Samstag, 29. August 2015

Die zuträgliche Leichtigkeit und die Schwere

"Das Leben ist schwer" hören wir vermutlich wesentlich öfter als: "Das Leben ist leicht".
Wer leichtlebig ist, erfreut sich keinen guten Rufs. Wer es schwer hat, verdient Mitleid. Alles, was leicht geht, ist verdächtig. Wir müssen uns unser Leben erst verdienen, möglichst durch hartes und konsequentes Arbeiten, damit der biblische Fluch, dass wir unser tägliches Brot nur im Schweiß unseres Angesichts erwerben können, auch Recht behält.

Wie können wir uns von dem Fluch erlösen? Es kann doch nicht sein, dass am Anfang der Bibel den Menschen eine anthropologische Konstante, noch dazu in Form eines Fluches, von höchster Stelle aufgebrummt wurde, die wir niemals mehr loswerden können? Was, wenn es sich um eine Beschreibung der Menschen handelt, die unter erschwerenden Bedingungen entstanden ist und einer Notsituation Ausdruck gibt, aber nicht das Wesen des Menschen für alle Zeiten festlegt, unabhängig von historischen und sozialen Umständen?

Was schwer ist, drückt uns nieder, engt uns ein und macht uns klein. Es raubt uns den Atem und die Freiheit. Alles wird mühsamer und anstrengender. Freude und Genuss sind verpönt, Anspannung muss sein, jedes Nachlassen bedeutet Gefahr. Die Schwere ist eine Folge der Angst, die Angst ist eine Folge der Verängstigung. Ängste entstehen, wo etwas bedroht und das Ausmaß an Sicherheit zu gering ist. Die Rede ist vor allem von den frühesten Zeiten unserer Existenz, von der Empfängnis angefangen bis in unsere Kindheit und Jugend. Mit dem Älterwerden können wir mehr und mehr für unsere Sicherheit selber sorgen, doch plagen uns immer wieder Ängste, die sich aus den frühen Zeiten melden, weil wir uns mit ihren Wurzeln nicht beschäftigt und bewusst auseinandergesetzt haben.

Der biblische Fluch verheißt uns also, dass wir immer von Ängsten belastet sein werden. Die Botschaft der Erlösung dagegen sagt, dass wir uns befreien können von allen Verfluchungen. Wir sind nicht an die Schwere angekettet. Befreiung heißt, leicht werden, weit und offen. Das, worum wir die Vögel beneiden: die Flügel ausbreiten, kurz flattern und schon sind wir leichter als die Luft. Wir entkommen der Schwerkraft, mit der uns die Erde an sich klammern will.

Die innerliche Leichtigkeit braucht nicht einmal Flügel. Sie will die innere Schwere überwinden, die durch unsere Ängste und Sorgen entstanden ist. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass wir den Raum der Liebe betreten können. Solange wir uns schwer fühlen, sind wir auf uns selber fixiert. Wir schleppen uns dahin und unser Blick geht nach unten, sodass wir die anderen gar nicht wirklich wahrnehmen können. Unsere alten Belastungen halten uns gefangen, und wir haben keine Kapazität, uns über uns selbst hinaus zu weiten. Zu sehr sind wir gefangen von unseren Problemen. So denken wir uns den Kopf wund, um einen Ausweg aus der Schwere zu finden, und belasten uns nur noch mehr.

Das Sein ist leicht, und diese Leichtigkeit muss nicht unerträglich sein, im Gegenteil, sie ist uns höchst bekömmlich, und wir sollen sie, sobald sie uns geschenkt ist, in vollen Zügen genießen. Denn erst dann sind wir Menschen im vollen Sinn, weil wir erst dann liebesfähig sind. Die Liebe kommt nur auf leichten Sohlen. Sie verschenkt sich aus dieser Leichtigkeit heraus, indem sie das leicht macht, was sich so schwer anmutet.

Die Liebe, die wir einander entgegenbringen, ist also die Medizin, die uns zur Leichtigkeit im Leben verhilft. Und die Leichtigkeit im Leben verhilft uns dazu, dass wir gewährende und gebende Menschen werden können, die aus der Fülle füreinander da sind. So können wir uns gegenseitig von der Schwere befreien.

