Freitag, 29. Dezember 2017

Das Ja zum Selbst

Psychologen behaupten gerne: Was immer wir
an der Welt (den Gegebenheiten, den anderen Menschen) nicht akzeptieren können, hat mit etwas zu tun, was wir an uns selber nicht akzeptieren können. Anders ausgedrückt: Wenn wir die Welt, so wie sie ist, ablehnen, lehnen wir uns selbst ab. Diese Gleichung muss keine absolute Wahrheit sein, aber wir können sie als heuristische Hypothese verwenden, also als eine Annahme, die uns zu Erkenntnisgewinnen verhelfen kann. 

Die Welt an sich ist bekanntlich weder gut noch böse, es ist unsere Interpretation, die sie dazu macht. Wir färben die Welt nach unseren Vorlieben und Abneigungen und den daraus geformten Filtern und Mustern, die sich in sehr früh einsetzenden Lernprozessen gebildet haben und sich durch jede Erfahrung laufend weiterentwickeln. Diese erworbenen Voreingenommenheiten werden aktiviert, wenn wir ablehnen, was sich in unserem Leben gerade abspielt. Durch die Übung des kategorialen Akzeptierens, wie sie im vorigen Artikel beschrieben wurde, können wir auf solche Lernprozesse Einfluss nehmen und den Spielraum des Akzeptierens erweitern und mehr an innerer Freiheit gewinnen.


Nichts Menschliches ist uns fremd


Wir kennen alle Aspekte des Menschlichen, manche mehr, manche weniger. Wir tragen die Liebende in uns und die Hassende, den Mörder und das Opfer, den Friedfertigen und den Kämpfer, das Schnelle und das Langsame usw.

Erziehung besteht oft in einer Serie von Bewertungen mit Stärken/Schwächen-Analyse: Das hast du gut gemacht, das könnte noch besser sein, dass solltest du nie mehr wieder tun. Der emotionale Ton dieser Rückmeldungen, die ein Kind im Lauf seines Aufwachsens bekommt, bewirkt die Stärke der Einprägung. Je stärker die gefühlsmäßige Ladung in die Nähe zur Drohung eines Liebesentzugs oder Beziehungsabbruches neigt, desto mächtiger ist der Einfluss auf die Schwächung der Selbstakzeptanz. Dazu kommt, dass sich die Drohung nicht nur auf Verhaltensweisen, sondern auf die Person bezieht, zumindest nehmen es Kinder so wahr, wenn der Unterschied nicht deutlich gemacht wird. Auf diese Weise lernt das Kind, bestimmte Aspekte seines Selbst zu unterdrücken: Was die Bindungssicherheit mit den Bezugspersonen gefährdet, muss unterlassen werden und im Rahmen des Gefühls- und Verhaltensrepertoires auf die Negativseite verbucht werden.  Es erhält Etikette wie „schlecht“, „böse“, negativ“, „lieblos“ usw. Der Bereich der Selbstakzeptanz wird um all diese Inhalte verringert.

Von außen wird schnell klar, dass Eltern dort mit Drohungen arbeiten, wo sie sich selbst bedroht fühlen: Sie kommen mit Gefühlen ihrer Kinder nicht klar, weil sie diese an unverarbeitete eigene Kindheitstraumen erinnern oder haben die Angst, dass die Kinder die gesellschaftlichen Erwartungen nicht erfüllen können, wenn sie nicht einer bestimmten Form der Erziehung, die mit Drohungen arbeitet, unterzogen werden. Doch das Kind kann nicht durchschauen, dass Eltern in ihrem Selbstbezug gestört sind, sondern sucht die Ursache des Abgelehntwerdens in sich selbst. Der Liebesentzug als Erziehungsmittel beinhaltet eine kategoriale Ablehnung, und folglich muss sich das Kind in seiner Existenz in Frage gestellt fühlen. Sein Selbstsein wird nur unter bestimmten Bedingungen akzeptiert, und auf dieser schmalen und unsicheren Basis kann das Kind nicht lernen sich selbst zu akzeptieren. Was es erlernt, ist die bedingte Akzeptanz: Wenn ich so oder so bin (sprich: mich verhalte), bin ich akzeptiert und werde ich geliebt, sonst nicht. 

