Dienstag, 22. November 2016

Torheit ist nicht zu loben

Die Arroganz angesichts der Beschränktheit anderer Menschen abzulegen, wie es der vorige Artikel nahelegt, bedeutet nicht, selber auf Denken und Reflexion zu verzichten und die ethische Verantwortung zurückzulassen. Es impliziert vielmehr den Verzicht auf ein Gefühl, das uns von unserer inneren Wahrheit und unseren Werten entfernt und den eigenen Maßstäben nicht gerecht wird.

Bei der Beobachtung der aktuellen Diskurslage auf Verachtung und Arroganz zu verzichten heißt nicht, die Dummheit zu loben oder die Ignoranz zu verherrlichen.  Wenn zur Aufklärung nach Kant der Mut gehört, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, so ist es bei der Ignoranz die Feigheit, über den Tellerrand der eigenen Vorurteilsstruktur hinauszuschauen. Es ist die Bequemlichkeit, einfache, aber emotional aufgeladene Welterklärung komplexeren Zusammenhängen und Denkvorgängen vorzuziehen, also die Arbeit des Denkens und Nachdenkens der Übernahme von ungeprüften Informationen und Meinungen zu opfern, die in ebenso ungeprüfte emotionale Muster passen.

Die Dummheit ist langfristig selbstregulierend: Sie schneidet sich ins eigene Fleisch, indem die Folgen des eigenen Tuns in den meisten Fällen auf den Täter zurückfallen. Allerdings ist nicht es nicht garantiert so, dass wir aus Fehlern klug werden, sondern nur dann, wenn wir bereit sind zu lernen. Und Lernen erfordert eine gewisse Anstrengung und eben den Mut, sich von vorgefassten Auffassungen und vertrauten Denkbahnen zu verabschieden, wenn sie sich als selbstschädigend erwiesen haben. Die bequemere Variante bleibt beim eingeübten Projizieren und sucht sich die Sündenböcke fürs eigene Elend in den Fantasieszenarien, die von der populistischen Propaganda in die Köpfe der Nachbeter eingespielt werden.

Die Missachtung der Dynamiken der Bewusstseinsevolution hat dramatische Folgen. Die emotionale Identifikation mit den Verächtern der Verächter, mit den elitären Kämpfern gegen die Eliten, die Gefolgschaft der Populisten hat ihren hohen Preis: Sie führt bei den Gefolgsleuten zur Schädigung der eigenen Lebensgrundlagen. Den starken Mann zu wählen, der außer markigen Bosheiten kein Programm zu bieten hat, war schon immer ein Schuss ins eigene Knie. Denn nach allen bisherigen Erfahrungen verteilen die Populisten besonders eifrig das Geld von unten nach oben und lassen die Reichen noch mehr abräumen. Sie haben keine Rezepte gegen die Produktion von Blasen, die dann die Masse der Wenigverdiener finanzieren müssen. Nach den Nationalisten sollen die Länder voneinander abgeschottet werden, was nachweislich den Wohlstand mindert, besonders jenen der unteren Einkommensschichten, die die steigenden Kosten für Konsumgüter finanzieren müssen, während gleichzeitig die Arbeitsmöglichkeiten schwinden. Diejenigen, die für den Brexit gestimmt haben, sind vermutlich jene, die den Großteil der Kosten und den massivsten Einbruch ihrer Lebenshaltungskosten ertragen müssen. Und wenn es ganz schlimm wird, werden Kriege angezettelt, in denen dann das Stimmvieh verblutet.

Dummheit ist immer selbstverletzend, über kurz oder über lang.


Bildungsferne ist kein Schicksal


Außerdem gibt es keine Entschuldigung für Bildungs- und Reflexionsmangel. In unserer Gesellschaft gibt es eine Vielzahl von niederschwelligen Zugängen zu Bildung und Fortbildung. Informationen sind über viele Kanäle leicht zu erlangen. Und zu lernen, dass ungefilterte Nachrichtenfluten im Internet nicht per se Wahrheit vermitteln, sondern dass diese z.B. durch Vergleiche und Prüfung der Quellen erarbeitet werden muss, ist jedem internetfähigen Menschen zumutbar.

Wir können Verständnis aufbringen für die Gründe von Bildungsferne, Horizonteinschränkungen, Ideologieanfälligkeiten, Naivität gegenüber Propaganda, anonymen Hassausbrüchen. Sie liegen in misslungenen Lebensbiografien, die ihre Wurzeln in pränatalen und postnatalen Traumatisierungen haben.

Können wir als Gesellschaft, die sich ihre Freiheitsrechte erkämpft hat, verlangen, dass sich jeder den Anstrengungen der aufgeklärten Bildung unterzieht, um diesen nicht zu schaden? Freiheit besteht auch darin, Bildung zu verweigern und aus Ignoranz heraus populistisch die eigenen Hassgefühle auszuagieren. Gruppen mit dieser Haltung sind genauso Teil der demokratischen Gesellschaft. Dort allerdings, wo Schaden entsteht, müssen der Freiheit Grenzen gesetzt werden. Will die Demokratie als Forum freier Meinungsbildung weiterbestehen und nicht in einem blind emotionalisierten Meinungssumpf enden, dann braucht es auch eine effektive Kontrolle von Falschinformation, Irreführung, Manipulation und Täuschung. Wir brauchen also kein Propagandaministerium, sondern ein Aufklärungs- und Informationsministerium, das Aussagen und Fakten gegenüberstellt.

Kleines Beispiel: Der Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer hat bei der jüngsten Fernsehdebatte behauptet, dass jeder Flüchtling dem Staat (dem Steuerzahler) 277 000,- EURO kostet. Dazu gesagt wurde nicht, dass sich diese Zahl auf eine Schätzung über einen Zeitraum von 45 Jahren bezieht, inklusive aller Ausgaben für Gesundheit, Bildung und andere "externe" Kosten. Die Kosten beziehen sich also auf den Zeitraum von mehr als einem halben Menschenleben – und sind eine grobe Schätzung – und berücksichtigen nicht die Gegenleistungen, die ein Flüchtling durch seine Arbeit usw. einbringen kann. Die scheinbar so riesige Zahl bleibt beim Zuseher hängen, der Kandidat punktet, die Relativierung geht unter. (Zur Quelle)


Zwei Diskurssysteme?