"Wir alle halten es für undenkbar, dass die Liebe unseres Lebens etwas Leichtes, etwas Gewichtsloses sein könnte." (Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins)

Freitag, 28. August 2015

Das Erbe und die Endgültigkeit

Quelle: Berliner Zeitung
Familien können über einen Erbstreit auseinanderfallen – Geschwister können sich nicht mehr in die Augen schauen, Eltern vergrämen die Kinder, Hinterbliebene lamentieren den Rest ihres Lebens über entgangenen Reichtumsgewinn aus einem Erbe.

Hinter den vielfältigen und unterschiedlichsten Konstellationen, die durch die Weitergabe von Gütern nach dem Tod entstehen können, möchte ich auf eine Dynamik hinweisen, die innerpsychisch hinter der massiven Emotionalität steckt, die durch Erbangelegenheiten ausgelöst werden kann. Ich gehe dabei nicht darauf ein, was manche Erblasser mit ihrem Testament machen, indem sie z.B. die „Braven“ belohnen und die „Schlimmen“ bestrafen wollen. Mit solchen Aktionen werden bestehende Konflikte bis über das eigene Grab hinaus weiter geschürt. Ich lasse auch den Aspekt der Geschwisterrivalitäten beseite, die aus der Kindheit stammen und bei Erbstreitigkeiten heftig aufbrechen können. Ich möchte hier auf einen anderen Gesichtspunkt hinweisen.

Ein Erbe zu bekommen, sollte eigentlich als Geschenk empfunden werden: Wir haben, was wir haben, und bekommen ohne weitere Leistung etwas dazu. Ein Erbe haben wir uns nicht verdient (außer wir verstehen uns als haupt- oder nebenberufliche Erbschleicher). Jedenfalls sollten wir unser Leben nicht darauf ausrichten, irgendwann ein Erbe zu bekommen, weil wir dabei auf den Tod einer Person spekulieren.

Erben ist mit dem Tod verbunden. Jemand stirbt und hinterlässt seine Güter. Wenn jemand in unserer Umgebung stirbt, werden wir an unsere eigene Endlichkeit erinnert, und das macht uns Angst. Um diese Angst, die uns meist nicht bewusst ist, zu bewältigen, wollen wir uns die Güter der verblichenen Person sichern. Dinge geben Sicherheit, je mehr davon, desto mehr Sicherheit, je weniger davon, desto mehr Angst. Darum streiten wir, oft mit den unfairsten Mitteln und mit gieriger Zähigkeit, möglichst viel für uns aus dem Kuchen herauszuschlagen. Wir wollen aus dem Tod einer Person möglichst viel Leben für uns herausschlagen.

Natürlich ist die Hoffnung illusorisch, durch möglichst viel Haben mehr Leben zu sichern und den Tod zu besiegen. Wir können uns eben nichts mitnehmen, wenn wir dran sind zu gehen, soviel auch immer wir angehäuft haben. Vielleicht können wir den Zeitpunkt des Todes hinauszögern, wenn wir mehr Reichtum auf der Seite haben: Reiche leben länger als Arme, das weiß auch die Statistik. (Eine Reise vom 1. Wiener Bezirk in den 15., Dauer 10 Minuten mit der U-Bahn, also von einem reichen zu einem armen Bezirk, ist auch eine Reise von hoher zu wesentlich geringerer Lebenserwartung.) Aber früher oder später müssen auch die Reichen das Zeitliche segnen, das wissen wir spätestens seit dem Jedermann.

Es ist also unsere eigene Endlichkeit, an die wir erinnert werden, wenn jemand stirbt. Und diese Erinnerung wird an das Dingliche geknüpft, wenn wir eine Erbschaft machen. Unser Unbewusstes versucht, sich vor dem Grauen des eigenen Endes zu schützen, indem es uns auffordert, möglichst viel aus der Verlassenschaft der verstorbenen Person auf unsere Seite zu bringen. Wir können uns dann ganz auf das konzentrieren, was wir besitzen, damit haben wir genug zu tun und müssen nicht an den eigenen Tod denken.

Die Endgültigkeit des Todes spiegelt sich in der Endgültigkeit einer Erbverhandlung. Wenn die Entscheidung gefallen ist, ist sie endgültig. Deshalb müssen wir gleich mit voller Vehemenz auftreten, um unseren Anteil an der Hinterlassenschaft zu reklamieren. Mit der Abhandlung des Erbes akzeptieren wir auch den Tod der verstorbenen Person endgültig. Doch geht das leicht unter, wenn wir bei der Aufteilung des Erbes unsere Gier befriedigen.

