Montag, 24. März 2014

Kindliche Traumatisierung verändert die Gene

Misshandelte Kinder sind erheblich gefährdet, angst- oder gemütskrank zu werden, weil der einwirkende hohe Stress die Regulation ihrer Gene dauerhaft verändern kann. Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München dokumentieren nun erstmals, dass manche Varianten des FKBP5-Gens durch ein frühes Trauma epigenetisch verändert werden. Bei Menschen mit dieser genetischen Veranlagung verursacht das Trauma eine dauerhafte Fehlregulation des Stresshormonssystems. Die Folge ist eine lebenslange Behinderung im Umgang mit belastenden Situationen für den Betroffenen, welche häufig zu Depression oder Angsterkrankungen im Erwachsenenalter führt. Die Ärzte und Wissenschaftler erwarten sich von ihren aktuellen Erkenntnissen neue, auf den einzelnen Patienten zugeschnittene Behandlungsmöglichkeiten, aber auch eine verstärkte gesellschaftliche Aufmerksamkeit, um Kinder vor einem Trauma und dessen Folgen zu schützen.

Viele Erkrankungen des Menschen sind das Ergebnis vom Zusammenwirken seiner individuellen Gene und den ihn umgebenden Umwelteinflüssen. Traumatisierende Ereignisse vor allem in der Kindheit stellen dabei starke Risikofaktoren für das Auftreten von psychiatrischen Erkrankungen im späteren Leben dar. Ob der einwirkende frühe Stress aber tatsächlich das Opfer krank macht, hängt entscheidend von dessen genetischer Veranlagung ab.


Arbeitsgruppenleiterin Elisabeth Binder vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie untersuchte daher das Erbmaterial von fast 2000 Afro-Amerikanern, die als Erwachsene oder auch bereits als Kinder mehrfach schwer traumatisiert wurden. Ein Drittel der Traumaopfer war erkrankt und litt mittlerweile unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Die Wissenschaftler wollten durch den Vergleich der genetischen Sequenzen von erkrankten und nicht erkrankten Traumaopfern den Mechanismus dieser Gen-Umweltinteraktion aufklären. Ihre Untersuchung ergab, dass tatsächlich das Risiko an Posttraumatischer Belastungsstörung zu erkranken mit steigender Schwere der Misshandlung nur in den Trägern einer speziellen genetischen Variante im FKBP5-Gen zunahm. FKPB5 bestimmt, wie wirkungsvoll der Organismus auf Stresshormone reagieren kann, und reguliert so das gesamte Stresshormonsystems.


In Experimenten an Nervenzellen konnten die Max-Planck Forscher im Weiteren nachweisen, dass die von den Münchner Forschern entdeckte FKBP5-Variante für den betroffenen Menschen tatsächlich einen physiologischen Unterschied macht. Extremer Stress und somit hohe Konzentrationen an Stresshormon bewirken eine sogenannte epigenetische Veränderung: Von der DNA wird an dieser Stelle eine Methylgruppe abgespalten, was die Aktivität von FKBP5 deutlich erhöht. Diese dauerhafte Veränderung der DNA wird vor allem durch Traumata im Kindesalter erzeugt. So lässt sich bei Studienteilnehmern, die ausschließlich im Erwachsenenalter traumatisiert wurden, keine krankheitsassoziierte Demethylierung im FKBP5-Gen nachweisen.


Torsten Klengel, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Psychiatrie erklärt die Studienbefunde wie folgt: „Traumata im Kindesalter hinterlassen je nach genetischer Veranlagung dauerhafte Spuren auf der DNA: Epigenetische Veränderungen im FKBP5-Gen verstärken dessen Wirkung. Die mutmaßliche Konsequenz ist eine anhaltende Fehlsteuerung der Stress-Hormonachse beim Betroffenen, die in einer psychiatrischen Erkrankung enden kann. Entscheidend für das kindliche Traumaopfer ist aber, dass die Stress-induzierten epigenetischen Veränderungen nur dann auftreten können, wenn es auch diese spezielle DNA-Sequenz besitzt.“


Die aktuelle Studie verbessert unser Verständnis von psychiatrischen Erkrankungen als Folge der Interaktion von Umwelt- und genetischen Faktoren. Die Ergebnisse werden helfen, Menschen individualisiert zu behandeln, bei denen vor allem eine Traumatisierung in früher Jugend das Erkrankungsrisiko erheblich vergrößert hat.
 

