Mittwoch, 31. Juli 2019

Scham und Verletzlichkeit

Wenn wir uns schämen, werden wir uns der Abhängigkeit von anderen bewusst. Wir brauchen andere Menschen, damit sie unseren Wert und unsere Zugehörigkeit bestätigen. Vor allem, wenn wir noch klein sind, können wir diese Anerkennung nicht erzwingen und so bleibt uns nur, auf das Wohlwollen der anderen zu hoffen. Als Babys schon lernen wir, dass wir sie nur bekommen, wenn wir uns in unserer Verletzbarkeit und Abhängigkeit zeigen, indem wir unsere Scham zeigen. Und mit der Scham signalisieren wir, dass wir bereit sind, uns unterzuordnen und unsere eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. 

Wenn wir größer werden, lernen wir uns aggressiv und defensiv zu verhalten, statt unsere Scham zu zeigen. Denn wir haben oft nicht bekommen, was wir gebraucht haben, auch wenn wir unsere Verletzlichkeit und Scham gezeigt haben. Die offenbare Scham ist von dem Risiko der Bloßstellung oder des Ignoriertwerdens belastet. Deshalb haben wir Haltungen entwickelt, die uns vor der Preisgabe unserer Verletzlichkeit schützen sollen: Angriff oder Rückzug.

Mit diesen Haltungen bleibt die Spannung bestehen, in uns selber und mit den anderen. Wenn die anderen in einer Konfliktsituation genauso reagieren, stecken wir in einem Machtkampf fest, in dem keine Seite ihre Deckung aufgeben will, weil dahinter Ängste und unangenehme Schamgefühle versteckt sind.

Die Scham und das Machtstreben


Letztlich ist wohl alles menschliche Machtstreben durch den Zwang motiviert, dieser Abhängigkeit, die mit der Verletzbarkeit verbunden ist, zu entrinnen. Denn sie ist mit starken Ängsten verbunden, also versuchen wir, Umstände zu erschaffen, die verhindern sollen, dass uns jemand in eine beschämende Situation bringt. Wir nutzen dafür unsere Abwehrkraft, die zur Macht wird, wenn wir sie zur Kontrolle und Beherrschung unserer Mitmenschen einsetzen. Wir wollen unsere Verletzlichkeit schützen, fügen freilich den anderen Verletzungen zu, wenn wir sie mit unserem Machtgehabe unter Druck setzen wollen. Manchmal geschieht das durch plumpe Gewalt, manchmal durch den Einsatz von Manipulation, manchmal durch Erpressung oder durch Drohung.

Die Angst vor der eigenen Schwäche ist der Grund, warum Diktatoren mit besonderer Gründlichkeit und Brutalität gegen alle Kritiker an ihrer Person vorgehen. Sie wollen jeden, der sie beschämen könnte, vernichten. Dass die eigene Verletzlichkeit sichtbar würde, ist das schlimmste, was ihnen zustoßen könnte, und um das zu verhindern, setzen sie rücksichtslos all ihre Macht ein. 

Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944, das Hitler mit seiner Verletzbarkeit konfrontierte, reagierte er mit besonderer Grausamkeit, indem er die Rädelsführer der Verschwörung an Klaviersaiten auf Fleischerhaken erhängen ließ. Als er die Opfer seiner Brutalität in ihrem entwürdigten Todeskampf beobachtete, stellte er mit sadistischer Genugtuung scheinbar seine Macht und Unversehrbarkeit wieder her. 

Die andere Seite zeigte sich bei der Festnahme des ehemaligen irakischen Diktators Saddam, der angeblich in einem Erdloch gefunden wurde und sich als müder und abgehärmter Mann widerstandslos ergab. Der einst mächtige Herrscher verkommen im Dreck – ein eindrucksvolles und beschämendes Bild der Verletzlichkeit und Schwäche, der Kehrseite der Macht. Der gestürzte und entmachtete Diktator ist jetzt angewiesen auf die Gnade seiner Opfer, sein Leben hängt jetzt ab von ihrer Nachsichtigkeit und Fähigkeit zum Verzeihen.

Die Masken der Scham


Die Angst vor der eigenen Verletzlichkeit, die mit der Scham verbunden ist, ist der Antrieb für ein mächtiges Überlebensprogramm. Wir können viele Vorgänge in der Welt besser verstehen, wenn wir uns dessen überwältigend impulsive Kraft vergegenwärtigen. Sie steckt hinter jeder Form der Gewaltausübung von Menschen über Menschen und hinter jedem blinden Machtstreben. Viele Menschen haben gelernt, sich die Maske der Überlegenheit und Unverletzbarkeit aufzusetzen, um in dem Überlebenskampf, der allgemein mit dem Erwachsenenleben gleichgesetzt wird, nicht nur zu bestehen, sondern möglichst als Sieger hervorzugehen. 

Diese Maske kann die unterschiedlichsten Gestalten annehmen, gemäß der Ausprägung des jeweiligen Überlebensprogramms: Von brutaler Machtausübung bis zu manipulativer Hilflosigkeit und zu Krankheiten reicht das Spektrum der menschlichen Möglichkeiten, die innere Schwäche und Abhängigkeit, die Entblößung der verletzbaren Seele zu verhindern. Wir tun alles, um diesen inneren Zustand zu vermeiden und zu verbergen. Niemand soll sehen, dass wir einen armseligen und hilflosen Teil in uns haben, niemand soll sehen, dass wir in uns noch das neugeborene Baby erleben, das in seinem Schmerz und seiner Bedürftigkeit so völlig auf die Güte und Barmherzigkeit der anderen angewiesen ist. Niemand soll unsere existentielle Ohnmacht erkennen, weil wir dann völlig schutzlos und abhängig sind. Lieber fallen wir in Ohnmacht, lieber geben wir uns unbewussten Gewaltantrieben hin, lieber stürzen wir uns in sinnlose Ablenkungen und Betäubungen. Das sind Masken, mit denen wir uns selber vor unserer Scham verstecken und sie auch vor den anderen unsichtbar machen wollen. 

Zur Auflösung des Schamgefühls


Wo die größte Gefahr lauert, findet sich der Weg zur Rettung. Das Eingeständnis der eigenen Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins, der Zustand des Beschämtseins, ist der einzige hilfreiche Ausweg aus dem Gefängnis der Schamabwehr. Dafür gibt es allerdings eine wesentliche Voraussetzung: Das Wohlwollen, die Güte, die Offenheit von anderen Menschen, Menschen, die sich ihrer eigenen Scham bewusst sind. Es braucht eine Atmosphäre des Vertrauens, in dem sich die Verletzlichkeit zeigen kann. Denn wir können nur dann zu unserer Angst und Scham stehen, wenn wir einen Rahmen von Sicherheit um uns wahrnehmen können. Wenn eine solche Atmosphäre besteht, wirkt das Zeigen dieser Gefühle  verwandelnd und löst sie auf. Dabei geschieht die Veränderung nicht nur bei einem selbst, sondern auch bei den anderen. Dann kann die Kommunikation frei fließen und Friede kehrt ein. 

Es liegt an uns als Mitmenschen, diesen Raum gerade dort anzubieten, wo sich bei unseren Nächsten Scham zeigt. Wenn wir ihnen das Gefühl geben, dass wir auch nicht besser sind als sie und dass wir die Scham gut kennen, nehmen wir ihnen die Angst, ihre Verletzbarkeit zu zeigen und sich selber einzugestehen. Indem sie unser Vertrauen spüren, finden sie mehr Vertrauen zu sich selbst und stärken ihre Selbstannahme. Das Gefühl, von anderen akzeptiert zu werden und sich selber akzeptieren zu dürfen, löst das Schamgefühl auf. 

Zum Weiterlesen:
Verletzlichkeit und Würde
Scham und Enneagramm
Scham - unser schwierigstes Gefühl
Die Rückkehr aus der Scham

Samstag, 27. Juli 2019

Über das Reduzieren von Ansprüchen und Idealen

Voll von großen Versprechen für den neuen Menschen ist die Bewusstseinsindustrie, die Welle, die seit den 1980er Jahren als das New Age bezeichnet wird. „Greif nach den Sternen, verwirkliche dein Selbst, nutze dein Gehirn zu 100 Prozent, werde der Meister deines Lebens, du bist schon erleuchtet, du musst es nur erkennen“ usw., so lauten die Slogans. Wie Sporttrainer ihre Schützlinge zu Höchstleistungen pushen, wollen die New-Age-Gurus aus ihren Schülern und Schülerinnen spirituelle Weltrekordhalter machen.

