Montag, 27. Juni 2022

Das Gute entsteht im Verständnis des Bösen

Wir finden das Gute, indem wir das Böse verstehen. Dieser Satz mag auf den ersten Blick als rätselhaft erscheinen. Er stellt die allzu einfache, aber gewohnte  Gegenüberstellung von Gut und Böse in Frage: Wer gut ist, ist gut, wer böse ist, ist böse, und meistens sind die anderen die Bösen und wir selber die Guten. Der Satz stellt eine Verbindung zwischen dem Guten und dem Bösen her, die uns herausfordert, nach innen zu gehen und dort nach dem Bösen zu suchen. Denn das Böse ist ein Teil des Menschseins, ein Aspekt des Möglichkeitsraumes des Erlebens und Handelns, das in jedem Menschen bereitliegt.

Das Böse in uns ist mit Scham umgeben; wir finden es also nur, wenn wir diese Schamschranke überwinden. Wenn uns dieser Schritt gelingt, können wir das Böse in uns erforschen und einordnen. Was wir kennen und in unser Bewusstsein integrieren, ist davor geschützt, aus uns herauszubrechen, ohne dass wir es wollen. Böses entsteht nicht, wenn wir in unserer Mitte und gut mit uns selber verbunden sind. Es entsteht, wenn wir die Kontrolle verlieren und das Unbewusste die Regie übernimmt. Selbst Menschen, die scheinbar mit vollem Bewusstsein Böses tun, sind in Wirklichkeit die Sklaven ihrer unbewussten Antriebe.

Das Böse in den Mitmenschen zu sehen fällt immer leichter, als es bei sich selbst zu erkennen. Natürlich ist es wichtig, böse Taten, die uns oder anderen widerfahren, zu benennen und zu unterbinden, soweit es in unserer Macht steht. Das Böse braucht die soziale Eindämmung und Begrenzung, sonst wuchert es weiter. Dazu gibt es Normen und Gesetze, die mit entsprechenden Strafandrohungen versehen sind und abschreckend wirken sollen.

Aber ohne die Erfahrung, wie jede Form menschlicher Bosheit in jeder menschlichen Seele ihren Ort hat und im Leben jedes Menschen Spuren hinterlassen hat, kommen wir nicht weiter. Wir erkennen nicht, dass wir das Böse, das wir im Außen anprangern, aus unserem Inneren projizieren. Das Böse wird immer wieder hervorbrechen, allen angedrohten Konsequenzen zum Trotz, wenn das Unterbewusstsein stärker ist als die Bewusstheit.

Vom Bösen zum Guten

Solange wir das Böse nicht in uns selbst aufsuchen und dort seine Wurzeln verstehen, gelangen wir nicht zum Guten.  Denn dann ist das Gute nur eine Wunschfantasie, entstanden aus der Abspaltung des Bösen in uns selber. Wir definieren uns aus dem Unterschied zum Bösen und nehmen an, wir sind schon gut, weil wir ja nicht böse sind – so wie die anderen.

Das Böse findet sich, psychologisch gesprochen, im Schattenbereich der Psyche. Es wird von unbewussten Ängsten und Schamgefühlen gesteuert und drückt sich in Ideen, Gedanken, Gefühlen und Handlungen aus. Allgemein können wir sagen, dass all das, was wir als böse bezeichnen, Ausdruck von Überlebensprogrammen ist, die sich in der frühen Kindheit eingeprägt haben. Es meldet sich also die eigene Überlebensangst, die das Erleben und Handeln diktiert. Unter diesem Einfluss müssen wir die Bedürfnisse anderer Menschen ignorieren oder fühlen uns gezwungen, sie zu schädigen, im Extremfall bis hin zur Auslöschung ihrer Existenz, also bis zum Mord.

