Samstag, 28. Dezember 2019

Die Heuchlerei der Immigrantenfeinde

Die US-Journalistin Jennifer Mendelsohn hat die Stammbäume von wichtigen Migrationskritikern untersucht und herausgefunden, dass die Stereotypen und Vorurteile, die diese Kritiker Einwanderern entgegenbringen, genau die Schicksale ihrer Vorfahren betrafen. So konnten z.B. die Urgroßeltern des Trump-Beraters Stephen Miller kein Englisch, als sie in die USA kamen. Ihr Urenkel will jetzt aber der keine Immigranten ins Land lassen, die nicht Englisch sprechen. Er wäre also gar nicht in den USA, wenn seine Vorfahren auf die gleiche Ausländerpolitik gestoßen wären, die er jetzt einfordert. 

Ein weiteres Beispiel: Tomi Lahren, eine konservative Politexpertin, sprach auf Fox News über ihre Gedanken zur Immigration: „Man kommt nicht einfach in dieses Land mit geringen Fähigkeiten, geringer Bildung, versteht die Sprache nicht, und will nur deshalb in unser Land, weil jemand sagt, dass das ein nettes Gefühl macht. Das ist es nicht, worauf dieses Land gegründet ist.“

Was sind die historischen Fakten? Frau Lahrens Urgroßmutter lebte 41 Jahre in den Staaten und sprach noch immer deutsch, ihre zweite Urgroßmutter war 10 Jahre hier und konnte kein Englisch.

Mendelsohns erstes Forschungsobjekt war Steve King, ein Kongressabgeordneter aus Iowa, der 2017 sagte: „Man kann eine Kultur nicht mit den Babys von anderen aufbauen.“ Kings Großmutter war 1894 als Vierjährige mit zwei Geschwistern in Ellis Island angekommen.

Dan Scavino, der Social-Media-Direktor im Weißen Haus brachte 2018 seine Einwände gegen die Kettenmigration vor: Familien, die in kleinen Gruppen über die Zeit in ein Land einwandern. Was stellte sich heraus? 1904 war der Bruder seines Urgroßvaters nach Amerika kommen, als erste von einige Scavinos, die dann auf ähnliche Weise aus Italien einwanderten, also eine typische Kettenmigration.


Transgenerationale Heuchelei


An vielen Beispielen konnte Mendelsohn belegen, dass die Hauptargumente, die von den Kritikern der Einwanderung jeweils vorgebracht werden, genau jene sind, unter denen die eigenen Vorfahren zu leiden hatten. Es handelt sich um eine transgenerationale Heuchelei, aus völliger Unbewusstheit über die eigene Geschichte und Genealogie sowie über den Hintergrund des eigenen Ausländerhasses. Es ist niemand für das Schicksal seiner Ahnen verantwortlich und es geht auch nicht darum, Menschen wegen ihrer Familiengeschichte zu bewerten. Im Gegenteil, die Kenntnis der Geschichte relativiert die gegenwärtige Sichtweise und stellt sie in einen erweiterten Kontext, der mit persönlicher Betroffenheit für alle, die aus dieser Geschichte hervorgehen, verbunden ist. 

Die Würdigung der eigenen Familiengeschichte könnte zum Verständnis des oft schweren Loses derer, die ein neues Heimatland suchen, beitragen und die gegenwirkende ausländerfeindliche Haltung abschwächen. Derartige Einstellungen wirken sofort unglaubwürdig und zynisch, sobald ihr Hintergrund ans Licht kommt. Die Heuchelei wird offensichtlich mit der Einsicht, dass die eigenen Vorfahren nicht aus Jux und Tollerei, sondern aus zwingenden Gründen auswandern mussten, aber auf eine tolerantere Gesellschaft gestoßen sind als jene, für die die Nachfahren jetzt lautstark eintreten.


Ängste vor Knappheit


Dieser häufig zu beobachtende Reflex beruht auf tiefsitzenden Ängsten, die transgenerational weitergegeben werden. Die ganze Ausländerdebatte wird von Knappheitsgedanken bestimmt: Es ist zu wenig da, und wenn noch mehr kommen, bleibt für jeden noch weniger. Dieses Denken ist Teil des Überlebensprogramms, das unter bedrohlich kargen Umständen entsteht, z.B. bei Menschen, die aus Hunger-, Kriegs- und Armutsgebieten auswandern, um irgendwo ein besseres Leben zu finden. Sie bringen dieses Knappheitsdenken mit und stoßen auf das Knappheitsdenken der Leute im Ankunftsland, die es gerade geschafft haben und die befürchten, dass sie wieder verlieren, was sie gewonnen haben. Die größte Bedrohung geht von denen aus, die jetzt in der gleichen Lage sind, wie man selbst oder die eigenen Vorfahren früher. Deshalb sind die radikalsten Zuwanderungsfeinde häufig die, deren Familie unlängst selber die Zuwanderung gelungen ist.