Die Regale in den Buchhandlungen sind gefüllt von diversen Leitfäden zur Selbstoptimierung und Selbststeigerung, und es befällt einen der Zweifel, ob sich hinter den glänzenden Titel schön maskiert nichts anderes verberge als die neoliberalen Antriebe der Ausbeutung nicht nur menschlicher Arbeitskraft, sondern des gesamten, des holistischen Menschen. Die emotionale Intelligenz soll gesteigert werden, für ein aalglattes Agieren im beruflichen Leistungsstress. Entspannungstrainings und Meditationskurse sollen der beruflichen Resilienz dienen, damit die Anforderungen immer weiter nach oben geschraubt werden können, ohne dass die Menschen zusammenbrechen.

Etwas abseits dieses Mainstreams hat der New Yorker Psychoanalytiker und Schriftsteller Irvin Yalom sieben Grundwahrheiten formuliert. Sie haben mit der menschlichen Beschränktheit und nicht mit seiner unendlichen Lernfähigkeit zu tun. Sie appellieren an die Selbstbescheidung und nicht an die ungeahnten Wachstumspotenziale. Sie propagieren das Zurückschrauben von Ansprüchen und Erwartungen auf ein menschliches Maß und nicht den Glauben an die vollständige und endgültige Erlösung und an die überzeugenden Antworten auf alle Fragen. Sie motivieren dazu, Ideale auf das Niveau der Realität herunterzuschrauben.

Yalom ist der Meinung, dass es bei diesen „Grundwahrheiten“ um existentielle Tatsachen des Lebens geht, deren Beachtung den Geist beruhigt und deren Nichtbeachtung den Menschen unweigerlich Leiden verursacht:
Die Möglichkeiten und Fähigkeiten jedes Menschen sind begrenzt.
Alles als sicher Geglaubte  kann jederzeit und unwiederbringlich verloren gehen. 
Sich selber und einen anderen Menschen kann man niemals vollkommen verstehen.
Keine höhere Gerechtigkeit auf der Welt sorgt dafür, dass die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden.
Es gibt keine Garantie dafür, dass wir Hilfe erhalten, wenn wir sie brauchen.
Nicht alle Probleme sind lösbar.
Es gibt Fragen, auf die man auch durch noch so großes Bemühen keine  Antwort findet.
(Irvin Yalom: Und Nietzsche weinte. Kabel Verlag 1994, S. 87)

Ich möchte anschließend ein paar weiterführende Überlegungen zu diesen sieben Punkten anbieten.


Unsere Fähigkeiten sind begrenzt


Nach Yalom leiden wir nicht an unserer Minderwertigkeit, sondern an Selbstüberschätzungen, in Bezug auf uns selbst und auf das Leben, das wir zu bewältigen haben. Wenn wir unsere Begrenztheit anerkennen, werden wir toleranter uns selbst und den anderen gegenüber. Auch wenn wir eine immense Lernfähigkeit haben, werden wir immer wieder Fehler machen und Misserfolge erleben. Auch wenn wir über unbegrenzte Möglichkeiten verfügen, können wir nur Bruchteile davon verwirklichen. Statt uns an dem zu messen, was wir alles nicht geschafft haben, sollten wir das anerkennen, was gelungen ist.


Nichts ist sicher


Unser Sicherheitsbedürfnis ist ein weiterer Stolperstein. Einen großen Teil unserer Anstrengungen widmen wir der Absicherung unseres Lebens und der Abwehr von möglichen Bedrohungen. Wir klammern uns an unsere Lebensversicherungen wie ein Kletterer an das Seil, das ihn vor dem Absturz bewahrt. Wir wollen ja nichts von dem verlieren, was wir haben, und häufen noch mehr davon an, damit wir unseren Sicherheitspolster vergrößern. Wir reagieren auf kleine Verunsicherungen mit massiven Gegenmaßnahmen. Die meisten von uns in den Wohlstandsoasen leben unter den sichersten Rahmenbedingungen, die es je in der Menschheitsgeschichte gegeben hat, und dennoch oder gerade deshalb ängstigen wir uns fortwährend vor jeder Erschütterung unserer luxuriösen Lebensumstände.

Nichts ist von Dauer, alles ist in Veränderung, so beschrieb schon der Buddha vor 2 600 Jahren das Leben der Menschen. Wo wir uns an Sicherheiten klammern, beginnt unser Leiden. Wir verlieren uns in die Illusion, dass es etwas gibt, das verlässlich da ist und uns nie im Stich lässt. Tatsächlich ist es so, dass alle Sicherheiten nur geliehen sind, auf Zeit, und dass wir nicht wissen, wann diese Zeit abgelaufen ist. Das betrifft alle unsere Errungenschaften und Vorrichtungen, alle unsere Beziehungen, und das betrifft unser eigenes Leben als Ganzes. 


Menschliches Verstehen ist immer unvollkommen


Wir alle wollen verstanden werden, möglichst vollständig, und sind unglücklich, wenn wir missverstanden und fehlinterpretiert werden. Wir suchen einen Partner oder eine Partnerin, die uns dieses Verstehen geben soll, und haben vielleicht anfangs der Beziehung die Illusion, dass diesmal wirklich funktioniert. 

Wir tragen eine Geschichte des Verstehens und Missverstehens mit uns. Von klein auf hatten wir damit zu kämpfen. Eine Mutter, die unser Schreien nicht immer verstand und uns zur Unzeit das Falsche gegeben hat. Ein Vater, der uns nach seinen Vorstellungen auf das Erwachsenenleben vorbereiten wollte und nicht verstand, was sich aus uns selber entwickeln wollte. Statt aus dieser Geschichte zu lernen, dass es unter Menschen immer beides gibt, halten wir an der Illusion fest, dass es einen Menschen geben müsse, der uns ein totales Verstehen entgegenbringt, der unser Wesen zur Gänze erkennt und spiegelt.

Das Leiden beginnt dort, wo wir anfangen, die Menschen um uns herum wegen ihrem Missverstehen anzuklagen und zu kritisieren, statt uns in Geduld zu üben und am Aufbau von Verständnis zu arbeiten, wo es nicht von selber fließt.

Leiden zeigt sich auch dort, wo wir uns selber kritisieren und abwerten, weil wir nicht so sind, wie wir gemäß unserer Ideale und Ambitionen sein sollten. Wir bauen einen inneren Konflikt auf, den wir durch die Erkenntnis, dass wir unser Unterbewusstsein nie vollständig erhellen werden, entschärfen können.


Wo bleibt die höhere Gerechtigkeit?


Viele Glaubenssysteme sind um die Thematik der Gerechtigkeit herum konstruiert. Sie wollen den Menschen beweisen, dass es eine letztliche Gerechtigkeit gibt. Die Bösen werden in der Hölle bestraft, wenn man sie im Diesseits nicht erwischt, oder sie müssen mühselige Wiedergeburten auf sich nehmen. Selbst der Skeptiker Immanuel Kant fand den Glauben an eine göttliche Gerechtigkeit als „Postulat der praktischen Vernunft“ für notwendig, um dem, der ungelohnt Gutes tut, einen Ausgleich anbieten zu können.

Kommen wir auch ohne diese anspruchsvolle Hilfe aus? Wir tun uns schwer mit der Vorstellung, dass die Guten leer ausgehen und die Bösen abräumen, wir freuen uns, wenn ein mächtiger Bösewicht erwischt wird und in den Knast muss, und wir freuen uns, wenn eine Gute mit dem Friedensnobelpreis geehrt wird. Aber all diese Freuden wirken nur kurz, und wir denken gleich wieder an diejenigen oder an uns selber, wo es nicht funktioniert. 

Vielleicht ist diese Welt nicht dafür geschaffen, die menschlichen Gerechtigkeitsvorstellungen ausreichend zu verwirklichen. Das beginnt schon mit der Frage, wer überhaupt die Guten und wer die Bösen sind. Manchmal ist uns das ganz klar, in den meisten Fällen müssen wir aber zugeben, dass wir es gar nicht so genau zuordnen können. Vielleicht gibt es kein happy end, mit einer verheerenden Niederlage für das Böse und dem Triumph des Guten? Vielleicht ist die Tendenz zum Bösen in die menschliche Psyche eingewoben wie die Tendenz zum Guten?

Ich habe auf diesen Seiten schon öfters die Idee vertreten, dass Menschsein und Gutsein synonym ist, mit der Ausnahme von Stresssituationen, in denen der Überlebensimpuls stimuliert wird. Solange wir frei von solchen Ausnahmesituationen sind, verhalten wir uns sozial, empathisch und liebevoll, nicht, weil wir so erzogen sind oder uns einen Lohn dafür erwarten, sondern weil es uns entspricht und Spaß macht. Für die wirklich guten Taten brauchen wir keinen Lohn, weil dieser schon im Tun liegt. 

Für die bösen Taten hinwiederum gilt so etwas wie das sofortige Karma: Wir leiden selber an unserer Bosheit, weil sie uns ärmer und verkapselter macht. Leiden, das wir anderen zufügen, kann uns nie in der Weise glücklich machen wie Freude, die wir anderen schenken. Wir schaden uns selbst durch das Tun des Bösen.