Diese bedingte Akzeptanz wird zugleich zur bedingten Selbstannahme. Das Kind teilt sein Inneres in gute und in böse oder schlechte Teile auf, die guten sucht es zu stärken und die schlechten durch Abwertung zu unterbinden. Auch die neutralen, von den Eltern nicht bewerteten Aspekte der eigenen Persönlichkeit können den Selbstwert nicht stärken; Menschen sind manchmal irritiert, dass sie von anderen für Eigenschaften oder Fähigkeiten geschätzt und bewundert werden, von denen sie annehmen, dass es sich nur um Selbstverständlichkeiten handelt. Manche Eltern vermitteln offenbar ihren Kindern die Einstellung, dass es nur zwei Kategorien kindlichen Verhaltens gibt: Solches, das schlecht ist und solches, das selbstverständlich ist und keiner besonderen positiven Erwähnung bedarf. 

Die Selbstakzeptanz entwickelt sich in dem Maß und in der Qualität, wie sie als Akzeptanz von außen vermittelt wurde. Positive Annahme durch die Eltern macht es Kindern leicht, sich selbst anzunehmen; vorherrschende kritische und ablehnende Eltern erziehen Kinder zu geringer Selbstakzeptanz. Der Grad an Selbstakzeptanz, den später dann die erwachsene Person aufweist, ist ein Spiegel des erlittenen Kindheitsschicksals. 

Im nächsten Schritt werden die erlittenen Mängel und Liebesbedrohungen auf die Umgebung projiziert und spiegeln sich von dort zurück in all den Aspekten, die an ihr nicht akzeptiert werden können. Die Welt ist schlecht, weil mir beigebracht wurde, dass meine Innenwelt schlecht ist. Im Außen wird bekämpft, was im Inneren verboten ist. Zum Beispiel werden bestimmte, der Norm nicht entsprechende sexuelle Verhaltensweisen aggressiv abgelehnt, die im eigenen Inneren nicht sein dürfen. Oder es werden auf schwache Randgruppen Bedrohungen projiziert, die ihre Wurzeln in der liebesarmen Kindheit haben.


Der Spiegel im Spiegel


Was wir am wenigsten an uns selbst akzeptieren können, zeigt die Lücken und Löcher auf, die die emotionalen Mangelerfahrungen unserer Kindheit in unserem Selbstbild hinterlassen haben. Deshalb machen wir die Welt dafür verantwortlich und trennen uns von ihr durch das Nicht-Akzeptieren. Diejenigen Elemente der Außenwelt, die uns aus unserer Mitte werfen und unsere Lebenszufriedenheit schmälern, sollen verschwinden. Sie sind schuld an unserer Misere.

Wir haben es also mit einer verdoppelten Spiegelung zu tun, einem Spiegel im Spiegel: die Wirklichkeit spiegelt uns unsere unbewussten Lücken der Selbstakzeptanz. Diese Schwächen spiegeln die Mängel wieder, die wir in der Kindheit erlitten haben. In dieser Doppelspiegelung verzerrt sich unser Bezug zur Wirklichkeit zweifach. Wir haben eine Illusion und eine Illusion der Illusion aufgebaut. 

Die doppelte Absicherung der Wirklichkeitsverzerrung macht es besonders schwierig, sie zu durchschauen und zu korrigieren. Die Abwehrstrategien unseres Verstands sind zu ihrer Verteidigung aufgestellt, bereit, sofort aktiv zu werden, sobald etwas um uns herum unser enges Konzept der Selbstakzeptanz bedroht.

Unschwer können wir erkennen, dass Demagogen, Populisten und Prediger diese Mechanismen ausnutzen. Sie nutzen die inneren Bedrohungsszenarien ihrer Anhänger für ihre eigenen Zwecke aus und können sich auf die Doppelsicherung der inneren Abwehr verlassen. Sobald jemand die Sprache der eigenen Ängste spricht, bekommt er das ungeprüfte Vertrauen.


