu noch mit hellsichtigen Fähigkeiten ausgestattet, für die die Zukunft ein offenes Buch ist, in dem man nur blättern muss, wow! 

Therapeutisch mag es in manchen Kontexten sinnvoll sein, jemanden daran zu erinnern, dass es sein Leben ist, mit dem er umgehen muss, und dass es keinen Sinn macht, darüber zu jammern. Dafür kann es möglicherweise auch nützlich sein, so zu tun, als gäbe es diese große Entscheidung für das eigene Leben am Beginn der Reise, eine wachrüttelnde und mahnende Hypothese gewissermaßen. Die Verantwortungsübernahme mittels Rekurs auf eine präexistentielle Entscheidung funktioniert allerdings nur, wenn die entsprechenden esoterischen Glaubensannahmen geteilt werden, und das kann in Zeiten der Glaubens- und Religionsfreiheit nicht jeder Klientin zugemutet werden. Therapeuten sollten sich überhaupt hüten, irgendwelche Glaubensgehalte in der Therapie vorauszusetzen oder anzubieten und eher danach trachten, die Hintergründe in der Lebensgeschichte der Klienten zu erörtern, wenn sie mit solchen Themen und Interpretationen kommen. 

Ego-Glaube 


Zudem verleitet gerade dieser Glaube zur Stärkung von Egostrukturen, die sich auf dem weiteren therapeutischen Weg der inneren Heilung als hartnäckige Störungen entpuppen könnten, ohne als solche erkannt zu werden. Denn der Glaube vermeint ja, von einer echten Erfahrung auszugehen, glaubt also an eine Wirklichkeit und nicht an eine Konstruktion. Und solche „wirklichen“ Erfahrungen wollen wir am wenigsten aufgeben oder relativieren, weil wir sie mit der Basis unserer Identität verknüpfen, wie das eben Glaubensfanatiker mit den verschiedensten Inhalten machen. 

Eine psycho-biologische Sichtweise 


Für den Skeptiker schwierig vorzustellen bleibt der implizierte Wirklichkeitsbegriff: Eine körperlose Seele hat die Fähigkeit der Erkenntnis, verfügt über eine sinnliche Wahrnehmung, mit der sie die eigene Geschichte voraussehen kann, ohne dass es Sinnesorgane gibt, ohne dass es ein Gehirn gibt, das die Sinneseindrücke erst zu Wahrnehmungen macht. Einfacher ist es da schon, davon auszugehen, dass es sich um Phantasien handelt, die sich das erwachsene Bewusstsein über seinen Ursprung bildet, und dass es die Kraft des Glaubens ist, die diesen Phantasien einen Wirklichkeitscharakter umhängt. In unserer Phantasie sind wir frei, und wir können ihren Produkten nach Belieben (Placebo) Wirkmächtigkeit geben. 

Wie ist es mit einer befruchteten Eizelle: Kann sie sich entscheiden, sich zu teilen? Kann das Ungeborene, wenn es schon weiter entwickelt ist und eine schreckliche Erfahrung erleben muss – z.B. ein Abtreibungsversuch oder der Tod eines Zwillinggeschwisters oder eine schwere Krankheit oder ein Unfall der Mutter – die Entscheidung treffen, unter solchen Umständen weiterzuleben oder aufzugeben? 

Wir sollten davon ausgehen, dass Embryonen noch nicht über Fähigkeiten verfügen, wie sie ein erwachsener Mensch hat, der vielleicht in einer Verzweiflungssituation die Entscheidung trifft, sein Leben zu beenden. Weder haben sie diesen Überblick über sich und ihr Leben als Ganzes noch haben sie die Mittel, um ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Und das ist auch gut so, sie brauchen diesen Reflexionsüberschuss nicht, vielmehr würde er sie an der Entwicklung hindern. 

Es bildet zwar auf der Grundlage der erlebten Gefühle Denkmuster aus wie „Ich sollte nicht da sein“, wenn es spürt, dass es nicht gewollt ist, oder: „Ich möchte nicht mehr leben“, wenn es spürt, dass es abgetrieben werden soll, oder: „Alles hat keinen Sinn mehr“, wenn ein Zwillingsgeschwister im Mutterleib stirbt, aber – es kann nicht über sein eigenes Leben als Ganzes entscheiden, weil es dieses nicht überblicken kann. 