Wenn wir erkennen, dass es sich um Reaktionsmuster handelt, die wir uns abgespeichert haben, damit wir Notsituationen überleben können, fällt es uns leichter, unsere bösen Anteile in Augenschein zu nehmen. Was uns nicht fremd ist, sondern in einen Rahmen des Verstehens aufgenommen werden kann, verliert seine dämonische Macht. Das Böse in uns ist dann ein dunkler Bereich unserer Seele, in den wir mehr Licht bringen und ihm damit den Schrecken und das Beschämende nehmen. 

Mit dem Bösen anfreunden

Es klingt etwas verwegen zu sagen, wir sollten mit dem Bösen in uns Freundschaft schließen. Denn das unverschämte Böse, mit dem sich der Bösewicht angefreundet hat, bewirkt die schlimmsten Auswüchse der menschlichen Destruktivität. Mit dem Bösen Freundschaft zu schließen bedeutet nicht, sich seiner Zerstörungskraft willen- und kritiklos zu unterwerfen. Es bedeutet, die Ängstlichkeit und Verletztheit im Kern der Bosheit freizulegen und das Leid zu erkennen, das diesen Kern umgibt. Es bedeutet, das Fremde und Feindliche am Bösen zu entzaubern, es als Teil des eigenen Schicksals anzunehmen und Mitgefühl und Verständnis für die schweren Umstände zu entwickeln, die für die Entstehung des Bösen im Inneren verantwortlich sind. Es bedeutet also, die Abwehr durch Vertrauen zu ersetzen. 

Was wir in uns erkannt, bewusst gemacht und verstanden haben, brauchen wir nicht mehr abzuwehren oder zu bekämpfen. Wo wir gelernt haben, das Böse seinem Ursprung zuzuordnen, können wir Frieden mit ihm schließen und ihm damit die impulsive Macht nehmen. Mit jedem Schritt in dieser Richtung werden wir bewusster, aber nicht notwendigerweise „besser“ im ethischen Sinn.  Das Gute entsteht von selbst dort, wo das Böse erkannt und entmachtet ist.

Das Gute kann nur größer sein als das Böse, wenn das Böse verstanden ist als etwas, das aus innerer Not entstanden ist, aus fehlgeleiteten und missverstandenen unerfüllten Bedürfnissen kindlichen Ursprungs. Die Überwindung der Not lässt das Gute ganz von selber hervortreten. Das Gute ist einfach da, wo die innere Not durch inneren Frieden ersetzt ist.

Zum Weiterlesen:
Das Gute und das Böse
Die Anhänglichkeit an die Dualität
Der Bösewicht in uns
Gut und Böse
Über den Ursprung des Bösen und des Hasses

Montag, 20. Juni 2022

Die Illusion von Karma

Die Lehre vom Karma ist Teil der uralten hinduistischen Tradition. Sie fußt auf dem Glauben an die Wiedergeburt und hat ihre Absicht darin, die Menschen zu einem guten Leben anzuleiten. Denn angehäuftes schlechtes Karma wirkt sich auf schlechte Chancen für die nächste Wiedergeburt aus. Nach dem karmischen Grundprinzip hat jede Handlung eine moralisch ausgleichende Folge, also auf Gutes folgt Gutes, auf Böses Böses. Diese Folgen müssen sich nicht gleich danach, ja nicht einmal im gegenwärtigen Leben manifestieren, sondern können auch zeitverzögert, im Extremfall in einem weiteren reinkarnierten Leben auftreten. Bewertet werden dabei alle Formen des Handelns, physische wie geistige Taten (oder auch Versäumnisse), sie alle fallen unter dieses allgemeine Ursache-Wirkungsprinzip.

Bei monotheistischen Religionen gibt es oft ein Gericht, das nach dem Tod über das Leben jedes einzelnen Menschen urteilt und die individuellen Konsequenzen für das seelische Weiterleben festlegt. Im Unterschied dazu gilt das Karmaprinzip als universelles Gesetz, das unabhängig von irgendwelchen Instanzen wie ein Naturgesetz waltet.