Zerfällt damit die Gesellschaft in zwei Diskurssysteme? Klassisch sprechen die Linguisten vom elaborierten und vom restringierten Code, also von ausgefeilter und simpler Sprache. Der Unterschied geht aber noch tiefer: Das Bemühen nach Faktizität und ethischer Verantwortung auf der einen Seite und die Nachlässigkeit, aus Vorurteilen und Bauchgefühlen heraus Einstellungen zu entwickeln, die dann ohne kritische Reflexion in den Diskurs einfließen. Zwei deutlich unterschiedliche Qualitäten von Information stehen dann in den Kommunikationsräumen nebeneinander, die eine kritisch überprüft, die andere aus Vorurteilen erzeugt.

Kann es da noch Brücken geben zwischen diesen Diskurssystemen oder schotten sie sich voneinander ab? Haben wir es bereits mit zwei Parallelgesellschaften zu tun, die noch dazu von den Zentralisierungsmaschinen in den sozialen Medien voneinander abgesondert und intern zusammengeschweißt werden? Denn aus einfachen monetären Gründen werden „Echokammern“ eingerichtet: Facebook, Google und Konsorten haben ihre Algorithmen darauf eingestellt, jedem seine meinungskonformen Nachrichten und Kommentare zu servieren und Gegenteiliges zu blockieren. Was die Leute wollen, klicken sie an, und das bringt Geld, was sie laut Kalkül nicht wollen, wird weggefiltert, weil es ökonomisch nichts bringt. Damit kriegt jeder sein Meinungsfutter, das ihm schmeckt, und andere Geschmacksrichtungen sind nicht im Angebot.

Und was wir jetzt schon in Österreich beobachten können, wo die Wahl des Bundespräsidenten nach einem halben Jahr bald zu einem Ende kommen soll, ist diese Aufteilung in zwei Sphären. Wie immer die Wahl ausgeht: Es stehen sich zwei annährend gleich starke Diskurssysteme gegenüber, die viel Misstrauen und fallweise sogar Hass gegeneinander aufgebaut haben. Bei einem Blick auf die Facebook-Seiten oder Twitter-Accounts der beiden Kandidaten wird dieser Unterschied sofort unübersehbar. Unterschiedliche Sprachstile, Argumentationsweisen, Wortwahlen etc. – eine Fundgrube für Linguisten. Und: Ein Fragezeichen für die Zukunft der Demokratie in einer Welt, in der die Wirklichkeit kaum mehr entwirrbar mit Cyberfetzen durchzogen ist.


Zum Weiterlesen:Arroganz und Liberalität
Wird die Demokratie manipuliert?

Sonntag, 20. November 2016

Arroganz: Der Schatten der Liberalität

Jede Perspektive auf die Welt hat einen Schatten, eine Seite, die nicht bewusst ist. Dort liegt ihre Beschränkung, die ihre eigene Wirkung auf die Realität einschränkt und manchmal sogar das Gegenteil von dem bewirkt, was sie anstrebt.

Elisabeth Raether hat im vergangenen Sommer in der ZEIT einen Essay über die „Arroganz“, die die Autoritären so stark macht, geschrieben und damit vorab ein Erklärungsmodell für den Wahlsieg von Donald Trump geliefert. Die These lautet, dass die Liberalen, also die Vertreter der Menschen- und Minderheitsrechte, die Gegner von Rassismus und billiger Politpropaganda, die Verfechter von Bildung und kulturellem Wissen eine Überheblichkeit in sich tragen. Sie sind überzeugt, dass sie die bessere Weltsicht haben, dass ihnen die Zukunft gehört und dass sie menschlicher sind. Sie glauben, dass sie genau wissen, wie die Menschen leben müssen, damit alles besser wird. Alle diese Überzeugungen sind wesentlich und aus meiner Sicht absolut notwendig, damit sich die Gesellschaft und die Menschheit insgesamt in eine konstruktive Richtung weiterentwickelt, sie unterstützen also die Evolution des Bewusstseins.

Rituale der Rache


Diese Arroganz erzeugt allerdings als Gegenreaktion bei vielen, die sich als Opfer von Modernisierungsprozessen fühlen, eine Abneigung gegen jene, die es besser wissen, aber keine Verbesserung der eigenen Problemlage bewirken können. Diese werden als abgehobene Elite erlebt und für das eigene Unglück verantwortlich gemacht. Daraus entsteht Hass und die Identifikation mit jenen, die sich nicht von den Eliten beeindrucken lassen (nicht auf ihre “Lügen“ hereinfallen) und statt dessen die Welt in einfachen Formeln erklären können.

Die Rechnung wird von jenen, die noch ans Wählen glauben, bei den Wahlen beglichen. Viele andere gehen gar nicht mehr hin. Die Verachteten und Ausgegrenzten wählen Personen, die sie als verachtet und ausgegrenzt erleben, um es den Ausgrenzern zu zeigen. So dienen Wahlen als Ritual der Rache. Erniedrigung durch schlechte Erfahrungen im eigenen Leben werden vergolten, indem die Außenseiter die Stimme kriegen.

Die Illiberalität der Liberalen


Damit die Liberalität gegen ihre Feinde gerettet werden kann, ist es wichtig, Licht in ihren Schatten zu bringen. Denn im Schatten ist auch eine Kraft verborgen, die, solange sie im Schatten verbleibt, hinderlich wirkt, und die von großem Nutzen sein kann, wenn sie ins Bewusstsein gelangt. Die Überheblichkeit besteht nicht darin, über gute Ideen zu verfügen und eine weite und weltoffene Einstellung mit Toleranz und Respekt zu vertreten. Sie zeigt sich dort, wo alle abschätzig betrachtet werden, die nicht über diese Einstellung verfügen, weil sie auf Grund anderer Lebensumstände entweder nicht die formelle Bildung genießen konnten oder nicht in einer Atmosphäre aufgewachsen sind, in der die Bildung des Herzens möglich war. Liberalität wird dort illiberal, wo alle prä- oder antiliberalen Menschen abgewertet werden.