Link zum Thema
Vgl. Materialien zur Epigenetik

Donnerstag, 20. März 2014

Ego-Bestätigung und Berufung

Ist das, was wir tun, auch wenn wir es mit Engagement und Enthusiasmus machen, von unserem Ego angetrieben oder folgen wir dabei einem höheren Ruf, dem genuinen Ausdruck unseres wirklichen Selbst?

Shelley Prevost, eine US-Managementberaterin, weist in einem Artikel zu diesem Thema darauf hin, dass sich die Ideen des Egos und der “Ruf” oder die innere Berufung sehr ähneln können. Beide ziehen uns in die Richtung der Verwirklichung und beschäftigen unser Innenleben. Sie können sich auch in vergleichbaren Ergebnissen niederschlagen: Geld, Ruhm, Macht. Und beide können uns bis zur Erschöpfung herausfordern.

Wie können wir also den Unterschied herausfinden? Shelley Prevost beschreibt fünf Unterscheidungsmerkmale, die hier frei kommentiert werden.

1. Das Ego hat Angst, nichts zu haben oder nichts zu tun. Der Ruf fürchtet, sich nicht ausdrücken zu können oder nicht gehört zu werden.

Das Ego ist von Angst getrieben. Es will unsere Identität aufrechterhalten und fürchtet die Wertlosigkeit und Missachtung. Deshalb treibt uns das Ego zu mehr Leistung. Es verwendet dazu gerne das „Müssen“ und „Sollen“ und hofft, durch mehr und mehr Leistung mehr Wert und Anerkennung zu bekommen.

Ein Ruf drückt sich still aus und wird an subtilen Spuren in unserem Leben sichtbar. Es geht ihm mehr darum, dass wir etwas Authentisches in die Welt einbringen, wie oder wieviel wir das tun, ist sekundär.

2. Das Ego braucht die Angst zum Überleben. Der Ruf braucht die Stille zum Überleben.


Das Ego wird aktiv, wo wir Unsicherheiten bemerken. Es will diese reparieren. Es braucht also einen Mangelzustand, in dem sich eine Angst versteckt, um in Aktion zu treten. Aus dieser Spannung heraus zieht es seine Motivation, und wenn der Mangel behoben ist, setzt es sich wieder zur Ruhe. Allerdings kennen wir in den Tiefen unserer Seele Mangelzustände, die mit noch so viel Tun nicht gestillt werden können, sondern wie der Esel mit der berühmten Karotte vor der Nase nie ans Ziel der Erfüllung gelangen.

Ein Ruf dagegen erreicht uns, wenn wir uns Zeit für die Innenschau nehmen. Wir müssen dazu aus der lauten Umgebung heraustreten und in uns selbst hineinhorchen. Wir müssen also weitgehend frei von Ängsten sein, um diese besondere und deutliche Stimme in uns wahrzunehmen. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns solche Aus-Zeiten nehmen, die wir uns selbst und dem zu uns selbst Kommen widmen. Erst wenn wir uns gut in dieser Innenschau auskennen und erkennen, wissen wir, was es ist, was wir wirklich selber wollen, unterschieden von dem, was andere von uns erwarten (wobei zu den anderen auch jene Stimmen zählen, die wir von außerhalb von uns übernommen haben, die wir aber schon längst mit unserer eigenen Stimme sprechen lassen, so als wäre das unsere „wirkliche“ innere Stimme).

3. Das Ego zeigt sich als Burnout. Der Ruf zeigt sich als Erfüllung.

Shelley Prevost meint, dass es beim Burnout nicht darum geht, zu viel von sich zu geben, sich also selbst auszubeuten, sondern darum, etwas zu geben versuchen, was wir gar nicht haben. Das Ego endet im Ausgebranntsein, weil es Ressourcen konsumiert, über die wir nicht verfügen, um eine bessere Version von uns selbst zu produzieren.