Die Endgültigkeit, die uns immense Angst verursacht, spielt also hinter den Kulissen die eigentliche Regie, wenn Erbstreitigkeiten ausbrechen. So erfinden wir immer wieder Ablenkungen vor der Radikalität des Lebensendes. Unsere Gier nach Gütern und Besitzobjekten ist eine von vielen. Je mehr wir diese Ablenkungen durchschauen, desto weniger binden wir uns an Dinge und gewinnen den inneren Freiraum für das, was hinter den Dingen liegt.

Dienstag, 18. August 2015

Zellgedächtnis: Belege in der Wissenschaft

Das Zellgedächtnis ist eine Theorie, die wir brauchen, wenn wir pränatale
Psychotherapie betreiben. Ohne diese Annahme wüssten wir nicht, warum wir unter den für Regression geeigneten Umständen und Methoden, z.B. vertieftes Atmen und angeleitete Rückführung, zu Erinnerungen aus einer Zeit unserer Geschichte fähig sind, in der es kein Großhirn gegeben hat, und im Extremfall nicht einmal Nervenzellen, sondern nur eine einzige Zelle.

Viele Menschen haben beispielsweise schon die Erfahrung gemacht, wie es sich anfühlt, eine frisch befruchtete Eizelle zu sein oder konnten sich in das Sperium einfühlen, das zu ihrer Befruchtung unterwegs ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Geschichte über den Pränatalforscher William R. Emerson, der vor einigen Jahrzehnten bei einer Innenerforschung ganz deutlich erlebt hat, wie sich die Eizelle, aus der er später entstanden ist, nach dem Eisprung rollend im Eileiter vorwärtsbewegte. Nach damaligem Wissensstand gab es kein Rollen in dieser Vorwärtsbewegung. Doch genauere Forschungen einige Jahre später bewiesen, was Emerson erlebt hatte. Offenbar, wenn es sich nicht um einen - recht unwahrscheinlichen - Zufall handelt, ist es ihm gelungen, das Gedächtnis seiner Eizelle wachzurufen, die die Form ihrer Bewegung abgespeichert hat.

Dennoch ist die Theorie, dass Zellen in der Lage sind, Gedächtnisinhalte zu speichern, sodass sie später abgerufen werden können, bisher in den empirischen Wissenschaften mangels Beweisen als Spekulation abgetan worden. Sogar die Erforschung des Wissensgedächtnisses im Gehirn ging davon aus, dass langlebige Erinnerungen nicht in darauf spezialisierten Gehirnzellen abgespeichert sind, sondern in den berühmten Synapsen, den Zwischenräumen zwischen einzelnen Neuronen, der mittels bioelektrischer Impulse überwunden wird. Degeneriert das synaptische Netzwerk, so wird der Gedächtnisinhalt vergessen.

Forschungen (im Online-Journal eLife publiziert) an Meeresschnecken haben nun ergeben, dass Nervenzellen tatsächlich in der Lage sind, Erinnerungen zu speichern, in diesem Fall, wieviele Synapsen sie bilden müssen. In dem Experiment wurden die Nervenzellen zuerst dazu gebracht, mehr Synapsen zu produzieren, und dann dazu, diese wieder zu reduzieren. Die Neuronen kamen nach der Stimulation und anschließenden Hemmung genau bei der gleichen Anzahl von Synapsen wieder an, wie sie anfangs spontan selber produziert hatten, obwohl auch neugebildete Synapsen bei den übriggebliebenen waren. Also musste die Nervenzelle wissen, wieviele Synapsen sie bilden sollte, sprich, sie musste über einen Begriff von Zahl verfügen. Jedenfalls kündigt sich damit ein neues Paradigma in der Gedächtnisforschung an, das die Theorie des Zellgedächtnisses empirisch bestätigt. Weiters hieße das, dass Erinnerungen nie wirklich verloren gehen, sondern dass wir den Zugang dazu durch mangelnde Nutzung verlieren können.

Das Forschungsergebnis ist insoferne überraschend, weil daraus hervorgeht, dass eine Nervenzelle weiß, wieviele Synapsen sie bilden soll, was nur geht, wenn es eine Art von Gedächtnis dafür gibt. In einem ähnlichen Experiment mit lebendigen Meeresschnecken, in dem die Forscher herausfanden, dass das Langzeitgedächtnis völlig gelöscht (gemessen an den zerstörten Synapsen) und dann mittels einem nur kleinen Erinnerungsreiz neugebildet werden kann, ergibt sich ebenfalls die Annahme, dass es Informationen gibt, die im Körper eines Neurons gespeichert war.

