Samstag, 25. Februar 2023

Geduld ist die Tugend der Glücklichen

Wenn wir ungeduldig sind, sind wir nicht einverstanden, wie die Zeitstruktur der Wirklichkeit gerade beschaffen ist. Wir hätten gerne, dass irgendetwas schneller abläuft, als es gerade abläuft. Der Zug, auf den wir warten, soll schneller da sein, die Person, mit der wir weggehen wollen, soll schneller fertig werden, der Stau, in dem wir stecken, soll sich schneller auflösen usw. Wir geraten in Stress und machen die Umwelt dafür verantwortlich. Da sie sich nicht unseren Erwartungen gemäß verhält, erzeugt sie einen Druck in uns, der uns unangenehm ist und den wir so schnell wie möglich wieder loswerden möchten. Wir geraten in eine Opferrolle der äußeren Wirklichkeit gegenüber, denn sie alleine kann und muss dafür sorgen, dass es uns wieder besser geht und wir aus dem Stress herausfinden. 

Soziale Ängste 

Hinter der Ungeduld steckt die Angst, etwas zu versäumen, etwas nicht zu schaffen, etwas zu verlieren usw. Die Angst entsteht, weil unsere Erwartung zerstört wird, also die Fantasie, die wir über die Zukunft entwickelt haben, z.B. die Vorstellung, pünktlich zu dem Geburtstagsfest einzutreffen. Wir geraten in Stress, weil die ausbleibende Straßenbahn oder der Stau auf der Zufahrtsstraße unsere Pläne durchkreuzt und bewirkt, dass wir unpünktlich sein werden. Wir sind gerne zuverlässig und befürchten, dass wir wegen dem Zuspätkommen unsere Gastgeber enttäuschen und sie uns dann für unzuverlässig halten. Im Grund plagt uns die Angst, weniger gemocht zu werden und in der Achtung unserer Mitmenschen zu sinken, die den Stress auslöst.

Ungeduld und Wut

Hinter der Ungeduld steckt auch eine Aggression. Sie ist der Gegenpart zur Ohnmacht, die mit Situationen verbunden ist, über die wir keine Kontrolle haben, die wir also nicht in unserem Sinn gestalten können. Wir sind der Langsamkeit anderer Menschen oder der Säumigkeit von anderen Abläufen ausgeliefert. Der Zorn gibt uns das Gefühl, Einfluss ausüben zu können und zu müssen. Wir erlangen also ein Stück der Kontrolle zurück. Selbst wenn wir nur schimpfen und hadern, bekommen wir den Eindruck, dass wir etwas Macht ausüben können. Wir fühlen uns handlungsfähig. Wir stellen der widrigen Wirklichkeit eine Energie von uns gegenüber und fordern sie heraus. Wir wollen sie mit unserer Kraft zwingen, dass sie sich unseren Vorstellungen gemäß verhält. Wir beschweren uns über das, was uns da zugemutet und auferlegt wird und wir klagen an, dass uns ein Stress bereitet wird. Die Wut suggeriert uns, dass wir der Opferrolle nicht ausgeliefert sind, sondern dass wir uns wehren können. 

Allerdings wird es in den meisten Fällen so sein, dass unsere Wut nichts ausrichtet. Der Zug kommt nicht schneller, auch wenn wir uns noch so ärgern. Der Stau reagiert nicht auf unseren Gemütszustand. Und der Mitmensch, dem wir unseren Zorn über seine Saumseligkeit entgegenschleudern, wird möglicherweise selbst zornig reagieren und damit auch nicht schneller unsere Erwartungen erfüllen. Mit der Wut können wir zwar ein wenig von unserem Stress loswerden, steigern aber unter Umständen den Stress in unserer Umgebung.

Ungeduld und Scham

Hinter der Ungeduld stecken auch Schamgefühle. Denn die Ungeduld nährt sich aus Erwartungen und sozialen Zusammenhängen. In den meisten Fällen geht es darum, dass wir fürchten, die Erwartungen anderer Menschen zu enttäuschen, was uns Schamgefühle beschert. Manchmal geht es auch um Erwartungen, die wir an uns selber haben, wenn wir z.B. ungeduldig sind, weil wir eine Arbeit nicht in der Zeit schaffen, die wir dafür vorgesehen haben. In diesen Situationen schämen wir uns vor uns selbst und werten uns ab, weil wir nicht unserem Ideal entsprechen. 

Das Üben der Geduld

Zunächst sollten wir einsehen, dass jeder Stress in uns selber entsteht. Wir verfügen nicht über einen Knopf, auf den andere Menschen oder Reize aus der Umwelt drücken, und dann spüren wir uns gestresst. Wir deuten bestimmte Ereignisse in unserer Umgebung so, dass sie uns bedrohen, und das löst dann die Stressreaktion aus. Meist erfolgt diese Interpretation unbewusst, aber sie erfolgt in uns. Wir sind es also, die den Stress produzieren, und wir sind dafür verantwortlich. Wir haben also auch die Verantwortung, den Stress wieder zu beruhigen, z.B. indem wir unsere Ausatmung entspannen und langsamer atmen. Wir können die unangenehme Wartezeit in eine Meditationszeit umwandeln. Wir können uns mit etwas beschäftigen, das uns entspannt und interessiert. Wir haben viele Möglichkeiten, um vom Stress herunterzukommen, die wir erst ergreifen können, sobald wir erkennen, dass unser Stress hausgemacht ist. 

Dann geht es auch darum, zu erkennen, dass wir uns in der Ungeduld und dem Ärger, der in ihr steckt, mit der Wirklichkeit zerstreiten. Wir stellen uns über sie drüber und wollen sie beherrschen. Doch ist das ein sinnloser Anspruch. Bekanntlich wachsen die Grashalme nicht schneller, wenn wir sie antreiben. Die Wirklichkeit ist immer mächtiger als wir selbst. Alles, was sie von uns einfordert, ist Akzeptanz: Das Annehmen dessen, was jetzt gerade ist. Das, was wir wollen, kommt immer erst hinter dem, was ist. Beim Streit mit der Wirklichkeit unterliegen wir immer. Sobald wir aber akzeptieren, was ist, öffnen sich unsere Handlungsräume. Wir gewinnen einen Überblick über die Möglichkeiten, die wir haben, z.B. eine andere Route zu wählen, die entstandene Wartezeit mit anderen Inhalten zu füllen usw. Auf diese Weise versöhnen wir uns mit der Wirklichkeit, und der Stress löst sich. Wir können das genießen, was gerade ist. In diesem Sinn meint Spinoza: „Geduld ist die Tugend der Glücklichen.“

Das Leben bereitet uns immer wieder Überraschungen, und zu den unangenehmen Überraschungen zählt alles, was uns ungeduldig macht. Wir fallen aus dem Fluss des Lebens heraus und auf uns selber und unser starrsinniges Ego zurück. Es will uns einreden, gegen das Leben zu kämpfen, um unsere Interessen und Vorstellungen durchzubringen. Doch ist dieser Kampf aussichtslos. Wir werden ihn nie gewinnen, sondern nur noch mehr Stress aufbauen.

Die Geduld zu erwerben und zu vergrößern, ist ein Prozess in der Vertiefung unserer Bewusstheit. Jede Regung der Ungeduld in uns ist eine Chance, mehr in die Akzeptanz der Wirklichkeit zu gehen und unser Ego zurückzustufen. Mehr Geduld bedeutet mehr Lebensqualität. Rainer Maria Rilke schreibt: „Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles!“

Zum Weiterlesen:
Geduld: Sich dem Leben anvertrauen
Der notorische Selbstzweifel
Akzeptiere was ist - einfach ist es nicht


Donnerstag, 23. Februar 2023

Rollen von Kindern narzisstischer Eltern

Wenn Kinder narzisstische Eltern oder Eltern mit narzisstischen Anteilen haben, tun sie sich schwer, ein intaktes Selbst aufzubauen. Je nach den Prägungen und Defiziten der Eltern neigen sie dazu, bestimmte Rollen einzunehmen. Solche Rollen dienen dann als unbewusste Leitlinien für das Erwachsenenleben und für die Beziehungsgestaltung. Sie prägen auch das Schamempfinden.  

Diese Rollen sind nicht scharf voneinander abgegrenzt, sondern können auch in Kombination oder in verschiedenen Situationen abwechselnd auftreten. So können goldene Kinder zugleich Helfer sein und einen Anteil an Gehirnwäsche mitnehmen. Schwarze Schafe sind oft auch Sündenböcke. Die Wahrheitsverkünder werden meist zu schwarzen Schafen. Bei Einzelkindern kann es sein, dass sie mehrere Rollen übernehmen müssen. 

Es ist in dem Artikel immer von den narzisstischen Eltern die Rede; oft ist es so, dass nur ein Elternteil starke narzisstische Züge ausgeprägt hat. Aber es wird immer auch einen komplementären narzisstischen Teil bei dem anderen Elternteil geben, sonst würde die Beziehung zwischen den Eltern nicht von Dauer sein. 

