Samstag, 30. April 2022

Unterstellungen und ihre Ursprünge

Unterstellungen kommen immer wieder vor in der menschlichen Kommunikation. Damit ist gemeint, dass wir Annahmen über das Innere unserer Gesprächspartner bilden, die uns als real erscheinen, ohne dass wir dafür eine stichhaltige Begründung haben. Auf der juridischen Ebene können Unterstellungen schwerwiegende Folgen haben, wenn sie den Tatbestand der Verleumdung oder der üblen Nachrede erfüllen. Der Rechtsstaat schützt in diesen Fällen das Ansehen aller Staatsbürger vor ungerechtfertigter öffentlicher Beschämung. Erfolgen Unterstellungen hinterrücks, so bilden sie die Grundlage für Mobbing. In der Alltagskommunikation erzeugen sie Unstimmigkeiten und Konflikte oder werden in solchen als Angriffsinstrument verwendet.

Sie betreffen Absichten, Gefühle, Gedanken sowie Werte und Haltungen:

  • Absichten: Du bist mir absichtlich auf die Zehen getreten.
  • Gefühle: Du magst mich nicht.
  • Gedanken: Du denkst immer abwertend über mich.
  • Werte und Haltungen: Du bist ein Chauvinist (Rassist, Linker, Rechter)

Politische Propaganda und Unterstellungen

In der politischen Debatte gehören Unterstellungen offenbar zum täglichen Kleingeld der Scharmützel. Schnell wird dem Gegner Käuflichkeit oder Verlogenheit vorgeworfen. Werden politische Akteure direkt auf diese Weise angegriffen, kommt es häufig zu Gerichtsverfahren, in denen dann das Zutreffen der Unterstellungen untersucht wird.

Auch auf der internationalen Ebene wird fleißig mit Unterstellungen gearbeitet und für Außenstehende ist es oft schwierig, die Sachverhalte zu klären und zu unterscheiden, wo es um bloße Propaganda oder um Fakten geht. Aktuelle Beispiele: Ukraine: Russland bombardiert absichtlich Kindergärten und Spitäler. Wir wissen, dass Kindergärten und Spitäler vernichtet wurden; wir wissen aber nicht, ob es Absicht oder Versehen war. Russland: Die Ukraine produziert biologische Kampfstoffe. Es gibt aber bisher keine Hinweise oder Beweise. Propagandistische Unterstellungen werden in diesem Fall wie auch in anderen benutzt, um die eigenen Angriffs- und Zerstörungsabsichten zu rechtfertigen.

Unterstellungen in Alltagskonflikten

Wenn wir uns in Auseinandersetzungen bedroht fühlen, greifen wir manchmal zum Mittel der Unterstellung. Es besteht darin, der anderen Person Gedanken, Gefühle oder Absichten anzuhängen, so, als wüssten wir genau, was in der anderen Person abläuft. Wir sind gerade gefangen in den eigenen Gefühlen, sind verletzt und verärgert, weil uns die andere Person unrecht getan hat und wehren uns, indem wir dem Gegenüber unsere Mutmaßungen unterjubeln. Wir verwechseln unser Spekulieren und Fantasieren mit dem Inneren unseres Gegenübers. In solchen Zusammenhängen verwenden wir Äußerungen wie: „Du hörst mir nicht zu.“ (Woher wollen wir das wissen?) „Du verstehst mich nicht.“ (Könnte sein oder auch nicht!)

Eine Gangart wird zugelegt, wenn Sätze kommen wie: „Du willst mir die Laune verderben, wenn du mich so unfair kritisierst.“ „Du musst mich hassen, wenn du so etwas zu mir sagst.“ „Du kannst nur Böses über mich denken, wenn du dich so verhältst.“

Wir vermeinen in diesen Situationen, dass wir über die besondere Gabe des Gedanken-, Gefühle- oder Absichtenlesens verfügen, die wir vor allem dann aktivieren, wenn wir uns durch andere Personen bedroht, verletzt oder beschämt fühlen. Wir tun so, als ob die Mitmenschen wie offene Bücher für uns sind, die wir nur aufschlagen müssen, und schon wissen wir, was da los ist und können diese Erkenntnisse gegen sie verwenden. Tatsächlich aber blättern wir dauernd in unseren eigenen Notizen und in den alten Aufzeichnungen aus dem Archiv unseres defensiven Denkens mit seinen selbstkonstruierten Annahmen, Erwartungen, Vermutungen und Konzepten.

Wenn wir namhaft und dingfest machen können, was im Gegenüber gerade abläuft, glauben wir, die Situation kontrollieren zu können. Wir haben die andere Person durchschaut und ihre bewussten und unbewussten Antriebe bloßgelegt. Damit verringert sich das Ausmaß der Bedrohung. Und wir können die andere Person in einen schamvollen Zustand versetzen, der sie außer Gefecht setzt und wehrlos macht. Sie ist aufgeblättert, und es liegt zu Tage, wo die Ursache und die Schuld am Zerwürfnis zu finden ist. Sie muss klein beigeben und ihre Mangelhaftigkeit und Schuld einbekennen, weil sie durchschaut und damit ihrer Waffen entledigt ist. Wenn wir der anderen Person auf den Kopf zusagen können, was sich in ihrem Inneren abspielt, soll sie Einsicht zeigen und ihr Verhalten sofort ändern. Wir gewinnen damit eine Machtposition, von der wir uns Schutz erhoffen. Denn unser eigenes Inneres bleibt unberührt, während das der anderen Person im kritischen Rampenlicht steht.

Psychologisieren

Unterstellungen dienen folglich als Machtmittel zur Durchsetzung der eigenen Sicht auf die Dinge. Meist bedienen wir uns dabei des Psychologisierens. Denn die Psychologie stellt uns viele begriffliche Möglichkeiten zur Verfügung, mit denen wir unsere Projektionen anbringen. Menschen mit psychologischer Bildung oder Halbbildung nutzen deshalb gerne psychologisch aufgeladene Unterstellungen: „Du solltest diesen Ärger deiner Mutter umhängen, nicht mir.“ „Du denkst wieder einmal wie dein Vater.“

Allerdings wissen wir aus der Psychologie ebenfalls: Nicht nur die Fantasien, die wir über andere und deren Innenleben entwickeln, gehören zu uns, sondern auch deren Wurzeln und Hintergründe. Es sind meistens Ängste und Beschämungserfahrungen, die wir von früher kennen und die wir dann in die andere Person projizieren, wenn in uns ein ähnliches Gefühl auftaucht, wie eines, das wir schon einmal unter unangenehmen Umständen erlebt haben. Wir sollten dafür die Verantwortung übernehmen, statt sie dem Gegenüber aufzuladen.

