Im vorigen Blogartikel war von rechten Manipulationstaktiken wie Bullshitting die Rede, die hauptsächlich aus den USA stammen, wo sie viel dazu beigetragen haben und beitragen, um die dort im Entstehen begriffene Rechtsdiktatur zu etablieren. In diesem Beitrag geht es nun um solche aus dem deutschsprechenden Bereich. Das ist zugleich jener, der historisch durch Rechtsextremismus und Nationalsozialismus extrem vorbelastet ist, so schwer wie keine andere Region der westlichen Hemisphäre.
Die Täter-Opfer-Umkehr
Wir sollten die rechten und rechtsextremen Tendenzen in unseren Breiten immer im Zusammenhang mit dem kollektiven Traumafeld aus Diktatur und Weltkrieg betrachten. Während die „linke“ Reaktion auf die Gräueltaten und die daraus erfolgende kollektive Schambelastung eine Mischung aus aggressiver Anklage der Täter und der Schuldübernahme besteht, versuchen die Rechten, die Ereignisse umzudeuten, abzuschwächen und zu verdrängen.
Das bedeutet, dass hier die emotionale Identifikation mit den Vorgängen und den beteiligten Personen noch immer weiterbesteht. Die Eltern-, Großeltern- oder Urgroßelterngeneration war in der einen oder anderen Weise an den Untaten beteiligt – und das ist auffällig bei namhaften Vertretern der Rechten und Rechtsextremen (dazu zählen im Übrigen auch Trump und Musk). Diese Beteiligung war bekanntlich auf der Täterseite. Es wirken mächtige unbewusste Mechanismen der transgenerationalen Loyalität: Ich muss den Werten meiner Vorfahren treu bleiben, auch wenn sie Zu Untaten geführt haben. Daraus entsteht das Bestreben, die Täter zu entlasten, indem sie als Opfer dargestellt werden. Die Täter-Opfer-Umkehr soll scheinbar von der Last der Scham befreien.
Die eigentlichen Bösen waren nach dieser Logik der unbewussten Loyalität nicht die Deutschen, sondern die Alliierten und/oder die Russen. Wären die Vorfahren böse Täter gewesen, stünde man selber in einem schlechten moralischen Licht da. Deshalb müssen die Angehörigen der Kriegsgeneration entlastet oder sogar als Helden glorifiziert werden. Landauf landab gibt es Krieger- und Heldendenkmäler, die an die gefallenen Soldaten, an die Opfer erinnern, die der Krieg verursacht hat; die Täter scheinen nirgends in der Öffentlichkeit auf.
In diesem Zusammenhang wird oft die Taktik des Aufrechnens benutzt: Das Leid, das durch den alliierten Bombenkrieg dem deutschen Volk zugefügt wurde, wäre mindestens so schlimm wie der Holocaust – wo außerdem viele Zweifel gesät und verbreitet werden, ob er überhaupt stattgefunden habe. Es wird beklagt, dass die Ungerechtigkeiten gegen die Deutschen nicht erwähnt würden und dass immer nur von den „bösen Deutschen“ die Rede wäre. Schließlich wäre nicht nur das europäische Judentum untergegangen, sondern auch das Deutsche Reich und sein Volk.
Mit der Entwertung oder Relativierung von Begriffen und historischen Vorgängen wird an der Verharmlosung von Gräueltaten gearbeitet, mit dem Ziel der Schamentlastung und der Rechtfertigung für die eigene Ahnenlinie. Wenn dieses Manöver gelingt, kann umso leichter die aggressive Bedrohung nach außen verlagert und dort bekämpft werden, statt dass sie in den eigenen Reihen wahrgenommen wird oder im eigenen Unbewussten weiter zu wirken. Es werden Narrative geschaffen, die nach innen reinwaschen, damit das Außen umso dreckiger, ekeliger und gefährlicher erscheint. Die Abschottung nach außen, ein zentraler Programmpunkt rechter Parteien, erscheint damit als notwendig und gerechtfertigt. Jede Bluttat, die ein Ausländer auf dem eigenen Territorium anrichtet, dient als Beweis für diese Notwendigkeit. Dass Inländer in wesentlich höherem Maß Bluttaten begehen, wird dabei ausgeblendet.
Traditionalismus
Die Betonung der Tradition und der Gebräuche, die die Rechten in ihren Programmen haben, hat den Sinn, die Identifikation mit der Vergangenheit zu stärken und diese positiv umzudeuten. Das Böse, das stattgefunden hat, muss vergessen werden und an seine Stelle soll das Reine und das Gute treten. Die Traditionen, die die nationale oder „völkische“ Identität festigen, müssen unbedingt erhalten bleiben oder wiederhergestellt werden. Denn sie leiden unter der Bedrohung durch die Modernisierer. Mit dem Feindbild der „Woke-Kultur“ wurde ein schlagkräftiges Symbol für die Gefahren gefunden, die auf die Traditionskultur lauern.