Das Knappheitskonzept hat das Konkurrenzgefühl zur Folge und damit den Neid auf jene, die mehr haben oder denen es besser geht. Wo Güter oder Lebenschancen scheinbar oder wirklich knapp sind, ist jedes Quäntchen, das der Nachbar mehr hat als man selber, Anlass für Ängste, selber zu kurz zu kommen. Daraus bildet sich dann die Wut auf alles, was da noch an Konkurrenz dazukommt, also auf alle, die neu auf der Bildfläche aufscheinen und das Ausmaß an Ressourcen noch knapper erscheinen lässt.

Die Weitergabe der Beschämung


Dieser Zusammenhang wird durch die transgenerationale Beschämung verschärft, ein psychischer Mechanismus, der im Unterbewusstsein entsteht und weiterwirkt und sich bei denen, die sich etablieren konnten, meistens ins Gegenteil verkehrt: Aus Scham wird anmaßender Stolz.  Jeder Zuwanderer ist mit einer Beschämung konfrontiert, die auftritt, wenn man in einem Land Schutz sucht, aber die Sprache nicht spricht, die Kultur nicht kennt, die erforderlichen Kompetenzen nicht hat und als armer und rechtloser Bittsteller auftreten muss. Heutigen Immigranten soll dieses Los erspart bleiben, indem sie gleich gar nicht ins Land gelassen werden und mit ihrem Elend bleiben sollen, wo sie sind. Stolz, es selber geschafft zu haben und auf der sicheren Seite zu sein, die erforderliche Sprache zu sprechen und die Überlegenheit des Eingesessenen zu genießen, kann man sich schnell als Beschützer dieser Errungenschaften aufspielen. Aus der ehemaligen Schwäche wird eine Position der überlegenen Macht gesucht, die sich weit über das Schicksal anderer Menschen stellen kann und auf die Unterlegenen mit Verachtung herabschaut.

Wer als Zuzügler in ein fremdes Land kommt, erlebt auf Schritt und Tritt die Beschämung durch das Nicht-Dazugehören und die damit verbundene Infragestellung der eigenen Identität. Die meisten strengen sich deshalb besonders an, sich diese Zugehörigkeit zu erarbeiten und zu verdienen und dadurch vom Zustand der Beschämung in den des Stolzes zu gelangen. Diese Kräfte wirken als Wachstumsmotor für alle Zuwanderungsländer und sind eines der Geheimnisse für den Wohlstand und die Erfolgsdynamik der USA. Es geht dabei nicht nur um die Wirtschaft, die durch die fleißigen Hände der Zuwanderer angekurbelt wird, sondern auch um die Kultur, in die neue Impulse und Ideen  einfließen, was wiederum auf die Wirtschaft im Sinn von Innovationen zurückwirkt.

Wer auf dem Klavier der Emotionen Politik gegen die Immigration macht, sichert sich kurzfristig den Applaus aller Ängstlichen und schadet langfristig dem Land, das er oder sie scheinbar verbessern möchte.

Quellenverweis: Bericht über Jennifer Mendelsohn auf CNN

Zum Weiterlesen:
Mehr Konflikte durch gelungene Integration?
Die Solidaritätsschranke
Ängste und das Wahlverhalten
Der Neid-Mechanismus

Samstag, 21. Dezember 2019

Warum ich Blogs schreibe - anlässlich des 500. Artikels

Das ist der 501. Artikel auf dieser Blogseite, die ich seit 2011 betreibe. Ich hatte damals mein zweites Buch „Vom Mut zu wachsen“ fertiggestellt. Das Buch beschäftigt sich mit der Evolution des Bewusstseins, und mir war gleich klar, dass ein Buch nur einen Überblick über dieses komplexe Thema bieten kann. Also wählte ich dieses Format, um weitere Aspekte und Teilbereiche dieses Themas zu beleuchten sowie Fragen, die von Lesern des Buches gestellt wurden, beantworten zu können. Mehr und mehr kamen auch andere Themenbereiche dazu, die mich interessieren und über die ich dann auch gerne schreibe. 