Vielmehr gibt es die Kraft des Lebens, die stärker ist als die Gefühle und Denkmuster, die ja auch von ihr gespeist werden. Sie „entscheidet“ darüber, ob dieses Leben weiter oder zu Ende geht. Reichen die Ressourcen für das Überleben, so wächst der Embryo weiter, auch mit den lebensschwächenden Gefühls- und Denkprogrammen, sind die Ressourcen zu schwach, kommt es zum Absterben. 

Therapeutische Zugänge 


Therapeutisch wirksamer jedenfalls als den Appell an einer Verantwortung zu richten ist es, die Wurzeln von Verzweiflung und Leiden aufzuspüren und an ihren Ursprüngen aufzulösen; in diesem Fall geht es vermutlich um die Ereignisse im Rahmen der Empfängnis, bei der es zu Problemen gekommen ist. Solche traumatischen Erfahrungen erzeugen ihre spezifischen Dissoziationen, und diese werden dann später mittels der assoziativen Fähigkeiten unseres Gehirns „esoterisiert“, d.h. mittels Versatzstücken aus der Religionsgeschichte mit Sinn verkleidet. Die Glaubensform sichert das Weiterbestehen der Dissoziation und schützt vor dem Wiedererleben der Traumatisierung. 

Die de-dissoziative Traumaauflösung beginnt dort, wo die innere Aufmerksamkeit konsequent auf die Körperebene zurückgeführt wird. Das Spüren der Empfindungen im eigenen Inneren befreit von den Verstrickungen der kognitiven Erklärungsmodelle und Meta-Erklärungsmodelle und führt an den Ursprung der Verstörung. Wenn dort das Traumatische an der Erfahrung aufgelöst ist, verschwindet auch die Notwendigkeit einer esoterischen Entscheidungstheorie. 

Entscheidungsfreie Zustände 


Wenn sich ein Organismus in einem Wachstumszustand befindet, der also von keinem inneren Drang oder äußerer Bedrohung abhängig ist, spielen Entscheidungen keine Rolle, sondern das Leben fließt einfach von einer Situation zur nächsten. Wir können diesen Unterschied erleben, wenn wir uns selber im Fluss befinden, z.B. beim Spazierengehen, bei dem wir uns nicht entscheiden, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Auch können wir die Richtung, in die wir uns bewegen, dem überlassen, was gerade kommt. Ähnlich können wir uns bei einem freien Tanz fühlen. Wir überlassen es dem Körper, die Bewegungen kommen zu lassen, die kommen wollen. Der Kopf mischt sich nicht ein und die Verbindung mit allem rund herum ist einfach da. 

Sind wir mit unserer Kreativität verbunden, so gibt es eine Kraft, die stärker ist als unsere Kalkulationen oder Erwartungen. Ein Schritt der Verwirklichung eines Projekts führt zum nächsten, ohne dass wir vorher wissen müssen, worin er besteht. Es ist so, als würden wir von einer Entscheidung zur nächsten geführt, ohne dass es sein müsste, diese Entscheidungen überhaupt zu treffen oder ohne dass es jemanden geben müsste, der dies vollzieht. 

Wer trifft die Entscheidungen? 


Was bedeutet es, wenn wir die Natur oder das Leben samt dem ihnen innewohnenden Prinzip der Evolution als den eigentlichen Entscheidungsträger ansehen? Sie steuern auf faszinierende Weise die Entfaltung des Lebens mit einer erstaunlichen Kreativität. Warum das Leben so entscheidet, dass es das eine Wesen zur Blüte und das andere zum Verdorren bringt, verschließt sich solange, als wir in der Natur ein uns ähnliches Wesen suchen, bzw. eines, das unserer Ego-Struktur gleicht. Wir entscheiden uns doch für dieses und jenes, also muss auch die Natur so funktionieren. Wenn etwas Schlimmes passiert, muss es einen Täter geben, und dieser muss dingfest und verantwortlich gemacht werden. 