Für das ethische Handeln ergibt sich der Appell, sein Leben danach auszurichten, möglichst wenig Karma für das nächste Leben anzusammeln, um sich damit aus dem ewigen Rad des Schicksals zu befreien. Insbesondere geht das Bestreben im Buddhismus danach, sich aus allen Versuchungen des Karmas herauszuhalten und alle Anhaftungen aus egoistischen Motiven zu überwinden. Die ersehnte Erleuchtung erfordert die vollständige Befreiung von allen Abhängigkeiten und Anhänglichkeiten an irdische und geistige Güter sowie an emotionale Muster. Sie gilt zugleich als Befreiung vom Karma und von der Notwendigkeit der Wiedergeburt.

Ich vertrete hier nun die These, dass das ethische Handeln ist in sich gut ist und von jedem bewussten Menschen als gut erkannt wird. Es ist also keine Karmalehre von Nöten, damit sich Menschen ethisch verhalten. Nur wer nicht erkannt hat, dass die Quelle der Ethik im eigenen Inneren und in den gesellschaftlichen Zusammenhängen liegt, braucht eine externe absolute Autorität (im Fall der monotheistischen Religionen) oder Konstruktionen, die als absolut gepredigt werden (im Fall der Reinkarnationslehre), um sich an ethische Regeln zu halten. Es ist in diesen Fällen nur die Angst vor Bestrafung, die dann vor unethischem Verhalten zurückschrecken lässt. Der eigenen inneren moralischen Autorität wird misstraut. 

Dieses Misstrauen hat auch seine Berechtigung. Denn diese innere Autorität kann sich nur dann ungebrochen entwickeln, wenn sie im eigenen Aufwachsen von den Eltern durch deren eigenes ethisches Verhalten gefördert wird. Hat die Entwicklung der Selbstautorität durch frühe Erfahrungen mit unethischen Autoritäten Schrammen erlitten, so wird eine äußere Autorität für die Antworten auf die großen Fragen des Lebens gesucht werden, entweder in Form einer in sich logisch erscheinenden Lehre oder in einer auf dem Glauben begründeten jenseitigen Autorität. Im Maß, in dem die eigene Integrität durch die Aufarbeitung der Verletzungen und Traumatisierungen gelungen ist, wird das Potenzial für das ethische Verhalten freigelegt und bereitgestellt. 

Dann ist gutes Handeln keine von außen aufgezwungene Anpassung an fremde Normen, sondern kommt aus dem eigenen Inneren kommende Wohlmeinen für die Mitmenschen. Mögen alle glücklich werden. Möge ich alles beiseitelassen, was diesem Glück im Weg steht, und alles in meinen Kräften Stehende tun, was dieses Glück befördert. Ethisches Verhalten hat die Belohnung in sich selbst, in der Bestärkung der eigenen Würde und Integrität und der Freude am Glück der anderen. 

Die Allgemeingültigkeit der Ethik 


Ethisches Handeln ist grundsätzlich allgemein einsichtig und nachvollziehbar. Es ist im Wesentlichen in allen Weisheitslehren und Religionen identisch: Es sollen die egoistischen Strebungen überwunden und stattdessen das gemeinschaftsdienlichen Leben gefördert werden. Diese selbstevidenten ethischen Grundsätze erwachsen aus der geheilten Seele. Es scheint, als würden sie alle Religionen aufgreifen, um ihre jeweiligen Konzepte der Todesbewältigung daran anzuhängen: Lebe gut, dann kommst du in den Himmel. Lebe gut, dann erwartet dich ein besseres Leben im nächsten Leben. Lebe gut, dann gehst du ins Nirvana ein. In Summe: Nur wenn du dich an die Religion hältst, kannst du dich ethisch richtig verhalten. Und damit ist es allein die Religion, die dir ein diesseitig und jenseitig erfülltes Leben garantieren kann. 