Schreiben heißt für mich, Dinge, die mich innerlich beschäftigen, in eine äußere Form zu bringen. Dann stehen sie vor mir und wirken wieder auf mich selbst zurück. Im Prozess des Schreibens entstehen neue Ideen und Sichtweisen und die Themen werden klarer und differenzierter. Das macht es für mich so faszinierend zu schreiben. 

Dazu kommt das schöne Gefühl, ein Stück des Schreibens abzuschließen. Den Abschluss geben der Inhalt und die Form vor; solange beides nicht zusammenfindet, bleibt eine Spannung, die zum Weiterüberlegen und Weiterformulieren motiviert. Dann löst sich irgendwann die Spannung: Der Inhalt ist reich und zugleich einfach genug, um dem Thema zu genügen, und die Form ist abgerundet. 

Für diese Übung des Schreibens ist ein Blog ideal. Die einzelnen Textstücke müssen keine Meisterwerke sein, sollen aber doch dem Anspruch auf Sinnhaftigkeit und sprachlicher Verständlichkeit entsprechen.  Die Länge ist variabel und kann an die Anforderungen des Themas angepasst werden. Bemerke ich nachträglich Schreibfehler oder inhaltliche Ungereimtheiten, so kann ich einfach nachbessern. 

Für mich nutze ich das Bloggen, um gesammelte Informationen und ersonnene Ideen und Formulierungen stets griffbereit zu haben, wie ein Nachschlagewerk.

Außerdem ist ein Blog ein interaktives Medium, jeder Leser kann einen Kommentar posten und damit helfen, das Thema tiefer zu verstehen. Ich bin für jeden Kommentar dankbar und antworte auch gerne, auch wenn nur selten kommentiert wird. Dennoch erfahre ich von Freunden und Bekannten, dass meine Blogseite sehr geschätzt wird.

Es wäre möglich, die Seite mit Werbung zu spicken, wie das bei vielen Blogs geschieht. Doch widerstrebt mir diese Form der Kommerzialisierung. Vielmehr bleibt der Urgedanke des Internets, das freie Teilen von Informationen, die weltweit allen Nutzern zugänglich sind, dabei noch lebendig. Dennoch befindet sich die Seite auf dem Marktplatz, manche Nutzer interessieren sich für meine Angebote und Dienstleistungen, sodass es auch auf dieser Ebene einen Rückfluss gibt.

Ein paar Einblicke in die Statistik dieser Seite: 
Hier der Verlauf der Nutzung seit dem Anfang:
Eigentümlicherweise sieht man deutlich den Nutzungsabfall seit Jänner 2019; meine Vermutung dazu ist, dass facebook, wo neue Blogartikel angezeigt werden, die Algorithmen verändert hat, sodass die Bekanntgaben neuer Artikel dort kaum mehr aufscheinen. Insgesamt hat die Seite seit Beginn aktuell über 243000 Aufrufe verzeichnet.
Ich danke all meinen Abonnenten und Abonnentinnen, all meinen Leserinnen und Lesern für ihr Interesse an meinen Texten und wünsche auf diesem Weg frohe Weihnachten und ein gutes Neues Jahr, in dem ich auf die Tausendermarke zustreben werde…

Freitag, 20. Dezember 2019

Der Zynismus der zukunftsignoranten Politiker

Ein heißes Streitthema bei der Klimakonferenz in Madrid war die Frage, ob die Staaten angesichts tausender besorgniserregender wissenschaftlichen Studien und zunehmenden Klimakatastrophen „dringend“ etwas unternehmen sollten oder nur dazu „eingeladen“ werden, klimaschützende Maßnahmen zu setzen. Es wurde also zäh verhandelt, ob eine gewisse Problemlage vorliegt, die dringend nach Lösungen verlangt, oder ob die Weltgemeinschaft die Staaten, die die Problemlage verantworten, nett dazu ein, sich vielleicht zu überlegen, freundlicherweise etwas zu tun, mit vollstem Verständnis, wenn es doch gerade nicht konveniert, und so lauten die Antwort mancher Politiker: “Vielleicht tun wir was bis 2030, 2040 oder 2050, aber das entscheiden wir selber, da lassen wir uns nicht dreinreden.”