Wenn nicht die Natur, dann gehen wir noch eine Ebene dahinter oder darüber und sehen Gott als den eigentlichen Entscheidungsmacher. Er (oder sie) misst dem Einen das große Glückslos zu, während der andere jede Woche brav den Schein ausfüllt und ein Leben lang nicht gewinnt. Und wenn er nicht in unserem Sinn entscheidet, hadern wir mit ihm, weil er doch der Letztverantwortliche ist für das, was uns zustößt, zumindest für das, wofür wir „nichts können“, d.h. wofür wir uns nicht verantwortlich fühlen. 

Um vieles leichter geht uns, wenn wir gar nicht mehr wahrnehmen, dass wir uns entscheiden, sondern wenn einfach geschieht, was geschieht, ohne dass sich dieses wichtigtuerische Ich einmischt. Um so viel freier fühlen wir uns in der Erfahrung des Getragens- und Geführtwerdens, im Loslassen unserer Entscheidungslast. Oder? Wenn wir es dem Geschehen überlassen, was geschieht, ohne dass hier jemand mitentscheidet: Mit dem Leben fließen, statt es zu kontrollieren. Dann fühlen wir uns wie im Paradies – oder wie im Himmel.

Mittwoch, 13. Februar 2013

Globale Transparenz

Es hat sich in Großbritannien im Zuge einer Parlamentsanhörung herausgestellt, dass die Firma Starbucks trotz eines Marktanteils von 30 Prozent in 14 der 15 Jahre seines Bestehens auf der Insel keine steuerpflichtigen Gewinne, sondern nur Verluste geschrieben hat. Wie sich im Zuge der Anhörung zeigte, nutzt Starbucks seine internationale Verflechtung, um Gewinne steueroptimierend zu verschieben. So zahlt der britische Ableger des US-Konzerns hohe Lizenzgebühren an die steuerbegünstigte niederländische Niederlassung und kauft seine Kaffeebohnen teuer über seine Filialen in der Schweiz ein. (Online-Standard 13.2.2013)

Sicher ein Beispiel von vielen, und blöd wäre das Kapital, wenn es solche Schlupflöcher nicht nutzen würde. Wo Schlupflöcher sind, die der Allgemeinheit Gelder entziehen und sie in private Taschen umlenken, müssen diese gestopft werden. Gestopft können sie nur auf der internationalen Ebene, also braucht es weltweite Regelungen. Auf solche müssen die nationalen Regierungen drängen, wenn sie im Interesse ihrer Bürger handlungsfähig bleiben wollen.

Das ist der Trend, dem die Welt folgen wird, und der schließlich in einer Weltregierung kulminieren wird. Wobei sich zeigt, dass es der Kapitalismus selber ist, der seine eigene Bändigung erzwingt. Zwar versucht das Wirtschaftssystem aufgrund seiner ihm innewohnenden Logik, die Politik nach allen Regeln der Kunst auszutricksen, und braucht es immens lange, bis neue Regelungen die Minenfelder der Interessensvertretungen überlebt haben und in Kraft gesetzt werden, aber am Abend wird klar, wer das Sagen hat und wer Strafen verhängen kann, die auch den hartgesottensten Kapitalisten Schmerzen bereiten.

In diesem Räuber-und-Gendarm-Spiel hat die Rechtsordnung und die hinter ihr stehende politische Willensbildung nur scheinbar immer wieder das Nachsehen, weil das Kapital ja so wendig und flink entwischt, kaum hat man es am Rockzipfel erhascht. Denn aus der Notwendigkeit für globale Abkommen und Gesetzen wird der Weg für eine weltumspannende Regelungsinstanz gebahnt, für die es keine Grenzen gibt, hinter denen die Unternehmen ihre Gewinne verstecken können. 

Damit rückt die Idee einer universalen Transparenz ins Blickfeld, und die Wirtschaft steht dann vor der Wahl, gemeinwesenorientiert statt individuell reichtumsmaximierend vorzugehen, eine Option, die sich dann in aller Öffentlichkeit auch für die einzelnen Akteure im Feld stellt. Denn Transparenz heißt, dass sichtbar gemacht wird, was Einzelne leisten – für die Gemeinschaft oder nur für sich selber. Egoismen gedeihen im Verborgenen geschlossener Insiderkreise besser als im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Stars und andere reiche Leute, die ihre Staatsbürgerschaft danach richten, wo sie am wenigsten Steuern zahlen,  sind peinlich davon betroffen, wenn sie darüber in der Zeitung lesen müssen.