Im Folgenden werden einige der Rollen, die Kinder in einer Familie mit narzisstischen Eltern einnehmen, näher erläutert. Die Bezeichnungen habe ich aus dem Buch von Turid Müller übernommen: Verdeckter Narzissmus in Beziehungen. (Kailash-Verlag 2022) 

Das goldene Kind

Es wird von den Eltern idealisiert, die es unbewusst als Erweiterung ihres Selbst ansehen und es dazu nutzen, die inneren Defizite aufzufüllen. Solchen Kindern wird missbräuchlich die Erwartung in die Wiege gelegt, die Träume und Sehnsüchte der Eltern zu verwirklichen. Sie haben dann große Probleme, eigene Wünsche und Ziele zu entwickeln und umzusetzen. Alle Errungenschaften und Erfolge des Kindes vereinnahmen die Eltern für sich und erzählen dann: „Wir haben ein ausgezeichnetes Schulzeugnis bekommen!“ „Wir haben den Schönheitswettbewerb gewonnen.”   

Vergoldete Kinder brauchen andere Personen in ihrer Umgebung, um nicht selber zu Narzissten heranzuwachsen, da sie den Narzissmus ihrer Eltern widerspiegeln. Entweder schaffen sie es mit ihrer hohen Anspruchshaltung, erfolgreich zu werden und sich ein Leben voll von Statussymbolen aufzubauen, um von allen bewundert zu werden. Dabei sind Züge des grandiosen Narzissmus unvermeidlich. Oder sie geraten in die Schiene des Versagens, in die depressiv-narzisstische Variante. Sie erwarten, dass ihnen das Leben alles in den Schoß wirft, was sie sich wünschen, ohne sich anstrengen zu müssen. Geschieht das nicht, sind die äußeren Faktoren dafür verantwortlich. Es kann sein, dass sie oft bis weit ins Erwachsenenleben im Haushalt der Eltern verbleiben und an ihrer Erfolglosigkeit und Unselbständigkeit leiden, für die sie die Schuld bei anderen suchen, ohne die Bereitschaft zu entwickeln, sich mit eigener Verantwortung aus der Misere zu befreien. 

Goldene Kinder wissen nur Gutes über ihre Eltern und ihre Kindheit zu erzählen, die in ein verklärtes Licht getaucht wird. Makellos wie die Kindheit gewesen sein soll, so makellos wollen sie als Erwachsene erscheinen. 

Goldene Kinder entwickeln unbewusste Schuldgefühle gegenüber ihren Geschwistern, die benachteiligt worden sind und deshalb Eifersuchtsgefühle entwickelt haben, oder sie kompensieren das schlechte Gewissen damit, ihre Geschwister abzuwerten und zu missachten. Narzisstische Eltern haben oft die starke Neigung, Keile zwischen die Kinder zu treiben, indem die einen bevorzugt und die anderen benachteiligt werden, die einen zu Verbündeten und die anderen zu Sündenböcken oder Außenseitern erklärt werden.  

Für goldene Kinder ist es wichtig, von früh an zu lernen, die eigenen Schamgefühle zu verdrängen oder zu instrumentalisieren. An deren Stelle entstehen starke Neigungen zur Unverschämtheit und Arroganz (bei der grandiosen Variante) oder die Schamgefühle äußern sich in Anklagen gegen die Ungerechtigkeiten und im Vertiefen der Opferrolle, womit die Neigungen zu Selbstzweifeln und Selbstanklagen kaschiert werden. (bei der verdeckten Variante). 

Das gehirngewaschene Kind  

Auch das Schlimme, was ihnen widerfährt, interpretieren sie als Ausdruck elterlicher Liebe, oft initiiert von Eltern, die dem Kind suggerieren, es geschehe alles zu seinem Besten. Selbst missbrauchende Eltern werden idealisiert, es wird die gute Miene zum bösen Spiel von früh an erlernt. Oft sagen die Erwachsenen dann über ihre Kindheit: „Meine Eltern waren wunderbare Eltern, auch wenn sie nicht immer alles richtig gemacht haben. Aber sie hatten es selbst nicht leicht in ihrer Kindheit.“ 

Verdrängung ist einfacher als das Aufrechterhalten des Schmerzes, der Scham und der Sehnsucht nach der Heilung. Allerdings zehrt sie an der Substanz und verhindert den Aufbau eines stabilen Selbstwertes und einer klaren Ich-Identität. Sie verengt zusätzlich den Blick auf die Realität und führt häufig dazu, dass später Partnerschaften mit narzisstischen Menschen eingegangen werden, die die Eltern widerspiegeln.  

Die moralische Reinwaschung der Eltern dient der Unterdrückung der Schamgefühle in mehrfacher Hinsicht: Verdrängt werden muss die Scham über das eigene Schicksal sowie die Scham über die Eltern und deren Unfähigkeit zu lieben, und dazu noch die Scham, die mit jeder Form der Verletzung und des Missbrauchs verbunden ist. Gehirngewaschene Kinder bleiben oft ihr Leben lang mit der Herkunftsfamilie als Schicksalsgemeinschaft verstrickt, mit der heimlichen Hoffnung, dass sie dort endlich einmal die Harmonie schaffen können, die sie immer schon gebraucht hätten und die sie in ihrer Fantasie und ihren Träumen schon längst vorweggenommen haben. 

Im Erwachsenenleben suchen die von dieser Prägung betroffenen Menschen häufig Berufe, in denen sie wenig Verantwortung tragen müssen. Da sie in ihrer Wirklichkeitswahrnehmung verunsichert sind, ziehen sie es vor, klare Vorgaben zu bekommen, nach denen sie sich orientieren können. 

Der Sündenbock

Diese Kinder sind oft betroffen von einer Urscham. Ungewollt oder ganz früh schon abgelehnt, bleiben sie auch nach der Geburt die Projektionsfläche für alles Negative, das die Eltern belastet, und werden beschuldigt, das Unglück der Erwachsenen verursacht zu haben. Sie werden mit den Sünden der Eltern beladen, wie im alten Israel der Bock, dem die Verfehlungen der Gemeinde auf den Rücken geladen wurden und der dann in die Wüste gejagt wurde. Das Kind wird permanent mit der Scham der Eltern beladen und zieht daraus den Schluss, sich für seine Existenz zu schämen. Wenn es nicht da wäre, wäre alles besser. Diese Prägung kann später zum Suizid führen, zu suizidalen Tendenzen oder zu selbstgefährdendem Verhalten. Oft entsteht auch ein starker Impuls, der dann zum zentralen Lebensthema wird, eine Gegenleistung zu erbringen für das, was die eigene Existenz den verblendeten Eltern an Schaden und Leid verursacht hat und endlich Anerkennung zu bekommen.  

Es kann aber auch sein, dass der Sündenbock das Weite sucht und die Familie verlässt, sobald es ihm möglich ist. Denn in dem System kann er in dieser Rolle kaum überleben. Er geht dann den Weg des Rebellen, der Wege sucht, um sich in den verschiedensten Arenen des Lebens für die erlittenen Ungerechtigkeiten zu rächen. 

Das schwarze Schaf 

Es gibt in Familien immer wieder Kinder, die aus der Reihe fallen. Entweder sind sie durch eine Behinderung mit einem Makel behaftet oder sie erwerben Verhaltensauffälligkeiten oder chronische Krankheiten. Es sind Kinder, die es vermissen, um ihrer selbst geliebt zu werden und entwickeln alle möglichen Symptome, um auf diese Weise mehr Liebe zu bekommen. Zugleich leiden sie, weil alle Verhaltensweisen oder Charaktereigenschaften, die sie zum schwarzen Schaf machen, unweigerlich mit Scham verbunden sind. Es kommt auch vor, dass ein Kind einen Charakterzug seiner Eltern in besonderem Maß auslebt, der von ihnen verdrängt wurde, z.B. die Ängstlichkeit, die Aggressivität oder die Empfindlichkeit. Solche Eltern schämen sich dann für ihre Sprösslinge - sie projizieren also die eigene Scham auf es. Das Kind wiederum schämt sich gerade wegen dieser Eigenschaft, für die es kritisiert oder belächelt wird und die es nicht loswerden kann.  

Auch hier wirkt die Wucht einer Urscham. Außenseiter, Ablehnung, die Finger richten sich abwertend auf das Kind, das zum Sammelbecken von Projektionen wird und darunter leidet. Es entwickelt Neigungen zum Erfüllen der negativen Prophezeiungen, sodass das Unbewusste mitwirkt und Fehlleistungen oder Unfälle hervorruft, für die dann wiederum Schamgefühle entstehen. Kinder wollen auf einer Ebene immer, dass die Eltern Recht haben, auch wenn sie selber die Betroffenen sind. Sie sind von der Ausgeschlossenheitsscham betroffen und haben oft später im Leben Probleme damit, sich in eine Gemeinschaft einzufügen.  