Angesichts der zunehmenden Emissionen und angesichts allseits steigender Temperaturen, die mittlerweile jeder aus persönlicher Erfahrung bestätigen kann, erscheint die Diskussion und die dafür aufgewendete Zeit über solche Fragen erbärmlich und zynisch. Die Notlagen von Millionen Menschen, deren Existenz durch die Klimaentwicklung bedroht ist, und die Sorgen von Milliarden um eine lebenswerte Zukunft werden einfach spöttisch ignoriert und dringend notwendige Maßnahmen werden zu Tode verfeilscht. Zynisch ist eine Haltung, die andere Menschen, deren Anliegen, Werte und Normen hämisch und verspottend entwertet und der Lächerlichkeit preisgibt.

Zyniker sind Rechthaber und Besserwisser, sie wissen schnell an allem etwas auszusetzen, ohne Alternativen anzubieten. Kritik wird mit beißendem Spott vorgetragen, der die Objekte herabwürdigt und lächerlich macht. Zyniker verhalten sich immer distanziert zu dem, was sie kritisieren, denn jede Form von emotionalem Betroffensein durch die Ereignisse oder Zustände in der Umgebung wäre ein Zeichen von Schwäche. Sie möchten um keinen Preis an die eigene Verletzlichkeit erinnert werden. Schwäche zu zeigen ist schambesetzt; die Schwächen der anderen und der Welt spöttisch und treffsicher aufs Korn zu nehmen, schützt vor dieser Scham.  

Die Taktik des Zynismus besteht darin, Teile aus der Wirklichkeit herauszupicken und gegen das Ganze zu kehren. Ein Makel an einem Gebäude, an dem sonst alles passt, dient als Zielscheibe des Spottes, der sich gegen den ganzen Bau und den Architekten richtet. Eine unüberlegte Äußerung, schon wird die ganze Person lächerlich gemacht; eine unpassende Handlung, und der ganze Mensch ist der Abwertung preisgegeben. 

Zyniker beeindrucken durch ihre scheinbare Selbstsicherheit und Coolness gegenüber den Herausforderungen der Wirklichkeit. Das macht sie attraktiv als Führungspersönlichkeiten und Politiker. Diese abgebrühte Überlegenheit und ignorante Nonchalance möchte jeder gerne haben.

Die Kehrseite des Zynismus ist die emotionale Kälte und Mitleidlosigkeit gegenüber jeder Form von Schwäche und Verletzbarkeit. Solange ein Zyniker in der Machtposition ist, setzt er sich über alle Rücksichtnahmen hinweg, zieht seine Linie durch und nimmt alle Gegenmeinungen als Anlass zur Verspottung. Selber von engstirnigen Interessen geleitet und gut Freund mit allen möglichen Lobbyisten und Schmeichlern, sieht der zynische Politiker in seinen Gegnern nur Marionetten und Dilettanten (siehe auch die beliebte Etikettierung von Greta Thunberg als Handlangerin von irgendwelchen gierigen Geschäftsinteressen).

Aus all dem geht hervor, dass Zyniker denkbar ungeeignet sind, komplexe Sachverhalte ausgewogen zu beurteilen und auf dieser Basis durchdachte Entscheidungen zu treffen. Sie sind also für den Job eines Politikers im 21. Jahrhundert katastrophale Fehlbesetzungen und wirken wie Relikte aus vergangenen Zeiten, in denen noch nicht klar war, ob es in der Politik um Menschenverachtung oder um das Gemeinwohl und das Überlebensinteresse der Weltgesellschaft gehen solle. Doch diese Tradition der Verehrung von zynischen Haxlbeißern und Menschenverächtern ist in den Köpfen vieler Wähler fest mit Politik assoziiert und entspricht inneren hassgeladenen Wunschbildern. Offene emotionale Rechnungen aus frühen Kindheitserfahrungen speisen die Erwartungen an zynische Politiker, die die Katastrophen der persönlichen Geschichte wichtiger nehmen sollen als die Obsorge für das Überleben der Menschheit und andere „abstrakte“ Probleme.

Zu hoffen ist, dass die junge Generation, in der sich jetzt viele für die Belange des Klimas und die damit verbundenen politischen Entscheidungen engagieren, die Mehrheit der Wählerschaft bilden und damit den zynischen Demagogen die Macht nehmen und eine Demokratieform begründen, in der die Natur eine stärkere Stimme hat als die Wirtschaftsbosse.