Zu diesem Zweck lehrt uns die Psychologie, Feedback-Sätze mit „Ich“ zu beginnen statt mit „Du“. Es wird viel schwieriger, eine Unterstellung vorzunehmen, wenn wir eine Ich-Botschaft wählen: „Ich habe das Gefühl, du verstehst mich nicht.“ Indem die Perspektive gewechselt wird, wird die Angriffsenergie entschärft. Der Sprecher bleibt im eigenen Rayon und teilt sich aus seiner Welt mit. Die Tatsachenbehauptung wird auf eine Vermutung zurückgestuft. Es bleibt nur die Unklarheit, ob es ein Gefühl namens „der-andere-versteht-mich-nicht“ gibt oder ob das nicht eher eine mentale Konstruktion darstellt. Manchmal, und das ist auch eine verbreitete psychologisierende Unsitte, wird der Begriff „Gefühl“ verwendet, um etwas Untrügliches und Unhinterfragbares, gewissermaßen einen Fixstern in die Debatte einzubringen. Gegen Gefühle kann man nicht argumentieren. Würde man hingegen sagen, man hätte den Eindruck, nicht verstanden zu werden, wäre das neutraler und nähme den manipulativen Gehalt weg.

Beschämungsfolgen

Bei genauerem Hinsehen erkennen wir, wie wir die Beschämung in mehrfacher Weise nutzen: Zum einen dringen wir in die andere Person ein und kehren ihr Inneres nach außen. Wir zerren Intimes an die Öffentlichkeit, was bei der anderen Person Scham auslöst. Weiters geben wir vor, dass wir besser als die Angesprochenen selbst wissen, was in ihnen ist, nämlich was ihre versteckten und verborgenen Impulse und Regungen anbetrifft. Wir wollen ihnen glaubhaft machen, dass ihre Eigenwahrnehmung schlechter ist als unsere Einsichten von außen. Wir werten sie ab und beschämen sie dadurch. Schließlich bietet der Inhalt des Unterstellten – die böse Absicht, der schlechte Gedanke, das feindliche Gefühl – Anlass für Beschämung und will auch beschämen: Es sind Mängel und Fehlerhaftigkeiten, die angeprangert werden und die betroffene Person in ein schlechtes Licht stellen, und die Veröffentlichung soll dazu führen, dass es zu einer Veränderung kommt, sodass das verletzende Verhalten nicht mehr vorkommt. Da wir selber über Erfahrungen verfügen, in denen wir als Folge einer Beschämung unser Verhalten verändert haben – z.B. indem wir in der Folge bestimmte Gefühlsäußerungen, verbale Wendungen oder Handlungen unterdrückt haben –, meinen wir, dass das Machtmittel der Beschämung auch im aktuellen Fall Abhilfe schaffen wird.

Natürlich hängt es von der Reaktion der angesprochenen Person ab, sie kann sich fügen und verändern. In ihr verbleibt aber das gleiche innere Ressentiment, das wir selber aus unserer früheren Beschämungssituation kennen und das mit dem heimlichen Wunsch verbunden ist, es einmal heimzuzahlen. Es kann aber auch zur Abwehr kommen, zu einem Gegenangriff oder einer Gegenunterstellung, und die Auseinandersetzung verschärft sich und eskaliert. Es kann die andere Person auch erkennen, was abläuft, und die Unterstellung als Unterstellung benennen und sich dagegen abgrenzen. In all diesen Fällen zeigt sich, dass das Kommunikationsmittel der Unterstellung keinen wirklichen Erfolg bringt, sondern die Beziehungssituation zusätzlich anheizt und verschlechtert.

Manchmal fühlt sich jemand ertappt oder erkannt – die Unterstellung hat, wenn vielleicht nicht in allen Aspekten, doch einen wunden Punkt getroffen. In den meisten Fällen wird dann die Abwehr besonders heftig ausfallen oder zum totalen Rückzug führen. Es bedarf dann einer hohen Schamkompetenz und integrer Reife, zu sagen, dass etwas an dem, was vermutet oder interpretiert wurde, stimmt und dass man sich damit auseinandersetzen wird.

Unklare Grenzen zwischen innen und außen

Die Tendenz zum Unterstellen stammt aus einer Schwäche in der Unterscheidungsfähigkeit zwischen innen und außen. Wir verfügen über keine klare Grenze zwischen dem, wo wir selber sind und wo wir aufhören, und dem, wo der andere ist und aufhört. Diese Schwäche stammt aus Erfahrungen mit Grenzüberschreitungen. Wenn Eltern oder Erziehungspersonen die physischen oder emotionalen Grenzen des Kindes nicht respektieren z.B. durch Gewalt oder Bedürfnismanipulation, wird es schwierig für das Kind, ein realitätsgerechtes Gefühl für die eigenen Grenzen zu bilden. Sie werden zu durchlässig und schwammig. Aus den unklaren, konfluenten Grenzen entsteht die Grundlage für Unterstellungen, die sich als Gefühls- und Gedankenlesen ausgeben: So wie meine Grenzen überschritten wurden, überschreite ich sie jetzt. Die eigene Sphäre dehnt sich nach Belieben aus, weil sie von der Sphäre des anderen nicht unterschieden ist. Deshalb weiß ich besser als du selber, was in dir abläuft.

Alle Unterstellungen, die mit Projektionen arbeiten, stammen also aus erlittenen Grenzverletzungen. Häufig geschieht dies durch Fehlinterpretationen der eigenen Bedürfnisse: Eltern „lesen“ die Bedürfnisse ihrer Kinder falsch und geben ihnen, was sie nicht brauchen, während sie ihnen das vorenthalten, was sie bräuchten. Kinder leiten aus solchen Erfahrungen ab, dass sie selber falsche Bedürfnisse haben und dass sie die Unterstellungen ihrer Eltern zu den richtigen Bedürfnissen führt. Sie verlernen dabei, ihrem eigenen inneren Sinn zu vertrauen und können deshalb auch dem inneren Sinn von anderen nicht vertrauen. Sie lernen, stellvertretend zu fühlen, statt sich selber. Denn sie müssen auch lernen, die Eltern zu manipulieren, um zumindest einige der Eigeninteressen durchbringen zu können.