Ein wünschenswerter Nebeneffekt dieser Entwicklung in Richtung auf eine Weltregierung könnte darin liegen, dass diese Instanzen irgendwann auch nicht mehr nur auf der wirtschaftlichen Ebene zur Eindämmung des Kapitals aktiv sein werden, sondern auch ihre Macht dafür nutzen wird, Kriege und Terrorismus auf dieser Erde abzuschaffen, Unsitten, die nur auf der Grundlage von isolierten Einzelstaaten gedeihen können.

Die zunehmende Bewusstheit für Korruption in der Rechtsdurchsetzung geht Hand in Hand mit der wachsenden Empörung in der Zivilgesellschaft über giergetriebene Praktiken von Wirtschaftstreibenden und Politikern. Dadurch entsteht der notwendige Druck, den es braucht, um an den Schnittstellen von Politik und Wirtschaft für klare und transparente Verhältnisse zu sorgen. Als Bankdirektor oder als politischer Machtträger im Gefängnis landen zu können, wenn die eigene Habgier auf Kosten des Gemeinwesens überhandnimmt, erfüllt noch immer einen gewissen Abschreckungseffekt. 

Stattdessen können wir erwarten, dass sich die Akteure im wirtschaftlichen Feld (die wir alle sind, als Produzenten und als Konsumenten) mehr an den Dienstcharakter ihrer Aufgaben erinnern. Denn der Sinn der Wirtschaft besteht allemal einfach darin, die für das Wohlbefinden und die Lebensanreicherung aller in möglichst gleichem Maß erforderlichen Güter und Dienstleistungen anzubieten, und nicht darin, möglichst große Einkommensunterschiede und vereinzelte Reichtumskonzentrationen hervorzubringen.

Sonntag, 10. Februar 2013

Die Einatem-Gesellschaft

Einatmen bedeutet Energie aufnehmen und sich stärken. Wir blasen uns auf zum Imponiergehabe – Brustraum nach vorn, Kinn nach oben, das Kreuz hohl. So schaffen wir uns Raum und Ellbogenfreiheit. Wir sind für jede Herausforderung gerüstet.

Das Einatmen aktiviert unser Stresssystem (Sympathikus). Mit dem Ausatmen entspannen wir uns (Parasympathikus). Wenn wir diesen einfachen Rhythmus zulassen können, bleibt unser Organismus auf einer tiefen Ebene in Balance. Wird ein System zuungunsten des anderen überstrapaziert, kommt es zum Ungleichgewicht. In unserer Gesellschaft, die darauf angelegt ist, den Menschen immer mehr Leistung abzuverlangen, ist dieses Ungleichgewicht systemimmanent. Die Arbeitswelt ist vom Einatemmodus geprägt, für das Ausatmen ist die Freizeit vorgesehen. Doch die Kunst, die Leistungserwartungen abzuschalten, kaum schließt sich die Bürotür oder das Fabrikstor hinter dir, beherrschen nur wenige. Die Anspannung wirkt in die Freizeit hinein und nimmt ihr den Erholungscharakter.

Unser Organismus ist nicht darauf angelegt, in stundenlangen Zyklen voll auf Leistung eingestellt zu sein, ohne sich erholen zu können; um das durchzuhalten, muss er auf seine Ressourcen zurückgreifen. Die Freizeit dient dann vor allem dazu, die geplünderten Ressourcen nachzufüllen, die die Arbeit verschlungen hat. Die kreative Gestaltung unseres eigenen Lebens bleibt dabei auf der Strecke oder verkümmert zu einer Randerscheiung.

Auch mental spielt die Arbeitswelt bei den meisten Menschen in unserer Kultur die dominante Rolle: Was ist zu tun, was ist zu erledigen, was wird von mir erwartet, was muss ich erfüllen? Habe ich nichts vergessen, was zu tun ist? Und was, wenn ich doch etwas vergessen habe?