Bleibt angesichts der mächtigen nationalen Egoismen und bornierten Schutzhaltungen in der Klimafrage nach zwei Wochen ergebnislosen Feilschens auf der Weltklimakonferenz auch nur mehr der Zynismus einer Weltuntergangshaltung übrig? Dem Nichtergebnis einer Versammlung, bei der die Zyniker mit ihrer Verweigerungshaltung dominierten, weil sie gemeinsame Beschlüsse mutwillig blockieren können, mit Zynismus zu begegnen, wäre selber nur ein Zeichen von Resignation und Selbstaufgabe. Statt dessen gilt es, die Fackel des Widerstandes gegen alle Egoismen (der narzisstischen Politiker und der Staaten, die sich selbst an erste Stelle setzen) hochzuhalten und alle Initiativen mit den verfügbaren Kräften zu unterstützen. Wir können alle einen Unterschied machen, indem wir unsere Handlungen und unsere Einstellungen verändern - von der Selbstbezogenheit auf die Bedürfnisse und Anliegen der Gemeinschaft, auf den Schutz der Natur und der Menschenrechte. 

Zum Weiterlesen:
Das Pathos der Beschämung in der Klimadebatte

Samstag, 7. Dezember 2019

Konsumscham und Schamkonsum

Die Konsumscham

Der Kapitalismus hat es nicht nur geschafft, die Gier in sein Produktions- und Konsumationssystem einzubauen, sondern auch die Scham. Allerdings spielt die Scham eine Doppelrolle: Zum einen dient sie als Gegenspieler zur Gier. Die Gier ist eine egoistische Angelegenheit, die das individuelle Überleben sichern will. Gierige Menschen werden von vielen als asozial erlebt, und die Gier lebt sich deshalb auch gerne im Verborgenen aus. An die Öffentlichkeit gebracht, müssen oder sollen sich gierige Menschen in den Augen der anderen schämen. Das Laster der Gier wird durch die Scham eingegrenzt und gemäßigt.

Als Folge kann übermäßiger Konsum mit Scham behaftet sein. Ein aktuelles Beispiel stellt die Flugscham dar, mit der ein übermäßiger Konsum von Flugreisen angeprangert und mit sozialer Ächtung verbunden wird. Wer viele Flugreisen unternimmt, vor allem wenn es ums Vergnügen und um Kurzvisiten geht, soll sich dafür schämen, an der Belastung des Klimas mitzuwirken und für einen egoistischen Zweck der Allgemeinheit einen langfristigen Schaden zuzufügen.

Übermäßiges, unersättliches, exzessives Konsumieren unterliegt den kritischen Augen der Öffentlichkeit, die darauf schaut, dass ein gewisser gesellschaftlicher Grundkonsens erhalten bleibt: Niemand soll sich schamlos bereichern. Das ist die Rolle der Konsumscham.


Der Schamkonsum

Zum anderen kurbelt die Scham den Konsum an. Wir vergleichen uns fortwährend mit unseren Mitmenschen und deren Besitztümern. Insoweit wir uns selbst über Dinge definieren und unseren Selbstwert vom Verfügen über Gegenstände abhängig machen, kann sich ein schlechteres Abschneiden im Vergleich mit einem Nachbarn oder Kollegen problematisch auf den Selbstwert auswirken. Der Konsum dient dann dem Ausgleich, freilich mit der Falle, dass sich immer wieder neue Vergleiche finden, die die Selbstunzufriedenheit anstacheln. Vermutlich läuft ein großer Teil der Autokäufe über diese Schiene, denn eine vernünftige Erklärung dafür, dass Menschen immer schwerere, teurere, größere und umweltschädlichere Fahrzeuge erwerben und damit ihre Kurzausflüge im Stadtverkehr zu den Einkäufen oder zum Friseur, gibt es nicht. Man schämt sich offenbar, wenn man mit einem kleinen Gefährt unterwegs ist, während ringsum im Stau die mächtigen SUVs verächtlich von oben herabschauen und mit imponierendem Geheul zur nächsten Ampel davondonnern.

Die Werbung bedient sich unserer Zwänge zum Vergleichen. Sie stellt uns die strahlenden Menschen vor Augen, die scheinbar mit einem bestimmten Produkt ihr Glück gefunden haben. Da könnte uns schon die Scham packen, wenn wir gerade nicht so high sind wie die Schönheiten auf dem Plakat. Also fehlt uns noch irgendein Ding, das wir zu unserem Glück brauchen. Und flugs dreht sich das Konsumrad weiter, wie das ewige Schicksalsrad im Hinduismus. Nie finden wir das Glück, nie entfliehen wir der Beschämung durch die Konsumdiktate.