Jedenfalls sollten wir nicht unsere Zeit damit verschwenden, über die mangelnde Gerechtigkeit in der Welt und in unserem Leben zu lamentieren. Was hätten wir schon davon, wenn wir die Gerechtigkeitsformel für diese komplexe Menschenwelt gefunden hätten? Konzentrieren wir uns lieber darauf, das Gute in uns zu mehren und das Böse zu schwächen.


Die unzuverlässigen Helfer


Hilf dir selbst, so hilft dir Gott, heißt ein alter Spruch. Wann immer wir nicht die Hilfe bekommen, die wir erwarten, liegt es an uns, nach anderen Formen der Unterstützung zu suchen. Wenn wir das Fehlen von Hilfe beklagen („Gerade jetzt, wo ich einmal Hilfe brauche, ist niemand da!“), regredieren wir in die Hilflosigkeit unserer Kindheit, wo wir auf eine bestimmte Form der Hilfe von bestimmten Personen angewiesen waren. Das war einmal, und jetzt, da wir erwachsen sind, gibt es statt Mama und Papa viele andere Personen, die uns helfen können. Und wenn einmal keine Hilfe da ist, steht uns die Kraft zur Verfügung, mit der wir unsere Hilflosigkeit aushalten können, und so warten wir eben, bis kommt, was wir brauchen oder bis sich das Problem von selber löst.


Lösbare und unlösbare Probleme


C.G. Jung hat einmal gesagt, dass die wirklichen Probleme im Leben nie gelöst werden, sondern dass sie nach einiger Zeit uninteressant werden. Vielleicht haben wir trotz aller Anstrengungen noch immer Probleme mit unseren Eltern, aber wir nehmen sie hoffentlich nicht mehr so wichtig wie in unserer Pubertät. Vielleicht leiden wir unter der Unberechenbarkeit unseres Chefs, aber hören auf damit, uns jeden Tag darüber zu ärgern, sondern entdecken eine humorvolle Art, damit umzugehen.

Es gibt Probleme, die wir lösen können und lösen sollten, und andere, mit denen wir uns nicht den Rest unseres Lebens plagen sollten, auch wenn wir keinen Schlüssel zur Lösung gefunden haben. Mit offenen Problemen zu leben, ist nicht immer einfach, schließlich sind Probleme dadurch definiert, dass sie uns belasten und unser Leben einschränken. Doch gehört zur erwachsenen Lebensweisheit die Fähigkeit, unterscheiden zu können, welche Probleme angegangen und bewältigt und welche hingegen akzeptiert und hingenommen werden müssen.

In Beziehungen drehen sich die Machtkämpfe oft darum, dass sich der jeweils andere ändern solle, damit die eigenen Probleme in der Partnerschaft verschwinden. In der Paartherapie oder durch andere Formen der Einsicht lernen wir, dass wir andere Personen nicht ändern können. Daraus folgt, dass bestimmte Charakterzüge, die uns bei der anderen Person Probleme bereiten, aller Voraussicht nach bis ans Lebensende bestehen bleiben, sich vielleicht abschwächen oder modifizieren, aber im Grundlegenden uns weiterhin nerven werden. Uns bleibt dann nur die Wahl, diese Person aus unserem Leben zu verabschieden oder mit ihr weiterzuleben und die Chance zu nutzen, uns im Akzeptieren und Gelassensein zu üben und angesichts der Schwächen unseres Partners nicht mehr aus der Fassung geraten. Wir nehmen dem Problem die Macht, uns in Geiselhaft zu nehmen und hören auf, gegen etwas zu kämpfen, was sich wahrscheinlich sowieso nie ändern wird.


Fragen ohne Antworten


Als Menschen sind wir fragende Tiere. Mit Fragen wollen wir vom Unwissen zum Wissen kommen. Wissen ist immer auch ein Stück Kontrolle über ein Stück Wirklichkeit. Wenn wir auf unsere Fragen keine Antworten bekommen oder selber finden, fehlt uns diese Kontrolle und wir sind verunsichert. Es bleibt die Fragegestalt offen. 

Insbesonders plagt uns das Fehlen von Antworten in Bezug auf die sogenannten letzten Fragen: Was ist der Sinn des Lebens, was geschieht nach unserem Tod mit uns? Die Sicherheit, die wir durch Antworten auf technische Fragen bekommen, fehlt in diesem Bereich vollständig. Gerade dort, wo es um das Ganze unseres Lebens geht, finden wir keine Antworten, die unsere Unsicherheit befrieden würden. 

Also gilt es auch hier, mit Unsicherheiten leben zu lernen. Wo wir keine Kontrolle erlangen können, leben wir eben ohne sie. Wir bescheiden uns mit Nichtwissen und entspannen uns in die Gewissheit, dass wir die Fragen beantworten, auf die es Antworten gibt, und die anderen, auf die es keine Antwort gibt, auf sich beruhen lassen. Es kann auch entlastend sein, etwas nicht zu wissen, Fragen unbeantwortet stehen zu lassen.

Sobald wir die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment lenken, werden alle Fragen ohnehin gegenstandslos. Das Jetzt liefert immer eine brauchbare Antwort.

Abschließend: Vielleicht hat uns die Beschäftigung mit den Grundwahrheiten von Irvin Yalom zu mehr Verständnis über das Rätsel des Menschseins geführt, vielleicht auch nicht. Wenn wir ein Stück mehr Bescheidenheit gewinnen, kann uns das als Immunmittel gegen vollmundige Heilsversprechen aller Art dienen. Wir sollten uns immer ein Stück nüchterner Skepsis gönnen, damit wir uns von Großsprechern nicht blenden lassen, sondern bei uns selber und bei unserer eigenen Wahrheit bleiben. Und: Die Bücher von Irvin Yalom lesen sich leicht und sind dennoch lehr- und erkenntnisreich.

Weitere Bücher von Irvin Yalom (Auswahl): 
Die Liebe und ihr Henker und andere Geschichten aus der Psychotherapie. München: Knaus 1990 
Die rote Couch. Goldmann, München 2000
Die Reise mit Paula. Goldmann, München 2000

Dienstag, 23. Juli 2019

Die Solidaritätsschranke

Unser Steinzeithirn und die Herausforderungen unserer Zeit


Wir tragen alle eine Gehirn-Architektur in uns, die Millionen von Jahren alt ist. Durch diese urtümliche Ausstattung kommt es zu starken Diskrepanzen zwischen unseren emotionalen und kognitiven Fähigkeiten, und darin liegen viele Wurzeln unserer gegenwärtigen Probleme. 

Unsere Kultur hat sich vor allem durch die kognitiven Kapazitäten rapide weiterentwickelt, vor allem in den letzten zweihundert Jahren, während unser Gehirn insgesamt mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten konnte. Es hat sich vor allem in seinen emotionalen Zentren und Verschaltungen seit der Frühzeit kaum weiterentwickelt. Die Evolution hat die Menschen mit einer schier unbegrenzten Lernfähigkeit im mentalen Bereich ausgestattet, während die tiefer im Gehirn gelagerten Gefühlsareale noch gemäß den Erfordernissen der Jäger- und Sammlerkulturen in den ersten Jahrhunderttausenden der Menschheitsgeschichte gebaut sind. Wir sind, nach Ingmar Bergmann, noch immer „Analphabeten der Gefühle“. 

Die sehr langsam ablaufenden genetischen Anpassungen können mit dem Tempo der zivilisatorischen Entwicklungen nicht mithalten. Die Evolution passt die Organismen über sehr lange Zeiträume an geänderte Umweltbedingungen an. Die Entstehung des Homo aus seinen Vorfahren hat Millionen Jahre erfordert. Den homo sapiens gibt es seit ungefähr 300 000 Jahren.  Er hat bis zur Erfindung des Single-Daseins im 20. Jahrhundert immer in Gruppen in einer rauen und gefährlichen Umgebung gelebt, und für diese Zwecke haben sich die Gehirnstrukturen entwickelt, die die dafür notwendigen emotionalen Abläufe regeln. 

Deshalb  hat jeder Mensch die Fähigkeit, sich empathisch und solidarisch zu verhalten, allerdings beschränkt auf einen Kreis von vertrauten Menschen, maximal ungefähr 160 Personen. Für alles, was darüber hinaus geht, verfügt er über einen Mechanismus des Misstrauens. Der Fremde könnte ein möglicher Feind sein, dem man sich nur äußerst vorsichtig nähern sollte. In einer Gruppe von 160 Personen sind Gesicht-zu-Gesicht-Kontakte möglich, jeder kennt also das Gesicht von jedem, jeder kann jeden emotional einschätzen. Über diese Gruppengröße hinaus sind unsere primären Vertrauenskapazitäten erschöpft, wie bei einem elektronischen Gerät, das nur für eine begrenzte Anzahl von Kontakten Speicherplatz hat. Jenseits dieser Grenze braucht es viel mehr, um ein Gefühl von Sicherheit entstehen zu lassen.