Diese Abwertung kann ganz einfach dadurch geschehen, das eigene Leben mit den eigenen Werten zu führen, ohne die Rahmenbedingungen zu erkennen, in denen und durch die es überhaupt möglich ist. Raether spricht von einer Klassengesellschaft, in der die einen führen und die anderen folgen. „Wenn wir über Trump und seine Melania lachen, dann entlarven wir nicht sie, sondern uns.“

„Wir“ sind dabei alle, die es besser wissen, aber nicht verstehen, dass das Schlechter-Wissen auch dazugehört und verstanden werden will. Damit bleiben wir in einem geschlossenen Zirkel, in dem jeder Platz hat, der benachteiligt ist, außer er spielt nicht nach den Regeln des Zirkels. Die Grenze des Kreises derer, die dazugehören, wird durch Verachtung gebildet: Wer im Zirkel nicht mitkann oder mitwill, ist kein Vollmensch, sondern eine Schwundstufe davon, der die notwendigen Voraussetzungen fehlen.

Geht es ohne Verachtung?


Wie aber soll der, der es besser weiß, den nicht verachten, der sich dumm, schäbig oder gewalttätig verhält? Wie kann man nicht die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn die nunmehrige gewählte First Lady ihre Wahlrede von ihrer Vorgängerin, die noch dazu in der gegnerischen Partei verankert ist, abgeschrieben hat und sie nicht akzentfrei ablesen konnte?

Das ungläubige Kopfschütteln, das nach der Wahl vom 8. November durch die liberalen Kreise der Welt wie ein seuchenartiger Tick ging, ist Ausdruck eines verwunderten Aufwachens darüber, dass es noch etwas anderes geben kann als die heile Welt des liberalen Fortschritts. Die Verachteten sind plötzlich im Besitz der Macht und stehen strahlend im Rampenlicht, und die Liberalen drücken sich irritiert und verschämt im Hintergrund herum.

Es ist die Verwunderung und das Entsetzen darüber, dass außerhalb des Kreises des eigenen Denkens hinaus etwas entstehen kann, was Menschen mobilisiert und Partei ergreifen lässt. Menschen werden auch anders als über Vernunft und Argumente, ja sogar wider alle Rationalität politisch aktiv. Es ist die Verwunderung über die Wirkmacht des Postfaktischen, das auch ein Postrationales ist, freilich so, dass es vor allem die prärationalen Mechanismen regressiv nutzt.

All das kann aus der Position der intellektuellen und ethischen Überlegenheit konstatiert werden. Doch die Überlegenen haben solange nichts von ihrer Überlegenheit, solange sie in der Haltung der Ausgrenzung kultivieren. Denn die Mechanismen der Mediendemokratie konfrontieren sie mit der harten Realität der Unvernunft, gegen die jedes noch so geschliffene Argument und jede noch so profunde journalistische Recherche abprallt: Die Dummheit verschafft sich die Mehrheit und damit die Macht und übt sie aus, so gut oder schlecht sie kann, und die Besserwissenden müssen ohnmächtig zuschauen.

– Oder: Sie kämpfen: Sie bekämpfen jede Maßnahme, die die Entwicklung zurückschrauben will, sie treten gegen jede Form der Ungerechtigkeit auf und nutzen dafür alle Kanäle, die zur Verfügung stehen, shitstorms, flashmobs, Großdemonstrationen, ziviler Ungehorsam, gewaltfreier Widerstand usw.

Das ist die Kur für die Arroganz: die eigene Ohnmacht angesichts des Triumphs der Verdummung zu spüren und wieder von unten zu beginnen, den Widerstand in geduldiger Kleinarbeit und in großen Aktionen in die Öffentlichkeit einzubringen und damit die Zivilgesellschaft tiefer zu verankern: Verbunden mit den Interessen und Bedürfnisse derer, die zu kurz gekommen und unter die Räder gekommen sind und die befürchten müssen, an den Rändern der Wohlstandsgesellschaften zu verkümmern.

Das Projekt der Aufklärung steht immer wieder vor neuen Anfängen, die mit neuen Mitteln und auf neuen Wegen begangen werden müssen. Die vor allem ökonomischen Herausforderungen der Globalisierung sind gesellschaftlich noch kaum aufgefangen.  Für dieses Beginnen ist ein Schub der Kreativität von Nöten, die der populistischen Machtausübung eine offene Kultur und ein Feuerwerk von Initiativen und Projekten entgegenstellt. Die Gesellschaft muss bunt bleiben und noch bunter werden, auch wenn deren autoritäre Idole und Führungsgestalten die Schwarz-Weiß-Optik bevorzugen.

Die Überwindung der Verachtung


Im liberalen Grundkanon, der im Modell der Bewusstseinsevolution, das auf diesen Seiten immer wieder diskutiert wird, der personalistischen Stufe angehört, kommt auch der Begriff der fundamentalen Gleichheit aller Menschen vor. Menschenrechte müssen allen Menschen zukommen, um ihren Namen zu verdienen, unbesehen der Hautfarbe, des Geschlechts usw., und auch der Intelligenz und des Bildungsgrades. Deshalb widerspricht das Verachten von politischen Gegnern, mögen sie noch so peinlich auftreten und primitiv argumentieren, dem Grundrecht jedes Menschen, geachtet zu werden. Niemand darf vorverurteilt werden, aber jeder muss sich gefallen lassen, an den eigenen Handlungen gemessen zu werden.

Das ist die rationale Umgangsform mit der Verachtung. Er leitet hinüber in die systemische Bewusstseinsform.

Verachtung ist auch ein emotionaler Vorgang, dessen Entstehen primär nicht verhindert werden kann. Er taucht auf, wann er auftauchen will und hat seine Wurzel in tiefliegenden Erfahrungen des Verachtet-Werdens, Erfahrungen, die wir alle in uns tragen. Verachtung ist kein angenehmes Gefühl und schränkt das Bewusstsein und die eigenen Lebendigkeit und Kreativität ein.

Wie kann die Verachtung überwunden werden? Der erste Schritt besteht darin, sie in sich wahrzunehmen. Der vielzitierte Gutmensch ist einer, der sich schwer tut, solche Tendenzen in sich zu spüren, weil sie nicht zum Selbstbild passen. Aber auch der arrogante Liberale wird schwer zugeben, solche Stimmungen in sich zu kultivieren. Deshalb braucht es auch einen gewissen Mut, sich solchen „politisch nicht korrekten“ Mustern in sich selbst zu stellen und zu akzeptieren, dass sie da sind.