Die Beschämung, die mit dem Prozess der Uminterpretation der eigenen Bedürfnisse einhergeht, wird dann später anderen durch den Vorgang der Unterstellung zugefügt. Da die eigenen Grenzen nicht geachtet wurden, gelingt es später nicht, die Grenzen anderer zu achten. Es besteht kein klares Gefühl dafür, was ein respektvoller Umgang mit Grenzen sein könnte. Im Ernstfall, wenn es zu kommunikativen Spannungen kommt, wird das Grenzüberschreiten mittels Unterstellungen zur Waffe. Ich dringe in die Innenwelt des anderen ein, so wie in meinen Innenraum eingedrungen wurde. So, wie andere besser wussten als ich selber, was in mir ist , weiß ich jetzt besser, was in anderen ist, als sie selber.

Wie können wir mit Unterstellungen umgehen?

Zunächst sollten wir in uns selber überprüfen, ob die Aussage, die die Person über uns trifft, zutrifft oder nicht. Ist uns klar, dass wir nicht fühlen, denken oder beabsichtigen, was uns angedichtet wird, sollten wir uns klar und unmissverständlich dagegen abgrenzen: „Ich sehe – erlebe – fühle es so und nicht so. Ich habe diese Absichten und nicht jene.“ Wir sind die Experten für unsere eigene Innenwelt, wir wissen, was da stimmt und was nicht. Wir verfügen über die Fakten, die andere Person hat nur ihre Fantasie.

Jedenfalls sollten wir alles, was uns als Unterstellung erscheint, nicht einfach übergehen. Denn das könnte die unterstellende Person in ihren Meinungen über uns befestigen und unseren Ruf und unser Ansehen schädigen. Es ist wichtig, auf die Klärung der Faktizität und Authentizität zu dringen, um uns selbst und den Kommunikationsraum frei zu halten von Projektionen und manipulativer Machtausübung. Wir dürfen uns auf keinen Fall die Oberhoheit über unseren Innenraum streitig machen lassen und sollten alles, was da hinein interpretiert wird, ruhig und entschieden zurückweisen. Wir sind für unseren Grenzschutz zuständig und

Ein freundlich und unterstützend gemeintes Feedback stellt ein anderes Kaliber dar als offen oder versteckt aggressive Unterstellungen mit Vorwurfsgehalt und Änderungsappellen. Es ist die Absicht, die den Unterschied macht. Und wir sollten uns immer vergewissern, welche Absicht die andere Person hat, indem wir rückfragen. Denn aus unserem eigenen Spüren heraus wissen wir nur, was in uns selber los ist; für das Außen brauchen wir andere zusätzliche Quellen, um zur Gewissheit zu gelangen.

Zum Weiterlesen:
Psychologisieren - eine moderne Untugend

Grenzen und Durchlässigkeit

Krieg und Propaganda

Wenn Fiktion zum Faktum wird

Donnerstag, 28. April 2022

Die Traumwelt und die Moderne

Beim Träumen (gleich ob beim Tag- oder Nachtträumen) befinden wir uns in einem besonderen Zustand, der über eine eigene Form der Realitätswahrnehmung verfügt. Während des Träumens erleben wir meistens unsere Erfahrungen als so wirklich wie die Wirklichkeit während des Wachens. Erst wenn wir aufwachen, erkennen wir, dass wir in einer anderen Wirklichkeit waren, die weniger wirklich ist als die im Wachzustand erlebte Welt. Den Unterschied zwischen Wach- und Traumzustand können wir also nur im Wachzustand feststellen. 

Traumzustände sind ein wichtiger Teil unseres Lebens – ohne Träumen können wir nicht gesund bleiben. In den Traumphasen des Schlafes wird das prozedurale Gedächtnis trainiert. Emotionale Themen werden verarbeitet. Das Gehirn wird gereinigt und auf die Tagesaktivitäten vorbereitet. Der Mangel an Traumphasen während des Schlafes bewirkt Unkonzentriertheit, Nervosität und Müdigkeit. Die Traumphasen umfassen ca. 15 – 20 % des Nachtschlafes. 

In unserer individuellen Entwicklung kommen wir aus einer Welt der Verwobenheit von Wach- und Traumzuständen. Ungeborene träumen sehr viel mehr als Erwachsene. Von Babys und Kleinkinder wird vieles an der Wachwirklichkeit als wundersam, unverständlich und vieldeutig erlebt und trägt also noch die Attribute des Traumhaften. Zug um Zug wachsen wir aus dieser doppeldeutigen Weltsicht heraus, das Magische und Mythische zieht sich langsam zugunsten der rationalen Weltsicht zurück. Wir lernen eine Sprache mit ihren Regeln, unterscheiden Fakten und Fiktionen, inkorporieren die Normen unserer Kultur und machen uns mit abstrakten Begriffen und Ideen vertraut. Wir beginnen, die komplexen Zusammenhänge der Welt der Erwachsenen zu erforschen und ihre Geheimnisse zu entschlüsseln. Unser Gehirn wechselt in dieser Zeit von einer rechtshemisphärischen Dominanz zu einer linkshemisphärischen. Wir durchlaufen einen Prozess der Entmystifizierung und Rationalisierung. Auf diese Weise wachsen wir in die Erwachsenenwelt und ihre Erfordernisse hinein. 

In der kollektiven Entwicklung der Menschheit sehen wir eine ähnliche Tendenz. Die frühen tribalen Kulturen, in denen die Menschen in enger Verbindung zur Natur und zu den Geistern lebten, sahen verschiedene Erfahrungsebenen als gleichwertig, die sich miteinander wechselseitig beeinflussen. Erzählungen, die ein Zwischenglied zwischen der emotionalen und rationalen Ebene darstellen, waren das wichtigste Element für die Weitergabe von Wissen und Weisheit. Der Mythos hatte einen höheren Stellenwert als die Geschichtsschreibung. Diese Kultur hat sich bei uns vor allem über Märchen und Sagen erhalten. Auch die moderne Unterhaltungswelt ist voll von Aspekten der Traumwelt. 