Diese Schlussfolgerungen gelten nur solange, solange wir nicht erkannt haben, dass die in sich einleuchtenden ethischen Leitlinien keine Religion brauchen, um verstanden und angewendet zu werden. Dazu kommt, dass alle Religionen in ihrer historischen Praxis genügend spezielle Probleme in Hinblick auf die Anwendung der Ethik gehabt haben und haben und viele Schlupflöcher aufweisen, über die sich dann das unethische Handeln breitmachen kann, unter dem heuchlerischen Denkmantel der Frömmigkeit. Aus der Geschichte ist es schwer möglich, die Wirksamkeit der Religionen auf die Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten zu begründen. Vielmehr gibt es die Phänomene, dass religiöse Inhalte als Grundlage für Ausreden bezüglich des ethischen Handelns verwendet werden. Hier ein Beispiel aus der Karma-Lehre: Es kann jemand behaupten: Mein vergangenes Leben hindert mich daran, jetzt gute Handlungen zu tun. Aufgrund meines Karmas kann ich nicht anders als anderen Menschen zu schaden. Oder im christlichen Kontext: Ich habe schon so schwer gesündigt, da macht es dann keinen Unterschied mehr, wenn ich noch ein paar Sünden anhänge.

Die universelle Gerechtigkeit und die Karma-Lehre


Die Karma-Lehre gilt bei ihren Anhängern als Garantin nicht nur für die persönliche Moral, sondern auch für eine universelle Gerechtigkeit. Manchmal fragen wir uns, warum Menschen, die offensichtlich viel Böses begehen, damit einfach wegkommen, nicht im Gefängnis landen und nach einem langen Leben einen friedlichen Tod inmitten von Reichtum sterben. Andererseits gibt es Menschen, die offensichtlich so viel Gutes tun, aber keinen Lohn ernten, sondern alle möglichen Leiden auf sich nehmen müssen. Das ist doch ungerecht: Wer Böses tut, soll dafür bestraft werden und selber leiden. Wer Gutes tut, soll ein gutes Leben haben. Laut Karma-Lehre kommt die Strafe unweigerlich, wenn nicht im aktuellen, dann in einem nächsten Leben. Das kann das Gerechtigkeitsempfinden beruhigen, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass es die Reinkarnation tatsächlich gibt. Sollte sich herausstellen (und das wissen wir, wenn überhaupt, erst nach unserem Tod), dass es ein neues Leben in einem neuen Körper gar nicht gibt, schauen wir durch die Finger und das ganze Gerechtigkeitskonzept bricht in sich zusammen wie ein Kartenhaus. 

Im christlichen Weltbild tröstet die Vorstellung, dass Bösewichter in der Hölle schmoren müssen und die Braven in den Himmel kommen. Sie sorgt ebenfalls für eine ausgleichende Gerechtigkeit. Auch hier ruht die entscheidende Voraussetzung, das Weiterleben nach dem Tod und die Existenz von Himmel und Hölle, auf tönernen Füßen. Was aber haben wir wirklich davon, dass das Böse seine gerechte Strafe findet? Böses Handeln muss bestraft werden, weil es die Gemeinschaft schädigt und ein friedvolles Zusammenleben behindert. Dafür sorgen das Polizeiwesen und der Rechtsstaat. Aber deshalb müssen wir einem Übeltäter keine bösen Gedanken schicken und ihm Böses wünschen – auch wenn das eine sehr menschliche Reaktion ist, vor allem, wenn uns selber das Böse widerfahren ist. Sind wir da nicht in einem Rachedenken verfangen? Spielen wir uns da nicht als Richter über andere Menschen auf? Sind solche Anmaßungen wirklich moralisch, oder tragen sie selber wieder zu schlechtem Karma bei oder bringen uns der Hölle ein Stück näher?

