Samstag, 28. März 2020

Von der Angst zur Ethik

Es ist zurzeit viel die Rede von der Krise und dem Lernen daraus. Wir befinden uns in einer Umstellung der Lebensverhältnisse, wie sie die westliche Zivilisation seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr betroffen hat. Während sich die Delfine in den Häfen freuen, in denen keine Kreuzfahrtkolosse ankern, während die Fische in den Kanälen von Venedig wieder Futter finden, stellt sich die Frage, ob die Erholung, die die Umwelt erfährt, nur eine kurzfristige Episode bleiben wird oder ob eine nachhaltige Trendumkehr bevorsteht. Es stellt sich die Frage, ob die neuen Erfahrungen mit Verzicht, Isolation, veränderten sozialen Kontakten, Verlangsamung der Lebensabläufe zur Veränderung von Einstellungen führen oder als unliebsame Phase übertaucht werden, um möglichst rasch zur alten verschwenderischen Lebensweise zurückzukehren.

Wir wissen nicht, in welche Richtung die Reise weitergehen wird. Wir wissen aber, dass sich eine Tür geöffnet hat, die wir weiter aufmachen können oder die wir einfach wieder zufallen lassen, sobald der Druck weg ist. Viele Menschen halten an ihren Gewohnheiten fest und wollen zu ihnen zurückkehren, sobald sich eine Notsituation entspannt hat. Wir in den westlichen Ländern leben zu einem großen Teil im Luxus, der die Eigendynamik der Unzufriedenheit enthält, die immer noch mehr will, oder zumindest das Gleiche wie irgendein Nachbar. 

Die Ethik setzt dort ein, wo die von Angst getriebenen Notwendigkeiten aufhören. Ethisch entscheidet jemand, der sich nicht vor einer Ansteckung fürchtet und Hilfeleistungen für Bedürftige erbringt. Ethisch entscheidet jemand, der ein knappes Gut nicht hortet, sondern denen überlässt, die es dringend brauchen, oder jemand, der zuhause bleibt, um niemanden anzustecken usw. Diese soziale Orientierung ist ein wichtiges Bindeglied in jeder menschlichen Gesellschaft. 

Der Neoliberalismus hat dieses Bindeglied geschwächt und den kollektiven Egoismus befeuert. Nun hat ein Virus dafür gesorgt, dass die politisch Verantwortlichen das Gemeinwohl über den wirtschaftlichen Gewinn stellen müssen. Es werden wieder ethische Haltungen empfohlen und anerkannt, statt dem Wirtschaftswachstum im Zweifelsfall die Priorität einzuräumen. 

Aber so stimmig und natürlich diese Einstellungsänderung erscheint, so stimmig und „natürlich“ war für viele vorher die neoliberale Zielsetzung des unbegrenzten Wachstums und der individualisierten Gewinnmaximierung. Geben wir uns nur jetzt, angesichts offensichtlicher Not, ein wenig mehr Menschlichkeit, um dann wieder in die Engstirnigkeit des Leistens und der Konkurrenz zurückzukehren, so als ob nichts gewesen wäre? Wird uns dann wieder das nationalistische Grenzsichern vor Fremdlingen zum Hauptanliegen?


Die Zukunftsintelligenz nutzen


Der Zukunftsforscher Matthias Horx geht von einer Trendwende aus. Er hat mit einer Re-gnose (einer Rückschau aus der Zukunft in die Gegenwart) ein optimistisches Szenario beschrieben, in dem die  Gegenwartsbewältigung durch einen Zukunftssprung vorangetrieben werden soll.

Natürlich ist es hilfreich und sinnvoll, ein Denken, das wir für die Zukunft brauchen oder in ihr erst entwickeln werden, vorwegzunehmen. Das geht aber nur, wenn wir der Zukunft angstfrei entgegentreten und uns auf den Sog der Imagination einlassen. Denn damit stärken wir in uns die Kräfte und Potenziale, die wir später brauchen werden. 

Der Schlüssel liegt in all den Dingen bei der Angst. Denn sie hindert uns am Visionieren und Imaginieren. Sie bindet uns an die Vergangenheit und all den Gefühls- und Denkmustern, die ihr entstammen. Sie scheut sich vor jedem Wagnis, das aus den gewohnten Einstellungen und Verhaltensschleifen führen würde. 

Dagegen meint Horx, dass uns die vorweggenommene Zukunftsintelligenz aus der Enge herausführt:  „Wir verlassen die Angststarre und geraten wieder in die Lebendigkeit, die zu jeder wahren Zukunft gehört.“ Nur lassen sich vor allem jene von dieser Zukunftsintelligenz leiten, die jetzt schon weniger von Angst getrieben sind.