Die Fremdenangst


Unschwer erkennen wir  diesen Mechanismus in der Haltung vieler Menschen zu Fremden, Randgruppen, Ausländern, Flüchtlingen und Migranten. Wir wissen von vielen Nazigrößen, die als liebevolle Familienmenschen geschildert wurden, während sie KZ-Insassen mit äußerster Grausamkeit quälen konnten. Es gibt Berichte von Wehrmachtssoldaten, die die sehnsuchtsvollen Gedanken an ihre Liebsten zuhause nicht von der brutalen Ermordung von Babys abschreckten. Jeder Diktator hat Menschen, mit denen er freundschaftlich oder liebend verbunden ist, ohne dass er einen Widerspruch zwischen diesen Gefühlen und den unmenschlichsten Taten, zu denen er fähig ist, merken würde.

Die genetisch verankerte Solidaritätsschranke ist die Grundlage der Ausgrenzungen und Gruppenegoismen, die bis heute den gesellschaftlichen Diskurs und die Politik bestimmen. Wer dazugehört, soll sich sicher fühlen können, wer draußen ist, wird nur unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen hereingelassen. Die Republik Österreich z.B. fordert von Neuankömmlingen zehn Jahre rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalt im Land, damit die Staatsbürgerschaft, also die sichere Zugehörigkeit verliehen werden KANN. Zehn Jahre lang muss die Person unter Beweis stellen, dass sie nicht gefährlich oder böse ist, dann erst wird eine Einbürgerung überlegt. Wir sind also im 21. Jahrhundert stark vom Misstrauen gelenkt und noch weit von Solidargemeinschaften entfernt, die den eigenen engen Tellerrand überschreiten.

Aus der Wurzel der Fremdenangst speisen sich die Gefühle und Motive der Hassposter, die scheinbar ohne Scham an die Öffentlichkeit gebracht werden, und Hassverbrecher, die oft ohne Reue Unschuldige ermorden. Es manifestiert sich ein grundlegendes Misstrauen gegen Fremde und Fremdes, das als fraglos und selbstverständlich angenommen wird, sodass es für diese Personen unverständlich wird, warum es von jemandem angezweifelt werden könnte. Im Brustton der Überzeugung wird jeder, der die eigene Position in Frage stellt, als Bedrohung gesehen und bekämpft. Die sture Überzeugung, die die Vertreter des Fremdenhasses an den Tag legen, nährt sich aus diesem Zusammenhang. Die rechtspopulistischen  Parteien schlagen aus diesem von irrationalen Ängsten genährten Muster ihr politisches Kapital. 


Weltkrisen und Solidarität


Mit der Entstehung der Weltgesellschaft ist eine globale Form der Solidarität gefragt. Während das Kapital und die Handelsgeschäfte mühelos die Grenzen des Gruppenvertrauens überspringen und weltweite Netze aufziehen, gelingt das in den Bereichen der moralischen Verantwortung viel schwieriger. Die als Folge der Ausbeutungsstrukturen der Industrialisierung entstandene Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts wusste schon, dass sie ihre sozialen Probleme nur durch eine internationale Zusammenarbeit lösen kann. Die nach dem 1. und 2. Weltkrieg gegründeten weltweiten Organisationen folgten diesem Prinzip in Hinblick auf die Vermeidung von Kriegen. Inzwischen gibt es viele Bereiche der weltweiten Kooperation, doch stehen diese Bemühungen noch immer – und in unseren Tagen offensichtlich vermehrt – in einem Spannungsfeld mit den Gruppenegoismen, die die Solidarität immer wieder einschränken wollen. 

Die Prediger der Entsolidarisierung bekommen reichlichen Zulauf, während die Probleme, die nur global gelöst werden können, daneben Ausmaße annehmen, die kaum mehr bewältigbar erscheinen. Wir wissen zwar, dass wir unser Verhalten ändern müssten, doch schafft es dieses Wissen nicht bis zur Motivation, weil das Element der Solidarität und der Empathie fehlt. Diese können wir mit unseren Nächsten empfinden, aber nicht mit 7 oder 8 Milliarden Menschen, die von den Folgen unserer verschwenderischen Handlungen leiden betroffen sind. Unser implantierter Gruppenegoismus sorgt dafür, dass wir nonchalant die weiterreichenden Wirkungen unseres Tuns ausblenden können. Das Hemd ist uns eben näher als der Rock. 

Die in unsere Software eingebaute Solidaritätsschranke verhindert dazu noch, dass wir unsere Verantwortung auf zukünftige Generationen ausdehnen, wie es notwendig wäre, wenn wir bedenken, wie wir in den letzten 200 Jahren die Rohstoffe dieser Erde geplündert haben, die unseren Nachfahren nicht mehr zur Verfügung stehen. Sie verhindert auch, dass wir unser Mitgefühl in den nichtmenschlichen Bereich des Lebens hinein ausweiten. Nur wenige sind zur Solidarität mit Tieren und Pflanzen bereit, geschweigedenn mit der Mutter Erde als Ganzer oder dem gesamten Universum. 

Je weiter weg, desto abstrakter wird die Verantwortung und desto schwächer die Motivation für entsprechende Handlungen.


Die Bildung der Gefühle


Wir sprechen hier von der untersten und auch ältesten Schicht des menschlichen Gefühlslebens. Sie regelt unsere primären Vertrauens-Misstrauensreaktionen und sie übernehmen das Kommando, sobald wir von Ängsten bestimmt sind. Sie reicht jedoch nicht aus, um sich in einer komplexeren Gesellschaft zu bewegen. Deshalb mussten sich die Menschen bemühen, auch auf dieser Ebene weiter zu lernen. So dient z.B. das Gefühl der Scham auch zur Gefühlserziehung: Bestimmte, sozial erwünschte Gefühle sollen häufiger gezeigt und unerwünschte Affekte unterlassen werden. Wo es zu Fehlern kommt, meldet sich das unangenehme Schamgefühl. Es gibt die ausgeprägte Kultur der Höflichkeit, die einen Kanon von bestimmten emotionalen Verhaltensweisen festlegt. Die Grundlagen für Achtung und Respekt, die für alle Menschen gelten, sind darin fixiert.

Offensichtlich aber fällt das Lernen in diesem Bereich schwerer als im Bereich von Wissen und Fertigkeiten. Wir merken uns viele Wissenselemente und können sie auch wieder auffrischen, wenn wir sie vergessen haben. Im emotionalen Bereich verlieren wir schnell unsere Haltung und fallen wir leicht auf primitivere Ebenen zurück, sobald das subjektive Bedrohungsgefühl steigt. 

Es sind die urtümlichen Überlebensängste, die sehr schnell einrasten, wenn wir aus dem Gleichgewicht geraten. Seit Urzeiten ausgestattet mit effektiven Kampf-Flucht-Strategien vermeinen wir, damit Probleme lösen und Konflikte schlichten zu können. Tatsächlich jedoch verringern diese Mechanismen unsere sozialen Fähigkeiten, weil sie vom individuellen Überlebenstrieb gesteuert werden. 


Die Kultur von Empathie und Solidarität


Dringend bräuchte es die Ausweitung von solidarischer Verantwortung – nicht mehr und nicht weniger steht die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel. Wie kann Abhilfe geschehen? Seit mehr als hundert Jahren gibt es jetzt die Methoden der Psychotherapie, die sich besonders der emotionalen Nacherziehung und Weiterbildung widmen. Die uralten Stressreaktionen durch die Stärkung der mentalen Kontrolle zu entmachten, ist ein Hauptziel der therapeutischen Arbeit. Sie entwickelt und festigt die Gehirnstrukturen zur Kontrolle der Angstareale. Das Verständnis, dass Gefühlsreaktionen kommen und gehen und dass sie ihren Ursprung immer im eigenen Inneren haben und deshalb der eigenen Verantwortung unterliegen, trägt zur Entwicklung einer humanen Grundhaltung bei. Im Maß, wie das Vertrauen zu sich selbst wächst, weitet sich auch das Vertrauen zu anderen Menschen aus. Das Verständnis für das eigene Leiden öffnet die mitfühlenden Augen für das Leiden aller anderen.

In Achtsamkeitskursen und Meditationen werden mit Hilfe geistiger Konzentration Zustände von Gelassenheit und innerer Ruhe kultiviert. Die Schulung von Nächstenliebe und Mitgefühl ist Teil vieler religiöser und spiritueller Praktiken. 

Menschen also, die ihre Traumatisierungen und reaktiven Gefühlsreaktionen in einer Psychotherapie behandelt haben und durch eine spiritueller Praxis beständig ihre Innenwelt erforschen, kommen häufiger in Zustände von Empathie und Mitgefühl, der Basis einer Solidarität, die sich nicht auf die eigene Gruppe mit den bekannten Personen beschränkt, sondern prinzipiell alle Menschen umfasst. 