Um diese Themen kreisen die Gedanken des außengesteuerten Einatem-Menschen (Unerledigtes aus der Vergangenheit quält ebenso wie Sorgenvolles im Vorausblick auf die Zukunft). Das zwanghafte Denken sorgt dafür, dass das Anspannungssystem daueraktiv bleibt. Es bringt die Atmung dazu, dass das Augenmerk nur auf dem Einatmen liegt und die Ausatmung vernachlässigt wird, bzw. nur als Brücke zum Einatmen genutzt wird, sodass sie unter Druck geschieht. Damit wird der Ausatmung ihre Entspannungsfunktion genommen. Das bildet den Einatemtyp, wie er oben charakterisiert wurde, maßgeschneidert für die ressourcenverschleudernde materialistische Gesellschaft und Kultur.

Ausatmen bedeutet Hingabe


In der Ausatmung entspannt sich die Muskulatur, wir geben Energie ab und sinken nach innen. Wir geben die Kontrolle ab und sind verwundbar, sei es auch nur für einen Moment. Wir geben uns dem hin, was gerade ist, werden rezeptiv, offen für Eindrücke. Das Wahrnehmungsfeld nach außen und nach innen weitet sich.

In der Ausatmung finden wir zur Kreativität. Denn sobald wir die Außenwelt nicht mehr überwachen, kommt sie mit ihren Ideen auf uns zu. Zugleich meldet sich unser Inneres mit dem, was sich schon immer mitteilen wollte. Wir laden Neues ein und können mit dem nächsten Einatem die Energie zur Umsetzung und Verwirklichung tanken.

Wie wäre es mit einer Ausatemgesellschaft?


Kommt die Ausatmung vor der Einatmung, also liegt das Schwergewicht bei ihr, dann sind wir zuerst rezeptiv, bevor wir aktiv werden. Wir geben dem, was von außen und von innen kommt, die erste Beachtung. Die Einatmung dient zur Unterstützung dessen, was im Ausatem zu uns kommt, und gibt uns die Kraft zum Weitertragen und Weiterentwickeln der Ideen.

In einer Ausatemgesellschaft steht also nicht die Leistung und die Kontrolle an erster Stelle, sondern das Hinhören und Lauschen. Wir hängen weder in der Vergangenheit fest mit unseren Zweifeln und Rechtfertigungen, noch nehmen wir die Zukunft in unseren Sorgen vorweg, sondern wir können uns besser auf den Moment und seine Erfordernisse und Möglichkeiten ausrichten. Unsere Handlungen entspringen nicht dem Druck der äußeren und inneren Erwartungen, sondern aus der Entspannung.

Dazu müssen wir die Ausatmung erst erlernen. Konfuzius hat geschrieben, dass das erste, was der Mensch lernen muss, das Atmen ist. Wir müssen heute, 2 500 Jahre später, sagen, dass das erste, was wir moderne Menschen lernen müssen, das Ausatmen ist. Wir haben uns angewöhnt, das Ausatmen als Überbrückung oder Verlängerung des Einatmens zu nehmen, und atmen deshalb unter Druck aus, so als wollten wir die Luft aus den Lungen pressen.

Wenn wir statt dessen beim Ausatmen die Luft freilassen, indem wir die gesamte, an der Atmung beteiligte Muskulatur entspannen, erleben wir, wie die Atemluft uns von selber verlässt, ohne dass wir etwas tun müssen. Wir erleben, was geschieht, wenn wir zulassen, was von sich aus geschehen will, und wie wir dabei präsent sein können.

Wir kehren die Richtung um: Wir reagieren nicht mehr nur auf die Probleme, vor die uns die Welt stellt, sondern spüren nach, welche Welt wir gerne haben möchten und lassen auf uns zukommen, was wir dafür tun können. Wir üben uns im Vertrauen, wie wir, wenn wir uns dem Ausatem hingeben, in ihm vertrauen, dass der Einatmen von selber wieder kommen wird und damit der Zyklus des Lebens weiterfließt.

Die interne Kommunikation pflegen

Ich finde, dass die interne Kommunikationskultur eine wichtige Rolle für unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit spielt. Die Beziehung, die wir zu uns selbst und zu unserem Körper haben, sollten wir deshalb ebenso wichtig nehmen, wie die Beziehungen nach außen, zu anderen Menschen und zur Welt um uns herum.