Der Forschungsleiter David Glanzman, ein Neurologe an der University of Califormia (L.A.) verglich die Synapsen mit den Fingern eines Konzertpianisten. Selbst wenn Chopin keine Finger mehr hätte, würde er noch immer wissen, wie er seine Sonaten spielen muss.

Unklar ist dabei noch immer, wie die Zellen wissen können, wo sie die Synapsen anbringen und wie stark sie sind — was zentrale Komponenten der Erinnerungsspeicherung sind. Die Forschungen lassen vermuten, dass die Synpasen nicht versteinern, wenn sie Gedächtnisinhalte aufzeichnen: Sie können allmählich verschwinden und sich neubilden, wie eine Erinnerung zunimmt und abnimmt.

Quelle: http://www.scientificamerican.com/article/could-memory-traces-exist-in-cell-bodies/

Freitag, 14. August 2015

Mitgefühl hat keine Grenzen

Die Informationen, die über die Medien auf uns hereinprasseln, sind zum größten
Teil negativ: Dort ist eine Bombe explodiert, da sind Flüchtlinge ertrunken, dort ist ein Krieg aufgeflammt, da werden Menschen unterdrückt und ausgebeutet, und die Zerstörung der Natur geht ohne Unterlass weiter.

Manche Leute sagen, dass es besser ist, die Medien zu ignorieren oder zu boykottieren, weil sie nur von Katastrophen und Schrecklichkeiten berichten und damit Ängste schüren und das innere Gleichgewicht stören. Was macht es für einen Sinn, sich den Grausamkeiten dieser Welt medial auszusetzen, wo doch nichts dagegen getan werden kann?

Es stimmt, dass der Medienkonsum unsere Ängste vermehren kann. Und es stimmt, dass es niemandem, am wenigsten uns selbst hilft, wenn wir unter Ängsten leiden. Doch ist es wohl ein Vogel-Strauß-Trugschluss zu meinen, dass die Ausblendung aller negativen Informationen die Ängste löst und uns zu einem ruhigeren Leben verhilft. Vielmehr stammen diese Ängste aus anderen Ursachen, und sie werden durch die Medien nur wachgerufen. Wenn es nicht die Medien sind, finden sich genügend andere Auslöser für unsere Ängste. Hätten wir das entsprechende Maß an Entspanntheit, könnten uns selbst die schlimmsten Katastrophen und Gräueltaten nicht in Angst versetzen. 

Deshalb liegt es in unserer Verantwortung, unsere Ängste in unserem Inneren zu lösen. Dann können wir der Welt und allem, was sie am Gutem, Schlechtem und Bösen hervorbringt, gelassen begegnen. Gelassen heißt nicht blind zu sein, sondern wach und bewusst. Es wird nichts an dem Schrecklichen verharmlost, nur bleibt die innere Reaktion ruhig, weil Außen und Innen nicht verwechselt werden.


Globale Schicksalsgemeinschaft


Es gibt noch einen anderen Grund, warum die Abstinenz von der Negativität der Welt kein wirklicher Ausweg ist. Selbst wenn wir unsere Ängste nicht zur Gänze aufgelöst haben, kann es nicht der Weisheit letzter Schluss sein, die Augen zu schließen und in die eigene kleine Welt abzutauchen. Schließlich sind wir eine Welt- und Menschengemeinschaft, unterwegs auf dem Planeten Erde im weiten Weltraum. Was sich darauf an irgendeinem Ort abspielt, betrifft uns in gewisser Weise immer auch selber. Wir können uns nicht abschotten und eine Inselgemeinschaft gründen, in der alles in Butter ist. Selbst wenn wir die medialen Kanäle verstopfen, die überall in unser Leben hineinragen, bleiben wir beeinflusst von dem, was sich tut auf der Welt, ob nah oder fern. 