Der Siegeszug der Rationalität 

Schon in der griechischen Philosophie wurde die Wichtigkeit des Wachbewusstseins betont, z.B. im berühmten Höhlengleichnis von Platon. Mit der spätscholastischen Philosophie gegen Ende des europäischen Mittelalters begann spätestens der Wechsel von der Dominanz der Traumwelt zur Dominanz der Wachwelt. Der Aufstieg der Wissenschaften mit ihren Erkenntnissen, die neue Technologien und Wirtschaftsweisen hervorbrachten, bildete die Grundlage für die Aufklärung, für das Erwachsenwerden der Menschen und ihrer Gesellschaftsformen. Hand in Hand mit der Propagierung der allgemeinen Menschenrechte ging der Kampf gegen Aberglauben und Ideologien. Es handelt sich um eine Entwicklung, die nicht mehr rückwärts laufen kann. Denn die Rationalität ist über die Technik so tief in die moderne Lebenswelt eingebaut, dass es kein Zurück mehr geben kann, sondern dass dieser Trend vielleicht nicht linear, aber stetig weiter in diese Richtung gehen wird, ob wir das wollen oder nicht. 

Die Basis für die rationale Festlegung von Normen über das, was Fakt ist und was nicht, sowie darüber, wie soziale Entscheidungen getroffen werden, wird in rückbezüglichen Prozessstrukturen festgelegt: Jeder Schritt in der Wahrheits- oder Entscheidungsfindung wird überprüft und kontrolliert und im Fall des Irrtums revidiert. Die Prinzipien dieser Prozesse sind offengelegt und für jede Person einsichtig und nachvollziehbar, z.B. in der Verfassung eines Staates oder in Regeln zur Testung von Medikamenten. Die Vorstellung von absoluten Wahrheiten, die mit der mythologischen Weltsicht verträglich ist, wird zugunsten von relativen Wahrheiten aufgegeben: Wahrheit, die so lange gelten, bis sie durch bessere ersetzt werden. Das Innehaben oder Besitzen von Wahrheiten durch Eliten weicht fortlaufenden Prozessen der Annäherung an die Wahrheitsfindung, die Wahrheitsproduktion durch einzelne geniale Individuen tritt hinter der Wahrheitserforschung in Teams und Gruppen zurück. Diese Wahrheiten sind für alle gleichermaßen zugänglich, ebenso wie die Methoden, durch die sie gewonnen werden. Diese Zugänglichkeit hat sich durch das Internet auf nie dagewesene Weise auch praktisch weltweit demokratisiert. 

Rationalität als Voraussetzung für Diskurse 

In der Moderne können sich nur Menschen sinnvoll und für die Allgemeinheit förderlich einbringen, die ihre Rationalität von ihrer Traumebene trennen können und wissen, wann sie da und wann sie dort sind. Sie müssen Argumente von Erzählungen und Mythenbildungen unterscheiden können. Der politische Diskurs in einer Demokratie kann nur auf der Basis von Rationalität, die in der Nutzung der Vernunft besteht, und gegenseitiger Achtung funktionieren und weiterführende Resultate hervorbringen.  

Die Mechanismen und Strategien, die das demokratische Regieren und die empirische Wissenserforschung auszeichnen, beruhen auf der autonomen Wachwelt und den Kompetenzen, die mit ihr zusammenhängen. Das sind die Fähigkeiten, die für das Überleben und die Entwicklung der Menschheit unter immer komplexer werdenden Rahmenbedingungen unabdingbar sind. Diese Prozesse funktionieren aber nur, wenn die Traumwelt draußen bleibt. Sie darf sich also nicht unbemerkt einschleichen, wenn Entscheidungen getroffen oder wissenschaftliche Erkenntnisse produziert werden. Die klare Trennung von Wachwelt und Traumwelt ist das Erfolgsrezept der Moderne. Wo sie unterlaufen wird, kommt es zu kollektiven Regressionen, mit stark schädlichen Folgen und Verwerfungen auf allen Ebenen der Gesellschaft. 

Denn überall, wo sich das Traumerleben in die Erwachsenenwelt unerkannt einschleicht, erwachsen  vielfältige Probleme. Im individuellen Bereich sind es die Ängste aus den frühen Phasen des Lebens, die uns aus der aktuellen Wirklichkeitserfahrung herausholen und in Traumaschleifen verwickeln. Wir verlieren dadurch unsere Klarheit und soziale Verbindlichkeit. In Extremfällen kommt es zu psychischen Störungen und Krankheiten.  

Ideologien als Schlupflöcher der Traumwelt 

Auf der kollektiven Ebene sind es Ideologien, mit denen versucht wird, die aktuelle Realität mit Hilfe von Traumgespinsten zu erklären und zu bewältigen. Sie bilden das Einfallstor der Traumwelt in die Moderne. Ideologien nutzen Traumelemente, –motive und –logiken, um die Menschen für sich einzunehmen und sie auf ihre Seite zu bringen. Damit greifen sie den Kern und die Grundlagen der Moderne und der Aufklärung an: Die Ausgrenzung der Traumlogik, um allgemein verbindliches Erkennen, Wissen und Handeln zu ermöglichen. Mit den Ideologien schwappen die Gefühle in die Argumentationen und vernebeln die Entscheidungsprozesse. 

Die Ideologien unterlaufen die Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung der Vernunftwelt von der Traumwelt, indem sie suggerieren, dass die Traumlogik der Wachlogik überlegen ist. Mit ihrer emotional ansprechenden Evidenz erreichen sie ihre Anhänger, die dann der Versuchung unterliegen, Vereinfachung als Mittel gegen die Komplexität, gefühlsgeleitetes Handeln statt argumentativer Entscheidungsformen. 

Ein Beispiel bildet der Antisemitismus, der viele Menschen dazu bringt, Juden generell abzulehnen und böser Absichten zu verdächtigen. Viele der Antisemiten kennen gar keine Juden persönlich, und der Antisemitismus ist dort am stärksten verbreitet, wo am wenigsten Juden leben. Es geht also nicht um faktische Erfahrungen, die die Judenfeindschaft begründen, sondern um einen Glauben, der jeder eigenen Erfahrung übergeordnet wird. “Ja, die Juden, die ich kenne, sind in Ordnung. Aber das sind die Ausnahmen, und alle anderen sind unsympathisch und gefährlich.”  