Der Weg zur Selbstakzeptanz


Die Entwirrung ist nicht einfach und bedarf der inneren Arbeit. Sie geht den entgegengesetzten Weg: Was uns an der Wirklichkeit stört, sodass wir es nicht akzeptieren können, verweist auf eine Schwäche im Selbstbezug, und diese hat ihre Wurzel im Mangelerleben während der eigenen Kindheit. Übernehmen wir die Verantwortung für unser Schicksal und beginnen, uns mit unseren Mängeln zu akzeptieren, steigt auch unsere Bereitschaft und Fähigkeit, konstruktiv mit den Schwächen unseres Wirklichkeitsbezugs umzugehen, sodass wir schneller akzeptieren können, was ist, und zur aktiven Änderung schreiten können, wenn etwas geändert werden kann oder uns mit dem abzufinden, was zu verändern nicht in unserer Macht liegt, getreu dem berühmten Gelassenheitsgebet: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ (Reinhold Niebuhr)

Jeder von uns ist ein einzigartiges Ensemble an Stärken und Schwächen – aus Dingen, die uns leichtfallen und die wir gut zuwege bringen, und Dingen, mit denen wir uns schwer tun und mit denen wir kämpfen. Gerade diese Mischung macht uns zu dem, was wir sind. Es hilft nichts, wenn wir uns wegen unserer Schwächen selbst geißeln. Es hilft auch nicht, wenn wir uns mit unseren Stärken brüsten und unsere Schwächen verstecken. Wir kommen nur weiter, wenn wir bereit sind, uns selber mit unseren Schwächen zu akzeptieren, also uns in unserer Unvollkommenheit anzunehmen. Das ist der Hintergrund, vor dem wir an unserer Entwicklung arbeiten können: Schwächen zu verbessern und Stärken auszubauen. Zur Selbstakzeptanz gehört, dass wir uns in unseren eigenen Formen des Lernens und Entwickelns annehmen, statt uns blind mit anderen zu vergleichen oder deren Strategien zu übernehmen. Wir brauchen uns selbst nicht wegen unserer Schwächen abzuwerten, da wir wissen, dass wir lern- und entwicklungsfähig sind und nie so bleiben können, wie wir gerade sind und dass gerade unsere Schwächen einen starken Anreiz zum Verändern bieten.

Wir sind in unserer Einzigartigkeit wunderbare Projekte im Werden. Wir wissen nicht einmal, wohin uns unsere innere Evolution führen wird und vor welche Herausforderungen unsere Fähigkeit zur Selbstakzeptanz noch gestellt sein wird. Krankheiten, Unfälle, Alterungsprozesse, Todesfälle, Katastrophen aller Art: Können wir das Leben akzeptieren, wenn es sich nicht von seiner Schokoladenseite zeigt? Und können wir und uns selbst akzeptieren, wenn wir folgenschwere Fehler machen, an uns selbst scheitern, körperlich oder geistig nicht mehr mithalten können? Hier liegen die Wachstumschancen, die uns das Leben anbietet, um unsere Akzeptanz, unsere Selbstannahme zu vertiefen. Was auch immer das Leben mit uns vorhat, je stabiler wir die Selbstakzeptanz in uns verankern können, desto leichter werden wir trotz aller unvorhersehbarer Strömungen und Windverhältnissen auf unserem inneren Kurs bleiben können.

Es gibt dazu sogar eine noch weisere Stimme, die dir zuflüstert: Welchen Kurs du auch immer durch dein Leben segelst – es ist immer dein Weg, an dem alles seine Stimmigkeit hat: die Art und Weise, wie du dein Selbst akzeptierst oder verleugnest, die Art und Weise, wie du die Welt akzeptierst oder ablehnst, die Art und Weise deines Lernens und Wachsens sind genauso, wie sie sind, von der tiefsten Kraft des Lebens akzeptiert. Du brauchst dich ihr nur anzuschließen und hinzugeben: Im bedingungslosen Ja zu dir selbst.