Ob sich der Optimismus von Horx bewahrheitet, wissen wir nicht, weil nicht klar ist, wieweit sich die Menschen ihrer Ängste bewusst sind und sie nach dem Ende der Krise hinter sich lassen können. Dazu müssten sie auch die Scham überwinden, die mit der Angst verbündet ist und tieferen Einsichten im Weg steht. Weiters ist nicht klar, ob die Vorteile und neuen Erfahrungen zu dauerhaften Einstellungsveränderungen führen. Es steht zu befürchten, dass nach dem Ende der Pandemie-Bedrohung die alten Bedrohungsszenarien wieder in den Vordergrund treten und die Angststarre weiterhin füttern. Die alten Gewohnheiten rasten wieder ein und es geht so weiter wie vorher, mit vielen neuen Erzählungen und wenig neuen Einsichten.

So mancher wird vielleicht wegen einer Kreuzfahrt, die jetzt ins Wasser gefallen ist, im nächsten Jahr drei machen. Andere werden vielleicht die Zeiten des Zuhauseseins, über die sie jetzt jammern, vermissen, wenn sie wieder frühmorgens zur Arbeit gehen müssen. Andere werden vielleicht ein paar Elemente des vereinfachten Lebensstils beibehalten, weil sie erkannt haben, dass nachhaltiges Leben mit einem Gewinn an Lebensqualität verbunden sein kann. Ganz unverändert wird die westliche Welt nicht aus dieser Krise heraustreten, ob ein größerer Wachstumsschub im Sinn der Bewusstseinsevolution stattfindet, dürfen wir hoffen, trotz zweifelhafter Ausgangslage.


Finden wir zur gemeinschaftlichen Vernunft?


Der deutsche Philosoph Markus Gabriel steht vor der gleichen Ungewissheit, wenn er schreibt: „Warum löst eine medizinische, virologische Erkenntnis Solidarität aus, nicht aber die philosophische Einsicht, dass der einzige Ausweg aus der suizidalen Globalisierung eine Weltordnung jenseits einer Anhäufung von gegeneinander kämpfenden Nationalstaaten ist, die von einer stupiden, quantitativen Wirtschaftslogik angetrieben werden?“

Die suizidale Wirtschaftsordnung, die Gabriel anspricht, ist aus der gleichen Quelle von Angst und Scham genährt, die in der Viruskrise die Menschen umtreibt. Suizidal wird, wer den Kontakt mit dem Leben und seinen einfachen Schätzen verloren hat, wer also in der Angst feststeckt und auf den Tod zusteuert, weil er sich überall vom Tod bedroht fühlt. Und diese Form des Selbstmordes betrifft nicht eine einzelne lebensmüde Person, sondern das ganze Kollektiv. Wenn einige mit entsprechender Macht ausgerüstete Menschen einen suizidalen Kurs steuern, ist die gesamte Menschheit mitbetroffen. 

Das neue Programm, das wir uns in der gegenwärtigen Phase bewusst machen können und das eine menschenwürdige Zukunft verspricht, muss jenseits von Angst und Scham gesucht und gefunden werden. Es wird angetrieben von der unsterblichen Idee der gemeinschaftlichen Vernunft, die all die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse ausgleichen kann, sodass jedem Menschen ein seiner Würde entsprechender Platz in der Gesellschaft gegeben werden kann. Dazu sollten sich alle zusammentun, die die Menschheit als Ganze in ihrem Geist fassen können und die Umrisse für eine neue Weltordnung zu entwerfen und ihre Umsetzung anzupacken. 

Oder, im Pathos von Markus Gabriel: „Nach der virologischen Pandemie brauchen wir eine metaphysische Pan-Demie, eine Versammlung aller Völker unter dem uns alle umfassenden Dach des Himmels, dem wir niemals entrinnen werden. Wir sind und bleiben auf der Erde, wir sind und bleiben sterblich und fragil. Werden wir also Erdenbürger, Kosmopoliten einer metaphysischen Pandemie. Alles andere wird uns vernichten und kein Virologe wird uns retten.“

Vielleicht stehen wir nicht vor der Alternative zwischen Rettung oder Vernichtung, sondern zwischen einer Zukunft mit mehr oder weniger Menschlichkeit, zwischen mehr oder weniger Verbundenheit, zwischen mehr oder weniger gemeinsamer Vernunft. Wie auch immer: Jeder Moment zählt, und es zählt, ob er in die eine oder in die andere Richtung investiert wird, von mir, von dir, von uns allen. 

Das menschliche Maß, das die Ethik anstrebt, finden wir nur jenseits der Ängste, dort, wo sich der Blick über den Tellerrand hinauswagt und das große Ganze der Menschheit und des Universums in seiner Erhabenheit erkennt, um sich dort einzuordnen.

Zum Weiterlesen:
Eine Krise des Neoliberalismus



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