In diesem Schritt wird schon deutlich, dass wir alle Grenzen in uns tragen, innerhalb derer wir Menschen akzeptieren und achten können und dass wir darüber hinaus Schwierigkeiten haben. Daraus folgt, dass wir in uns vieles, wenn nicht alles tragen, was wir an anderen ablehnen. Auch wir sind in mancher Hinsicht dumm, ignorant, intolerant, reflexionsfaul und vorurteilssüchtig usw.

Nutzen wir die einfache Übung, in der bei jeder bemerkten Ablehnung anderer der Satz „Auch ich bin…“ vollendet wird. Also z.B. „Auch ich bin primitiv, auch ich bin intolerant…“ Wenn wir die befreiende Wirkung der Übung erfahren haben, brauchen wir keine Arroganz und keine Verachtung mehr. Der Lohn besteht in einem Zuwachs an Menschenliebe, die uns selber reicher macht. Außerdem hilft die Übung, das Vertrauen in das Fortschreiten der Menschlichkeit zu festigen und unsere Handlungsfähigkeit in dessen Dienst zu stellen.

Der Artikel von Elisabeth Raether ist am
4.8.2016 in der ZEIT erschienen und kann hier nachgelesen werden.
(Ich danke Sebastian Ehrmann für den Hinweis auf diesen Artikel.)


Vgl.  Krise der Liberalität
Faktizität und Bullshit
Dürfen wir Hofer für einen Nazi halten?

Freitag, 18. November 2016

Konflikteskalation und wie wir ihr entkommen

Wer den ersten Stein wirft, war es möglicherweise gar nicht. So schreibt der amerikanische Psychologieprofessor Daniel Gilbert, der Autor des Buches „Stumbling on Happiness“ (dtsch.: „Ins Glück stolpern: Suche dein Glück nicht, dann findet es dich von selbst“), in einem Artikel. Dort geht es um die Struktur von alltäglichen Konflikten, die wir schon als Kinder mit unseren Geschwistern kennengelernt haben: Er hat mich gehaut! Sie war so gemein! Er hat angefangen! Usw. 

Ähnlich, wenn auch in den Auswirkungen viel massiver, läuft es in den großen Konflikten auf dieser Welt. Die Antwort auf die Frage, wer schuld ist und wer begonnen hat, ist immer die gleiche: Die anderen.

Wir gehen von folgender Annahme als Grundlage einer allgemein menschlichen Ethik aus: Es gehört sich nicht, anzufangen (mit Gemeinheiten, mit Verletzungen, mit Beschimpfungen, mit Gewalt). Wenn wir aber angegriffen werden, haben wir das Recht uns zu verteidigen. Wir müssen uns nicht alles gefallen lassen; wir haben nur eine zweite Backe, die wir hinhalten können, und keine dritte. Also gilt Vergeltung für etwas, was uns angetan wurde, als gerechtfertigt. Allerdings sollte sie im Grad höchstens gleichwertig oder minimaler ausfallen und keinesfalls heftiger sein. Dann das würde nur die Rachespirale ankurbeln. Soziale Systeme müssen im Gleichgewicht gehalten werden, um zu funktionieren, deshalb braucht es ausgeglichene Kräfteverhältnisse.

Was haben nun die Psychologen herausgefunden? Jede Handlung hat eine Ursache und eine Wirkung: Etwas, das dazu geführt hat und etwas, das daraus folgt. Aber das menschliche Denken vereinfacht auf eine charakteristische Art: Die eigenen Handlungen werden als Konsequenzen aus den Handlungen anderer angesehen, während deren Handlungen als Ursache für Späteres gehalten werden. In einem Experiment wurden Versuchspersonen in Streitgespräche verwickelt. Wenn ihnen nachher eine ihrer Aussagen vorgehalten wurde, konnten sie sich daran erinnern, welches Argument der anderen Person sie dazu geführt hatte. Und wenn ihnen eine Aussage des Partners präsentiert wurde, erinnerten sie sich daran, wie sie darauf reagiert hatten.  Ist also unsere Erinnerung völlig egoistisch und selbstbezogen?

Auch was die Angemessenheit der Reaktionen anbetrifft, fehlt diese Hinwendung zum sozialen Ausgleich. In einem Experiment sollten Versuchspersonen gegenseitig Druck auf die Finger ausüben. Wenn A drückte, sollte B gleichviel Druck auf Ab zurückgeben. Die Forscher maßen den Druck und stellten fest, dass, obwohl die Versuchspersonen glaubten, den gleichen Druck zurückzugeben, dieser um 40% höher war, sodass sofort die Spirale der Vergeltung in Gang kam.

Warum ist das so? Die einfache Erklärung liegt darin, dass wir unseren eigenen Schmerz stärker spüren als den anderer Personen. Deshalb fügen wir der anderen Person mehr Schmerz zu, weil wir glauben, sie versteht dann, wie weh es uns getan hat. Natürlich passiert das Gegenteil, und die Eskalation geht weiter.  Es ist so simpel: wir verstehen uns selber immer besser als andere, weil wir unsere Gründe, Motive und Gefühle direkt wahrnehmen und ernstnehmen.

Der Ausweg liegt einzig darin, dass wir anfangen müssen, uns selbst zu misstrauen, also die Informationen, die unser Gehirn produziert, nicht als der Weisheit letzter Schluss zu nehmen, und statt dessen lernen, die Perspektive der anderen Person einzunehmen, indem wir darauf vertrauen, dass auch die anderen Menschen Motive und Gründe für ihr Verhalten haben, die wir vielleicht verstehen könnten. Unser Ego versucht uns immer weiszumachen, dass wir die Opfer der Bosheit oder Unbewusstheit der anderen sind und dass das Böse von dort kommt und nie von uns. Erst wenn wir erkennen, wie eng gestrickt die Netze der Selbsttäuschung sind, kommen wir aus den Spiralen heraus, auf die wir uns so leicht einlassen.

Der Klügere gibt nach, sagen die Eltern, wenn die Kinder streiten, damit der, der aufhört, den moralischen Bonus auf seiner Seite hat. Wenn wir uns selber sagen, dass wir nicht Recht haben müssen, sondern dass jeder andere in seiner Weise Rechthaber ist, kommen wir leichter aus der Verfangenheit und Abhängigkeit durch die Reaktionen der anderen heraus. Es ist ja nur unser Ego, das verliert, wenn es aus der Eskalationsspirale aussteigt und damit das destruktive Spiel beendet. Klugheit zahlt sich aus, weil sie uns aus einem Streit herausführt und schneller wieder mit dem inneren Frieden verbindet, der unserer Gesundheit und unserer Lebensfreude zuträglich ist.