Manche Menschen merken ihr Inneres nur, wenn es sich auf störende Weise äußert, mit Krankheit oder Unwohlsein, Schmerzen oder Missstimmung. Dann wird die interne Kommunikation aufgenommen. Sie wird dabei meistens von Ängsten geleitet: Was ist jetzt schon wieder los? Hoffentlich werde ich nicht krank! Das kann ich jetzt gar nicht brauchen! Wie komme ich damit zurecht? Warum gerade jetzt? Usw.

Wir reagieren also nicht gerade freundlich und herzlich auf Signale, die uns unser Körper und unser Inneres senden. Wir geben zu verstehen, dass wir eigentlich gar nicht interessiert sind an diesen Nachrichten, sondern dass wir uns gezwungenermaßen damit auseinandersetzen müssen. Wir verhalten uns wie ein gestresster Elternteil, von dem ein Kind beachtet werden möchte. Das Kind kriegt dann den Eindruck, aufdringlich zu sein, zu stören und keine Beachtung zu verdienen. Vielleicht resigniert es oder versteift sich trotzig darauf, nie mehr wieder Beachtung zu verlangen. Die Kommunikation ist unterbrochen.

Was, wenn unser Körper durch unsere Missachtung seiner Bedürfnisse resigniert oder trotzig verstummt ist? Ist es da nicht höchste Zeit, das Gespräch wieder aufzunehmen und den Kontakt wieder herzustellen? Gerade, wenn sich nichts Schlimmes meldet und sich das körperliche und seelische Wohlbefinden in einer guten Balance befindet, ist das eine gute Gelegenheit, die interne Kommunikation zu pflegen. Im entspannten Zustand können wir am besten und erfolgreichsten kommunizieren. Wir können unseren Organen unsere Anerkennung ausdrücken für das, was sie tagein tagaus leisten, um uns bei unseren Aktivitäten zu unterstützen. Wir können den Problemzonen, die uns immer wieder einmal plagen, eine besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen, damit wir sie in ihrer Regeneration und Heilung fördern.

Wir sollten bei der inneren Kommunikation die Regeln der Höflichkeit befolgen, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, aber, weil wir uns häufig nur in belasteten Situationen unserem Körper und unserem Inneren zuwenden, spielen wir uns eher wie die ungnädigen Herrscher auf statt dass wir als Freunde zu Freunden reden. Nutzen wir die Erkenntnisse, die wir aus der Arbeit mit Affirmationen gewonnen haben: Teilen wir mit, was wir haben möchten, und nicht, was wir verschwinden lassen möchten. Sprechen wir also von Heilung und Gesundheit, von Abwehrkräften und Reinigungsprozessen, zu denen wir die Teile unseres Inneren ermutigen und bekräftigen wollen. Bleiben wir in der Gegenwart und teilen wir unsere Wünsche dafür mit, statt einen irgendwann zukünftigen Zustand zu beschwören. Vermeiden wir ungeduldige Aufforderungen, Befehle und Vorhaltungen, sondern bleiben wir wohlgesonnen und vertrauensvoll.

Wenn Ängste da sind, teilen wir sie offen und direkt, und achten wir dabei auch darauf, was wir an unterstützenden Kräften und Energien anbieten können. Bleiben wir im „Augenkontakt“, lenken wir also unsere innere Aufmerksamkeit auf unseren Gesprächspartner, sei es ein Teil unseres Gehirns oder die Leber. Je entspannter wir dabei sein können, desto leichter wird uns dieser Kontakt fallen und desto mehr Früchte kann er bringen.

Freundschaft mit uns selber schließen – mit unserem Körper und all seinen Zellen und Zellverbänden, mit unserem Gefühlsleben und unseren Gedanken – das ist doch ein lohnendes Unternehmen. Schließlich sind wir selber das Wesen, mit dem wir die meiste Zeit verbracht haben und verbringen, und je besser wir uns da verstehen, desto wohler fühlen wir uns. Wenn die innere Kommunikation stimmt, sind wir auch leichter für andere Menschen offen und präsent.

Freundschaft muss gepflegt werden, kümmern wir uns jetzt darum!


Zum Weiterlesen:
Das Kind in uns