Ethik ohne Religion


Weiters stellt sich die Frage, ob wir auch mit dem Verzicht auf die Vorstellung von universeller Gerechtigkeit im Sinn des Karmaprinzips leben können. Es könnte sich um ein Konzept handeln, das aus einer beschränkten Sichtweise auf das Gute und Böse stammt und mit Maßstäben hantiert, die aus der eigenen Lebenserfahrung stammen, aber keine absolute Gültigkeit beanspruchen können. Oder hören wir dann auf, uns ethisch zu verhalten, weil es sowieso keine Konsequenzen hat? Wäre die Ethik nur ein Unterfangen, das funktioniert, weil böse Handlungen noch bösere Folgen haben und wir uns deshalb notgedrungen für das Gute entscheiden, dann braucht es eine transzendente Absicherung. Tun wir Gutes nur, weil uns dafür eine Belohnung winkt, ist es eigentlich kein Gutes, wie uns schon Immanuel Kant gezeigt hat, und wie wir das auch intuitiv spüren. Das Gute soll aus uns selber kommen und getan werden, gleich welche Reaktionen es nach zieht, gleich, ob wir daraus einen Gewinn ziehen oder nicht. Handeln wir nur aus der Suche nach einer entsprechenden Kompensation, so geht es uns um diese und nicht um die Verbesserung der Welt und des Lebens unserer Mitmenschen. 

Dazu kommt, dass wir uns nicht anmaßen sollten, zu wissen, was es mit der universellen Gerechtigkeit auf sich hat. Unser Denken, Konzeptualisieren und Ethisieren ist immer beschränkt und nicht geeignet, Aussagen über etwas Universelles zu tätigen, weil wir viel zu stark im Relativen befangen sind. Was wissen wir wirklich über das Ausmaß des Guten und des Bösen in der Welt? Was wissen wir über das Ausmaß des Guten und des Bösen in einzelnen Menschen, uns selber mit eingeschlossen? Wenn es eine geistige Instanz hinter allem gibt, die alle Fäden in der Hand hat und die Geschicke der Welt lenkt, muss sie so unendlich sein, dass wir sie mit unserem kleinen Geist nie fassen, geschweige denn nachzeichnen könnten. Wir können fantasieren, was das Richtige und das Falsche, das Gute und das Böse wäre, aber in diese Fantasien fließen immer unsere relativen Werte und Normen, unsere selbstgestrickten und übernommenen Ansichten hinein. 

Es scheint, dass die Vorstellungen einer universellen ausgleichenden Gerechtigkeit mehr unsere narzisstische Selbstüberhöhung bestätigen als mehr zur Erkenntnis der Wirklichkeit oder zur Verbesserung der Menschheit beitragen. Vielmehr sind sie von einer grundlegenden Redundanz gekennzeichnet, in dem Sinn, dass alles, was geschieht, dadurch erklärt wird, dass es dem Prinzip entspricht. Das Prinzip stimmt immer und hat immer Recht; der Preis für diese selbstbezogene Logik ist allerdings der Verlust an Bedeutung und Sinn, sie liefert keinen Erkenntnisgewinn. Handelt jemand böse, so kommt er in einer Vorstellungswelt in die Hölle, in einer anderen muss er ein schlechteres nächstes Leben auf sich nehmen. Es könnte so sein oder auch anders, das ist alles, was wir vom Standpunkt der menschlichen Vernunft aus sagen können: Wir wissen es nicht und können nie zu diesem Wissen gelangen. Die Prinzipien sind so angelegt, dass sie nicht überprüft werden können, sondern der Willkür des Glaubens unterliegen: Jeder kann glauben, was er will. 

Schließlich dürfen wir noch die Frage stellen: Ist die Welt besser geworden, weil die Menschen für ihre Untaten möglicherweise in die Hölle kommen oder als Wurm wiedergeboren werden? Vielleicht haben die Glaubenssysteme dazu beigetragen, dass sich in voraufgeklärten Zeiten die Menschen aus Angst vor negativen metaphysischen Konsequenzen mehr dem Guten zugewandt haben, aber selbst über diese These können wir nur spekulieren und genug Gegenbeispiele zitieren. Die Menschheitsgeschichte ist voll von Verbrechen und Grausamkeiten; ob es heute weniger oder mehr sind als in früheren Zeiten, können wir nicht berechnen und werden es auch nie berechnen können. Denn Leid ist nicht in Zahlen übersetzbar und immer subjektiv. 