Wir brauchen keine ethische Überlegenheit, die selber wieder ein Ego-Spiel ist. Wir müssen uns also nicht an unsere Fahnen heften, wie gut wir sind, weil wir jetzt nicht zurückschlagen, wo es doch unser Recht wäre. Vielmehr trägt der Racheverzicht den Lohn in sich: Wir entspannen uns und öffnen uns für konstruktive Möglichkeiten in unserem Leben.


Und wenn wir unsere innere Achtsamkeit weiter entwickeln, merken wir schneller, wann wir uns in Machtkämpfe verwickeln. So können wir auch schneller den Ausweg finden und damit die Dynamik der Eskalation im Keim unterbinden.

(Ich danke Renate Prigl für den Artikel von Daniel Gilbert, auf den dieser Beitrag Bezug nimmt.)

Montag, 14. November 2016

Islamischer Terror und der Schaden für den Islam

Terror und Islam ist nicht synonym, aber eng assoziiert, und diese Assoziation wächst mit jedem Terrorakt, der sich auf den Islam als Legitimation beruft. Unermessliches Leid und weit verbreitete Ängste sind die Folgen dieser Handlungen, und sie stellen auch den Islam als Religion kontinuierlich in Frage.

Der islamische Extremismus ist für den Islam viel gefährlicher als für den Rest der Welt. Denn die westliche Welt, die eines der Hauptangriffsziele islamischer Terroristen ist, hat viele Möglichkeiten sich zu verteidigen, und jedes Verbrecher stärkt die Bereitschaft dazu, aber auch die Ablehnung des Islams.

In vielen Gegenden dieser Welt verüben Menschen Gewaltverbrechen im Namen des Islams. Kriege werden in diesem Namen geführt ebenso wie die Vergewaltigung von Frauen und die gezielte Ausrottung von nicht islamischen Glaubensgruppen.

Deshalb verwundert es nicht, dass immer mehr Menschen die islamische Religion mit Gewalt und Unmenschlichkeit zu identifizieren. Hunderte Millionen von Menschen moslemischen Glaubens haben jedoch keinerlei Sympathie für Gewalt und lehnen die Methoden der extremen Organisationen ab. Aber es fehlt die geschlossene, eindeutige und massive Verurteilung der Ansichten und Aktionen der Verbrecher. Statt dessen entsteht der Eindruck, dass die moslemische Mehrheit eine "klammheimliche" Akzeptanz der Motive der Gewaltislamisten pflegt, ähnlich der Bewunderung mancher Linksintellektueller für die Aktionen der Roten Armee-Fraktion im Deutschland der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Es ist auch unübersehbar, dass sich die islamische Welt über westliche Mohammed-Karikaturen unvergleichlich mehr erbosen kann als über Massenmorde durch islamistische Terroristen. Extreme Intoleranz und Wehleidigkeit dort, wo die Integrität der eigenen Religion auf gewaltfreie Weise angepatzt wird, und Blindheit dort, wo im Namen dieser Religion massenhaft Gewalt ausgeübt wird – diese Heuchelei fällt unweigerlich auf den Islam als Religion zurück, obwohl sie eigentlich aus sozial verzerrten Wahrnehmungen entsteht.

Die vielen Passagen im Koran, die gegen die Gewalt zur Lösung von Problemen sprechen, gelten offenbar nichts, während die, die zum Kampf gegen Ungläubige aufrufen, aus dem Kontext gerissen werden. „Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne (dass es) einen Mord (begangen) oder auf der Erde Unheil gestiftet (hat), so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte.“ (Koran Sure 5,32) Das ist ein eindeutiges Verbot von ungerechtfertigter Gewalt, wie sie immer wieder von islamischen Terroristen ausgeübt wird.

Und es fehlt die Fatwa, die Glaubensauslegung von den höchsten Autoritäten, die alle, die sich ungerechtfertigte Gewalt anmaßen, in die Pflicht zu nehmen und alle Konsequenzen durchzusetzen, die die Glaubensinstanzen vorsehen. Autoren, die Bücher schreiben, in denen Mohammed angeblich beleidigt wird, werden mit mehr Eifer verfolgt als Massenmörder.

Dieses massive Ungleichgewicht untergräbt die Autorität der Religion und führt über kurz oder lang zur Selbstauflösung des Islam. Will sie nicht zu einer Sekte werden, die Gewalttätigkeit und Mordlust in den eigenen Reihen duldet, müsste sie mit aller zu Gebote stehender Macht dagegen auftreten und unmissverständliche Klarheit über Gut und Böse herstellen und gegen die Übeltäter durchsetzen. Wird die Notwendigkeit dieser Klarstellung übersehen, wird die islamische Religion in dem Maß, in dem über Bildung und westlich gefärbte Medien die Modernisierung und Aufklärung Einzug in die islamische Kultur hält, an den Rand gedrängt und zu einem Nischendasein verbannt.

Einige Zeit noch wird der Islam als identitäts- und kulturstiftendes Element im Bewusstsein vieler Menschen präsent bleiben. Millionen von Menschen definieren sich über ihren moslemischen Glauben. Doch wird diese Identität immer brüchiger, in dem Maß, in dem Terroristen im Namen der Religion diese selber untergraben. Der Spagat, sich einer Religionsgemeinschaft zugehörig zu fühlen, die Massenverbrechen in ihrem Namen nicht unterbinden und sanktionieren kann, obwohl man selber Gewalt verabscheut, ist auf Dauer schwer auszuhalten.

Gewalt ist unfähig, menschliche Probleme zu lösen, vielmehr vermehrt es diese, ähnlich wie der Konsum von Drogen innere Probleme nicht erleichtert, sondern langfristig enorm steigert. Religionen, die Gewalt im eigenen Namen tolerieren, begünstigen Unmenschlichkeit und haben deshalb kein gestalterisches Zukunftspotenzial. Im Zug des Fortschritts ihres Selbstbewusstseins und der Weitung der Lebenshorizonte können die Menschen immer mehr auf solche ideologische Relikte aus barbarischen Vorzeiten verzichten. Verloren geht dabei freilich auch die lebensgestaltende und –fördernde Substanz der Glaubensbotschaften, und verspielt haben diese Kräfte all jene, die Verantwortung für die Religion tragen und sie nicht nutzen, um die Gewalt im eigenen Namen nachhaltig zu verdammen und den Missbrauch von Religion für ideologische Zwecke und gewaltpolitische Ziele abzustellen.