Zum Weiterlesen: 
Sag Ja zum Moment
Unterschiede im inneren Wachstum

Mittwoch, 27. Dezember 2017

Sag Ja zum Moment

„Sag Ja zum Moment, und alles weitere geschieht von selbst.“ Dieser Satz ist mir
einmal während des Anleitens einer Gruppenübung zugefallen.

Wir haben die Wahl, unserem Leben zuzustimmen, so wie es gerade ist, oder es abzulehnen, weil wir gerade daran leiden. Niemand kann uns zu dem einen oder anderen zwingen. Wir sind in unserer Entscheidung frei. (Ich lasse hier alle Überlegungen für oder gegen die Willensfreiheit weg und gehe ganz naiv davon aus, wie wir uns selbst erleben). Allerdings ist uns selten bewusst, dass wir die Wahl haben. Wir kennen Situationen, die unseren Wünschen und Vorlieben entsprechen und solche, die wir anders lieber hätten, die wir ändern oder verbessern oder abschaffen möchten: Nie mehr wieder soll dies oder jenes passieren. Wir wollen eine Welt, die sich völlig an unsere Vorstellungen anpasst.

Vom Anfang unseres Lebens an sind wir in die Diskrepanz zwischen unseren – von unseren Bedürfnissen gesteuerten – Erwartungen und der Realität eingespannt, und alle Formen des  psychologischen Leidens entspringen aus dieser Spannung: Unsere Einbildungen darüber, wie die Welt sein sollte, und die Welt, die sich nicht danach richtet, sondern ihr eigenes Ding macht und uns immer wieder einen Strich durch unsere vorgefertigte Rechnung macht. Wir leiden darunter, dass wir gerne die Beherrscher der Welt wären und vergeblich darauf warten, darin von der Welt anerkannt zu werden, indem sie sich gefälligst so verhält, wie wir es wünschen. In diesem Gehabe verhalten wir uns allerdings nicht wie ein Herrscher, vielmehr machen wir uns zu Gefangenen unserer eigenen Erwartungen, Vorstellungen und Illusionen. Wir maßen uns eine Stellung an, die es nicht geben kann; man stelle sich Milliarden an Menschen vor, die alle der Welt vorschreiben wollen, wie sie sein soll. Und man stelle sich die unvorstellbare Menge an Optionen vor, die sich jedem dieser Menschenwesen in jedem Moment anbieten – Das kann sich nie und nimmer ausgehen.


Das bedingungslose Ja


Die Alternative ist, dass wir das, was ist, akzeptieren, so, was und wie es ist. Akzeptieren heißt, bedingungslos zu bejahen, indem wir das, was ist, in seinem Existieren annehmen. In diesem Ja trennen wir uns nicht von der Realität ab, indem wir uns über sie stellen. Wir beziehen uns ohne Vorbehalte auf das, was wir gerade erleben und bleiben damit in Verbindung, auch wenn es an dieser Wirklichkeit Aspekte gibt, die uns widerstreben.

Bedingungslose Annahme bedeutet nicht kritiklose Zustimmung. Die Bejahung inkludiert keine durchgängige Gutheißung. Wir sagen damit nur, dass wir das, was ist, in seinem Dasein bejahen, weil wir nicht die Herrscher über die Realität sind. Im Rahmen dieser Bejahung können wir diesen oder jenen Aspekt eines Elements der Wirklichkeit ablehnen und uns eine Änderung oder Verbesserung wünschen. Wir können uns im Rahmen des Akzeptierens akzeptierend oder ablehnend auf etwas beziehen. 