Wenn wir das Gute und das Böse unterscheiden, brauchen wir einen ethischen Maßstab. Jeder Maßstab ist relativ, es gibt keinen, der für ein universelles Gesetz taugt, außer er ist so allgemein formuliert wie der kategorische Imperativ und muss dann für jeden Einzelfall konkretisiert und interpretiert werden, womit unweigerlich subjektive, zeit- und sozialgebundene Einflüsse dazukommen. Deshalb wird die letztliche ethische Autorität an eine oberste Instanz delegiert, über deren Bewertungskriterien wir wiederum kein Wissen haben. Allenthalben geraten wir an Punkte, an denen wir völlig im Dunkeln tappen, und unsere Fantasieprojektionen, die wir dann entwickeln, helfen uns auch nicht weiter.

Die unüberwindliche Beschränktheit der menschlichen Erkenntnis


Ludwig Wittgenstein hat bekanntlich seinen Tractatus mit dem Satz beendet: „Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“ Wir können diesen Satz hier weiterspinnen: Worüber es kein Wissen, sondern nur Spekulation gibt, darüber sollten wir bescheiden den Mund halten und mit dem Vorlieb nehmen, was uns mit unserer menschlichen Beschränktheit erkennen, wissen und erspüren können. Und über alles, was darüber hinausgeht, können wir nur mit den Achseln zucken. 

Für alle, die dennoch an die Karmalehre glauben wollen, schlage ich ein kleines Experiment vor: Wann immer sich das Thema in Gedanken meldet, indem wir z.B. an Ungerechtigkeiten in der Welt und im eigenen Leben denken, kurz innezuhalten: Was ändert sich dadurch, dass ich dieses Modell beiseite lasse und stattdessen meine Erkenntnisgrenzen akzeptiere? Wird mein aktuelles Leben einfacher oder komplizierter, leichter oder schwerer? Fühle ich mich besser oder schlechter? Oder macht es überhaupt keinen Unterschied? 

Wir sind frei in dem, was wir glauben und was nicht; wirklich frei aber nur, wenn wir alle Ängste erkannt und gelöst haben, die hinter unseren Glaubensbedürfnissen stehen. Dann fällt es uns leicht, zu der Beschränktheit unserer Einsichts- und Erkenntnisweisen zu stehen und das Illusionäre an den großen Antworten auf die großen Fragen zu durchschauen. 

Zum Weiterlesen:

Donnerstag, 16. Juni 2022

Kindsein und Erwachsenensein

Die Kindheit ist eine begrenzte Phase, sie endet spätestens mit der Volljährigkeit, zumindest offiziell und dem Gesetz gemäß. Die Zeit des Spielens ist vorbei, der Ernst des Lebens beginnt, so lautet die traditionelle Richtschnur für diesen Übergang, der in der Regel den Abschied vom Elternhaus und die Begründung des eigenen Lebens unabhängig von den Bedingungen des Herkommens beinhaltet. 

Wir wissen zwar, dass wir in manchen Situationen emotional in die Kindheit zurückfallen, wenn wir uns z.B. maßlos über etwas ärgern oder an kleinen Dingen des Lebens verzweifeln oder bestimmte Gewohnheiten, die wir eigentlich loswerden wollen, nicht überwinden können. Wenn uns dringende Bedürfnisse plagen, können wir ungeduldig wie Kleinkinder werden. Wir sehen diese Rückfälle aber als Ausnahmen von der Regel und fühlen uns im Allgemeinen als Erwachsene, die die Kindheit schon lange hinter sich gelassen haben. Meistens sind solche Erlebnisse mit Scham gepaart, sie sind uns peinlich. Schließlich wollen wir als voll kompetente Erwachsene gelten, die sich keine Ausrutscher leisten und alle Dinge des Lebens gut im Griff haben. Wir wollen auch so von unseren Mitmenschen gesehen werden und erwarten, dass wir auf diese Weise und nur auf diese Weise Achtung und Respekt bekommen. Das Kindliche bezeichnen wir als kindisch, also als einen Mangel an Erwachsenensein und Reife. 