Jede Grenze des Mitgefühls ist willkürlich


Manchmal ist es so offensichtlich wie die Flüchtlinge und Asylwerber, die das Elend ihrer Heimatländer zu uns tragen und uns vor Augen halten, manchmal wissen wir nicht einmal aus den Medien, dass irgendwo auf der Welt Kinder ausgebeutet werden oder Kranke ohne Beistand und Pflege sterben müssen. Gleich ob wir direkte Erfahrungen haben oder nichts davon wissen: Das Leid von einem Menschen hinterlässt Spuren in allen anderen. Wir spüren es nur deutlicher, wenn es einen Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung betrifft. Würden wir es genauso deutlich mit allen anderen Leidenden empfinden, könnten wir das gar nicht aushalten. Aber das heißt nicht, dass wir davon völlig unbeeindruckt sind. Die Auswirkungen auf uns sind nur so gering, dass wir sie nicht wahrnehmen, in Summe aber betreffen sie uns und unser Lebensgefühl sehr wohl.
Umgehen mit der Hilflosigkeit und Ohnmacht, mit dem Nichtübernehmen-Können von Verantwortung, weil unsere Macht begrenzt ist: in unserem immer begrenzten Rahmen Gutes tun und Nichtgutes vermeiden.

Menschliches Leid, in welcher Form auch immer und an welchem Ort auch immer, aktiviert unser Mitgefühl. Es steht uns nicht zu, uns einfach daraus zu stehlen. Unsere Verbundenheit darf nicht am Gartenzaun enden. Wo immer wir willkürlich eine Grenze für unser Mitgefühl einziehen (z.B. Mitgefühl ist nur angebracht, wenn es jemanden aus der eigenen Nation betrifft), verhärten und verschließen wir uns. Unser Denken soll unser Betroffensein ersticken: "Das geht uns nichts an, die gehören nicht zu uns."

Wir wollen uns in unserer Hilflosigkeit und Ohnmacht trösten und ablenken. Doch gehören diese Gefühle zu unserer Position im Ganzen. Wenn wir unsere Ohnmacht akzeptieren, statt sie wegzurationalisieren, zeigt sie auf unsere Macht. Wenn wir unsere Hilflosigkeit akzeptieren, erkennen wir, wo und wie wir helfen können.

Andererseits: Wir können auch nur unser Ausmaß an Mitgefühl leben, und das ist nicht unendlich, sodass es nie ausreicht für das unermessliche Leid, das auf der Welt besteht und tagtäglich von Neuem angerichtet wird. Wir haben eine begrenzte Kapazität an Tränen, die wir für all das Unglück vergießen können.


Mitgefühl und Verantwortung


Deshalb brauchen wir zweierlei:
Das Mitgefühl und die Klarheit über unsere Möglichkeiten und Verantwortung. Ohne Mitgefühl werden wir hart und urteilen überheblich über das Schicksal anderer Menschen: "Hätten sie doch das nicht getan, dann wären sie jetzt nicht in dieser Schwierigkeit." "Die sollen selber schauen, wie sie mit ihrer Katastrophe fertig werden." So grenzt sich der verhärtete Verstand ab von dem, was ihm Angst macht, und knebelt das Mitgefühl. 

Sind wir jedoch nur in der Weichheit des Mitgefühls, so drohen wir angesichts der Masse an Leid darin zu versinken. Soviele Tränen haben wir gar nicht, als es leidende Menschen gibt, und niemandem geht es besser, wenn wir sein Schicksal beklagen und bejammern. Mit der Klarheit über das, was wir tun können, wo wir Verantwortung tragen und wo unsere individuellen Grenzen liegen, können wir dem Mitgefühl zur Seite stehen und handlungsfähig bleiben. 

Ohne Mitgefühl bleiben wir blinde Egoisten und verfolgen nichts als den eigenen Vorteil, gleich was wir damit anrichten. Wenn sich jedoch das Mitgefühl mit der Handlungsfähigkeit verbindet, können wir unser Tun danach ausrichten, was zum Besten für uns und für die Leidenden ist. Wir überprüfen unser Handeln beständig an der Wirklichkeit, in der wir mit allen Menschen verknüpft sind. Deshalb hat jedes Tun einen Anteil daran, das Gute in der Welt zu vermehren oder zu vermindern. 
Das Mitgefühl macht uns darauf aufmerksam, dass es für diese Aufgabe kein Ende gibt. Es sagt uns jedoch nicht, dass wir die Verantwortung für das Aufheben des Leidens und die Heilung aller Verletzungen haben. Diese Weisheit müssen wir aus einer anderen Quelle schöpfen, aus der Klarheit unserer Vernunft. Sie sieht unsere Möglichkeiten und unsere Grenzen im Übernehmen von aktiver Verantwortung.