Von der Polyvagaltheorie wissen wir, dass diese Zustände mit dem neueren Vagus-System zusammenhängen, das zur Gestaltung von sozialen Gefühlen und Kommunikationsformen entstanden ist. Es kann das Misstrauen, das von den älteren Gehirnzentren aktiviert wird, beruhigen und durch proaktive Gefühle ersetzen. Je mehr wir dieses System stärken, desto leichter fällt es uns, die Motivation für solidarisches Handeln und globale Verantwortung zu entwickeln und zu kultivieren.

In der Kultivierung unserer Innenwelt, die in einer Läuterung von Egoismen und Gruppenbeschränkungen besteht, ist eine zentrale Hoffnung begründet, wie auf dem Planeten ein menschenwürdiges Leben für alle im Einklang mit der Natur gefunden und entwickelt werden kann. Wir alle sind dazu aufgerufen.

Zum Weiterlesen:
Die Dritte Aufklärung

Hass im Internetzeitalter
Reich und arm, Demut und Würde


Hinweis:
Achtsamkeitskurs im Herbst 2019
8 Abende zwischen dem 16. September und 11. November 2019
Montags von 19:00 - 20:30, Cervantesgasse 5/5, 1140 Wien

Donnerstag, 18. Juli 2019

Information braucht Materie - und warum das wichtig ist für die Gesellschaft

Was ist Information? Diese Frage steckt hinter den bahnbrechenden Veränderungen, die unsere Lebenswelt und damit auch unser Erleben in der digitalen Epoche in Bann ziehen. Die Beantwortung der Frage kann uns dabei helfen, mit diesen Veränderungen so zurechtzukommen, dass sie im Sinn einer Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen genutzt werden können.

Eine berühmte Definition von Information stammt von Gregory Bateson, der die Information als „Unterschied, der einen Unterschied macht,“ beschrieben hat. Er hat diese Information mit einem Beispiel illustriert: Man kann einem Hund einen Tritt geben, dass der Hund wegfliegt, oder man kann ihm einen Tritt geben, dass er wegrennt. Im ersten Fall gibt die tretende Person die Energie, die den Hund bewegt, im zweiten Fall leistet der Hund seine Bewegung selbst, das heißt, man hat ihm nur Information gegeben, die bewirkt, dass er seine eigene Energie verwendet. Im ersten Fall muss der Hund nichts verstehen, im zweiten Fall muss er verstehen, was ich meine. Er muss also nicht nur seine eigene Energie aufwenden, sondern auch noch interpretieren, wie er das tun soll.

Für den Statistiker ist Information "die Reduzierung von Ungewissheit": Wo es Information gibt, gibt es auch Klarheit. Klarheit entsteht durch Formen, und Formen haben einen Anfang und ein Ende, im Raum und/oder in der Zeit (ein Musikstück z.B.). Information zieht demnach eine Grenze in etwas ein, das vorher grenzenlos (= undefiniert) war. Es ist eine Grenze zwischen einem Innen und einem Außen. Das eine bekommt einen anderen Wert als das andere und wird zu einer Gestalt, die dann begrifflich bezeichnet werden kann, z.B. ein Schwan, der aus einem weißen Fleck in der Entfernung „entstanden“ ist oder ein Klingelton, der die Stille durchbricht.

Daran zeigt sich schon, dass Informationen immateriell sind: Der Unterschied zwischen A und B, zwischen Stille und Lärm, zwischen Gestaltlosigkeit und Gestalt, ist nicht über die Sinne wahrnehmbar und kann auch nicht als Ding vorgefunden werden. Dennoch ist Information Teil jeder Materie – oder in jedem Stückchen Materie enthalten, je nach Ausdrucks- und Sichtweise. Lebewesen sind komplexe Informationsverarbeiter, z.B. Pflanzen, die die Nährstoffe im Boden bewerten und selektiv nutzen. Aber auch die unbelebte Natur enthält Informationen und betreibt Informationsaustausch, z.B. zwischen dem Kern und den Elektronen eines Atoms. 

Die immaterielle Wesensart der Information führt dazu, dass manche Autoren Information und Bewusstsein gleichsetzen. Alles Geistige wird in diesen Bereich eingeordnet, womit die Informationstheorien als Beleg für das Bewusstsein und dessen zentrale Rolle verwendet werden. Ein plumper Materialismus kann jedenfalls die Omnipräsenz der Information nicht erklären. 


Quantenphysik und Informationsmetaphysik


Die Entdeckungen in der Quantenmechanik am Beginn des 20. Jahrhunderts haben dem Informationsaspekt der Wirklichkeit einen Aufschwung gebracht. War vorher vor allem in der Physik die Auffassung vorherrschend, dass es in der Natur nur eindeutig messbare Gesetze gibt, nach denen sie funktioniert, so zeigte sich jetzt, dass im subatomaren Bereich eine „Unschärfe“ vorherrscht und bestimmte Phänomene nur auftreten, wenn sie ein Beobachter beobachtet. 

An diese rätselhaften Erkenntnisse hefteten sich viele Spekulationen, teilweise auch von den Forschern selbst in Gang gesetzt. Ist es so, dass das Universum eigentlich nur Information ist, und dass die Materie nur eine bestimmte Erscheinungsform des Immateriellen darstellt? Bis heute tummeln sich entsprechende Gedankengebilde in verschiedenen Kreisen, besonders auch in den vielfältigen Gefilden der Esoterik, wo der Quantenbegriff seinen festen Platz gefunden hat, wenn auch ohne jeden realen Bezug zu seinem subatomaren Ursprung (vgl. die Blogbeiträge "Quantentheorie und die unsterbliche Seele" und "Die Logik der Photonen und die Quantenwerbung"). Jedenfalls ist immer wieder die Rede davon dass es eine Intelligenz im Universum gibt, eine moderne Version von Gott, die Ordnung schafft und die vor und jenseits der Natur existiere. Die Informationsgesellschaft mit ihrem ungeheuren Ausmaß an bits, also an den kleinsten Informationseinheiten, die sich in einem unvorstellbar rapidem Ausmaß tagtäglich vermehren, hat diesen Modellen zusätzlichen Auftrieb verschafft. Es dreht sich alles nur noch um Information, und deren Überfluss kann kaum mehr bewältigt werden. Es gibt niemanden mehr, die die Datenmenge verarbeiten könnte, als Individuum oder als Kollektiv. Da kann man sich wohl denken, dass es doch ein Mastermind, eine Meisterintelligenz dahinter geben muss, die die Fäden in der Hand hält. Es beschäftigt uns in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob nicht eines nicht allzu fernen Tages die Informationsgiganten mit ihrer sich selbst programmierenden Superintelligenz überhaupt die Herrschaft über die fehlerhaften und unzuverlässigen Menschen übernehmen werden, ob sie also selber die Rolle der universalen Steuerinstanz spielen werden.


Die Widerlegung des Primats der Information


Davon abgesehen, haben wir es in Bezug auf die Materie-Information-Frage mit reinen Gedankenspielen zu tun, die wenig zum Verständnis der Wirklichkeit beitragen, denn wenn es eine derartige Intelligenz gäbe, verfügen wir über keinerlei Möglichkeiten, ihre Existenz zu belegen. Die Wirklichkeit, die wir selber sind und mit der wir es zu tun haben, ist Natur oder aus Natur gemacht worden. Da kommt keine Superintelligenz vor. In diese Wirklichkeit gibt es die unterschiedlichsten Formen von Materie, und überall ist Information eingewoben. 

Die Theoretiker des Informationsprimats, also der Vorherrschaft der Immaterialität über die Materialität, behaupten dazu noch, dass es eine von Materie unabhängige Geistigkeit gibt, dass also die Information vor der Materie kommt, sowohl zeitlich als auch in Bezug auf die Wirklichkeitsprägung. Diese Auffassung gilt aber mittlerweile als wissenschaftlich widerlegt. Der Physiker Rolf Landauer hat 1961 den theoretischen Beweis dafür erstellt, dass Information immer eine materielle Grundlage benötigt. Ein Forscherteam konnte 2012 den praktischen Nachweis der Theorie erbringen. Ohne Materie gibt es keine Information: Jedes Informationsbit braucht einen physischen Speicher und benötigt Energie, um nicht zu verschwinden.

Damit ist klar, dass der Slogan „It from bit“ (das Sein stammt aus der Information) logisch und praktisch ausgeschlossen ist. Wir müssen uns in unserem Drang nach Universaltheorien bescheiden und unsere Aufmerksamkeit darauf richten, wie wir das Zusammenspiel von Materie und Information besser verstehen können, statt uns über Spekulationen zu streiten, bei denen es um nicht viel mehr geht als persönlichen Geschmack und individueller Denkvorliebe. 