Anders gesagt, drängt uns das Ego in einen permanenten Stresszustand, in dem wir ständig unsere Reserveenergien aufbrauchen, ähnlich wie eine Bank, die ihr Stammkapital in die Expansion pumpt, bis der Zusammenbruch kommt. Im Angstzustand verbraucht unser Nervensystem seine Ersparnisse, und wenn kein Entspannungszustand folgt, ist der Kollaps unausweichlich.

Weil eine Berufung der Ausdruck unseres wirklichen Wesens ist, kann es nur in der Erfüllung enden. Damit ist ein Gefühl tiefer Befriedigung gemeint, das entsteht, wenn wir etwas tun, was wir wirklich lieben und in dem wir etwas ganz Besonderes von uns selbst ausdrücken können. Wir können in diesem Ausdruck auch an die Grenzen unserer Belastbarkeit gehen, doch folgt aus dem Geschaffenen selbst der Wechsel in einen Zustand tiefer Entspanntheit, wie er im Glücksgefühl des gelungenen Tuns enthalten ist.

4. Das Ego ist auf Resultate fixiert. Der Ruf ist auf den Prozess fixiert.

Weil das Ego die Angst durch mehr Leistung bewältigen will, starrt es besonders stur auf die Ergebnisse der Bemühungen. Ohne die Befriedigung eines strahlenden Ziels hat all das Streben keinen Sinn.

Ein Ruf entfaltet sich in der Selbstentdeckung. Er kommt von innen und kann nur erscheinen, wenn wir der Entwicklung unseres Lebens aufmerksam folgen. Statt hektisch auf ein Ziel hinzurackern, können wir die Spannung zwischen dem, was jetzt ist, und dem, was unsere Vision ist, gut aushalten. Selbst aus dieser Spannung kann noch etwas Wichtiges gelernt werden.

5. Das Ego will sich selbst erhalten. Der Ruf will andere mit einschließen.


Das Ego ist mit Selbsterhaltung und mit der Konservierung der eigenen Bedürfnisse beschäftigt. Es ist vielleicht interessiert daran, anderen zu helfen. Aber das tut es nur, wenn es dem Erhalt der eigenen Identität dient.

Ein Ruf beginnt vielleicht beim Ausdrücken und Darstellen des eigenen Selbst. Er bewegt sich jedoch von selbst weiter zu den Bedürfnissen anderen. Ein Ruf schließt immer mehr ein als das kleine Ich, für das wir uns halten. Er geht über uns hinaus in die Welt, weil er auch von dort zu uns gekommen ist.

Vgl. Das Ego und die Manifestation

Montag, 17. März 2014

Vom Immer-wieder-Anfangen

In jedem Moment beginnt das Leben von neuem, weil es keine Vergangenheit gibt, die die Zukunft vollständig determinieren könnte. Wir können jeden Atemzug, den wir nehmen, als neu erfahren. Kein anderer war je zuvor so wie dieser. Von der Lebensoffenheit, mit der wir uns diese Frische des Lebens immer wieder bewusst machen können, sind wir meist weit entfernt.

Ein Grund dafür liegt in unserer Leidenschaft für Gewohnheiten. Laufen die Dinge in ihren gewohnten Bahnen, dann ist es am einfachsten für uns, sie so weiter laufen zu lassen, bis uns fad wird oder bis wir auf Widerstände stoßen. Das ist besonders der Fall nach schwierigen Erfahrungen, nach begangenen groben Fehlern und nach Schicksalsschlägen. Wir erleben solche Ereignisse wie eine Art von Abbruch in unserer Lebenslinie: So, als gäbe es ein Davor bis zu dem, was passiert ist, in dem die Welt in Ordnung war, und ein Danach, das nur als bange Frage im Raum stehen bleibt.

Dann ist es so, dass wir zu einem neuen Anfang gezwungen werden, und das Anfangen ist mit dem noch nicht verwundenen Schrecken verbunden, vor allem dann, wenn er sich wie eine unüberwindliche Hürde darstellt.

Es gibt Menschen, die bei jedem Aus-dem Haus-Gehen vor dieser Hürde stehen, andere, die vor den kleinsten Verrichtungen zaudernd steckenbleiben, unfähig sich zu bewegen. Was immer solche Blockierungen im Lebensfluss bewirkt hat, es ist wichtig, sie zu überwinden, damit das Leben im Fließen bleibt.