Die Freiheit des Dienens


Es gibt noch eine weitere Ebene, die die Dualität von Mitgefühl und Vernunft überspannt. Von ihr aus betrachtet, sind alle Phänomene des menschlichen Lebens nichts als ein universeller Tanz, ein göttliches Spiel, ein kosmischer Witz, und das Unglück und Leiden der Menschen Teil der Vielfältigkeit des Lebens. Diese Einsicht gilt jedoch nur so lange, als sie frei ist von Zynismus. Wenn sie auf dem Mitgefühl ruht, dient sie dazu, uns der Freiheit von Anmaßung und Hilflosigkeit zu versichern, die uns die klarste Kraft und Orientierung für unser Handeln gibt. 

Denn unser Part in diesem Spiel besteht im Finden der richtigen Weise des Dienens für die Entwicklung vom Schlechteren zum Besseren. In dieser Haltung tun wir alles, was in unserer Macht liegt, und erkennen zugleich die Grenzen dieser Macht, wo die eigene Verantwortung angrenzt an die von anderen Menschen. Weder als Einzelpersonen noch als Gruppen können wir alle Höllen dieser Welt in Himmel verwandeln. Jedoch ist jedes Stückchen Himmel, das wir erschaffen können, ein unermesslicher Beitrag, der uns selber so beglückt, dass wir mit unserer Kraft diesen Weg weitergehen, frei von Druck und Überverantwortung.

Samstag, 1. August 2015

Die einfache Lehre statt Meinung als Wissen

Manche spirituelle Lehrer liefern mit ihren Einsichten in das Wesen des Menschseins
Quelle: http://www.hybridwing.com/illustration/guru-mascot/
gleich Erklärungen über die Kosmologie und die Ethik mit: Wie alles entstanden ist, wie das Bewusstsein das Sein hervorgebracht hat, was mit den Seelen vor und nach einem individuellen Leben passiert, wie das Gute und das Böse im Universum ausgeglichen wird, ob alles bestimmt und von vornherein festgelegt ist usw.

Solche Fragen interessieren viele Menschen, und sie erwarten von Lehrern, die von sich behaupten, in die Tiefe des Unerklärbaren vorgestoßen zu sein, dass sie auch zu diesen Fragen kompetente Antworten bieten können. Viele Lehrer sind auch der Meinung, dass sie über eine kompetente Ansicht zu diesen Fragen verfügen. Die Innenerfahrung, die sie zu einer radikalen Selbsterkenntnis geführt hat, kann zu der Überzeugung verleiten, jetzt über letztgültige Antworten auf kosmologische oder ethische Fragen zu verfügen, die sie selber schon lange beschäftigt haben. Jetzt, wo ihnen das Wesen der Dinge offenbar geworden ist und die Welt des Scheins und der Illusionen durchstoßen wurde, wird auch klar, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Zu vielen dieser Einsichten gibt es konkurrierende und widersprechende Erkenntnisse. Menschen finden aufgrund ihres Bildungsweges unterschiedliche Antworten zu solchen Themen. Deshalb unterscheiden sich auch spirituelle Lehrer hier voneinander: Die einen halten z.B. die Lehre von Präexistenzen und von der Seelenwanderung für ein zentrales Lehrstück, während andere nichts davon halten. Die einen nehmen an, dass alles aus Bewusstsein entstanden ist, die anderen kennen nicht einmal einen Unterschied zwischen Sein und Bewusstsein. Die einen sehen das Böse als Illusion und Schein, die anderen als Reinigungsaufgabe auf dem Seelenweg.

Es gibt keinen Konsens und es gibt keine übergeordnete Instanz, die hier über richtig und falsch entscheiden könnte. Es gilt nicht einmal die korrektive Funktion der Forschergemeinschaft, die in den Wissenschaften dafür sorgt, dass Wissen durch Nachprüfung und kritischen Diskurs abgesichert werden kann. Jeder kann auf diesem Feld also behaupten, was er/sie will.