Wirkliches und reifes Erwachsensein ist dagegen inklusiv, indem es das Kindsein nicht ausschließt, sondern mit umfasst. Diese Haltung speist sich aus der Gesamtheit der Vorerfahrungen, bei denen jene aus der Kindheit eine besondere Bedeutung tragen. Wir sind in Frieden mit den Schwierigkeiten aus unserer Lebensgeschichte und nehmen aus jeder Lebensphase wertvolle Ressourcen für die Bewältigung der Alltagsherausforderungen mit. Solange wir einen Gegensatz zwischen dem Kindlichen und dem Erwachsenen für uns festhalten, sind wir mit unserer inneren Kindseite nicht versöhnt. 

Wenn wir hingegen das Kindsein als integralen  Bestandteil des Erwachsenenseins erkennen und verkörpern können, verfügen wir über einen offenen Zugang zu lebenswichtigen Quellen für Lebendigkeit und Kreativität in unserem Inneren. 

Werden wie die Kinder

„Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen“ (Mt 18,3). Vielleicht können wir diese Bibelstelle so verstehen: Wenn ihr es nicht schafft, im Moment zu sein und von Moment zu Moment das Leben neu zu erfinden, werdet ihr kein Glück finden. Ihr werdet getrieben sein, den Idealen des Erwachsenseins nachzulaufen mit dem Gefühl, sie nie zu erreichen und zu erfüllen. Wenn ihr dem Kindlichen keinen Raum in eurem Innenleben gebt, findet ihr keine Ruhe.

Das Kind ist der Vater des Mannes

Dieser bekannte Satz von William Wordsworth (1802) wird so verstanden, dass das Kindsein eine prägende Wirkung auf das Erleben und Verhalten der Erwachsenen ausübt. Wir sind in gewisser Weise Produkte unserer Kindheitserfahrungen und der in dieser Zeit widerfahrenen Traumatisierungen. In dem Sinn, wie wir von unseren Vätern und Müttern gelernt haben, ist es wichtig, dass wir aus dieser Erfahrungsmenge lernen. Das Herauswachsen aus den kindlichen Prägungen ist die Arbeit des Reifens. Es besteht im bewussten Zurücklassen der vergangenen Erfahrungen und im Herausschälen der eigenen Identität, indem die elterlichen Erwartungen distanziert werden und die eigenen Ideale und Werte gefunden und gelebt werden, die ihre Wurzeln im kindlichen Welterfahren haben. 

Das innere Kind

Das „innere Kind“ ist keine Instanz, die nur in der Vorstellung existiert und in der Therapie genutzt wird, um verletzte und traumatisierte Anteile der Seele aufzuarbeiten. Vielmehr ist es ein permanent wirksamer Aspekt von uns selbst,  also ein wichtiges Element des Erlebens und Verhaltens. Es ist ein ganz zentraler Teil unserer Geschichte, aus den Jahren, in denen wir die emotionale Basis für den Rest unseres Lebens gebildet haben. Da wir nichts anderes sind, als das vorläufige Ergebnis dieser Geschichte, gehört es ganz intim zu uns. Es ist lebendig in allen Gefühlsregungen, in unserer Intuition, in unserer Neugier und Spielfreude.

Erwachsenwerden

Erwachsenwerden ist eine komplexe und langwierige Geschichte, die vermutlich ein Leben lang dauert. Es ist in dem Maß erfolgreich, in dem das Kindsein mitschwingen und mitwirken darf. Wenn das der Fall ist, bleiben wir in Balance zwischen Verantwortung und Flexibilität, zwischen Ernst und Leichtigkeit, zwischen Disziplin und Spontaneität. Wenn eine Seite zu stark überwiegt, kommen wir nicht weiter, sondern stecken entweder in einer Verbissenheit fest oder verlieren uns in Zerfahrenheit und Beliebigkeit. „Das Leben ist ein Kampf“: Das ist ein Satz aus dem verkrampften Erwachsenen-Ich, das auf das Kind vergessen hat. Erwachsensein ist so lange mühsam und anstrengend, als es den Bezug zum Kindlichen verloren hat und es nur mehr als kindisch abwertet.