Erzählungen, wie in diesem Fall die Erzählung von der Bosheit und Verschlagenheit der Juden, sind immer subjektiv, willkürlich und unlogisch, sie folgen einer Traumlinie und keinen Kausalketten oder argumentativen Folgerichtigkeiten. Sie orientieren sich nicht an Fakten, sondern an Gefühlen. Sie sind also primär innengelenkt, während die Rationalität immer Inneres und Äußeres voneinander unterscheidet und aufeinander bezieht. Sie beziehen ihre Evidenz aus Gefühlszusammenhängen, aus emotionaler Betroffenheit, aus Gestalten des Unbewussten. 

Herrschaftsfreie Diskurse 

Den Raum des herrschaftsfreien Diskurses, den Jürgen Habermas als Voraussetzung für die Regelung einer modernen, aufgeklärten Welt vorgeschlagen hat, können wir nur im autonomen Wachbewusstsein betreten. Einmischungen aus der Traumwelt machen uns anfällig für Machtallüren und ideologische Verblendungen. Es regieren Gefühle und keine Argumente. Die Diskurskultur wird zerstört und statt des Herauskristallisierens der jeweils besten Lösungen und Entscheidungen tritt der Kampf um die Durchsetzung von Eigeninteressen.  

Menschen, die unter dem Einfluss ihrer Traumwelt handeln, können zu Verbrechern ohne Schuldgefühle werden. Selbstmordattentäter z.B. folgen ihrer irrationalen Traumerzählung, in der sie zu gottgesandten auserwählten Rächern des Bösen fantasiert werden. Macht- und ideologiebesessene Politiker entfesseln Kriege und zerstören Menschenleben ohne jede Scham.  

Wo die Bewusstseinsebenen nicht auseinandergehalten werden, wo also das Traumbewusstsein mit dem rationalen Wachbewusstsein vermengt wird, entwickeln sich auf der individuellen Ebene schwere Pathologien bis zu Psychosen und auf der gesellschaftlichen Ebene Ideologien und Machtfantasien. 

Das Phänomen des Faschismus wird nur verständlich, wenn diese Vermischung der Bewusstseinsschichten auseinandergelegt wird. Mit mythischen Bildern und Metaphern begründet, die von archaischen Ängsten aufgeladen waren, wurde die Verhetzung und Vernichtung von Minderheiten gerechtfertigt. Nicht umsonst wirkt diese Zeit des Grauens wie ein Alptraum in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Aber auch den gegenwärtigen Krieg in der Ukraine können wir nur verstehen, wenn wir die verzerrten Traumelemente erkennen, die die Zerstörungskräfte antreiben. 

Das kreative Träumen 

Wir brauchen aber auch Träume für die Weiterentwicklung unserer Zivilisation und unserer Seele. „I have a dream” - mit dieser Traumbotschaft begeisterte Martin Luther King die amerikanische Bürgerrechtsbewegung. „Maybe I’m a dreamer” steht über den imaginierten visionären Zukunftshoffnungen von John Lennon. Wir sollen zuerst eine bessere Welt erträumen, damit wir sie Schritt für Schritt herstellen können. Das sind Wachträume, die wir bewusst als solche erleben und klar von der Wachwirklichkeit unterscheiden können. Sie schenken uns Impulse, deren Inspiration wir brauchen, um die Welt aus ihren begrenzenden Mustern herauszuführen. „Give peace a chance!” 

Zum Weiterlesen:
Der trügerische Zauber der Illusion
Kreative und reaktive Fantasien


Mittwoch, 27. April 2022

"Vater Staat" und die kollektiven Traumatisierungen

Wir neigen dazu, den Staat als moralisches Subjekt zu sehen, indem wir auf ihn unsere Erwartungen von Gut und Böse projizieren: Der Staat  A ist eine Diktatur, also ist er böse. Der Staat B hat eine gut funktionierende Demokratie, also ist er gut. Der Staat A nimmt Flüchtlinge auf, also ist er gut oder böse, je nach eigener Werthaltung usw. Der ehemalige US-Präsident Bush jun. hat eine Liste von Schurkenstaaten publiziert, um seine Vorstellungen von guten und bösen Staaten in die Welt zu posaunen. Aber auch in unseren Köpfen finden sich solche Listen, mit denen wir uns in der Staatenwelt orientieren. Dabei tun wir so, als wären Staaten menschliche Subjekte mit viel oder mit mangelhafter Moral.

Moralverfehlungen sind subjektiv

Fehlende Moralität können wir allerdings nur einzelnen Menschen vorwerfen. Selbst bei Menschengruppen ist es schon schwierig, einen gemeinsamen Bewertungsmaßstab anzulegen – sofort wird sich jemand aus einer Gruppe melden, der wir Unachtsamkeit vorwerfen, der sich nicht davon betroffen fühlt und sich über das ungerechtfertigte Verurteiltwerden beschwert. Die Frage einer Kollektivschuld wurde zwar nach dem 2. Weltkrieg diskutiert, wurde aber weitgehend abgelehnt. Im Strafrecht gibt es nur das Verschulden von Einzelpersonen.

Wir haben die Angewohnheit, die Geschichte als Prozess der Auseinandersetzung von verschiedenen Staatsgebilden zu verstehen, z.B. der Staat A führt Krieg gegen den Staat B. Wir nehmen Staaten als handelnde Subjekte wahr, was auch nicht so verwunderlich ist, weil die Machthaber in verschiedenen Staaten anstreben, ihre Staatsbürger geschlossen hinter sich zu vergattern. Die Botschaft lautet: Wir führen jetzt Krieg, weil wir das Böse bekämpfen, das der andere Staat repräsentiert. Alle müssen mitkämpfen, da sonst das Böse obsiegt. Wer nicht mitkämpft oder unseren Standpunkt teilt, ist selber böse, gehört aus dem Ganzen des Staates ausgeschlossen und muss ebenfalls bekämpft werden.

Einerseits treten Staaten als handelnde Subjekte auf (z.B. der Staat A erklärt dem Staat B den Krieg), andererseits ist dieses Handeln nichts anderes als die Summe von Einzelaktionen von Einzelpersonen (Kriege ordnen Politiker an und führen Soldaten durch). Jede staatliche Aktion geht ebenfalls auf Einzelpersonen zurück, z.B. dekrediert ein Präsident, berät eine Regierung oder beschließt ein Parlament bestimmte Maßnahmen. Als gut oder böse können nur die Handlungen von diesen Personen bewertet werden. Ein eindeutigeres Beispiel: Seit George Bush jun. haben eine Folge von 9/11 alle US-Präsidenten Drohnenangriffe auf tatsächliche oder vermeintliche Terroristen auf der ganzen Welt angeordnet, die rechtlich gesehen Mordtaten darstellen, für die die Präsidenten persönlich verantwortlich sind und die nie geahndet wurden. 