Das klingt widersprüchlich: Entweder akzeptieren wir etwas, wie es ist, oder wir lehnen es ab. Allerdings sollten wir die unterschiedlichen Ebenen berücksichtigen. Es gibt die kategoriale und die relative Ablehnung, die kategoriale und die relative Akzeptanz. Die kategoriale Akzeptanz (der spirituelle Lehrer A.H. Almaas nennt sie „nicht-kontextuelle Positivität“) bezieht sich auf die Existenz eines Phänomens, die relative auf die einzelnen Aspekte dieses Phänomens. Auch wenn wir unsere Kinder bedingungslos in ihrem Dasein bejahen, müssen wir nicht alles, was sie tun, mit Applaus quittieren. Selbst wenn wir die sich gerade an der Macht befindlichen Politiker und ihre Politik als bestehende Wirklichkeiten akzeptieren, können wir gegen Machtstrukturen protestieren und agitieren, wenn wir nicht mit ihnen übereinstimmen. 

Wenn wir aus einem sozialen, ethischen, ökologischen oder ökonomischen Gesichtspunkt Kritik an Menschen und Organisationen, an Verhaltensweisen und Ideologien üben, setzen wir deren Existenz voraus und schaffen sie mit unserem Protest nicht sofort ab. Ohne die Verhältnisse, die uns aufregen, gäbe es unsere Aufregung nicht. Und vor unseren Einsprüchen gab es diese Verhältnisse auch deshalb in dieser Form, weil wir keine Einsprüche erhoben haben.

Es gibt Zusammenhänge, in denen wir wollen, dass ein Teil der Realität verschwindet, sofort, für immer: Lästige Körpersymptome wie Zahnschmerzen oder Kopfweh, menschenverachtende Verhaltensweisen von Zeitgenossen, ungerechte politische Systeme usw. Da akzeptieren wir nicht einmal die Existenz dieser Phänomene, sondern fühlen uns in jedem Recht, dafür zu sorgen, dass sie aus dem Bereich des Wirklichen gelöscht werden.

Allerdings ist das Nicht-Akzeptieren keine Hilfe. Bloß weil wir nicht wollen, dass wir Zahnweh haben, hört es nicht auf. Erst wenn wir akzeptieren, was ist, auch wenn es arg schmerzt oder unerträglich schlimm ist, können wir etwas dagegen tun. Aus dem Akzeptieren erwächst das Handeln, umgekehrt funktioniert es nicht.

In der Organisationsplanung ist das erste die Bestandsaufnahme: Wo liegen die Stärken und Schwächen? Dieser Schritt entspricht der Akzeptanz: Was besteht, muss nicht unseren Idealvorstellungen entsprechen, aber wir müssen es erst einmal in seinem Bestehen annehmen, sonst wissen wir gar nicht, was wir wie verändern sollten.

Fehlertoleranz


Bei allen Veränderung- und Gestaltungsprozessen, mit denen wir in die Wirklichkeit eingreifen, können Fehler auftauchen. Auch hier ist das Akzeptieren der erste Schritt zur konstruktiven Veränderung. Solange wir über den Fehler hadern, können wir nicht aktiv werden, sondern hängen an unseren enttäuschten Erwartungen fest und lähmen uns dadurch. Das ist der Grund, warum es uns manchmal schwer fällt, einen Fehler zuzugeben. Wir wollen vor uns selber und vor unseren Mitmenschen nicht als fehlerhafter Mensch dastehen, selbst wenn wir wissen, wie sehr das Fehlermachen zum Menschsein gehört und wie wichtig es für das Lernen und Weiterentwickeln ist. Wir wollen die Wertschätzung der anderen nicht verlieren, von der wir annehmen, dass sie von unserer Fehlerlosigkeit abhängt.

Im Akzeptieren des Moments verbinden wir uns mit seinen Möglichkeiten und Impulsen. Wir vertrauen darauf, dass das Beste, was zu tun ist, von selber kommt. Wenn wir den Moment ganz annehmen, kann aus ihm entspringen, was als nächstes kommen soll. So tauchen wir in das Fließen des Lebens ein, in dem ein Ja auf das nächste Ja folgt, ohne dass wir auf unsere Urteilskraft und Kritikfähigkeit verzichten müssen. Denn auch diese Impulse entwickeln ihre beste Form, wenn sie aus dem Akzeptieren kommen können.