Vgl.: Geschlossene Systeme und inhärenter Hass
Ist der Terror islamisch?

Donnerstag, 10. November 2016

Krise der Liberalität?

Die USA haben gewählt, und für viele Menschen, die sich mit innerer Entwicklung beschäftigen, löst das Ergebnis das blanke Entsetzen aus. Es wurde ein Mensch als Präsident gewählt, der keine Gelegenheit ausgelassen hat, sich als Gegner von Liberalität, Menschenrechten (einschließlich Frauenrechten), persönlicher Moral und Fortschritt zu inszenieren. Dass diese Mischung bei so vielen amerikanischen Bürgern Anklang gefunden hat, erstaunt alle, die ein Bild von den USA haben, das mit Modernität, Emanzipation, technologische Entwicklung, freundlichen und weltoffenen Menschen assoziiert ist – das Bild, das die meisten Medien in den Zeiten des Wahlkampfes verbreitet haben, wo z.B. in der New York Times die dunklen Geschäfte des neuen Präsidenten und seine abwertenden Kommentare zu den verschiedensten Menschengruppen für jeden lesbar aufbereitet wurden.

Dennoch hat Donald Trump die Mehrheit der Wahlmännerstimmen bekommen (nicht die Mehrheit der Wähler). Aber immerhin haben ihn 42% der Frauen (die zur Wahl gegangen sind) gewählt, die offenbar nichts daran finden, einen Präsidenten zu haben, der seine eigenen frauenfeindlichen Einstellungen lustig findet. 29% der Latinos haben ihm die Stimme gegeben, obwohl er sie im Wahlkampf beleidigt, herabgesetzt und bedroht hat. Nur die Schwarzen, soweit sie überhaupt gewählt haben, haben sich geweigert, ihren eigenen Gegner mit der höchsten Macht im Staat auszustatten, nur 9% für Trump in dieser Wählergruppe.

Wir wundern uns: Leute, die vom sozialen Abstieg bedroht sind oder ihn schon aufgrund der wirtschaftlichen Veränderungen erlebt haben, wählen einen Multimilliadär, der keinerlei soziale Neigungen aufweist, sondern zeit seines Lebens an der Mehrung des eigenen Vermögens unter Ausnutzung aller Schlupflöcher des Steuersystems zu arbeiten. Trump hat ja immer betont, wie viel er seinem Vater verdankt, dessen dreiste und menschenverachtende Gaunereien in die Folkmusik Eingang gefunden haben.

Offensichtlich ist dieses Ereignis ein Schlag ins Gesicht der Bewusstseinsevolution. Ein Präsident tritt ab, der zumindest eine Ahnung vom systemischen Denken hat und mit vielen ambitionierten Ideen an der politischen Wirklichkeit gescheitert ist, ein Mann, der intelligent reden und argumentieren kann, der zuhören und andere Meinungen verstehen kann. Ein neuer Präsident tritt auf, dessen soziale Intelligenz offensichtlich weit unterhalb dieses Niveaus angesiedelt ist und der keinen Blick jenseits des brutalen materialistischen Bewusstseins wagt, der das machtgierige emanzipatorische Ego-Denken voll aufgesogen hat und nach diesen Maßstäben das Land und den Staat umkrempeln will. Also ein Rückfall auf frühere, schon längst überwunden geglaubte Entwicklungsstufen?

Ich denke, dieses Ereignis macht uns darauf aufmerksam, wie langsam und gewunden die Entwicklung verläuft. Menschen werden immer wieder von Ängsten geleitet, deren Herkunft sie nicht kennen und auch nicht kennen wollen. Sie suchen die Rettung bei jemandem, der scheinbar die Ängste überwinden kann und vorzeigt, wie viel man dadurch gewinnen kann. Wir leben in einem Umfeld, in dem Menschen daran interessiert sind, sich innerlich weiter zu entwickeln, und wir nehmen deshalb an, dass das für alle anderen auch so ist. 


Tatsächlich, und das zeigt auch diese Wahl, sehen wir nur einen winzigen Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit und schließen aus unserem Mikrokosmos auf das große Ganze. Die Gesellschaft ist also noch lange nicht so weit, den Mut aufzubringen, den es erfordert, sich den Ängsten zu stellen, für die eigenen Gefühle und Einstellungen Verantwortung zu übernehmen und Mitmenschlichkeit und Respekt vor den Egoismus zu stellen. Zwar scheint es einfacher, die Lösung der eigenen Schwierigkeiten von einem politischen Zampano zu erwarten, als selber die Ärmel aufzukrempeln, aber das Lernen ist unausweichlich und die Enttäuschung folgt, sobald deutlich wird, dass ein neuer Präsident keine Zauberfee ist, die über alle das Glückshorn ausschüttet. Die Magie ist schnell verpulvert, und der Blick nach innen unausweichlich. Wir können ihn immer wieder hinausschieben, bis wir erkennen, dass das den Preis erhöht und wir besser daran tun, wie wir über unsere Beschränkungen hinaus wachsen können.

So, wie wir selber immer wieder mit unseren Entwicklungsprozessen, die uns das Leben präsentiert, ringen, stellt sich das Szenario im Ganzen vor. Auch wenn bei der Wahl die demokratische Kandidatin gewonnen hätte, ist diese Arbeit zu leisten, und das braucht die Zeit, die es braucht. Weltoffene Führungsfiguren, die über den Rand des eigenen Egos hinausblicken können, geben Vertrauen und Zuversicht für solche Schritte; Führungsfiguren, die das Gegenteil zelebrieren, bleiben das schuldig und richten häufig zusätzlichen Schaden an. So sehr wir das bedauern, so sehr müssen wir uns eingestehen, dass es letztlich geschehen muss, damit über solche Umwege schließlich die Weiterentwicklung ihre Bahn findet. Wir müssen unsere Erwartungen immer wieder an die Realität anpassen und den Blick vom Kleinen zum Größeren, vom Aktuellen zum Weitgespannten öffnen.