Das Helferlein

Kinder, denen es an Liebe mangelt, die aber immer hören, wie lieb sie gehabt werden, ohne dass sie es spüren können, machen sich selbst für den Liebesmangel verantwortlich. Eine Möglichkeit, mit diesem Mangel zurechtzukommen, liegt darin, von früh an Kompetenzen zu entwickeln, mit denen sie den Eltern helfen können. Sie spüren deren Schwächen und wollen sie durch eigene Taten ausgleichen. Das kann so weit gehen, dass sie die ganze Familie managen, für die kleinen Geschwister sorgen oder die Eltern daran erinnern, wann der Müll ausgeleert oder die Stromrechnung bezahlt werden muss. Sie können aus dieser Rolle heraus in einen grandiosen Narzissmus verfallen, bis hin zur Überzeugung, die ganze Welt retten zu müssen.  

Das Helferlein will seine Daseinsberechtigung dadurch sichern, dass es sich nützlich macht und die Schwächen der Eltern ausgleicht. Da es diese Aufgabe nie zur Gänze erfüllen kann, bleibt die Scham über die eigene Unzulänglichkeit bestehen. Die Abhängigkeit von den Eltern und die Notwendigkeit, ihnen zu helfen, bleiben oft ein Leben lang bestehen. Denn die Scham treibt sie an, endlich den in sie gesetzten Erwartungen gerecht zu werden. Die Notlösung der Kindheit wird zur Lebenshaltung: Nur wenn man es schafft, genug für die Eltern zu tun, verdient man es geliebt zu werden.  Oft werden Berufe ergriffen, die mit dem Helfen zu tun haben, weil die Hoffnung besteht, auf diesem Weg endlich Liebe und Anerkennung zu bekommen. 

Die Wahrheitsverkünder

Sie erkennen früh, dass etwas im Familiengefüge nicht stimmt. Sie fallen durch viel Schreien im Babyalter, durch starken Trotz im Kleinkindalter und durch ausgedehnte Rückzüge in die Fantasiewelt in der späteren Kindheit auf. Je größer sie werden, desto deutlicher drücken sie ihr Unbehagen aus, stoßen aber auf die tauben Ohren oder die entrüstete Zurechtweisung der in sich befangenen Eltern. 

Folglich werden sie zu Außenseitern, fühlen sich oft einsam und ausgeschlossen, was wiederum zur Quelle für ihre Scham wird. Da sie sich in irgendeiner Weise anpassen müssen, um im Familiensystem überleben zu können, tun sie das, indem sie irgendeine Form der Verweigerung suchen: Sie reden wenig, werden mürrisch oder aufmüpfig und verhalten sich rebellisch.  

Sie haben eine hohe Sensibilität entwickelt, mit der sie über ein feines Gespür für Gefühle und Stimmungen verfügen. Damit haben sie ein Werkzeug, das ihnen überall dort hilft, wo es um Empathie geht. Es macht es ihnen allerdings auch schwierig macht, tragfähige Beziehungen einzugehen, weil sie jede Unstimmigkeit und jede emotionale Verwerfung sofort spüren und ansprechen müssen. Kleinigkeiten können dann den Anlass für tiefe Zerwürfnisse bilden. Sie haben gelernt, sich auf die eigene Intuition zu verlassen, doch ist diese gewissermaßen auf das eigene Familiensystem geeicht, in dem es zum Überleben gedient hat, und zielt häufig projektiv in die Irre, wenn es auf andere, familienfremde Personen angewendet wird. 

Die Wahrheitsverkünder widmen sich später oft engagiert der Wahrheitssuche und fühlen sich berufen, Therapeuten oder spirituelle Lehrer zu werden. 

Zum Weiterlesen:
Grandioser und verdeckter Narzissmus
Der elterliche Narzissmus und die Selbstfindung


Samstag, 18. Februar 2023

Grandioser und verdeckter Narzissmus

Die Alltagsdiagnose Narzissmus

Der Begriff des Narzissmus hat es in die Alltagspsychologie geschafft. Er gewinnt an Bekanntheit und wird über den Kreis der eingefleischten Psychologen und Therapeuten hinaus zu einer beliebten Fremddiagnose. Manch einer ist gerade einer narzisstischen Beziehung entronnen oder vermeldet, dass sein Vater ein Narzisst war. Dieser oder jener Schauspieler oder Entertainer ist doch ein typischer Narzisst. Und spätestens der Paradenarzisst als mächtigster Mann der Welt hat jedem psychologisch Interessierten klargemacht, was es mit dieser Störung auf sich hat und wovor wir uns dabei in Acht nehmen sollten.  

Offenbar hat dieser Begriff – über seine Wurzeln in der griechischen Mythologie hinaus – eine eindringlich beschreibende Kraft für diverse Erfahrungen der unliebsamen Art. Denn Begegnungen mit Narzissten fallen dadurch auf, dass sie einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen, von dem man nicht genau weiß, woher er eigentlich kommt. Schließlich war die Person, mit der man auf einer Party geplaudert hat, eloquent, gewinnend und interessant. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich allerdings, dass in dieser Begegnung eigentlich nur eine Person anwesend war und man selber mehr oder weniger als Staffage gedient hat. Das ist der offensichtliche und offensive Narzissmus.  

Offener und versteckter Narzissmus

Daneben gibt es auch die weniger sichtbare Form. Das Bild des selbstverliebten und selbstbezogenen Narzissten, der andere nur als Mittel zum Zweck sieht und dauernd die eigene Grandiosität vor sich herträgt, wurde inzwischen ergänzt durch eine hintergründige und unauffällige Form. Sie heißt verdeckter oder vulnerabler Narzissmus. 

Narzissten sind selbstbezogen, d.h. die Rücksichtnahme auf andere und die Empathie mit ihnen steht an zweiter Stelle oder ist überhaupt nur zugänglich, wenn sie eigenen Zwecken dienlich ist. Der Überlebensmechanismus, der sich früh in der Kindheit ausgebildet hat, besteht in der Abspaltung von negativen Seiten, die verdrängt wurden. Nach außen hin wird ein makelloses und strahlenden Bild vor sich hergetragen (grandioser Narzissmus) oder ein sozial angepasstes Image präsentiert (verdeckter Narzissmus).  

Dieser Typ wirkt nach außen nett und verbindlich, zeigt seine Schattenseiten vor allem im privaten Umgang. Da in diesen Bereichen die Angst vor dem Aufdecken der eigenen Schwächen besonders stark ausgeprägt ist, schützt er sich hier durch Abwertungen, Kritik, Zynismus und Sarkasmus. Wird er darauf angesprochen, fühlt er sich ungerecht angegriffen und setzt sich sofort beleidigt zur Wehr. Der Spieß wird schnell umgedreht, der Täter verwandelt sich flugs ins Opfer. Der verdeckte Narzisst trachtet danach, die Menschen für sich einzunehmen, damit sie ihm nicht gefährlich werden. Er tut sich leicht, Beziehungen zu knüpfen, findet aber aufgrund seiner hohen Empfindlichkeit rasch ein Haar in der Suppe, an dem er seine Kritik aufhängt. Denn er befürchtet, allzu leicht Opfer der Schwächen seiner Mitmenschen zu werden und hofft, mit vorauseilender abwertender Kritik den Schaden abzuwenden. 

Narzissten neigen zum Verwischen von Grenzen; sie dehnen ihr Selbst auf ihre Mitmenschen aus, mit der heimlichen Hoffnung, dass diese so werden wie sie selber und ihnen dann kein Ungemach mehr bereiten. Alle müssten nach der eigenen Fasson ticken, alle müssen sich der eigenen Meinung anschließen, alle müssen verstehen, dass es nur eine richtige Meinung geben kann, nämlich die eigene. Das Mitgefühl ist ihnen schwer zugänglich, weil sie aus ihrer Selbstbezogenheit nicht herausfinden. 

Bisher war die Rede von zwei Typen des Narzissmus, doch die Sachlage ist komplizierter, weil sich der offene und der verdeckte Narzissmus nicht klar abgrenzen lassen. Es kommt häufig vor, dass Narzissten mal in den einen Typ und dann wieder in den anderen wechseln. Zum Beispiel können grandiose Narzissten nach einem Misserfolg zu selbstmitleidigen vulnerablen Narzissten werden. Oder verdeckte Narzissten schwelgen in Fantasien von Grandiosität. Es gibt also Mischformen oder ein Überwiegen der einen oder der anderen Spielart.

Die Scham im Zentrum des Narzissmus

Die großspurige Variante wehrt die Scham durch Arroganz und Größenwahn ab. Hier wird so getan, als gäbe es keine Scham: die Schamlosigkeit gilt als Stärke. Bei der zurückgezogenen Variante ist die Scham hingegen das immer wieder wahrgenommene Gefühl, das immer wieder kompensiert werden muss. Narzissten jedweder Spielart sind Virtuosen beim Austricksen des Schamgefühls. Sie schaffen es, Lügengebäude aufzubauen und ihre Mitmenschen zu verwirren, nur damit ihre eigenen Schwächen, für die sie sich schämen, nicht offenbar werden. Sie nutzen z.B. die Projektion, die ihnen hilft, die Schwächen der anderen überscharf wahrzunehmen. Sie können diese dann für die eigenen Zwecke nutzen, indem sie immer einen Schritt voraus sind im Beschämen, bevor sie die eigene Scham spüren müssen. 