Wir können daran erkennen, dass es einer besonderen Kraft bedarf, um einen Anfang setzen zu können. Doch lohnt sich die Anstrengung, denn jeder gelungene Beginn kann auch zu einer besonderen Klarheit und Weitsichtigkeit verhelfen. Der erste Pinselstrich des Malers kann dem Bild die Gestalt geben, der erste Satz den Roman in Fahrt bringen. Die erste Idee und ihr Schwung können ungeahnte Leistungen initiieren.


Neubeginnen als Lebenskunst


Was für die schönen Künste gilt, gilt besonders für die Kunst des Lebens: Immer wieder anfangen, jeden Tag neu beginnen, aus dem Nichts erwachend, die Wirklichkeit beim Aufstehen neu konstruieren. Oft weiß ich nicht, wo ich gerade bin, wenn ich aufwache. Es fühlt sich wie ein fremder Ort an, ohne zu wissen, welcher es ist. Mit dem Klären des Bewusstseins kommt auch der Ort, an dem ich gerade bin, und der Tag, der gerade begonnen hat.

Noch feiner betrachtet, können wir erkennen, dass jeder Moment ein Neubeginn ist. Mit jedem Moment verabschiedet sich das Alte und unsere Geschichte setzt einen Anfang. Mit jedem Moment öffnet sich ein neues Kapitel, ein neues Stück und eine neue Welt.

Warum erscheint uns das nicht so? Warum gelingt es uns nur selten, die Neubeginne unseres Lebens zu erkennen? Wir haben so viele Programme in uns, tauschendfach mehr als das beste Satellitenfernsehen, Programme, die dauernd im Hintergrund laufen und dafür sorgen, dass es so scheint, als würde alles so weiterlaufen, als würde eins ins andere übergehen.

Deshalb haben wir uns ein Zeitmodell konstruiert und eingebaut, in dem das Vorher noch in den Moment hereinreicht und in das Nachher weiterwirkt. Diese Verschränkung der Momente verhilft uns zu einem Gefühl der Identität in der Zeit. Allerdings übersehen wir auch leicht das Neue am Neuen, weil wir das Bekannte im Neuen suchen, um uns unserer eigenen Identität zu versichern. Wir wollen, dass das Bekannte in der Zukunft bestehen bleibt, zusammen mit dem, was wir selber sind. Ängstlich, unseren inneren Zusammenhalt zu verlieren, basteln wir uns die Zusammenhänge unserer inneren Kontinuität zusammen und schreiben unsere Geschichte in immer wieder aktualisierten und korrigierten Geschichten, gewoben aus den Fäden der Vergangenheit als Sicherheitsnetz für die Zukunft.

Das Neu-Anfangen lohnt sich einmal in Beziehung zu uns selbst. Auch über uns selbst pflegen wir die unterschiedlichsten Erwartungen und Annahmen: Das kann ich, und jenes nicht, da bin ich gut und in diesem Bereich schlecht. Oft stecken hinter diesen Vormutungen Schlussfolgerungen aus Erfahrungen, die uns vor langer Zeit geprägt haben. Was passiert, wenn wir diese Prägungen fallen lassen und Dinge ausprobieren, die wir vermieden haben, weil wir von uns meinten, dass sie uns eben nicht liegen? Was passiert, wenn wir einfache Abläufe anders machen, z.B. anders gehen, beim Geschirrspülen eine andere Körperhaltung einnehmen, die Menschen in unserer Umgebung anders anschauen usw. 


Beziehungen neu gestalten


Auch in unseren sozialen Beziehungen lohnt sich das Neu-Anfangen. Wir gestalten sie gerne aufgrund unserer Erwartungen und Annahmen, die wir als Teile unserer Identität abgespeichert haben. Denn die Bilder der anderen, die wir tief in uns abgelegt haben, prägen unser Inneres. So bilden sich die Vorurteile und Stereotypen: Die Person X ist laut und überheblich (weil sie oft schon so war, aber vermutlich nicht die ganze Zeit).