Alle Theorien, die Information und Bewusstsein gleichsetzen, sind von dieser Einschränkung mitbetroffen. Es geht sich nicht aus, dem Bewusstsein eine Priorität und eine Überlegenheit über die Materie anzuhängen. Vielmehr müssen wir nüchtern zugeben, dass wir über keine Erfahrungen von Bewusstsein ohne Materie verfügen. Wie jede Cloud, auf der Informationen gespeichert werden, auf Servern gespeichert ist und alle geistigen Gehalte spurlos verschwinden, wenn der Server kaputt geht, so sind auch all unsere inneren Vorgänge, von banalen Gedanken bis zu hochfliegenden Gedanken und erhebenden Erfahrungen auf ein funktionierendes Nervensystem in einem gesunden Körper abhängig.


Die Propaganda der Beliebigkeit und die Manipulation


Der Wissenschaftler und Publizist Paul Mason weist in seinem Buch: Helle, lichte Zukunft" auf einen weiteren bedenkenswerten Zusammenhang hin. Mit der Annahme einer von Materie unabhängigen Information wird das Modell der Kausalität obsolet, das den Aufstieg der modernen Wissenschaften möglich gemacht hat. Die Erforschung der Ursache-Wirkung-Phänomene ist die Grundlage aller technologischen Maschinen, die die Menschen hervorgebracht haben. Sie ist auch die Grundlage für das Vertrauen in den Wissenschaften. Es geht um die Kausalzusammenhänge, die von allen nachvollzogen werden können, die sich damit beschäftigen und die in der materiellen Welt funktionieren, also die erwünschten Wirkungen erzielen, indem sie z.B. ein Auto starten und einen Computer hochfahren.

Wenn wir nun die Phänomene der Quantenphysik aus dem subatomaren Bereich verallgemeinern, in denen das Ursache-Wirkungsprinzip nicht mehr ausreicht, dann können wir zur Annahme kommen, dass es in der Wirklichkeit als ganzer keine Kausalphänomene gibt, sondern nur mehr Informationsflüsse, die die Wirklichkeitserfahrung zusammenstellen. Es gibt also keine äußere Wirklichkeit, sondern nur interne Konstruktionen, Informationskonglomerate, die sich in jedem Individuum unterschiedlich zusammenfügen, sodass es keinen Standpunkt mehr gibt, der in Bezug auf eine äußere Realität Objektivität behaupten kann.

Wenn dem so wäre, ist die Rede von „alternativen Fakten“ nicht mehr ein Verweis auf Lügen und Fantasien, sondern eine Aussage über die Wirklichkeit wie jene, die sich auf äußere Beobachtung und Messung beruft. Es gibt keinen Gegenhalt gegen mutwillige und bösartige Manipulationen, sondern wer gerade die Macht in der Gesellschaft innehat, bestimmt, was wirklich ist und was nicht, was Faktum ist und was Fiktion.


Die Wachheit der Vernunft und die menschliche Freiheit


Deshalb handelt es sich nicht um eine akademische Debatte, ob die Information getrennt und unabhängig von der Materie existiert. Vielmehr wirkt die Festlegung auf eine der möglichen Denkalternativen auf die Weise, wie wir die Wirklichkeit erleben und wie wir miteinander umgehen. 

Mason schreibt: „Nimmt man die irrationale Vorstellung hinzu, das Universum sei ein »großer Gedanke« (Jeans) und die Realität werde »berechnet«, so erhält man nicht nur einen neuartigen Idealismus, sondern auch ein ideologisches Fundament für die Annahme, der Mensch sei machtlos, zur Freiheit unfähig und in einer illusorischen Welt gefangen. Die neue wissenschaftliche Metaphysik ist eine der wichtigsten Stützen jenes Antihumanismus,  der die Ideologien des 21. Jahrhunderts durchdringt. Wenn die Information der physischen Welt vorausgeht und die Menschheitsgeschichte nichts anderes als Software ist, die »sich selbst berechnet«, gleicht unsere Lage jener der Menschen in dem Film Jason und die Argonauten: Jede unserer Entscheidungen ist in Wahrheit von den Göttern vorherbestimmt, die uns wie Spielsteine auf einem Brett bewegen. Es hat keinen Sinn, die menschliche Freiheit oder Handlungsmacht zu verteidigen." (Mason S. 172, 173)

Und weiter: „Wenn der neue, digitale Idealismus recht hat, ist der Humanismus lediglich eine Form von Nostalgie. Wenn wir die Wahrheit gestützt auf unsere Sinneswahrnehmungen gegen Fake News verteidigen wollen, wenn wir den Neoliberalismus durch ein System ersetzen wollen, das sämtlichen menschlichen Bedürfnissen genügen kann, dann müssen wir die Vorstellung von einem menschlichen Wesen verteidigen, das – vorbehaltlich der historischen Umstände – zu eigenständigem Denken und Handeln fähig ist. Oder wie es die Philosophen ausdrücken: Wir müssen die Freiheit verteidigen.“

Die Verteidigung der Freiheit und der Würde des Menschen ist gerade in Zeiten der Nivellierung der Wahrheitsansprüche und der Verwischung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion, wie sie die Inflationen des Informationszeitalters nach sich ziehen, gefordert. Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen von den abergläubischen Verbreitern von zusammenfantasierten Weltbildern und Theorien, die eindrucksvoll klingen, aber oft nur auf Sand gebaut sind. Vielmehr geht es darum, unsere kritische Vernunft und unsere Sinne wach zu halten und mit ihrer Hilfe unsere Meinungen, Theorien und Wirklichkeitskonstruktionen immer wieder zu überprüfen, in uns selbst, in unseren Mitmenschen und in den Angeboten der Informationsgesellschaft. 

Das Hochhalten eines kritischen Humanismus ist kein Luxus, dem wir uns hingeben, wenn wir nichts Wichtigeres zu tun haben, sondern ist ähnlich dringend wie der Einsatz für den Klimaschutz – und beides hängt sehr eng miteinander zusammen. Mit giergeleiteten Irrationalismen und ideologiegetränkten Theorien zerstören wir unser demokratisches Gemeinwesen und dazu noch die Biosphäre des Planeten. Wir brauchen eine starke Zivilgesellschaft, die die Werte der Menschlichkeit konsequent vertritt und auf der Basis abgesicherten wissenschaftlichen Wissens die notwendigen Maßnahmen für das Überleben der Menschheit setzt.

„Hannah Arendt hat 1951 geschrieben, die idealen Subjekte des totalitären Staates seien nicht die überzeugten Nationalsozialisten oder Kommunisten, sondern Menschen, die unfähig seien, »Tatsachen als Tatsachen zu verstehen und Wahrheit von Lüge zu unterscheiden«, Menschen, »die sich auf ihre Erfahrungen nicht mehr verlassen wollen, weil sie sich mit ihnen in der Welt nicht mehr zurechtfinden können«.“ (Mason S. 139)

Literatur: Paul Mason: Klare, lichte Zukunft. Frankfurt: Suhrkamp 2019

Zum Weiterlesen:
Quantentheorie und die unsterbliche Seele

Die Logik der Photonen und die Quantenwerbung

Dienstag, 16. Juli 2019

Die mystische Leere

Im vorhergehenden Blogbeitrag war die Rede vom Verzicht auf den Gottesbegriff, der eine Leerstelle auffüllen soll, die nur in ihrer Leere wirksam und sinnvoll ist. Was wir aber nicht benennen können, können wir nicht kontrollieren. Also wollen wir der Leerstelle einen Namen geben, den wir gebrauchen können. Sobald ein Inhalt in die Leere eingefüllt wird, wird sie in das menschliche Verhaltensrepertoire eingegliedert. Damit wird das Absolute handhabbar, benutzbar und missbrauchbar. Und natürlich: All diese Möglichkeiten wurden im Lauf der Glaubens- und Religionsgeschichte der Menschheit weidlich ausgenutzt.

Das ist es auch, was das Auffüllen so beliebt macht: Was wir in die Leerstelle hineinfüttern, ist unser eigener Brei, unsere Ideen, Wünsche, Sehnsüchte und Ängste. Wir kennen uns aus mit dem Stoff, an den wir immer schon glauben und mit dem wir unsere Alltagssorgen und konditionierten Ängste erklären. Menschliches, allzu Menschliches, allgemein Menschliches. Zwar ist dieser Stoff nicht immer angenehm und beschaulich, sondern manchmal auch furchterregend und fordernd. Doch auch das ist uns vertraut aus unseren menschlichen Verwendungszusammenhängen. Was wir kennen, können wir in Gebrauch nehmen, und was wir kontrollieren, können wir verstehen. Es ist ein „Absolutes“ nach unserem Geschmack, entsprechend unserer Erwartungen und Vorprägungen. Wir brauchen uns nicht zu ändern, sondern wir passen das, was uns herausfordern könnte, an unsere Beliebigkeiten an.