Empfindlichkeit und Empathiemangel

Die feine, immer nach außen gerichtete Wahrnehmung der Narzissten ist die Quelle für Sicherheit. Da sie im Inneren fehlt, muss die Umgebung beobachtet werden, und die Beobachtungsgabe, die sich durch die andauernde Wachsamkeit herausgebildet hat, verhindert einerseits das Sich-selbst-Spüren im Inneren und ermöglicht andererseits abwertende bis hinterhältige Präventivangriffe gegen die Menschen, die bedrohlich werden könnten. Sie merken dabei nicht, dass sie Täter sind, denn sie haben keine Gefühle für ihre Opfer.

Die mangelhafte Empathiefähigkeit ist die Folge einer empathiearmen Atmosphäre in der Kindheit. Empathie kann nur durch erfahrene Empathie gelernt werden. Das fremde Leid zu spüren, ist dem Narzissten versperrt, weil es an das eigene Leid und an die eigene Zerbrechlichkeit erinnern würde. Auch Personen mit der vulnerablen Form des Narzissmus müssen sich vor ihrer wirklichen Verletzlichkeit schützen. Deshalb kultivieren sie eine Art des Scheinleidens, das als Ersatz für das Selbsterleben genommen wird.

Der Verlust des Selbst und die mühsame Suche

Alle Menschen wollen um ihrer selbst willen geliebt werden, und Kinder brauchen diese Erfahrung ganz besonders. Hat sie von Früh an gefehlt, so können sie keinen primären Narzissmus entwickeln, keine intakte Selbstbeziehung. Der sekundäre Narzissmus, der sich als Ausgleich für diesen grundlegenden Mangel ausbilden kann, hat kein Fundament, sondern „erfindet“ gewissermaßen ein Selbst, das sich aus den von den Eltern aufgeschnappten Erwartungen zusammensetzt. Deshalb spricht man von einem falschen Selbst, obwohl es vielleicht besser als Not-Selbst benannt wäre. Denn Narzissten leiden unter besonders großer innerer Not, die im Verlust des authentischen Selbst besteht. Ihr ganzes Bemühen, ihre angestrengte Fassadenbewahrung und ihr verzweifelter Kampf gegen all die vermeintlichen Feinde dienen der vergeblichen Suche nach diesem Selbst, weil es in der Außenwelt nie gefunden werden kann.

Den Ausweg aus der Falle des Narzissmus können die Betroffenen nur finden, wenn ihre Fassade, ihre Maske zerbröckelt und es ihnen gelingt, sich nicht die nächste Maske aufzusetzen, z.B. die verletzliche nach der grandiosen. Wie die anonymen Alkoholiker nur Leute aufnehmen, die sich selber eingestehen können, dass sie selber nicht mehr vom Alkohol loskommen können, gibt es für den Narzissten nur dann eine Hilfe, wenn er versteht, dass er Hilfe braucht, wenn er versteht, dass er alleine sein verlorenes Selbst nie finden wird. 

Zum Weiterlesen:
Der elterliche Narzissmus und die Selbstfindung
Rollen von Kindern mit narzisstischen Eltern



Mittwoch, 15. Februar 2023

Die Kälte als Freundin gewinnen

Das kalte Wasser hat es in sich. Es jagt manchen schon einen Schauer durch den Körper, nur daran zu denken, in ein kaltes Wasser einzutauchen. Dennoch ist es ein Trend geworden, den vor allem der „Ice Man“ Wim Hof aus Holland initiiert hat. Wer vor etwa 35 Jahren Rebirthing kennengelernt hat, ist schnell auf das Kaltwasseratmen gestoßen, bei dem sich gezeigt hat, wie die Kraft des Atems helfen kann, um Schwellen zu überschreiten, die in unser Vorstellung als unüberwindlich erscheinen, und sich nachher zu wundern, wie gut es sich anfühlt. Bei dieser Methode lernen wir auch, langsam und behutsam in Kontakt mit der Kälte zu gehen und uns schrittweise tiefer hinein zu versenken.

In diesem Artikel geht es um die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die es zum Thema Kälteexposition gibt. Ich verdanke die Informationen Andrew Huberman und seinem interessanten Podcast. Hier finden sich auch zahlreiche Quellenhinweise.

Zunächst ist klar, dass die Temperatur ein wichtiger Stimulus für unser Nervensystem und für jedes Organ und System unseres Körpers ist. Denn der Körper braucht eine bestimmte Temperatur, um sich gut regulieren zu können. Die Temperatur bildet deshalb einen starken Reiz für den Körper und das Gehirn. 

In einer Studie tauchten die Versuchsteilnehmer in ein Wasser mit 15,5 Grad bis zum Hals  ein, also nicht sehr kalt, und dennoch kam es entsprechend der Dauer der freiwilligen Kälteaussetzung zu einem enormer Schub an Neurotransmittern, die mit einer Steigerung der Konzentration und der Stimmung verbunden sind. Die Studie wurde durch weitere Studien bestätigt. 

Der Temperaturrhythmus

Unsere Körpertemperatur unterliegt einem 24-Stundenrhythmus, über die sich jede bewusste Kälteerfahrung darübergelegt und diesen Rhythmus moderiert.

Ca. 2 Stunden vor dem Aufwachen befinden wir uns auf einem Temperaturminimum. Dann langsamer Anstieg. Dann nach dem Aufwachen erfolgt ein schnellerer Anstieg bis in den Nachmittag. Am späteren Nachmittag und Abend sinkt die Temperatur wieder ab. Beim Einschlafen geht die Körpertemperatur noch um ein paar Grade runter, was wichtig ist, um in den Tiefschlaf zu kommen. Wenn wir uns in der Früh einer Kälteexposition unterziehen, dann geschieht die Erwärmung schneller und wir spüren mehr Wachheit und Aufmerksamkeit. Gehen wir später am Abend unter die kalte Dusche, so kann es das Einschlafen oder Durchschlafen behindern, denn durch die Kälteerfahrung steigt die Körpertemperatur, die aber beim Einschlafen niedrig sein sollte.

Effektive Abkühlung

Angenommen, wir leiden unter Hitze, z.B. nach einem Lauf im Sommer. Die Körpertemperatur ist unangenehm hoch. Vielleicht nehmen wir dann ein nasses Handtuch und legen es auf den Kopf oder Oberkörper. Damit erzielen wir allerdings den gegenteiligen Effekt: Die Körpertemperatur geht weiter nach oben! Denn unser Thermostat im Gehirn, das sich im medialen präoptischen Bereich des Hypothalamus befindet, erhält Informationen über die plötzliche Kälte von der Haut und schaltet sogleich auf Aufwärmung. Wenn es kalt wird, wird also verständlicherweise die Körpertemperatur erhöht. Kühlen sollte man die obere Gesichtshälfte, die Handflächen und die Fußsohlen, denn dort befindet sich eine glatte haarlose Haut, in der die Kühlung sofort übernommen wird und damit die Körpertemperatur reduziert.

Eu-Stress und Di-Stress

Die positiven Auswirkungen der Kälteerfahrung gibt es nur dann, wenn wir uns ihr freiwillig unterziehen. Wir entschließen uns, uns einer selbstgewählten Stressbelastung auszusetzen, und wissen auch, dass wir jederzeit aussteigen können, wann immer wir wollen. In jeder Stresssituation schüttet der Körper (Nebennierenrinde und Gehirn) Adrenalin und Noradrenalin aus. Diese Botenstoffe steigern den Grad an Agitation, Konzentration und Bewegungsfreude. Im Falle dass der Stress selbstbestimmt ist und der eigenen Kontrolle unterliegt, kommt Dopamin dazu, der Botenstoff für Belohnungserwartung, Motivation und Strebung. Dadurch verbessert sich unsere Stimmung und bleibt auch noch nach der Stresserfahrung erhalten. Hier sprechen wir nach dem Begründer der Stressforschung, Hans Selye, von Eu-Stress. 

Der Stress, den wir als unangenehm und belastend erleben, heißt Di-Stress. Auch er wird durch die Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin über die Stressachse (Hypophyse, Hypothalamus und Nebennierenrinden) in Gang gesetzt, es kommt aber kein Dopamin dazu, vielmehr wird nach einiger Zeit Cortisol freigesetzt, das dann den Stress chronifiziert. Es geht also um den „mindset“, um die innere Haltung, ob Stress für uns gut ist oder uns schadet:  Wenn wir etwas tun und glauben, dass es uns guttut, dann führt das zu unterschiedlichen physiologischen Effekten, als wenn etwas gegen unseren Willen oder ohne unsere Kontrolle geschieht.