Es befindet sich also nicht die Liberalität in der Krise, bloß weil ein Illiberaler US-Präsident ist. Vielmehr zeigt sich das Ausmaß der Herausforderung: Wieviel Aufklärungsarbeit noch notwendig ist, um die Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszuführen, wie das Immanuel Kant im 18. Jahrhundert formuliert hat. Tatsächlich kann dieses Ereignis einen Schub in dieser Richtung auslösen, und möglicherweise geht die Person des Präsidenten gegenüber den Bewegungen, die aus der Kreativität des Freiheitsdrangs entstehen, in der nachträglichen Geschichtsbetrachtung unter.

Und: Wir Österreicher haben am 4. Dezember die Chance, ein Zeichen für Weltoffenheit und Menschlichkeit gegen Angstmacherei und Vorurteilsprägungen zu setzen. Nachdem bei der Brexit-Abstimmung und der US-Wahl Demagogen und Populisten erfolgreich waren, können wir für eine Trendwende sorgen! Engagieren wir uns für die Wahlbewegung von Alexander van der Bellen!!!


Vgl. Arroganz - der Schatten der Liberalen
Obama und Osama
Snowden und die amerikanische Freiheit
Postfaktualität

Mittwoch, 9. November 2016

Ist die Diagnose die Krankheit?

Im psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich gibt es umfangreiche Kataloge von Störungen und Erkrankungen (ICD-10, DSM-5). Ist es wirklich der Fall, dass solche Krankheiten so eindeutig diagnostiziert werden können wie Heuschnupfen oder Beinbrüche? Schon im "rein" physiologischen Bereich gibt es alle möglichen Schwierigkeiten in der Diagnostik, die sich ins Unermessliche potenzieren, wenn der psychische Bereich dazukommt. Denn wir sind in diesem Bereich in hohem Ausmaß dynamisch und plastisch, verändern uns beständig und reagieren in den verschiedenen Umständen unterschiedlich. Hier durchgängige Verhaltens- und Erlebensmuster ausfindig zu machen ist sehr komplex und geht nur, wenn die betroffene Person mitmacht, indem sie ihr Befinden und ihren inneren Leidenszustand beschreibt.

Trotz dieser theoretischen und praktischen Schwierigkeiten nutzen wir Diagnosen wie verschärfte Formen der Bewertung. Wenn uns jemand aggressiv begegnet, bezeichnen wir ihn als Psychopathen, wenn jemand nicht angemessen auf uns reagiert, nennen wir sie hysterisch oder depressiv. 


Sylvester Walch nennt das Schattenverschreibungen - Schatten, also unbewusste Anteile, die wir anderen Menschen unterstellen, weil wir aus irgendeinem Grund mit ihnen Schwierigkeiten haben. Die Benennung gibt uns die Sicherheit, dass es nicht an uns liegt und dass wir die andere Person einordnen können, sodass sie uns nicht gefährlich werden kann.
"Es  ist wichtig, sich vor Schattenverschreibungen zu hüten. In der therapeutischen Arbeit ist das natürlich ein Thema ... Aber im normalen zwischenmenschlichen Kontakt soll das nicht geschehen, vor allem nicht in einer kämpferischen Art und Weise, wo ich dem anderen beweisen möchte, wie schlecht er ist. Denn sobald Schatten mit Bewertung zu tun hat - das gilt übrigens auch für Diagnosen -, wird es nicht mehr hilfreich sein, ihn zu erwähnen." (Sylvester Walch, Die ganze Fülle deines Lebens, Fischer & Gann 2016, S. 79)
Diagnosen umschreiben Störungsbilder. Sie machen aus einem vielfältigen und multidimensionalen Wesen ein eindeutig definiertes, aus etwas Fließendem etwas fest Umgrenztes. Der Mensch wird auf das reduziert, was bei ihm nicht optimal funktioniert: Du reagierst nicht so, wie es von einem Durchschnittsfall aus deiner Populationsgruppe erwartet werden könnte, folglich bist du ein Fall von ...., also ein minderes Exemplar, das noch unfertig ist und erst nach entsprechender Verbesserung in den Kreis vollwertiger Menschen aufgenommen werden kann.

Ingeborg Bachmann hat in dem beklemmenden Romanfragment "Der Fall Franza" das Schicksal einer Frau dargestellt, die von ihrem Mann, der Psychiater ist, diagnostiziert und analysiert wird. Sie scheint in seinen Notizen als krankheitswertiger Fall auf, der in einem "großartigen Versuch" psychologisch durchleuchtet wird, bis die Frau schließlich in eine Klinik eingewiesen wird.

Diagnosen sondern Menschen aus. Ihr Sinn wird damit begründet, dass sie Menschen behandelbar machen und damit dem Bestreben der Gesundheitsapparate entgegenkommen: Die Krankheit wird definiert, die entsprechende Behandlung angewandt, die Besserung oder Heilung dokumentiert. Je exakter die Diagnose, desto besser die Heilungschancen.
 

So einleuchtend diese Prozedur bei vielen körperlichen Erkrankungen sein kann, so irreführend ist es, sobald psychische Komponenten an der Krankheit beteiligt sind - und die Frage ist, ob solche Einflüsse nicht jedesmal mitspielen, wenn es zu irgendeiner Erkrankung kommt. Das mechanische Modell, das bei einer Blinddarmentzündung hilfreich ist, wird immer unbrauchbarer, je komplexer die Störung ist, je mehr also der psychische Bereich mit ins Spiel kommt.

Eine Diagnose zieht eine scharfe Grenze zwischen gesund und krank. Bis hierher ist jemand normal, jenseits davon ist jemand gestört. In der Wirklichkeit gibt es solche Grenzen nicht, vielmehr bestehen Kontinuitäten und graduelle Unterschiede. Es gibt gerade im Bereich psychischer Störungen viele Formen, die situationsabhängig zu Pathologie oder zu Unauffälligkeit neigen.

Bei unachtsam angewendeten Diagnosen handelt es sich um massive kategoriale Abwertungen, die die Person aus dem Zentrum der gesellschaftlichen Interaktion herausrücken als jemand, der eine gesonderte Behandlung notwendig hat. Diagnosen schaffen nicht nur Unterschiede von oben nach unten, wie sie schon in einfacheren Bewertungen vorgenommen werden: Du bist der Trottel, ich bin besser und dir damit überlegen und übergeordnet. Dazu noch grenzen sie horizontal aus: Sie machen einen Unterschied zwischen dem Zentrum, in dem sich das Gesunde und Normale aufhält, und dem Rand, an dem das Gestörte und Abnormale angesiedelt wird.