Machen wir uns doch einmal bewusst, dass wir mit der Person X neu anfangen können. Begegnen wir ihr neu, dann werden wir Verschiedenes und Unterschiedliches wahrnehmen: Lautes und Dominantes, Ruhiges und Zurückhaltendes, und alles mögliche andere dazwischen. Wir erhalten ein buntes Bild statt eines fahlen schwarz-weißen Klischees. Mit bunten Bildern können wir mehr anfangen, im doppelten Sinn. Wir haben mehr Verhaltensmöglichkeiten zur Verfügung und können flexibler kommunizieren, und wir können etwas Neues beginnen - ein Gespräch über ein Thema, über das wir noch nie geredet haben, eine gelassenere oder humorvolle Reaktion auf ein herrisches Verhalten usw.

Die Folge: Ein starres Beziehungsmuster ist plastisch geworden, und damit ist Wachstum und Entwicklung möglich, in uns selber und im Dazwischen.

Manchmal sagen wir: „Mit diesem oder jenem kann ich nichts anfangen.“ Da gibt es etwas, das uns begegnet, das wir nicht fortsetzen wollen oder können. Es soll so bleiben, wie es ist, ohne unsere kreative Zutat. Wir schotten uns ab vor diesem Teil der Wirklichkeit, und haben auch unsere Gründe dafür. Die Wirklichkeit ist so vielgestaltig, dass wir nicht überall etwas Sinnvolles anfangen können. Doch ist es gut, dass wir uns bewusst machen, wo wir auf das Anfangen verzichten und warum uns das notwendig erscheint.

Insbesondere, wenn es um Menschen geht, die wir auf diese Weise aus unserem Leben ausklammern, können wir uns fragen, ob wir uns hinter Grenzen verstecken, die wir vielleicht gar nicht (mehr) brauchen. Offenbar fordern sie von uns etwas, das wir uns selber nicht zutrauen. Wir müssten über eine Grenze gehen, die uns wichtig oder gewohnt geworden ist, weil sie etwas in uns beschützt. Oft handelt es sich um einen Stolz und eine Überheblichkeit, Gefühle, die aus Ängsten entstehen, die wir nicht spüren wollen. So ist es einfacher, die andere Person, die diese Gefühle auslöst, links liegen zu lassen oder sie gar zu verachten, statt dass wir uns den eigenen Schatten stellen. Dann kann nämlich ein neuer Anfang geschehen, indem wir eine neue, offenere Brille aufsetzen.

Wiederum: Es muss uns nicht möglich sein, mit allen Menschen in unserer Umgebung eine friedliche und offene Ebene zu finden. Wir können aber aus jeder Begegnung, die unsere Offenheit herausfordert, besonders viel über uns selbst und unsere sozialen Ängste lernen. Wir brauchen nicht von uns zu verlangen, dass wir frei sein müssten von solchen Ängsten. Besser ist es, wenn wir uns als wachsende Wesen verstehen, indem wir uns immer wieder bereit machen, aus einem Neubeginn im Moment Kraft zu schöpfen. Jedes neue Anfangen bedeutet, eine Grenze hinter uns zu lassen, die uns vielleicht früher als unüberwindlich erschienen ist.

Freitag, 14. März 2014

Wurzeln unserer Individualität



Wir sind mit Sprüchen aufgewachsen wie: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“, oder: „Wie die Alten sungen, zwitschern auch die Jungen“. Damit wird die Verbindung zu den Vorfahren und Ahnen betont. Unsere Abstammungslinie hat uns zu dem gemacht, was wir sind.

Oder doch nicht, oder doch nicht ganz? Wenn wir genau auf die biologischen Vorgänge schauen, die zur Entwicklung unserer Individualität geführt haben, belehrt uns die Wissenschaft, dass die Träger unserer Erbsubstanz, die Chromosomen, bei der Vererbung nie dupliziert werden. Es wird also keine identische Kopie erstellt, sondern schon bei der Entstehung der Keimzellen werden die Chromosomen rekombiniert, d.h. neu angeordnet. Dieser Vorgang verläuft nach einem Zufallsprinzip. Er führt zu einer unendlichen Vielfalt der Lebewesen und ist die Grundlage der Individualität im Sinne der Einzigartigkeit.