Zur Geschichte des Schamkonsums 

In früheren Gesellschaften war die Scham durch die soziale Stellung bestimmt und stark mit dem Begriff der Ehre assoziiert. Die Geburt bestimmte die Zugehörigkeit zur Schicht und damit zum gesellschaftlichen Rang. Wer sich mehr oder weniger Ehre zugestand, war mit Scham beladen.

Die traditionellen Hierarchien wurden durch die Gesellschaftsrevolutionen seit dem 18. Jahrhundert obsolet und in ihren Innenwirkungen entmachtet – es ist nicht mehr automatisch jemand besser, wenn er weiter oben auf einer sozialen Rangleiter steht. Vielmehr wird das Glück über den materiellen Besitz definiert, wovon eine unglaubliche Welle der gierigen Aneignung der Schätze dieses Planeten ausging. Die Konkurrenz der europäischen Mächte um die machtpolitische Aufteilung der Kontinente war von Gier und Scham angetrieben: Schande denen, die über kein Kolonialreich verfügten, aus dem ein scheinbar unermesslicher Reichtum nach Europa floss. Dann kam das 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen: Der erste war aus dem schamgetriebenen imperialistischen Konkurrenzdenken entstanden, der zweite als Folge der Beschämung der Besiegten durch die Sieger und endete mit massiven Zerstörungen, die eine äquivalent starke Welle der Scham auslöste.

Die Nachkriegsgeneration baute sich zur Kompensation der Scham- und Schuldgefühle ein Konsumparadies auf, in dem sich mehr und mehr Bürger mehr und mehr Luxusgüter leisten konnten, um zu feiern und das Schreckliche vergessen zu können. Damit konnte das üppige Konsumieren die große Scham und Beschämung zudecken. Statt sich des moralischen Versagens und der politischen Verantwortungslosigkeit zu stellen, verhalf der Wohlstandsschub zum Ausgleich: Wohlstand gegen Schuld. Die große Scham wurde durch die kleine abgelöst, angestachelt durch das Vergleichen der Besitztümer. Die kleinen Schamspiele ließen die kritischen Anfragen an die Menschlichkeit vergessen, die von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts bis heute widerhallen.


Infantilität und Verantwortung 

Heutzutage, wo endlich die Tragweite des Konsumverhaltens im Zeichen der Klima- und Umweltkrise diskutiert wird, nimmt die Scham eine neue Rolle ein, allerdings nur in einem Minderheitenprogramm. Eine kleine Gruppe von Aktivisten und Umweltbewussten nimmt sich und die Zeichen der Zeit so wichtig. Diese Menschen wandeln die Scham in klimafreundliche Handlungen um. Sie sind sich ihrer Verantwortung bewusst und bereit, auf Konsum zu verzichten und den eigenen Luxus einzuschränken. Sie stellen ihre erwachsenen Kompetenzen über die Infantilität ihrer Konsumimpulse.

Die breite „Masse“ konsumiert fröhlich weiter, als gäbe es kein Morgen oder Übermorgen, angetrieben von subtilen Gier- und Schamimpulsen.  Die Rechtfertigungen und Ausreden zur Dämpfung der Scham sind wohlformuliert im Kopf gespeichert, um bei Bedarf das schlechte Gewissen zu beruhigen. Papa Kapitalismus sagt: Je mehr Geld du ausgibst, desto besser bist du als Mensch.

Das Wissen um die Destruktivität des Kapitalismus und der von ihm in Dienst genommenen Gefühlsmechanismen von Gier und Scham erweist sich bei den meisten Menschen als relativ nutzlos und irrelevant für die überlebensnotwendigen Verhaltensänderungen. Der Schlüssel zur Veränderung im Sinn einer Qualitätsorientierung statt einer Quantitätsorientierung kann nach meiner Auffassung und Erfahrung nur in einer radikalen Innenschau gefunden werden, im Eingestehen von neurotischen und infantilen Motivationen und im Besinnen auf den tieferen Sinn unseres Daseins, der nichts mit Konsum zu tun hat. 

Zum Weiterlesen:
Das Pathos der Beschämung in der Klimadebatte
Konsum und Gier
Krankhafter Konsum
Das Giersystem im Kapitalismus
Gier und Selbstzerstörung