Stoffwechsel und Kälteexposition

In zahlreichen Studien wurden die Auswirkungen von freiwilligen Kälteerfahrungen auf den Stoffwechsel untersucht. Es zeigte sich dabei, dass die weißen Fettzellen, in denen nur Energie gespeichert wird, zu beigem oder braunem Fett umgewandelt werden, das ist thermogenetisches Fett, das heißt, es kann die Kerntemperatur im Körper erhöhen und wirkt als Ofen, durch den wir unseren Kernstoffwechsel erhöhen können. Wenn wir abnehmen wollen, brauchen wir weniger weißes und mehr braunes Fett. Die beigen und braunen Fettzellen bauen ein Reservoir auf für Situationen, in denen man einer Kälteherausforderung ausgesetzt ist.

Eine weitere Studie untersuchte die Auswirkungen von 11 Minuten Kälteexposition/Woche. Es kam zu einer Steigerung in der Braunfett-Thermogenese, zur Zunahme der Körpertemperatur und des Kernstoffwechsels im Körper. Langfristige Änderungen wirken sich auf den Typ des Fettes aus, den wir im Körper speichern und beeinflussen die Weise, wie dieses Fett zu anderen Zeiten auf unseren Stoffwechsel wirkt. Die allgemeine Kälteempfindung wird herabgesetzt. Die weißen Fettzellen sind Zellen mit sehr niedrigem Stoffwechseloutput, sie sind vor allem Speicherplätze für Energie im Körper. Die beigen oder braunen Fettzellen (braun, weil sie viele Mitochondrien enthalten) sind stoffwechselmäßig und thermogenetisch aktiv. 

Weiße Zellen dienen als Speicher für Zeiten von Energiemangel. Beige und braune Zellen wirken dagegen wie Öfen, die die Körpertemperatur erhöhen können. Sie steigern den Stoffwechsel und helfen, das weiße Fett zu verbrennen. Noradrenalin, das bei Kälteerfahrung freigesetzt wird, bindet an Rezeptoren an der Oberfläche von weißen Fettzellen und aktiviert auf den nach unten gehenden Pfaden Proteine wie UCP1, die sich auf den mitochondrialen Stoffwechsel in den  Zellen auswirken und deren Leistung und Dichte steigern. Die Mitochondrien werden vergrößert. Es wird auch die Genexpression in den weißen Zellen verändert, sodass sie sich in beige und braune Fettzellen verwandeln.  

Die Fettzellen bekommen Signale von Neuronen. Es gibt Neuronen, die die Kälte spüren und die das Noradrenalin direkt in die Fettzellen einschleusen. Dadurch wird die Genexpression verändert, sodass sich die weißen Fettzellen in beige und braune Zellen verwandeln. 

Während Babys viel braunes Fett haben, das sie warm hält, verlieren Erwachsene immer mehr beige und braune Fettzellen. Aber es gibt den Mechanismus, durch den weiße in braune und beige Fettzellen verwandelt werden können. Es sind langanhaltende Veränderungen im Stoffwechsel, die durch Kälteexposition hervorgerufen werden.

Formen der Kälteexposition

Als effektivste Kühlungsmethode im Sinn der Auswirkungen auf Botenstoffe und Stoffwechsel gilt es,  bis zum Hals ins Wasser einzutauchen, dann folgt gleich die kalte Dusche. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, mit minimaler Kleidung nach außen zu gehen, bis zum Punkt, wo der Körper zu zittern beginnt. Die Hitzeübertragung ist im Wasser viermal so hoch wie in der Luft. 

Stressresilienz

Wenn wir uns der Kälte aussetzen, erleben wir einen unmittelbaren Anstieg von Noradrenalin und Adrenalin. Das ist der unvermeidliche unangenehme Effekt, der sofort auftritt, sobald wir mit Kälte in Kontakt kommen. Er wird durch die Kälterezeptoren an der Körperoberfläche erzeugt. Doch da wir mit einer bewussten Entscheidung in diese Situation hineingehen, bauen wir unsere Resilienz gegen Stress auf. Wir können die mentale Klarheit und Ruhe behalten, während unser Körper in Stress gerät. Und diese Fähigkeit kann immens nützlich sein, wenn wir Stress in anderen Situationen erleben. Wir stärken unsere Fähigkeit, Herausforderungen auszuhalten oder zu tolerieren. 

Der Stress kann schon vorher entstehen, wenn wir uns vorstellen, wie schlimm die Kälte sein wird. Das ist eine Mauer, über die wir drüber müssen. Wir setzen uns also auch einem Willenstraining aus. Obwohl wir wissen, dass der Kontakt mit der Kälte im ersten Moment schlimm ist, entscheiden wir uns für diese Erfahrung. 

Wir wissen, dass es durch die Schockerfahrung zu einer 30 – 80% Reduktion bei den kognitiven Funktionen kommt, insbesondere im frontalen Kortex. Um dem entgegenzuwirken, können wir die Kälteerfahrung mit mentalen Übungen verbinden, z.B. indem wir während der kalten Dusche mathematische Aufgaben lösen oder alle Gedanken zu Sätzen ausformen etc. Das Denkhirn arbeitet weiter, obwohl der Reflex darin besteht, es herunterzufahren. Wieder bauen wir eine Kompetenz auf, die uns dabei helfen kann, in plötzlichen Stresssituationen klar im Kopf zu bleiben.

Bewegung im kalten Wasser

Wenn wir uns in kaltem Wasser befinden, erzeugt der Körper Wärme, die als eine thermale Schicht den Körper umgibt. Deshalb fühlt man sich in der Kälte wärmer, wenn man still bleibt. Wenn man sich bewegt, wird die thermale Schicht aufgebrochen und es fühlt sich kälter an. Wir können also, wenn wir den Effekt der Kälteexposition erhöhen wollen, im kalten Wasser die Arme ausbreiten und unsere Körperposition verändern. Wir können auch nach einer kalten Dusche noch in der Kälteempfindung bleiben, statt dass wir uns gleich schnell abtrocknen.

Wie wir schon erwähnt haben, hat die willentliche Kälteerfahrung dramatische Auswirkungen auf die Freisetzung von Dopamin im Gehirn und Körper. Wir fühlen uns gut, auch nachdem wir aus dem Wasser herausgekommen sind. Solche Erfahrungen haben Menschen schon geholfen, aus der Drogensucht herauszukommen. 

Es gibt eine Studie, bei der die Teilnehmer eine Stunde im Wasser verbracht haben: eine Gruppe bei 32 Grad, eine Gruppe  bei 20 Grad, und eine Gruppe bei 14 Grad.  Die Ergebnisse:

  • Bei 32 Grad: Keine Änderung im Stoffwechsel oder bei Dopamin, Adrenalin und Noradrenalin. 
  • Bei 20 Grad: 98% Zunahme im Stoffwechsel 
  • Bei 14 Grad: 350% Zunahme im Stoffwechsel, bei Noradrenalin 530% und bei Dopamin 250%, wobei diese Änderungen andauerten und auch zwei Stunden nachher noch nachweisbar waren. Die Teilnehmer berichteten von Wohlgefühl, gemessen werden konnte eine verbesserte Konzentrationsfähigkeit und mentale Schärfe. Es kam zu keiner Zunahme an Cortisol.

Kälte und Immunsystem 

Gut erforscht ist die Wirkung von Kälteexposition auf das Immunsystem. Es werden dabei entzündungsförderliche Zytokine wie IL-6 eliminiert, und entzündungshemmende Zytokine gefördert, wie z.B. IL-10.

Nichts wie Vorteile, die das Eintauchen ins kalte Wasser oder das kalte Duschen hat, und alles was es braucht, ist das Überwinden des inneren Widerstandes, der vor dem Erstkontakt mit der Kälte besteht. Ist dieser Moment einmal überwunden, geht es zunehmend leichter, bis es sich ganz normal oder sogar angenehm anfühlt. Erstaunlicherweise schwindet das Kältegefühl, je öfter wir uns der Erfahrung aussetzen und je länger wir in ihr verweilen. Die Kälte wird damit von etwas Feindlichem und Bedrohlichem zu einer vielleicht manchmal ruppigen Freundin.

Allerdings sollten gesundheitliche Risiken, etwa in Zusammenhang mit dem Herz-Kreislaufsystem vor der bewussten Kälteerfahrung abgeklärt werden. Zu rasches Eintauchen kann zu Problemen führen. Ratsam ist es deshalb, sich kälteerfahrenen TrainerInnen anzuvertrauen, wenn man Anfänger auf diesem Weg ist.


Dienstag, 7. Februar 2023

Dankbarkeit: Das universale Heilmittel.

Die Dankbarkeit ist ein Universalheilmittel. Sie befreit von Sorgen und Problemen. Sie bringt uns sofort in den Moment und in die Verbundenheit mit dem Ganzen. Wenn wir auf unser Leben als Ganzes schauen, müssen wir zugeben: Wir haben so viele Geschenke erhalten, seit wir auf der Welt sind, ganz abgesehen von dem unermesslichen Geschenk des Lebens überhaupt. Was wir zurückgeben können, ist im Grund nicht viel mehr als unsere Dankbarkeit.