Modernisierung als Feindbild
Viel Unheil wird der Moderne oder der Modernisierung zugeschrieben, und um die Unzufriedenheit unter den Menschen zu schüren, werden die aktuellen Zeitumstände unter ein möglichst schlechtes Licht gerückt. Jede Weiterentwicklung bringt eine Verkomplizierung mit sich. Das liegt im Wesen der Natur. Ein Same ist einfacher als die Mohnblume, die daraus entsteht, ebenso verhält es sich mit der befruchteten Eizelle im Vergleich mit einem erwachsenen Menschen. Das Leben in einer Stammeskultur ist einfacher als das in einer modernen Großstadt. Alles Komplizierte erfordert mehr Rechenleistung in unseren Gehirnen und ist deshalb unangenehm. Eine Dimension der Intelligenz besteht darin, Komplexes zu vereinfachen, so, dass es handhabbar wird. Zu diesem Zweck haben wir Maschinen erfunden, die uns z.B. komplexe Rechenoperationen abnehmen. Jedenfalls sind wir dankbar, wenn uns jemand beim Vereinfachen hilft. Allerdings sollten wir immer darauf achten, worin der Preis der Simplifizierung liegt. Denn Ideologien stellen auch Vereinfachungen der sozialen Wirklichkeit dar, die bestimmten Interessen dienen. Die Rechtspopulisten arbeiten bewusst mit der Schlagkraft von Vereinfachungen, mit denen sie die Wirklichkeit in ihrem Sinn zusammenkürzen, sodass nur mehr ihre Ideologie als wirklichkeitsgerecht erscheint.
Dem Fortschreiten der Zeit soll Einhalt geboten werden, was natürlich nicht geht, aber mit der rückwärtsgewandten Verherrlichung der Vergangenheit entsteht zumindest die tröstliche Illusion der Macht über die Zeit. Viele Leute glauben, dass alles immer schlechter wird, und die rechtsorientierte Propaganda tut alles dazu, um diesen Eindruck zu verstärken. Unser Gehirn hilft mit, weil schlechte Erfahrungen besser abgespeichert werden als gute, und das nutzen wiederum die rechtsorientierten Propagandisten, um sich als Heilsbringer anbieten zu können.
Russland als Vorbild der europäischen Rechten
Interessant ist allerdings auch, dass bei vielen aktuellen Rechtsgruppierungen und –parteien die Russen als Gleichgesinnte, Vorbilder oder Bündnispartner und nicht als historische Bösewichter angesehen werden, wie das während des und nach dem Weltkrieg der Fall war, zumindest bis zum Fall des Eisernen Vorhangs. Da hat bei den Rechten eine Umorientierung stattgefunden, die sicher auch mit Geschäften und Geldflüssen zwischen europäischen Rechtsgruppierungen und dem postsowjetischen Russland zusammenhängt – das Regime von Putin versucht mittlerweile mit einigem Erfolg, diese Gruppierungen als Ankerpunkte für die Verbreitung seiner Ideologie und für seine Großmachtbestrebungen im Westen zu etablieren und die EU zu entzweien und zu destabilisieren. Denn eine Gemeinsamkeit zwischen Rechtsparteien und Russland besteht in der Abneigung gegen die EU.
Rechtsextremen Gruppen und Parteien leiden an ihrer isolierten Stellung, weil sie von den etablierten Parteien als außerhalb des Verfassungsbogens stehend ausgegrenzt werden. Diese Schmach deckt sich mit einer Sichtweise, die auch in Russland ausgeprägt ist: Von den arroganten Westlern an den Rand gedrängt und verachtet zu werden. Außerdem gefallen rechtsorientierten Menschen „starke Männer“, die ein Land autoritär mit jeder Form der Brutalität regieren, also skrupellose Führerfiguren, die in Russland und anderen postsowjetischen Staaten gefunden werden können.
Eine weitere Geistesverwandtschaft besteht dort, wo es um die Erhaltung des Patriarchats geht. Russland gilt manchen in dieser Hinsicht als Vorbild, weil dort jede Form der Aufweichung der männlichen Vorherrschaft und der dadurch begründeten Rollenbilder bekämpft wird. Die Eindeutigkeit der Geschlechterrollen, die durch alles, was als woke oder queer wahrgenommen wird, in Zweifel gerät, ist dort scheinbar noch voll intakt, indem alle Abweichungen von der Norm unterdrückt und bestraft werden. Auch werden dort nationale Traditionen hochgehalten und umerzählt, damit eine glorreiche Geschichte von Heldentaten bewundert werden. Und es ist dort nicht verpönt, die Wiedergewinnung von verlorenen Staatsgebieten zu verlangen, also vergangene Großreiche wieder errichten zu wollen, wie es die rechtsnationalistischen Fantasten in vielen Ländern erträumen. Darin liegt einer der Gründe für den Angriff Russlands auf die Ukraine.
Zum Weiterlesen:
Der Angriff auf den Wahrheitsbegriff
Der heroisierte Verzicht auf Empathie
Verschwörungstheorien und Realitätstauglichkeit
Nationalismus und Opferstolz
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