Wir sind also in keiner Weise determiniert durch unsere Eltern und deren Eltern, sondern schon die Ei- und die Samenzelle, aus denen wir entstanden sind, sind einzigartig und noch nie dagewesen, unterschieden von den anderen Keimzellen und ebenso unterschieden von unseren Vorfahren. Die Zufälligkeiten in unserer Entstehungsgeschichte können wir als Schritte in die Freiheit verstehen, die uns damit geschenkt ist, frei für den Neubeginn.

Der Beginn unseres Lebens ist deshalb ein Beginn in Freiheit von Vorgaben, ein Neuanfang, eine Premiere im ganzen Universum. Das hat vielleicht Hermann Hesse mit dem berühmten schönen Satz gemeint: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ Denn es ist jedes Mal ein Wunder, wenn sich neues Leben bildet, was sich ja schon bei der Bildung der Gameten, den potentiellen Vorläufers neuen Lebens, vollzieht – Wunder im Sinn von etwas, was nicht vorhersehbar ist, wenn also „etwas Auffallendes geschieht, dessen Zustandekommen nicht aus unserem Wissen über die Welt folgt.“ (Valentin Braitenberg: Das Bild der Welt im Kopf, S. 81)

Niemand kann wissen, was entsteht, wenn sich Leben vermehrt, denn das Leben hat die Tendenz, aus der unendlichen Fülle der Möglichkeiten sich selber zu gestalten und zu entfalten. Nur die gröbsten Details können vorab prognostiziert werden, wie z.B. dass Kinder in den allermeisten Fällen mit allen Gliedmaßen zur Welt kommen und gleich danach versuchen, sich über das Atmen selbst zu versorgen. Wie sie das machen und was das für sie bedeutet und was darauf aufbaut, können wir vorher nicht wissen und darf uns immer wieder als Wunder erfreuen.

Unser Anfang ist wunderbar und innovativ. Jetzt brauchen wir nur zu erkennen, dass jeder unserer Lebensmomente wunderbar und innovativ ist, dann nämlich, wenn wir ihn als Anfang sehen, als neuer Beginn unseres eigenständigen Lebensweges. An dieses wundersame Anfangen können wir uns immer wieder erinnern, wenn wir aus irgendeinem Grund an uns selber zweifeln.

Fühlen wir uns in einer negativen Selbstbespiegelungsschleife gefangen: Wir können uns daran erinnern, dass wir immer wieder und in jedem Moment neu anfangen können. Wie an den Anfängen unseres Lebens ein Schritt ins Neue und Überraschende stattgefunden hat, kann das in jeder anderen Situation unseres Lebens stattfinden. Den Mut dazu brauchen wir uns nur von der Natur abzuschauen, die sich nicht scheut, immer wieder neue Kombinationen von Genen zu kreieren, ohne darauf zu achten, was denn aus jetziger Sicht erfolgversprechend, opportun oder modisch ist und was nicht. Denn sie weiß genauso wenig wie wir selber, was die Zukunft bringt.

Donnerstag, 13. März 2014

Rhythmen des Lebens

Rhythmik dürfte der Anfang der Musik sein. Viele archaische Rituale sind mit rhythmischem Trommeln verbunden, das zur Herstellung von tranceartigen Zuständen und zur Bewusstseinserweiterung eingesetzt wird. Die gleichmäßig immer wiederkehrende Abfolge von Schlägen hat einen starken Aufforderungscharakter an unser Bewegungsbedürfnis.

Der bewusstseinsverändernde Einfluss der Rhythmen, vor allem wenn sie durch Trommeln entstehen, die tief in unseren Organismus hinein wirken, zieht vor allem Menschen an, die unter Stress leiden. Der Rhythmus spiegelt einen Aspekt des Getriebenseins wieder, der eine Quelle von Stress ist. Zugleich beruhigt die Gleichförmigkeit und erzeugt ein Zurückfahren der äußeren Sinne. Dadurch entsteht ein Bewusstseinszustand, der dem Alltag entrückt.

Die beruhigend wirkende Monotonie findet bei rhythmusbetonter Musik den Kontrast im Taktschlag, der aufweckt und zur unwillkürlichen Bewegung anregt. So konnte der beat (besondere Akzente auf den unbetonten Taktteilen) eine ganze Generation aufwecken und in Bewegung bringen.