Aus vielen Gründen ist deshalb große Vorsicht geboten, solche Diagnosen anzuwenden. Sie sollten auf zwingende Notwendigkeiten beschränkt bleiben. Gesundheitssysteme müssen ihre Gelder verwalten und brauchen definierte Verwendungszwecke. Für diese Zwecke gibt es die Diagnoseschlüssel und -tabellen. Und wegen der heiklen Lage sind solche Befunde datenrechtlich vor Weiterverbreitung und Missbrauch geschützt.

Außerdem sind Diagnosen für die praktische Arbeit mit Patienten oder Klienten nicht brauchbar. Denn sie verhindern den Blick auf die Vielschichtigkeit, die jeder Mensch in sich trägt. Sie bewirken mentale Verhärtungen, starre Kategorisierungen, die der dynamischen Natur des Lebens nicht gerecht werden und damit auch einer inneren Weiterentwicklung hinderlich im Weg stehen können. Denn solche Etikettierungen werden leicht verinnerlicht, womit die Störung als Teil der Identität aufgebaut wird, bis die Identität die Störung stabilisiert.

Manchen Leidenden kann eine Diagnose entlasten. Das eigene Problem bekommt einen Namen, und es gibt andere, die an ähnlichen Symptomen leiden. Doch gilt dieser Nutzen nur, wenn die Diagnose in einem achtungsvollen Rahmen vermittelt wird und nicht wie ein Urteil von einer übergeordneten richtenden Instanz übergestülpt wird. Diagnosen sollten also nur in Absprache mit den betroffenen Personen zugeordnet werden. Keinesfalls ist es ethisch vertretbar, über andere ohne deren Einverständnis Diagnosen auszusprechen.

Diagnosen sind immer fehleranfällig. Diese bekannte Geschichte zeigt, was wir von der Stichhaltigkeit von Diagnosen halten können:

Zwei Psychiater, die sich nicht kennen, bekommen den Auftrag, jeweils den anderen, der schizophren sei, der aber behaupte, er sei Psychiater, zu behandeln. In den Gesprächen bestätigen beide die anfangs angenommene Schizophrenie. Beide Psychiater sind allerdings völlig normal, und die Situation zeigt die Absurdität von Voreinstellungen und Bewertungen.

Körperliche und seelische Erkrankungen: Zweierlei Maß


Warum tun wir uns leichter, körperliche Krankheiten zuzugeben als seelische? Warum haben wir mehr Mitgefühl und Verständnis, wenn über jemanden gesagt wird, er wäre schwer verkühlt als wenn gesagt wird, er leide an einer Zwangsstörung? Beides sind gestörte Funktionsabläufe in einem Organismus, beides bereitet den betroffenen Personen Leiden, und doch haben wir unterschiedliche innere Kategorien, in die wir die beiden Nachrichten einordnen: Wir gehen davon aus, dass Körperkrankheiten aus irgendwelchen Quellen entstehen, die nicht in unserer Macht liegen. Die Krankheit befällt uns und wir müssen schauen, wie wir damit fertig werden.

Bei Seelenkrankheiten nehmen wir an, dass die betroffene Person mangels Eigenverantwortung gestört ist (viel seltener sagen wir … erkrankt ist). Sie hat sich zu wenig „zusammengerissen", zu wenig angestrengt, sie hat zu wenig Eigeninitiative gezeigt usw. Sie ist also selber schuld. Deshalb gönnen wir ihr weniger Mitgefühl, sondern neigen eher zu Herablassung und Verachtung. Diese Gefühle geben uns die Sicherheit, auf der richtigen und gesunden Seite zu sein. Es scheint so, als würden uns solche Störungen mehr Angst machen als "einfache" körperliche Erkrankungen.


Auch aus der Geschichte gibt es viele Beispiele, die die Diskriminierung von Geisteskrankheiten belegen. Schizophrene wurden bis ins 19. Jahrhundert in Verliese eingesperrt. Alle möglichen grausamen Prozeduren wurden an ihnen erprobt, und im Nationalsozialismus wurden sie als lebensunwertes Leben ermordet.


Der Grund für diese merkwürdige Abwertung der seelischen Krankheiten liegt vermutlich darin, dass seelische Störungen das Sozialleben stärker gefährden als körperliche Erkrankungen. Wir können mit jemandem, der eine Grippe hat, weiterhin normal kommunizieren; seine Persönlichkeit bleibt von der Krankheit unverändert (so nehmen wir zumindest an) und der Heilungsprozess betrifft nur den Körper. Wir fühlen uns auch im Wesentlichen gleich mit uns selbst, wenn wir Kopfweh haben, während sich bei einer seelischen Störung häufig unser Selbstverständnis, also das, was wir von uns selber halten und wie wir zu uns selbst stehen, drastisch verändern kann. Und wir wirken anders auf andere, denn auch das Kommunikationsverhalten ändert sich. Die Irritation ist zweifach und verstärkt sich gegenseitig. 


Wir können erst von dem an sich unsinnigen Wertungsunterschied zwischen körperlichen und seelischen Erkrankungen wegkommen, wenn wir selber bereit sind, seelische Störungen als das einzuschätzen, was sie sind: aus der Bahn gelaufene innere Regulationsmechanismen, genau wie bei den körperlichen Störungen. Und wenn wir erkennen, dass wir alle da und dort, in dieser oder jener Situation, unsere optimale Verfassung und Handlungsfähigkeit verfehlen. Dann wollen wir nicht gleich psychiatrisch diagnostiziert werden, sondern Verständnis und Respekt. So wird es uns leichter fallen, auf Zuschreibungen, die aus unserer eigenen Wertungsorientierung stammen, zu verzichten und den Menschen vor jede Diagnose zu stellen und in seinem besonderen Wert anzuerkennen.


Sonst wird Karl Kraus immer Recht behalten: „Eine der verbreitetsten Krankheiten ist die Diagnose.“ Besser hingegen sollte es uns mit Georg Kreislers Lied gehen: „Keine Diagnose. Kein Präparat. Keinerlei Prognose. Kein Resultat. Abgefühlt, betastet, erblich nicht belastet - unheilbar gesund.“