Es wird zwar jeder dieser Präsidenten behaupten, seine Entscheidungen für den Staat und für das Wohl seiner Staatsbürger getroffen zu haben. Doch die Last der moralischen Verantwortung bleibt bestehen, für jeden dieser Präsidenten und für jeden auf diese Weise angeordneten Mord. 

Identifikation mit "Vater Staat"

Jedes Staatswesen enthält in sich ein kollektives Traumafeld, das aus den unmoralischen Handlungen in der Vergangenheit, die in seinem Namen begangen wurden, entstanden ist. Aus dieser Gemeinsamkeit, die auf unbewusste Weise die Staatsangehörigen zusammenschließt, erwachsen die Projektionen auf den „Vater Staat“. Er fungiert als die Verkörperung des guten wie des schlechten Vaters. Stolz- und Schamgefühle in Hinblick auf den eigenen Staat werden durch diese Identifikation erzeugt. Das geteilte Traumafeld schmiedet das Band, solange es unbewusst wirkt. Es ist die eingeschworene Gemeinschaft derer, die Traumatisierungserfahrungen teilen, welche diese Identifikation festlegt und unauflösbar machen, indem die Wurzeln im Dunkeln liegen. Denn Traumen üben eine starke Macht aus, weil und solange sie unbewusst sind. 

Ideologische Einebnungen

Die Gemeinsamkeit der traumatisierenden Erfahrung ist der Kitt, der das Staatsvolk zusammenhält. Politiker nutzen diese Gemeinsamkeit, um das Volk den eigenen Interessen und Vorhaben gemäß formen zu können. Der Kitt wird allerdings für ideologische Konstruktionen instrumentalisiert, d.h. es wird als einheitlich und geschlossen dargestellt, was nicht einheitlich und geschlossen ist. In der Realität sind alle Staatswesen heterogen und nie so monolithisch. wie es vor allem die Nationalisten suggeriert wollen. 

In Österreich z.B. gibt es ein weitgehend geteiltes kollektives Traumafeld durch den Nationalsozialismus und den 2. Weltkrieg, das bis heute wirkmächtig ist. Es betrifft die Individuen aber unterschiedlich: Wenn die eigenen Vorfahren Mittäter oder Mitläufer der NS-Diktatur waren, ist die innere Belastung eine andere als wenn sie zu einer Oppositionsgruppe gehörten. Beide sind von den Kriegsereignissen betroffen, aber es macht wieder einen Unterschied, ob Vorfahren als Soldaten gekämpft und gemordet haben und/oder ob sie durch den Krieg zu Tode gekommen sind. Die einen sehen die Nazidiktatur als das schlimmste Übel, die anderen den Krieg und wieder andere das Kriegsende und die folgende Besatzungszeit.

Es gibt also in jedem Traumafeld Gemeinsames sowie Risse und Unebenheiten. Gerade deshalb tauchen immer wieder intensive ideologische Versuche auf, die das geteilte Feld einebnen wollen. Ideologien tendieren stets zur Vereinfachung, das Diverse taugt nicht für die Propaganda und ist schwieriger zu beherrschen. Am Beispiel Österreich erfolgte diese ideologische Einebnung dadurch, dass gleich nach dem Krieg begonnen wurde, eine Kultur des Vergessens und Verdrängens aufzubauen und Österreich als erstes Opfer des Nationalsozialismus zu idealisieren.

Ideologien als Pfleger der Verdrängung kollektiver Traumen

Die unbewusst gesteuerte Teilhaberschaft eines auf solche Weise eingeebneten Staatsvolkes verführt dazu, den Staat als Subjekt zu erleben, nicht als komplexes Zusammenwirken unterschiedlicher politischer Kräfte und Verwaltungseinrichtungen. Selbst wenn ein Staatsbürger dem Staat gegenüber negativ eingestellt ist, enttäuscht und frustriert von dem, was ein Staat macht, ist er nach wie mit ihm als Subjekt identifiziert. Erst wenn deutlich wird, dass der Staat kein Subjekt ist, sondern ein Zusammenwirken verschiedener Akteure und Interessengruppen, wird erkannt, dass es nur um die Amts- und Verantwortungsträger geht, denen gegenüber Kritik angebracht ist.

Nach dem Modell der Bewusstseinsevolution wird mit der Subjektivierung des Staates die personalistische Ebene in die systemische Ebene hineinvermengt. Zwar hat der Staat schon eine vor-systemische Wurzel, weil die ersten Staatsgründungen auf der hierarchischen, stark von Abhängigkeiten geprägten Ebene entstanden sind – viel mit Gewalt verknüpft, auf Kriegen begründet, durch die die Sklaverei zu einer tragenden Säule vieler Staatsgebilde und der staatlich geleiteten Wirtschaft wurde. Aber die Modernisierung des Staatswesens hat es mit sich gebracht, dass die Staatsverwaltungen zu Vorreitern des systemischen Bewusstseins wurden. Der Zwang zur Rationalisierung der Prozesse, der durch die Konkurrenz zwischen den Staaten entstanden ist, führte dazu, dass der Preis des Verzichts auf Modernisierung mit Rückschlägen in dieser Konkurrenz verbunden waren, was im Besonderen dann bei Kriegen zu schmerzlichen Erfahrungen führte. Die Staaten mit effizienterer Verwaltung waren zumeist auch jene, die kriegerisch erfolgreich waren und dadurch ihre Gebiete und ihren Einfluss vergrößern konnten.

Entideologisierung

Wenn wir einen Staat wollen, der sich aus der Klammer der ideologischen Vereinnahmungen und Zurechtbiegungen befreit, müssen wir die kollektiven Traumatisierungen bewusst machen, reflektieren und verstehen. Auf diesem Weg gelingt es, die Identifikation mit dem Staatswesen, in dem wir leben, aufzulösen und eine kritische Distanz einzunehmen, die es erlaubt, die Prozesse dort mitzugestalten, wo sie uns betreffen und rational abgewogene Haltungen zu den Themen einzunehmen, die sich im Zug der Weiterentwicklung des Staates stellen.