Die moderne und aufgeklärte Welt bietet die verschiedenartigsten Gerichte an am Markt der Leerefüllungen. Man kann es auf christlich oder buddhistisch goutieren, in einer der vielfältigen Strömungen, die überall leicht zugänglich sind. Vielleicht verbringe ich eine Lebensphase muslimisch, die nächste hinduistisch und trete dann mal ins Judentum ein, vielleicht fertige ich mir eine Mischung aus verschiedenen Geschmäckern, ein religiöses Curry, dazu noch mit einem Schuss neumoderner Esoterik.

Die Angst vor der Leere 


Der „horror vacui“ hat eine ehrwürdige Geschichte, die auf die antike Naturvorstellung zurückgeht. Der Begriff geht davon aus, dass die Natur keine Leere zulassen möchte, sondern sofort alles füllt, was sich als Vakuum auftut. Bei Künstlern ist damit gemeint, dass eine Leinwand keine leere Stelle enthalten sollte, sondern dass die ganze Fläche mit Farbe zu bemalen sei. Schriftsteller leiden manchmal an der Angst vor der Leere, wenn sie mit einer Schreibhemmung vor einem leeren Blatt Papier oder Computerscreen sitzen. 

Heute nutzen Alltagspsychologen den Begriff, um das Phänomen der permanenten Erreichbarkeit und Ablenkbarkeit zu beschreiben, das typisch für den Menschen des 21. Jahrhunderts ist: Die Unfähigkeit, ohne Smartphone zu sein, das dauernd neue Nachrichten, Geschichten und Bilder ins Gehirn einspeisen muss, damit keine Fadesse einkehrt. Die Angst vor einer inneren Leere treibt dazu, fortwährend den Blick auf den Bildschirm zu heften, um ja nichts zu versäumen, was sich im Universum des Netzes abspielt. Jede Mitteilung, die eintrudelt, bestätigt die eigene Wichtigkeit, die im nächsten Moment verfallen kann, wenn niemand ein „like“ beim eigenen Foto drückt.

Auf den tieferen Ebenen des Seelenerlebens ist die Leere ein furchterregendes Phänomen, weil es auf existenzielle Mangelzustände hinweist, die meist frühkindlichen Ursprungs sind. Als bedürftige Wesen werden wir geboren, angewiesen auf Menschen, die unsere Mängel auffüllen. Die emotionale Leere, die übrigbleibt, wenn die frühen Bedürfnisse nur ungenügend befriedigt wurden, kann in Depressionen oder Hyperaktivität münden. Sie wird besonders dann aktiviert, wenn Beziehungen in die Brüche gehen, bei denen der Partner als Ersatz für die emotionale Leere aus der frühen Kindheit gedient hat.

Das Einlassen auf die mystische Leere


All dies ist nicht gemeint, kann sich aber einmischen, wenn es um den spirituellen Weg zur Leere geht. Er beinhaltet die Reinigung von allen begrifflichen Anhaftungen und die Lösung von konzeptuellen, emotionalen und habituellen Sicherheiten. Alles, was schon bekannt und vertraut ist, ob angenehm oder unangenehm, muss zurückgelassen werden. Alles Geformte bleibt an der Oberfläche, während das Formlose in der Tiefe auf ein bedingungsloses Sich-Fallenlassen wartet. Das Ankommen dort muss kein spektakuläres Erleben sein, an dem sich die intensitätsgeilen Gefühle anhängen können, sondern gleicht eher einer Einkehr in eine einfache Stille und Weite, die unendliche Freiheit.

Der spirituelle Erfahrungsraum beginnt dort, wo wir uns auf die „nackte“ Leere einlassen, auf das nicht verdinglichte und nicht verdinglichbare Absolute, das nichts mit unseren Erwartungen zu tun hat. Alles, was wir nicht zu Dingen machen können, auf die wir zugreifen und die wir mit unserem Willen beeinflussen können, mag uns Angst machen; doch das ist das Abenteuer, das auf uns wartet, wenn wir uns auf eine spirituelle Reise begeben. Wir müssen alle Hoffnung fahren lassen, alle Voreinstellungen und Konzepte, alles Wünschen und Wollen müssen zurückbleiben. Was es braucht, ist nur die Bereitschaft, sich auf die Erfahrung einzulassen, die im Moment hochbringt, was gerade sein soll – irgendein Geschwätz des Verstandes oder die Leere. Solange sich Inhalte, und seien das auch erhebende göttliche Inspirationen oder lichtvolle Visionen, bemerkbar machen, sind wir in der Geiselhaft dieses Verstandes gefangen. Solange wir Begriffe für unser Erleben – selbst wenn es ein Erleben des Absoluten ist –  finden müssen, bewegen wir uns im Bereich des Relativen.

Die Radikalität des Jenseits macht erst die Transzendenz aus: Ein Jenseits, das nichts mehr mit dem Diesseits zu tun hat. Wir übersteigen die relative Wirklichkeit nicht durch ein schrittweises Hinausgehen, sondern wir geraten durch die Gnade oder Gunst des Augenblicks in die andere Welt, ohne unser Zutun und Verdienst. Es geschieht etwas mit uns und verändert uns. Und es geschieht dann irgendwann, vielleicht schon nach einem Sekundenbruchteil, dass wir wieder in die relative Welt zurückkommen, wieder ohne unsere Kontrolle. Der Verstand meldet sich wieder vorlaut zu Wort und möchte gleich einen Bericht vom Ereignis, damit er es in eines seiner Register einordnen kann. 

Das ist der Punkt, an dem die Religionsstifter oder ihre Anhänger angefangen haben, das Absolute zu verschriftlichen. Die heiligen Schriften sollten die spirituellen Erfahrungen kommunizierbar machen, damit sie möglichst vielen Menschen zur Verfügung gestellt werden können. Tatsächlich haben sie dazu gedient, dass sich viele Menschen auf den Weg gemacht haben, um selber mit dem Jenseits Kontakt aufzunehmen; sie wurden und werden aber auch dafür benutzt und missbraucht, begrenzte Interessen zu bedienen und Machtstrukturen zur Kontrolle der Menschen aufzubauen, wie das in der Geschichte aller Religionen, die randvoll sind mit Leid und Gewalt, nachverfolgt werden kann. All die Schindluder, die im Namen von Religionen mit dem Absoluten getrieben wurden, müssen verstanden und demaskiert werden: Als feiges Zurückschrecken vor der Leere, als Ausweichen vor der mystischen Kraft des Absoluten, als zynisches Spiel mit Illusionen zum eigenen Machterhalt, als Zementierung von Unrechtszuständen usw. 

Das Aushalten der Leere ist die eigentliche spirituelle Prüfung. Inhalte können uns Angst machen oder schrecken, aber sie sind uns dennoch vertrauter als die mystische Leere. Wir wissen aus Erfahrung, dass wir auch mit der schlimmsten Angst zurechtkommen können, doch wir haben kein Wissen darüber, wie wir diese Leere aushalten könnten. Denn unser Erleben ist beständig mit Inhalten gefüllt. 

Der Wert aller Vorstufen soll damit nicht geschmälert werden: Die Ekstase des sinnlichen Erlebens, die Entdeckung der Wunder in der Natur, das Einswerden mit dem Fließen des Lebens usw. sind wertvolle Zustände, die uns auf das Absolute aufmerksam und neugierig machen. All das vermittelt uns einen Geschmack und eine Idee von Transzendenz, gibt uns den Mut und die Ausdauer für das Weitergehen auf der Suche. Doch das „Ziel“ ist noch immer jenseits all dieser wunderbaren Erfahrungen, eine namenlose Leere, ein Verschwinden in das Jenseits von Raum und Zeit.

Zum Weiterlesen:
Gott und das Absolute
Über die Willkür im Umgang mit dem Absoluten
Gott und das Ego
Der Anfang der Welt und das spekulative Denken
Letzte Fragen ohne Antworten

Freitag, 5. Juli 2019

Gott und das Absolute

Mit dem Absoluten meinen wir etwas, das sich dem relativen Begreifen entzieht, das aber notwendig ist für unser Selbstverstehen, Welterklären und Welterleben. Das Absolute hat die Eigentümlichkeit, dass es der üblichen Sinneserfahrung nicht zugänglich ist, dass es nicht in Worte gefasst werden kann und dass es sprachlich nicht eindeutig kommuniziert werden kann. Es kommt also wie eine Leerstelle zwischen lauter konkreten Dingen vor. Sobald wir in unserer Erfahrung in diese Leerstelle geraten, fällt alles ab, was wir an Konkretheit brauchen, weil sich eine neue Form der Konkretheit zeigt. Es erscheint alles in sich klar und verständlich. Doch sobald diese Erfahrung kommuniziert wird, gerät sie in die Sphäre des Relativen und wird missverständlich und missverstanden.