Rhythmus wirkt ansteckend und zwischen den Menschen verbindend zwischen den Menschen. Neulich hatte ich dazu eine Beobachtung. Im Zug sitzend, hatte ich Lust, mit den Händen auf meine Oberschenkel zu trommeln, in einem synkopierten Rhythmus, aber sehr leise, um niemanden zu stören. Ein paar Sitzreihen weiter sah ich einen Fuß zu dem Rhythmus wippen, ohne die zugehörige Person sehen zu können. Die Schwingung hat sich übertragen, ohne dass es der Person bewusst gewesen sein muss. Wir können also schwer stillhalten, wenn uns ein Rhythmus packt.

Analoge und digitale Rhythmen


Jede Musik bis in jüngste Zeit war analog, nicht digital. Wir können leicht irritiert reagieren und fühlen uns verfremdet, wenn ein Rhythmus maschinell klingt, also mit absoluter Exaktheit auf uns einhämmert. Vielleicht suchen wir manchmal diese Verfremdung, wenn wir in die Disco gehen, wobei mir auffällt, dass solche exakten und harten Rhythmen die Menschen vereinzeln, sodass sich jeder in seiner eigenen Weise und ohne Bezug zu den anderen bewegt. Möglicherweise geraten die Tänzer dabei in einen dissoziativen Zustand, in dem sie den Kontakt sowohl zu sich als auch zu den anderen verlieren.
Live-Trommler haben dagegen eine verbindende Wirkung auf Gruppen, und es kann beobachtet werden, wie die tanzenden Menschen ihre Bewegungen zum Teil unbewusst aufeinander abstimmen. Darin spiegelt sich unsere Vertrautheit mit der analogen Rhythmik von Ritualkulturen, wie sie in allen Stammesgesellschaften bestanden haben, die ihre tiefsten Wurzeln in uns hinterlassen haben.

Jeder menschliche Trommler macht winzige Abweichungen von der exakten Zählzeit, die seinem Trommeln eine individuelle Lebendigkeit verleihen. Joachim Ernst Behrend hat einmal über den swingenden Jazz-Schlagzeuger geschrieben, dass dieser so spielen müsse, dass der Eindruck entstehe, als ob das Stück immer schneller würde, wiewohl das Tempo in Wirklichkeit genau am Metrum bleibt. Der Musikphilosoph Theodor W. Adorno wiederum war ein Gegner der Jazz-Musik, weil er der Meinung war, dass diese nur den (digitalen) Rhythmus der Maschinen in den Fabriken wiedergebe und damit die kapitalistische Entfremdung propagiere.

Wenn Menschen Musik mit Hilfe eines Instruments oder der eigenen Stimme erzeugen, entsteht immer analoge Musik, die in der Rhythmik durch eine feine Balance zwischen Exaktheit und Unexaktheit gekennzeichnet ist. Im Rahmen einer vordergründigen Zuverlässigkeit bleibt Raum für individuelle Abweichungen, was in gewisser Weise das archaische Zusammenspiel von Gruppe und Individuum widerspiegelt: Die Gruppe gibt den Grundrhythmus vor, in dem sich alles bewegt, und jede einzelne Person kann in diesem Rahmen ihre eigene Bewegungsform entwickeln.

Deshalb gibt es bei der digitalen Erzeugung von Rhythmen (Drum-Computer) eigene Vorrichtungen, den Rhythmus zu „grooven“, d.h. zufällige minimale Variationen einzubauen, als digitale Imitation von menschlicher Analogie, die den Eindruck erwecken, ein Mensch und nicht eine Maschine würden hier trommeln. Doch können Maschinen im Grund nur plumpe Annäherungen an die menschliche Ungenauigkeit erzeugen, die das lebendige Vorbild nie erreichen können.

Daran merken wir die Anhänglichkeit an natürliche Rhythmen, die uns als Menschheit seit Urzeiten und als Individuen von allem Anfang an vertraut waren. Wir fühlen uns wohl, wenn wir in eine uns gemäße Schwingung kommen und von vertrauten Schwingungen umgeben sind. Wir schwingen „auf der gleichen Frequenz“, und schon ist sie da, die Liebe. So ist führt uns das Rhythmische in die Verbundenheit mit allem Lebendigen und sogar noch mit dem ganzen Universum, falls selbst dieses in seinem eigenen Takt pulsiert.