Mittwoch, 6. April 2022

Die toxische Männlichkeit und die Verletzlichkeit

Traditionell sind Kriege Männersache. Es gibt zwar die Mythen von den kämpfenden Amazonen, und immer mehr Frauen übernehmen Rollen in den Streitkräften. Aber nahezu alle Kriege in der Menschheitsgeschichte wurden von Männern angezettelt und ausgefochten. In früheren Zeiten war ihre Körperkraft gefragt, wenn es darum ging, den eigenen Stamm vor Feinden zu schützen, während die Frauen für die Nachkommen sorgen sollten. Heutzutage, wo Kriege nicht nur im Schlamm, sondern zunehmend von geschützten Kontrollzentren aus geführt werden, ist die männliche Dominanz beim Führen von Kriegen obsolet geworden. Und die Frage wird immer wieder gestellt, ob es mit mehr Frauen an der Macht weniger Kriege würde oder ob sogar das Phänomen des Krieges vom Planeten verschwinden würde, wenn überall die Frauen das Sagen hätten. So weit sind wir noch lange nicht. Deshalb wird in diesem Artikel den Spuren des Patriarchalismus nachgegangen, um die männlichen Aspekte bei den Versuchen gewaltsamer Konfliktbewältigung besser zu verstehen.

Im Zusammenhang mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine viele Kommentare auf die Rolle von Männern im Zusammenhang mit dem Kriegsausbruch hin. Die Hauptakteure und Hauptverantwortlichen dieses Krieges sind allesamt Männer und die Kriegsrhetorik ist auch sehr stark männlich geprägt. Hier kommt das Stichwort von der toxischen Männlichkeit ins Spiel.

Toxische Männlichkeit

Der Begriff der Toxizidität ist in Mode gekommen. Er stammt ursprünglich aus der Pharmakologie und der Lehre von Giften und wird nun auch in der Psychologie und Alltagssprache auf Personen, Werthaltungen und Beziehungen angewendet. Das geht manchmal so weit, dass jemand alles als toxisch bezeichnet, was einem nicht gefällt. Der Begriff spielt mit den Emotionen von Angst und Ekel – Gifte bedrohen unser Leben und wir sollten uns davor hüten, mit ihnen in Kontakt zu kommen.

Mit toxischer Männlichkeit wird ein Bündel von Eigenschaften bezeichnet, die einem traditionellen Männerbild entsprechen: Neigung zu Gewalt, Dominanzgehabe, Einschüchterungsverhalten, Gefühlsabwehr, Abwertung und Unterdrückung von Frauen. Es ist der Patriarchalismus, der diese Form von Männlichkeit hervorgebracht hat, und er ist über die Jahrhunderte eng mit der Kriegsgeschichte verknüpft, und viele dieser Elemente wirken auch am aktuellen Kriegsgeschehen mit. 

Geburt und Heldenprägung

Männer dürfen keine Schwäche zeigen, sondern müssen hart sein, so lautet ein Leitspruch des Patriarchalismus. Die bekannten Mythen der Unverwundbarkeit sind aus diesen Quellen gespeist: Achill und Siegfried, die im Unterweltsfluss oder im Drachenblut baden und nur an einer kleinen Stelle verwundbar bleiben. Der Mythos besagt, dass der Held von der Sehnsucht nach einem völlig geschlossenen Außenschutz geleitet ist, in dem es keine Lücke der Verletzbarkeit gibt.  Er besagt aber auch, dass es aber keine vollständige Panzerung gibt, dass also immer eine Schwachstelle bestehen bleibt, über die sich der Tod einschleichen kann. 

Auf die Ebene des Psychischen übertragen, erkennen wir das Psychogramm des Mannes im Patriarchalismus. Das Streben nach Unverletzbarkeit, das auch ein Streben nach Unsterblichkeit beinhaltet, führt weg von der Innenwelt mit ihren Wunden und Ambivalenzen. Wenn von außen keine Gefahren mehr Angst machen müssen, braucht es keine Beschäftigung mit den Dämonen im Inneren. Alles, was bedrohlich ist, kann in der Außenwelt bekämpft und besiegt werden. Doch weist der Mythos auf den illusionären Charakter dieser gewaltbereiten Agenda hin: Auch die beste Abwehr weist eine Schwachstelle auf, über die das Innere aus seinen Tiefenschichten ins Bewusstsein drängt und die Abwehrbereitschaft unterminiert.  

Der Mythos vom Drachenblut

Das Drachenblut, das in der germanischen Sage diesen Schutz gewähren könnte, enthält deutliche Bezüge zur Geburt, denn ohne Mutterblut gibt es keine Geburt. Es ist also in diesem Fall eigentlich das Mütterliche, von dem das heldenhaft Männliche seine Unversehrbarkeit erhofft. Im Abschied vom mütterlichen Schutz, der die Unversehrbarkeit garantiert hat, braucht es einen neuen Schutzmantel, den die Mutter dem künftigen Helden auf den Weg mitgeben soll.

Das Blut wird im Mythos frei als Folge von Gewalt gewonnen, es muss ein Drache getötet werden, damit das Bad in seinem Blut möglich ist. Der Schutz wird gewährt, indem ein anderes Leben verletzt oder getötet wird. Auch die Mutter hat Gewalt erlitten, durch die Macht der Wehen und durch das Durchdrängen des Babykörpers durch die Enge des Geburtskanals. Das Blut kommt aus den Wunden, aus den Verletzungen, es trägt die Signale des Schmerzes in sich. Und gerade dieses Blut soll hinkünftig  jede Verletzlichkeit tilgen und damit vor allen Folgen von äußerer Gewalt schützen. Imprägniert mit dem Mutterblut, durch das das eigene Leben zur Welt gekommen ist, soll der Held dieses Leben meistern. 

Der Drache gilt als Symbol der unberechenbaren und unkontrollierbaren Zerstörung, er ist ein Vernichter und ein Verwandler von Ordnung in Chaos. Auf die Geburt bezogen, repräsentiert er die wuchtigen Gebärmutterkontraktionen, denen sowohl Mutter als auch Kind während der Austreibungsphase ausgesetzt sind. Die Ordnung des vorgeburtlichen Lebens wird über den Haufen geworfen, ein riesiges Chaos setzt ein. Es gibt kein Zurück, aber das Wohin ist ungewiss. Im Drama der Geburt entfaltet sich eine gewaltige Macht über Leben und Tod. Sie führt die Regie bei dem Geschehen. Es ist ein Kampf ums Überleben, gegen einen scheinbar übermächtigen Drachen. Mit Blut, Schweiß und Tränen erkämpft sich das Baby den Weg durch den Geburtskanal in die Freiheit, mit ähnlicher Anstrengung gibt die Mutter das neue Lebewesen frei. Die Bedrohungen im Chaos wurden überwunden, eine Heldentat ist vollbracht.