Alles, was widersprüchlich ist, weil es dazu konkurrierende gleichwertige Ansichten gibt, gehört nicht in die spirituelle Lehre, sondern ist im besten Fall Gegenstand eines philosophischen Diskussion, im weniger guten Fall Resultat esoterischer Spekulation. Wie man spiritueller Lehrer nicht einfach dadurch wird, dass man sich als solcher bezeichnet, sondern durch einen tiefgreifenden Erfahrungs- und Lernprozess, ist man auch nicht Philosoph dadurch, dass man Meinungen über kosmologische Fragen formulieren kann. Auch die Philosophie muss gelernt und geübt werden. Sonst fällt es schwer, Argumente, die begrifflich formuliert werden und einem kritischen Diskurs standhalten können, von zusammenfantasierten, gechannelten, schlampig zusammengeflickten und schlecht recherchierten Meinungen zu unterscheiden.

Die griechischen Philosophen haben nicht umsonst den Unterschied zwischen Meinung und Wissen eingeführt, um auf diesen Sachverhalt aufmerksam zu machen. Meinung ist subjektives Für-Wahrhalten, Wissen ist intersubjektiv und objektiv zustandegekommene Erkenntnis, die grundsätzlich nie fertig und abgeschlossen sein kann, sondern in einem Prozess des Werdens und der Weiterentwicklung steht, in beständiger Rückkoppelung zu einer Expertengemeinschaft und zum gesellschaftlichen Entwicklungsprozess. Subjektive Meinung hat keine über das Subjekt hinausgehende Verbindlichkeit und Verantwortung.

So bin ich bei manchen spirituellen Lehrern und Lehren versucht zu sagen: Schuster, bleib bei deinem Leisten. Wenn du einen anderen Leisten verwendest, erkläre dazu, dass es nicht deiner ist und du ihn deshalb nur unzureichend handhaben kannst. Lehre Spiritualität, wenn du spiritueller Lehrer bist; sprichst du über Themen, die ihren Ort in der Physik oder Philosophie haben, bring dazu dein ganzes erworbenes Wissen und die dazu gehörenden Kenntnisse ein, ohne zu diesen Themen deine spirituelle Autorität zu bemühen. Jeder kann zu allem und jedem Meinungen haben, schließlich gilt die Meinungsfreiheit als Grundrecht. Jedoch handelt es sich um Etikettenschwindel, mit der Autorität des Mystikers in Bereichen, die nicht zur Mystik gehören, Wahrheitsansprüche zu behaupten.

Der Leisten der spirituellen Lehre ist einfach und universell. Er lässt sich widerspruchsfrei formulieren und ist auf den suchenden Menschen abgestimmt: Was braucht es, damit die Freiheit vom Leiden erlangt werden kann? Was braucht es, damit Liebe und Mitmenschlichkeit zum vordringlichen Motiv wird? Was braucht es, um zum inneren Frieden zu gelangen?

Zur Beantwortung dieser Fragen braucht es keine Erkenntnisse über den Anfang der Welt, nicht einmal über den Anfang des Leidens oder des Bösen. Es braucht keine Einsichten in die Kosmologie oder Erkenntnistheorie.

Es genügt, den Menschen, die den Weg zur Befreiung suchen, diesen zu weisen. Dazu gehört es auch, ihnen klarzumachen, dass sie keine Antworten auf die Fragen nach Anfang und Ende, nach Sinn und Unsinn, nach Zufall und Bestimmtheit benötigen, um frei zu werden.

Die spirituelle Lehre hat ja gar nicht den Sinn, allgemeine Fragen zu beantworten. Sie dient dazu, Menschen bei ihrer Suche zu unterstützen. Sie ist deshalb, obwohl sie in ihrem Inhalt universell ist, auf die Individualität des Suchers abgestimmt. Jeder Sucher kann die Wahrheit nur in seiner eigenen Sprache verstehen, da jeder seinen eigenen Käfig mitbringt, zu dem es einen eigenen Schlüssel gibt. Wenn kosmologische Rätsel oder ethische Konflikte Teil des individuellen Käfigs sind, genügt ein Hinweis darauf, dass es auch zu diesen Fragen weiterführende Einsichten gibt, dass diese aber nicht für die mystische oder spirituelle Suche von Bedeutung sind.

Die mystische Lehre hat gar keine allgemeine Form. Sie erfüllt ihre Aufgabe, wenn die Botschaft beim Suchenden ankommt. Darum muss sie für jede Situation und für jeden Menschen neu formuliert werden. Die absolute Wahrheit verfügt über keine Versprachlichung, die überall angewendet und verstanden werden könnte. Sie muss sich ihre Versprachlichung stets aufs Neue suchen.