Erwachsensein ist ebenso vielschichtig und mehr ein Projekt in Entwicklung als ein dauerhafter Zustand. Es muss in jedem Moment neu erfunden und neu gestaltet werden. Es beinhaltet die Reflexion, also die Selbstüberprüfung und Evaluierung. Teil dieser Selbsteinschätzung sollte immer auch sein, ob das Kindsein einen gebührenden Platz einnimmt und immer wieder zum spielerischen Umgang mit den Herausforderungen des Erwachsenseins einladen darf.

Das Erwachsenwerden ist nur in dem Maß möglich, in dem die Fundamente in der Kindheit dafür gelegt und ausreichend versorgt wurden. Wer unter materiellem Mangel leiden musste, kann sich als Erwachsener mit eigenen Kräften für den Aufbau eines guten Lebens einsetzen.  Wer emotionalen Mangel erlitten hat, wird sich schwer tun, auf dieser Ebene erwachsen zu werden. Er wird versuchen, den Mangel in Beziehungen auszugleichen und die Verantwortung für diesen Mangel nach außen auslagern, also anderen Menschen umzuhängen. Doch diese Strategie ist selber mangelhaft. Nur die verantwortungsvolle innere Auseinandersetzung mit den unerfüllten Bedürfnissen und offenen Gefühlszyklen holt die Entwicklungsversäumnisse nach und bessert das Fundament aus, wo es nicht stabil genug ist.

Verantwortungsübernahme

Erwachsensein hat mit Verantwortungsübernahme zu tun. Kinder tragen keine oder nur wenig Verantwortung für ihr Leben. Kindsein heißt, dass immer jemand anderer da ist, der dafür sorgt, dass alles, was zum Leben notwendig ist, vorhanden ist, materiell und emotional. Die Erziehung besteht darin, den Kindern immer mehr Verantwortung zu übertragen, bis sie diese ganz selber übernehmen können. Dann hat die Erziehung ihr Ziel erreicht und wird überflüssig. 

Die Erwachsenenverantwortung ist umfassend. Sie bezieht sich auf alles, was wir erleben, ob es unserem Tun oder Erfahren entspringt. Wir haben die Verantwortung für unsere Gefühle und Reaktionsweisen, für unsere Handlungen und ihre Folgen und für die Beziehungen, in denen wir leben.

Mit dieser Verantwortung verbunden ist die Autonomie. Sie bedeutet, sich selber die Regel geben zu können und sich daran zu halten. Erwachsene haben ein klares Verhältnis zur Selbstdisziplin und legen selbst die Prioritäten in ihrem Leben fest. Sie treffen die Entscheidungen, die für sie stimmen und an die sie sich dann halten. Sie geben sich die Orientierung in ihrem Leben selbst und legen die Werte fest, nach denen sie sich ausrichten. Sie passen ihre Orientierung immer wieder an die äußeren Gegebenheiten und ihre Erfordernisse an. Die dafür notwendige Disziplin muss aber nicht stur sein, sondern kann sich, wenn der Einfluss des Kindlichen zur Mitwirkung eingeladen ist, geschmeidig an die unterschiedlichen Situationen anpassen. 

Das Erwachsensein, das ein gutes Verhältnis zum Kindsein hat, hat ein klares Bewusstsein für das Spielerische, das immer dort zu Hilfe gerufen werden kann, wo die Erwachsenenlogik an ihre Grenze stößt und ein neuer Zugang die Verwirrung oder Verkrampfung lösen kann. Wenn das Erwachsenen-Ich mit der Wirklichkeit zu kämpfen beginnt, sollte das kindliche Ich einspringen und mit seiner Leichtigkeit und Fröhlichkeit das Spielerische beisteuern, das noch jeden Karren aus dem Dreck gezogen hat.

Zum Weiterlesen:
Das Kind in uns
Der Raub des Selbst
Der Narr