Im Gefühl der Dankbarkeit schwinden die Unterschiede zwischen Innen und Außen. Es vollzieht sich ein permanentes Geben und Nehmen, ein Fließen des Austausches. Das eigene Ich tritt zurück und wird unwichtig. Das Leben fühlt sich leicht an und ausgerichtet auf das, was von selber geschehen will. Dankbar zu sein befreit von übermäßigem Verlangen, Habenmüssen, Tunmüssen, befreit von Selbstwertproblemen und Selbstzweifeln. In der Dankbarkeit erfahren wir, dass es immer ein Größeres gibt als die kleinen Themen, mit denen wir gerade identifiziert sind.

Wenn wir uns bei jemandem bedanken, fühlen wir uns mit ihm verbunden und er mit uns. Wenn wir uns bei dem großen Ganzen, bei der Natur, bei unserem Körper, bei unseren Begabungen bedanken, sind wir mit dem verbunden, dem unsere Dankbarkeit gilt, und dieses verbindet sich mit uns. Jede Verbindung enthebt uns der Verstricktheiten in unsere Alltagsgeschichten und webt uns ein in die umfassende Geschichte, von der wir nur ein winziger Teil sind.

Werden wie die Kinder

Im Zustand der Dankbarkeit erkennen wir, dass wir wie Kinder sind. Kinder bekommen alles, was sie brauchen, ohne dass sie all das jemals zurückgeben können. Alles, was sie zu geben haben, ist ihre Liebe und Dankbarkeit. In der Dankbarkeit werden wir zu Kindern dieser Erde und gewinnen die kindliche Unschuld zurück.

Ähnlich geht es uns im Erwachsensein, in dem wir so viel kriegen und im Grunde vergleichsweise so wenig zurückgeben. Allein die Luft, die wir in jedem Moment zum Atmen brauchen, ist für uns da, ohne dass sie etwas von uns verlangt. Was wir zurückgeben, die Ausatemluft, dient uns zur Entlastung und den Pflanzen als Energielieferant. Die Nahrung, die wir zu uns nehmen, wurde von der Erde, der Sonne und von der Arbeit von anderen Menschen erzeugt. Die Bildung, die wir erworben haben, verdanken wir denen, die sie uns vermittelt haben. Ein Buch, das wir lesen, kostet seinen Preis, aber sein Inhalt ist unermesslich.

Mit der Dankbarkeit bringen wir ins Gleichgewicht, was sich sonst in einem Überhang nach unserer Seite neigt: Das Übermaß dessen, was wir bekommen im Vergleich zu dem, was wir geben. Mit dem Größeren, das uns im Geben immer voraus ist, können wir nur mit Dankbarkeit in Balance kommen. Dadurch gleicht sich das Verhältnis mit dem Außen aus und zugleich findet unser Inneres zu sich selbst. Wir kommen in einen tiefen Frieden mit uns und mit der Welt um uns.

Das Böse in dieser Welt

Wie aber können wir angesichts des Schlimmen in der Welt dankbar sein? Das Schlimme ist schlimm, daran lässt sich nichts rütteln. Das menschliche Leid, das durch Unbewusstheiten und Bosheiten angerichtet wird, verdient unser Mitgefühl. Jede Dankbarkeit für Übeltaten wäre zynisch und fehl am Platz. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, das Schlechte zum Guten zu wenden, soweit es in unserer Macht liegt. Unsere Aufgabe ist es also, Raum für Dankbarkeit zu schaffen. Wo Schlimmes dem Guten weicht, wo etwas in der Welt wieder ins Lot kommt, sollten wir dankbar sein.

Selbst für die Fähigkeit, etwas zu verbessern, über die wir oder andere verfügen, ist unsere Dankbarkeit angesagt. Denn diese Fähigkeit ist nicht unsere Errungenschaft, sie ist uns oder anderen gegeben. Außerdem bietet alles, was wir „aus uns heraus“ erschaffen, Anlass für Dankbarkeit, denn selbst das ist nur zum geringeren Teil unsere aus uns erzeugte Leistung, sondern der Ertrag einer Leistungsfähigkeit, die wir geschenkt bekommen oder mit der Hilfe anderer erworben haben.

Wir sollten nie übersehen, dass in jedem Schlechten etwas Gutes steckt, in jedem Bösen etwas Menschliches. Es gibt das Böse nicht in Reinkultur, unvermischt, sondern nur in einer Gemengelage mit den verschiedensten Motiven und Strebungen. Wenn wir uns bemühen, das Schlechte und Böse zu verstehen, werden wir entdecken, wie vielschichtig diese Phänomene sind. Da gibt es Schichten im Bösen, die gut sind und für die wir dankbar sein können, ohne die anderen Schichten, die sich oft darüber gelagert haben, zu übersehen oder zu bagatellisieren. Wir werden das Böse, wenn wir es erforschen, nicht mehr als Feind und Widersacher sehen, sondern als einen komplexen Teil der Wirklichkeit. Damit verliert es seine dämonische Macht.

Alle Formen von Bosheit weisen auf etwas hin, was nicht in Ordnung ist. Ein Mensch, der stiehlt, macht das, weil er meint, benachteiligt zu sein. Er macht uns auf soziale Ungleichheiten aufmerksam, die verändert werden sollten. Dazu kommt, dass jede böse Tat einen Widerstand hervorbringt, der das Böse nicht zulassen will und nach neuen Formen des Guten sucht. Es gibt nichts Böses, das unwidersprochen bleibt. Alles Schlimme, das geschieht, erzeugt neue Anreize für das Lernen. Deshalb folgen auf schwierige Epochen der Geschichte, in denen die Gewalt vorherrschte, solche mit neuen ethischen Errungenschaften.

Dankbarkeit für körperliches Leiden?

Wie schaut es mit der Dankbarkeit aus, wenn wir unter Schmerzen stöhnen oder unter einem hartnäckigen Gebrechen leiden? Sollen wir dafür dankbar sein? Körperliches Leiden zieht all unsere Aufmerksamkeit auf sich, sodass wir oft an gar nichts anderes denken können. Erst wenn wir wieder genesen, wissen wir es zu schätzen, frei von Schmerzen zu sein. Unsere Gesundheit gewinnt einen ganz anderen Wert, und wir nehmen uns vor, sie nicht für selbstverständlich zu halten, sondern für etwas, das unsere Fürsorge und Vorsorge benötigt. Wir erkennen, wie wichtig es ist, in der Achtsamkeit auf unseren Körper und seine Bedürfnisse beständiger zu sein. Dazu hilft uns die Übung der Dankbarkeit, bei der wir uns bei unserem Körper für sein permanentes Bewirken bedanken und den verschiedenen Teilen, Organen und Geweben unseres Körpers unsere Wertschätzung geben. Auf diese Weise stellen wir einen Einklang zwischen unserem Körper und unserem Geist her, die beiden Seiten Gutes tut. Wir setzen uns mit unserer Dankbarkeit aktiv dafür ein, unsere Gesundheit auf eine nachhaltige Basis zu stellen.

Krankheiten stellen besondere Aufgaben des Lernens für uns dar. Sie bringen uns in Kontakt mit unserer Verletzbarkeit, Bedürftigkeit und Schwäche. Sie fördern unsere Selbstachtsamkeit. Letztlich erinnern sie uns an unsere Endlichkeit. Und sie weisen uns darauf hin, wie kostbar das Geschenk unseres Lebens ist.

Zum Weiterlesen:
Dankbarkeit - die hohe Schule der Lebenskunst
Wertschätzung für unseren Körper
Die Welt der Wunder

Donnerstag, 2. Februar 2023

Die Denkzettelwähler

Ein Denkzettelwähler wählt nicht, um bestimmte Ziele durchzusetzen, sondern um bestehende Machtträger abzuwählen, gleich welche Ziele sie haben. Die Mächtigen werden für das Ungemach im eigenen Leben verantwortlich gemacht. Wenn ihre Abwahl erfolgreich ist, erfolgt die Bestrafung für ihre schlechte Regierung – die Medien sprechen oft von einer „Abstrafung“. Von der Abwahl wird erhofft, dass es irgendwie besser wird, weil ja die unfähigen Politiker nichts mehr zu sagen haben. Die Hoffnung besteht darin, dass all das, was einem nicht passt an der Gesellschaft oder am eigenen Leben, dadurch besser wird. Es ist eine Hoffnung, die sich freilich nie erfüllt, weil die Erfahrung zeigt, dass die Protestparteien, die die Denkzettelwähler in Scharen anziehen, auch nicht besser regieren als die anderen Parteien und in vielen Fällen noch mehr Schaden anrichten.