An der Schwelle des Todes

Der griechische Heldenmythos von Achilleus greift in anderer Weise auf die Geburtsmetaphorik zurück: Der kleine Achill wurde von seiner Mutter im Styx gebadet, in dem Fluss, der die Lebenden und die Toten trennt. Sie hielt ihn an der Ferse fest, wodurch diese Stelle nicht geschützt war. Er wurde kopfüber ins giftige Wasser gehalten, wie auch fast alle Menschenbabys kopfüber geboren werden. Im Niemandsland gewissermaßen, zwischen Leben und Tod, kann die Unverwundbarkeit erlangt werden. Dort, wo der Geburtsprozess auf der Kippe steht, wo er gut oder schlecht ausgehen kann, ist der Moment der Entscheidung. Das Überleben ist die Meisterung der Bewährungsprobe und verleiht die Unverwundbarkeit. Wenn diese Gefahren bewältigt wurden, kann nichts mehr im Leben unüberwindlich erscheinen. 

Das Gift im mythologischen Fluss stellt ein Symbol für die fremden Substanzen und Gerüche dar, denen das Baby im Geburtskanal begegnet und auf die es mit Ekelgefühlen reagiert. Auch diese Herausforderung wird mit jeder gelungenen Geburt bewältigt. Sie immunisiert vor allem, was jemals wieder Ekel verursachen könnte.

Die Instrumentalisierung der Helden im Patriarchalismus

Diese Heldenreise haben aber nicht nur die Männer, sondern auch alle Frauen hinter sich, sobald sie geboren sind. Dennoch finden offenbar unterschiedliche Codierungen, unterschiedliche Bedeutungsgebungen statt, gemäß dem vorherrschenden sozialen Umfeld, das den neuen Erdenbürgern seine bewussten und unbewussten Erwartungen mitgibt. Für männliche Babys wird eine Vorahnung und Vorprägung für das tapfere Bestehen von äußeren Herausforderungen im späteren Leben übermittelt, während die weiblichen Babys auf die Mühen der späteren eigenen Mutterschaft eingestimmt werden. Deshalb wird die Metaphorik der Unverletzbarkeit nur von den männlichen Heldenepen aus dem Geburtsprozess übernommen. 

Mannsein bedeutet, keine Verletzbarkeit zu kennen und stattdessen alle Schmerzen, die das Leben bereitet, mutig durchzustehen, gewappnet mit dem Mutterblut oder Muttergift. Es bedeutet, keine Feigheit und keine Schwäche zuzulassen und die Gefühle, die damit verbunden sind, unter Kontrolle zu haben. Insbesondere die Schamgefühle, die in Hinblick auf die eigene Bedürftigkeit bestehen, müssen gut verdrängt bleiben, nach dem Motto: Lieber unverschämt als beschämt durchs Leben gehen.

Im Patriarchalismus wird von den Männern erwartet, dass sie sich genau so verhalten: schmerzunempfindlich, gefühlsbefreit und durchsetzungsstark. Sie sollen alles unter Kontrolle haben, einschließlich ihrer selbst. Toleriert wird allenfalls die verstärkte Neigung zur Aggression, die aber in zivilen Grenzen bleiben muss. Das ist das Korsett, in das dem Mann gesteckt wird. Der Erwartungsdruck kommt von den anderen Männern und von den Frauen, die zugleich unter dieser Form der deformierten Männlichkeit leiden.

Die Selbstentfremdung

Das ist der tragische Zyklus des Patriachats und der aus ihm entstandenen toxischen Männlichkeit: Die Abspaltung der Verletzlichkeit führt zur inneren Verhärtung, und diese entfernt noch weiter von den feineren Gefühlen und damit vom inneren Selbst. Der Preis der Panzerung liegt in der Selbstentfremdung. Es ist die Angst vor Verletzung und in der Folge die Angst vor der Verletzlichkeit, die das Erleben und Handeln bestimmt. Zugleich ist die Schamvermeidung am Werk, die es für unmöglich erklärt, die eigenen Verletzungen zuzugeben. Für viele Männer ist der Satz: „Ich bin verletzt!“ nicht aussprechbar. Die Angstvermeidung und die Schamvermeidung wirken zusammen, sodass immer weniger gespürt werden kann. Als einzige emotionale Reaktionsweise auf Verletzungen meldet sich verlässlich die Wut.

Von hier ist die Schiene zur Ausbildung einer einseitig auf Gewalt gestützten Männlichkeit gelegt. Jede Form der Gewaltausübung stammt aus der Verdrängung der vulnerablen Seite. Zuerst kommt die Gewalt, die den eigenen Gefühlen angetan wird, und dann richtet sie sich nach außen, auf Konkurrenten, Gegner und Feinde, auf die Natur und auf alles, was in irgendeiner Weise an Schwäche und Verletzbarkeit erinnert. Alles, was Schwäche signalisiert, ist bedrohlich. 

Das Erleben von Gewalt gibt hingegen das Gefühl von Überlegenheit und Kontrolle. Je mehr davon gespürt werden, desto höher ist die Sicherheit vor der Verletzbarkeit. Es verleiht die Illusion der Mächtigkeit, mit deren Hilfe alles, was einen verunsichern könnte, bekämpft werden kann. Verletzlichkeit, Schwäche, Bedürftigkeit sind angstbesetzte Zustände, die abgewehrt und abgespaltet werden müssen. Durch diese innere Spaltung wird die Männlichkeit toxisch.

Jede Gewaltausübung, ob geistig, emotional oder physisch, hinterlässt Schneisen von Verletzungen. Jede Verletzung konfrontiert mit der Zerbrechlichkeit des Menschlichen. Um von dem Grauen, das nach dem Gräuel bleibt, nicht berührt zu werden, muss das Zerbrechliche im eigenen Inneren mit Gewalt unterdrückt und zum Schweigen gebracht werden. Die Mechanismen der Grausamkeit setzen ein, die immer zuerst gegen das eigene Selbst wirken, ehe sie die Zerstörungen in der Außenwelt anrichten. 

Zum Weiterlesen:
Der Verlust des Männlichen im Patriarchalismus
Schamverdrängung im Ukrainekrieg