Von diesem Dilemma ist auch der Gottesbegriff betroffen. Die spirituelle oder mystische Erfahrung kann möglicherweise aus der Perspektive der erfahrenden Person am besten mit „Gott“ beschrieben werden. Doch sobald die Erfahrung als „göttlich“ oder „von Gott kommend“ kommuniziert wird, ergeben sich die Komplikationen. Denn der Gottesbegriff hat in der relativen Welt der Kommunikation unendlich viele assoziative Anbindungen, die die unterschiedlichsten Narrative bei den Empfängern der Kommunikation aktivieren. Die einen denken an den strafenden, die anderen an den liebenden Gott, die einen an den Gott der Kreuzzüge oder IS-Gewalttaten, die anderen an Mutter Teresa und all die frommen Wohltäter. 


Die Blutspur des Gottesbegriffs


Der Gottesbegriff hat eine sehr lange Geschichte und ist in vielen Traditionen in unterschiedlicher Weise prominent vertreten. Seine Verwendung reicht von der schwarzen Pädagogik über die Machtpolitik bis zu hohen Sphären der Frömmigkeit und Mystik. Dementsprechend vage und schillernd ist der Begriff. Er kann Haltungen von Hingabe und Ergriffenheit ebenso auslösen wie Aggressionen, Spott und Abscheu.

Dem Gottesbegriff haftet eine lange und breite Blutspur an, die sich bis in die Gegenwart zieht. Natürlich haben viele Menschen durch ihren Glauben an Gott Trost und Lebenssinn erfahren, aber als repräsentativer Begriff für das Absolute ist der Gottesbegriff durch seine Geschichte nachhaltig desavouiert. Wir können zwar auf eine Zukunft hoffen, in der nicht mehr im Namen Gottes gemordet, geurteilt und bestraft wird, in der nicht im Namen Gottes Menschen zu von ihnen ungewollten Handlungen gezwungen werden oder zu Gewissensqualen genötigt werden. Selbst wenn eine solche Zukunft der Gewaltfreiheit je eintreten würde, kann der Teil der Geschichte, den Gott mit seinem Namen überschattet hat, nicht zum Verschwinden gebracht werden oder ignoriert werden.  

Im Grunde bräuchte es eine Mediation zwischen der Menschheit und Gott, um diese Schuld auszugleichen. In diesem Prozess müsste die Menschheit Gott verzeihen, was er/sie an Gewalt und Leid im eigenen Namen zugelassen hat oder wofür er/sie sogar verantwortlich zeichnet.  Es ginge dabei also nicht nur um ein Verzeihen, das die Menschen für ihre Taten seit alters her von Gott erflehen, um das sie beten sollen und dessen sie dennoch nie sicher sein können. Es ginge um eine versöhnende Begegnung auf Augenhöhe. 

Natürlich ist das nur ein Gedankenspiel, und jeder Theologe würde einwenden, dass ein Absolutes nicht mit einem Relativen auf eine Ebene gestellt werden kann. Aber diese Überlegung weist darauf hin, wie schwer der Name Gottes belastet ist und Übles in der Menschheitsgeschichte verursacht hat, sodass er mehr und mehr Menschen dazu bringt, überhaupt jeder Form von Transzendenz oder Absolutheitsannäherung abzuschwören. Man könnte deshalb sagen, der Gottesbegriff hat mindestens soviel zur Relativierung und Zerstörung des Sakralen in der Moderne beigetragen wie er andererseits vorher den Aufbau der Religiosität befördert hat.

Die Rechtfertigung des theologisch motivierter Seite von theologischer Seite stellt fest, dass die Gräueltaten der Menschheitsgeschichte von den Menschen selber gemacht wurden und deshalb von ihnen zu verantworten sind. Das ist klar, und klar ist auch, dass in vielen Fällen Gott als Motiv für diese Untaten benutzt wurde und wird. Eine Bezeichnung für das Absolute, die solches zulässt und die Menschen dazu verführt, besonders grausam und zugleich uneinsichtig gegen andere Menschen vorzugehen, kann deshalb nur mehr mit äußerster Vorsicht in den Mund genommen werden. Zu erwarten, dass die Menschen ihm fraglos ihren Glauben schenken sollen, verkennt diese Realität. Um willen des Absoluten, das vermutlich zum Menschsein gehört wie die Anfälligkeit zu Unachtsamkeiten und Bosheiten, braucht es Bezeichnungen und Begrifflichkeiten, die weniger stark belastet und korrumpiert sind.


Das Absolute ist nicht verfügbar


In einem ersten Schritt sollte jedenfalls klargestellt werden, dass das Absolute auch unter dem „Markenbegriff“ Gott nicht verfügbar ist, für keinerlei menschliche Zwecke und Absichten. „Gott“ ist für keine Verwendung geeignet und darf von niemanden in Dienst genommen werden, sondern taugt einzig und allein für die Bezeichnung einer Leerstelle, der sich die Menschen nur mit lauterer Gesinnung und reinem Herzen annähern können. 


Der Weg der Mystik


Es bleibt jenseits von den Religionen oder in deren Kern nur der Weg der Mystik für diese Annäherung. Dieser Weg beinhaltet die Bereitschaft, auf alle Sicherheiten und Vorannahmen zu verzichten, einschließlich jener eines Gottesglaubens in jedweder Form und Denomination (Ein Gott mit hundert Namen, ein Gott in drei Personen, ein Gott mit einem Bund mit einem Volk usw.). 

Um es salopp zu formulieren: Für den Job als Gott ist nur geeignet, wer bereit ist, sich sofort und völlig zurückzuziehen, sobald im eigenen Namen irgendein Missbrauch für menschliche Machenschaften getrieben wird. Er/sie muss auch bereit sein, sich dort zu verabschieden, wo jemand die Leere ohne alle Begrifflichkeit und Formen betritt. 


Der Gottesbegriff als Krücke


Manchem, der sich auf dem Weg der Mystik, also auf der vorurteilsfreien Suche nach dem Absoluten befindet, wird Gott als Krücke zum Mysterium dienen, manche Mystiker nutzen den Begriff auch als Chiffre für das Unnennbare, andere verzichten auf diese Bezeichnung. All diese Spielarten der Vermittlung des Absoluten befinden sich im Raum des Relativen der menschlichen Kommunikation und die jeweiligen Vorlieben sind dem subjektiven Geschmack überlassen. 

Es steht also jedem frei, Gott zu benennen oder nicht zu benennen, wie es jeweils passt. Aus der hier vorgestellten Problematisierung des Gottesbegriffes folgt nicht, dass er nicht mehr verwendet werden dürfte. Es handelt sich vielmehr um kritische Anfragen aus der Perspektive der menschlichen Vernunft und der Humanität. Aus dieser Richtung wird die unbefangene, naive und oft aggressive Gläubigkeit, die den Glauben an einen Namen heftet, in Frage gestellt. Allerdings ist das eine Frage, die sich nur jede Person selber stellen kann, und niemand hat das Recht, sich von außen in die Glaubensdinge seiner Mitmenschen hineinzumischen.

Mit diesen Überlegungen wird jedenfalls die Einteilung von Menschen in Gottesgläubige und Atheisten (oder Agnostiker) hinfällig (wobei die Gottesgläubigen manchmal den Atheisten nachweisen wollen, dass sie ja auch Gläubige sind, nämlich an die Nicht-Existenz Gottes oder an einen Gott, der nicht existiert). A-Theismus als Leugnung von etwas, dessen Existenz in Frage gestellt ist, ist schon als Begriff in sich widersprüchlich. Dazu kommt, dass er häufig in abwertender und ausgrenzender oder sogar ethisch diskriminierender Weise verwendet wird. Es gibt Menschen, die an Gott glauben, und andere, die an das Absolute oder Numinose glauben, und andere, die an all das nicht glauben, sondern sich einzig und allein auf ihre Erfahrung berufen. 


Spiritualität im gesellschaftlichen Diskurs


Um zur Entkrampfung der theologischen Diskussionen beizutragen, wird hier argumentiert, dass es befreiend und hilfreich sein kann, den Namen Gottes wegen seiner Viel- und Missdeutigkeit zu vermeiden und statt dessen neutralere und weniger historisch und emotional belastete Bezeichnungen für das Heilige, das Transzendente, das Absolute zu verwenden.

Im Sinn der herrschaftsfreien Kommunikation in der offenen Gesellschaft, die längst auf selbstverständliche Glaubensannahmen verzichtet hat und in der sich jeder spirituelle Ansatz erst argumentativ behaupten muss, ist der Hinweis wertvoll, dass es des Gottesbegriffes nicht bedarf, um die transzendente Dimension hinlänglich in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Für die Diskursfähigkeit der Spiritualität braucht es diese Flexibilität und Achtsamkeit in der Begrifflichkeit, die kritische Reflexion der Geschichte und die Toleranz für alle Formen des Glaubens und Nichtglaubens. 

Zum Weiterlesen:
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