Denkzettelwähler wählen aus Trotz und Ressentiment. Sie fühlen sich ohnmächtig und abhängig und gehen davon aus, dass die Regierung für sie und ihre Probleme sorgen sollte, und wo sie das zu wenig tut, muss mit dem Stimmzettel der Protest ausgedrückt werden, damit es die nächste Regierung besser macht. Üblicherweise schafft es diese auch nicht, also wird auch sie wieder abgewählt und der nächsten Partei die Proteststimme gegeben, die am stärksten gegen die regierenden Parteien opponiert und polemisiert. So geht das Denkzettelwählen weiter, manche geben nach einigen Wahlgängen auf und wechseln zu den frustrierten Nichtwählern.

Demokratie bedeutet bekanntlich „Herrschaft des Volkes“. Weiters wissen wir, dass wir wegen der Komplexität des Herrschens diese nicht direkt, sondern über Repräsentanten ausüben. Und diese werden bei uns durch Parteien gestellt, die dann um die Wählerstimmen werben. Wir leben also in indirekten repräsentativen Demokratien und die turnusmäßig stattfindenden Wahlen sind eine der Gelegenheiten, mit der Stimmabgabe die Politik mitzubestimmen. Die Parteien versuchen sich so zu positionieren, dass sie ein möglichst großes Spektrum der Bedürfnisse und Interessen der Bevölkerung abdecken, z.B. leistbares Wohnen, ein funktionierendes Gesundheitswesen, Arbeitsplätze, Bildungsangebote, Infrastruktur usw. Die meisten Parteien orientieren sich an Werten und Ideologien, nach denen sie ihre Politik ausrichten. 

Protestwähler richten ihr Wahlverhalten aber nicht nach Werten aus, die sie in der Politik verwirklicht sehen möchten, z.B. mehr Menschlichkeit oder soziale Gerechtigkeit. Vielmehr gehen sie von ihren individuellen Bedürfnissen und Nöten aus und messen die Parteien daran, wieweit sie ihnen Abhilfe verschaffen. Sie sind also auf ihr eigenes Leben und die Erwartungen, die sie daran haben, fokussiert und nicht auf das Gemeinwohl. Es geht ihnen nicht um eine Weiterentwicklung der Gesellschaft in eine Richtung, in der es für alle besser wird, sondern darum, dass das, was sie stört, beseitigt wird.

Die narzisstische Identifikation

Protestwähler wollen beschämen, weil sie sich selbst beschämt vorkommen, „verarscht“ durch die Politik und die Mächtigen. Sie wollen, dass die Politiker so leiden wie sie selber. Um dieses Ziel zu erreichen, suchen sie jemanden als Identifikationsfigur, der es den Mächtigen „zeigt“, der sie also bloßstellt und beschämt. Gleichzeitig meinen sie, dass es so jemand auch gut mit den Ohnmächtigen meint – so lautet zumindest die Annahme, die meistens auf einer Selbsttäuschung beruht. Denn Demagogen haben in den allermeisten Fällen eine starke Neigung zur Korruption, die sie ausleben, sobald sie an der Macht sind. Sie verfügen auch über ein hohes Maß an Zynismus als Komponente ihrer narzisstischen Prägung, der es ihnen erlaubt, schamlos diejenigen auszubeuten, die ihnen zur Macht verholfen haben. Doch solange sie noch um die Macht kämpfen, ist ihnen jedes Mittel recht, um den Anschein eines edlen und selbstlosen Einsatzes für die Ohnmächtigen aufrechtzuerhalten. 

Denkzettelwähler haben aufgrund eigener ko-narzisstischer Neigungen die Tendenz, Demagogen zu idealisieren und deren Schattenseiten zu übersehen. Sie vertrauen ihnen voll und ganz und missionieren deshalb auch gerne für sie in ihrem Umfeld. Die Umkehr der Idealisierung findet dann statt, wenn die ideale Führerfigur der Manipulation und Korruption überführt wird. Plötzlich verkörpert sie das Böse an sich, und es muss eine neue Person gesucht werden, die sich als Demagoge anbietet.

Die Identifikation mit der Machtperson vermittelt ein Gefühl von Mächtigkeit angesichts des Ohnmachtsgefühls, in dem sich viele gefangen fühlen. Die Macht besteht darin, vor Beschämung geschützt zu sein und selber beschämen zu können. Ein Beispiel: Der Paradedemagoge Jörg Haider hat einmal öffentlich den damaligen Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde Ariel Muzicant mit den Worten beschämt: „Ich verstehe nicht, wieso einer, der Ariel heißt, so viel Dreck am Stecken hat.“ Die Frechheit in dem boshaften Witz beeindruckt alle, die selber jemals Opfer boshafter Witze geworden sind und sich nicht zur Wehr setzen konnten. Denn das ist vermutlich die Perspektive vieler Denkzettelwähler: Opfer politisch verursachter Bosheit zu sein, die das Ziel der Beschämung hat. Der Demagoge mit seiner frechen Kühnheit soll die Ehre und Würde wiederherstellen. Dafür verdient er die Gefolgschaft.

Demokratie und Verantwortung

Demokratie bedeutet nicht nur, alle paar Jahre mal einen Stimmzettel auszufüllen, sondern bedeutet auch Mitverantwortung für das Ganze der Gesellschaft und des Staates. Dagegen-Wähler wollen mit ihrer Stimmabgabe nicht ausdrücken, dass sie bereit sind, für irgendetwas die Verantwortung zu übernehmen. Vielmehr wollen sie die offiziellen Verantwortungsträger bestrafen, weil sie sie für alles verantwortlich machen, was ihnen nicht passt. Protestwählen ist deshalb eine pubertäre Handlung von Erwachsenen – ohne Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, ohne Bereitschaft zum Mitgestalten des Gemeinwohls.

Die Demokratie bleibt nur dann lebendig und kreativ, wenn sie durch möglichst viele Staatsangehörige mitgestaltet wird. Verantwortungsübernahme inkludiert die Bereitschaft, sich für bestimmte Anliegen zu engagieren, sich zu informieren und auf verschiedenen Ebenen an politischen Diskursen zu beteiligen. Der Staat gehört uns allen, und deshalb ist es auch unsere Aufgabe, aktiv an seiner Weiterentwicklung mitzuarbeiten. Dazu gehört auch Kritik an Fehlentwicklungen und Missständen, ebenso wie das Einbringen von Ideen und neuen Perspektiven.

Zur Selbstreflexion über das Schreiben dieser Zeilen

Ich habe diesen Text aus einer analytischen Perspektive geschrieben. „Der Denkzettelwähler“ wird hier als Prototyp beschrieben, in dem sich reale Personen mehr oder weniger oder auch gar nicht wiederfinden können. Der Text nimmt also eine Außensicht auf ein Phänomen ein, mit dem Versuch, die Innenwelt in ihren Abläufen nachzuvollziehen und damit zu einem besseren Verständnis dieses Verhaltens und der damit verbundenen Einstellungen beizutragen. Der Hintergrund soll ein wenig ausgeleuchtet werden und die entstehende Einsicht in die Zusammenhänge kann dazu beitragen, mit dem Phänomen besser umgehen zu können.

Dabei ist in Betracht zu ziehen, dass es Teil des Profils eines typischen Denkzettelwählers ist, unter der Überheblichkeit der Besserwisser zu leiden, sich dadurch beschämt zu fühlen und auf diese Erfahrung mit einem Trotz und dem Einnehmen einer Protesthaltung zu reagieren. Außendiagnosen übermitteln Scham, indem sie Inneres bloßstellen, und führen damit zur Abwehr. Sie verstärken also tendenziell das Verhalten, das sie entlarven wollen. 

Ich sehe es allerdings so, dass wir alle potenzielle „Denkzettelwähler“ sind, insofern wir die Impulse zur Rache in uns tragen und im alltäglichen Leben anwenden. Wir verteilen gerne Denkzettel, nur machen das nicht alle bei den Wahlen. Die Protestwähler drücken sich durch ein emotionales Muster aus, das wir alle kennen und in verschiedenen Zusammenhängen kennen. Insofern kommt dieser Artikel nicht aus einer Position der Überheblichkeit, sondern weist auf eine Verwandtschaft hin, die zwischen allen Menschen besteht. Am Beispiel der Denkzettelwähler können wir uns selber besser verstehen, auch wenn wir selber keine Denkzettelwähler sind. Wenn wir das erkennen, brauchen wir nicht mehr verächtlich auf Menschen herabschauen, die vielleicht im Bereich der demokratischen Reife Mängel aufweisen.

Mittwoch, 1. Februar 2023

Das Reizthema LBTQ und der Patriarchalismus

Binäres und Nicht-binäres

Ein Grundzug des Patriarchalismus besteht darin, die Welt in zwei Hälften zu zerteilen: Eine männliche und eine weibliche. Lange Zeit schien es klar, dass die männliche besser ist als die weibliche. Das ist das Grundbekenntnis des klassischen Patriarchalismus. Erst langsam hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es keine bessere und keine schlechtere Hälfte gibt, sondern dass beide gleichwertig sind. Dabei gibt es die Auffassung, dass die beiden Hälften ein komplementäres Verhältnis haben: Die Männer haben vieles, was die Frauen nicht haben, und die Frauen haben vieles, was die Männer nicht haben. Beide ergänzen sich.  In diesem Schema finden dann auch sexuelle Orientierungen Platz, die nicht der vorherrschenden Heterosexualität entsprechen. Zumindest in den westlichen Ländern ist es in den letzten Jahrzehnten zu einem Zuwachs an Toleranz für homosexuelle oder bisexuelle Orientierungen gekommen. Während früher homosexuelle Menschen mit Abwertung und Beschämung konfrontiert waren, gibt es jetzt den Begriff der Homophobie, der die Ablehnung der gleichgeschlechtlichen Liebe als pathologisch kennzeichnet. Immer mehr Menschen outen sich und stehen in der Öffentlichkeit zu ihrer sexuellen Präferenz. Die Eheschließung zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern wurde nach vielen Widerständen in mehr und mehr Ländern eingeführt. Es gibt also einen klaren Trend zu mehr Toleranz und Akzeptanz der Verschiedenheit (Diversität) menschlicher Strebungen im Bereich der Sexualität.

Neue Rollenbilder, alte patriarchale Strukturen

Auch wenn die Toleranz für nicht-heterosexuelle Vorlieben vor allem in den westlichen Gesellschaften wächst, ändert sich dadurch nicht viel an der Dominanz der patriarchalen Ideologie. Es kommt zu einer Erweiterung des Männerbildes. Die Auffassung darüber, was einen Mann ausmacht, wurde gegenüber der herkömmlichen Definition, die mit Härte und Kraftausübung bis hin zur Gewaltneigung assoziiert war, aufgeweicht und ausgedehnt, sodass auch Eigenschaften Platz finden, die traditionell stärker mit Weiblichkeit assoziiert sind. Da die gleichgeschlechtlichen Neigungen bei Männern traditionell stärker geahndet, verachtet und bestraft wurden als diejenigen der Frauen, ist dieser Wandel im Männerbild beachtlich. Sehr stark dazu beigetragen auch hat die Emanzipationsbewegung der Frauen, die gerade dieses traditionelle und ganz eng mit Machtausübung verknüpfte Männerbild in Frage stellt und bekämpft.

Zwar ändern sich Rollenbilder und Definitionen des Männlichen und des Weiblichen, doch rütteln diese Evolutionsbewegungen nicht an der dualen Ordnung. Damit handelt es sich nur um eine Adaption der patriarchalen Geschlechterzuordnung. Sie stößt dort an ihre Grenzen, wo sich Menschen weder dem einen noch dem anderen Pol der Dualität zugehörig fühlen oder zwischen den Polen wechseln. Es gibt Menschen, die mit ihrem Selbstgefühl die nicht-binären, also dem dualen Schema entzogene Geschlechtsidentitäten erleben. Diese Phänomene zeigen auf, dass das duale Schema nicht zureichend ist und erweitert werden muss. Die Aufteilung der Menschheit in männlich und weiblich beruht auf ideologischen Festlegungen. In diesem Sinn wirkt es paradoxer Weise so, dass die Feministinnen, die den Trans-Frauen das Frausein absprechen, weil sie ja nicht als Frauen geboren wurden, dieser Fixierung der patriarchalen Strukturen das Wort reden. 

Transidentitäten sind anders und nicht krankhaft

Der neue gesellschaftliche Konsens lautet, dass Menschen, die ihre geschlechtliche Identität nicht durch das binäre Schema festlegen wollen, nicht krank oder pervers sind, sondern anders als die große Mehrheit. Ob ihre Selbstbezeichnung genetische oder biografische Wurzeln hat, ist in dieser Hinsicht gleichgültig. Sie haben ihre Bedürfnisse und wollen darin verstanden und akzeptiert werden, wie Sie wollen so leben können, wie sie leben wollen, wie alle anderen auch. Weil sie in einer Minderheitsposition sind, ist ihre Stellung verletzlicher und prekärer. Deshalb brauchen sie besonderen Schutz und besondere Rücksichtnahme in der Gesellschaft. Sie leiden besonders unter den tief eingesessenen patriarchalen Strukturen, die sich auch darin äußern, dass es in der Sprache nur männliche und weibliche Personalpronomen gibt. Deshalb müssen sie in diesen Bereichen ihre eigenen Ausdrucksformen finden, die wiederum das gesamte Spektrum bereichern.

Verunsicherung durch Machtverlust

Das LGBTQIA+-Spektrum (=Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexual/Transgender, Queer, Intersexual und Asexual) führt bei manchen Menschen zur Verunsicherung. Über Jahrtausende war die Gesellschaft durch eine klare Ordnung geprägt, durch die Dualität der Geschlechter. Durch die Geburt, oder genauer gesagt, durch die Befruchtung wird das Geschlecht eindeutig festgelegt und gibt dem Menschen eine eindeutige Identität, die dann die Grundlage für die weitere Entwicklung und die Übernahme gesellschaftlicher Rollen und Positionen bildet. Diese Sicherheit wird durch die von dieser binären Logik abweichenden Phänomene in Frage gestellt.

Alle offenen, heimlichen oder unbewussten Anhänger des Patriarchalismus haben Probleme mit allem, was sich als nicht-binär bezeichnet. Denn die Annahme, dass es zwei Geschlechter gibt und jeder Mensch nur einem von ihnen zugehören kann, ist die Grundlage für die patriarchalen Zuordnungen der sozialen Geschlechtsrollen. Sobald die Grenzen zwischen den Geschlechtern durchlässig werden, wankt das patriarchale Gebilde und der Verlust von Machtpositionen muss befürchtet werden.

Darin liegt der Grund, warum die nicht-binären Erscheinungsformen menschlicher sexueller Orientierung und Identifikation ein Reizthema darstellen. Für die einen ist es von zentraler Wichtigkeit, dass all die Variationen der Geschlechtlichkeit ihre volle Anerkennung und Toleranz erhalten, während andere das vermehrte Auftreten dieser Phänomene als Anfang des Untergangs der Menschheit ansehen. Der Entwicklungsgrad einer Gesellschaft in Bezug auf die Überwindung des Patriarchalismus kann an der Diversitätstoleranz gemessen werden. Gesellschaften und Individuen, die ein hohes Maß an Aggression und Gewalt gegen die Homosexualität und gegen Trans- oder Queerpersonen ausüben, sind noch tiefer in die Reaktionsweisen, Identifikationen und Ideologien des Patriarchalismus eingebunden als jene, die die Vielfalt der sexuellen Ausrichtungen wohlwollend zulassen können. 

Die Abwehr der Diversität als Kriegsgrund

Oft wird die Regenbogenbewegung als Symbol eines dekadenten Westens attackiert – diese Angriffe finden sich sogar in der russischen Kriegsrhetorik gegenüber der Ukraine. Einer der Kriegsgründe liegt in der Abwehr der Auflockerung geschlechtlicher Zuordnungen, die bei einer weiteren Westausrichtung der Ukraine bis an die Grenzen Russlands vordringen würden. Also muss alles Dekadente in der Ukraine ausgerottet werden, um das bedrohliche Umsichgreifen von LGBTQIA-Orientierungen fernzuhalten. Die aggressive Rhetorik und Handlungsweise zeigt auf, worum es eigentlich geht: Um die Sicherung und Stabilisierung des Patriarchalismus mit seinen männlichen Privilegien und seiner Unterdrückung der Frauen und aller Zwischenformen. Letztlich geht es um die Ängste, die vor dem Verlust männlicher Dominanzpositionen bestehen, um derentwillen Krieg geführt wird. 

Die Unausweichlichkeit, in der Menschlichkeit zu wachsen

Entwicklungsprozesse in den einzelnen Gesellschaften und in der Weltgesellschaft brauchen ihre Zeit.  Jede Verzögerung in der Verabschiedung des Patriarchalismus erfordert zusätzliche Opfer und erzeugt noch mehr Leid: Es gibt Morde an Transpersonen, Selbstmorde infolge der mangelnden Akzeptanz, es gibt Abwertungen und Beschimpfungen gegen Menschen mit von der Norm abweichende sexuelle Orientierungen, es gibt die Unterdrückung von homosexuellen Handlungen und Personen usw. Eine Weltgesellschaft, in der alle Menschen gemäß ihrer Prägungen und Vorlieben ihre Liebe ausdrücken und leben können, ist noch in weiter Ferne, aber die Entwicklung dorthin ist unausweichlich. Denn Gesellschaften, die diesem Ziel schon näher sind, zeigen mehr Flexibilität und Offenheit und erlauben damit mehr Menschlichkeit, die mehr Glück für mehr Menschen ermöglicht. Jede Erweiterung der gesellschaftlichen Offenheit kommt allen Mitgliedern zugute, weil sich jeder und jede in ihrem So-Sein freier fühlen und ausdrücken kann. 

Zum Weiterlesen:
Animus und Anima im 20. Jahrhundert
Die sexuelle Identität
Gendern und die Wunden des Patriarchalismus