Warum fällt uns das Akzeptieren so schwer?


Unser Organismus ist darauf programmiert, angenehme Erfahrungen zu suchen und unangenehme zu vermeiden.  Der bewusste Schritt des Akzeptierens ist eine höhere Fähigkeit, die dadurch möglich wird, dass wir Distanz zu unseren körperlichen Empfindungen, Bedürfnissen und Gefühlen aufbauen können. In Situationen, in denen wir uns bedroht fühlen, wird diese Fähigkeit geschwächt. Wir werden von der Macht der unbewussten Schutzmechanismen überrollt.  Unsere Innenwelt übernimmt die Vorherrschaft, die Außenwelt wird in Gut und Böse eingeteilt, eine Dualität, die der Vielfalt der Realität nicht gerecht werden kann. Wir stellen uns gegen die Wirklichkeit, als wüssten wir besser, wie sie sein sollte. 

Die Übung des Akzeptierens beginnt dort, wo wir unsere mental konstruierte Gefahrenzone verlassen haben und die Brücke zwischen der Innen- und der Außenwelt wieder begehbar machen. Wir verlassen die Arena des Kampfes (der Abtrennung) und ersetzen sie durch den Geist des Spiels (der Verbindung). Die Wirklichkeit darf so sein, wie sie ist, und wir ebenso, das ist die Regel des Spiels. Wir anerkennen uns und wir anerkennen all die anderen Elemente der Wirklichkeit in ihrem Sosein. In der wechselseitigen Akzeptanz entsteht in müheloser Weise die kreative Entfaltung, an der unsere Handlungen mitwirken. Auf dieser Ebene leben wir unser Leben gewissermaßen ohne unser Zutun. Und es lebt sich besonders gut mit unserer dankbaren Teilhabe.

In diesem Sinn danke ich allen Leserinnen und Lesern von Herzen für ihr Mitgehen mit dem, was mir immer wieder zu- und einfällt. Es verschafft mir ein besonderes Gefühl der Verbindung, in vielen Fällen gar nicht zu wissen, wer die rezipierenden MitgestalterInnen dieser Seiten sind.

Sonntag, 17. Dezember 2017

Trauma und Sinnsuche in der Dissoziation

Unter Dissoziation wird die Fähigkeit verstanden, Bewusstsein und Körper zu trennen und in eine von der momentanen Realität losgelöste Erlebenssphäre abzutauchen. Es werden bei diesem Vorgang entsprechende Schaltungen im Gehirn aktiviert bzw. deaktiviert, wodurch beispielsweise der visuelle Eindruck entstehen kann, sich selber von außen zu beobachten. Missbrauchte Kinder berichten, dass sie die schreckliche Szene am Fensterbrett sitzend beobachten konnten. Folteropfer erzählen, dass sie aus ihrem gequälten Körper herausschwebten und dabei ein Triumphgefühl erlebten.

Der Sinn der Reaktion liegt darin, dass sich das Bewusstsein vor massiven Schmerzen und Ängsten schützen kann. Es handelt sich um einen Überlastungsschutz, ähnlich einer Sicherung, die bei einer Überbeanspruchung von Leitungen den Strom abschaltet. Die Verbindung zum eigenen Körper wird gekappt. Um die Überflutung des Bewusstseins mit Schmerzen und Stress zu bewältigen, werden viele Nervenverbindungen abgeschaltet, während andere, für die Aufrechterhaltung des Bewusstseins zuständige Gehirnregionen aktiv bleiben, sodass der subjektive Eindruck entsteht, dass sich der Geist vom Körper trennt.

Diese Fähigkeit kann, wenn sie einmal bekannt und vertraut ist, später in ähnlich belastenden Situationen aktiviert werden. Manche Menschen mit einer ausgeprägten Traumageschichte entwickeln die spezifische Fähigkeit, sich dissoziierend aus Situationen auszuklinken, die belastend und überfordernd sind, wobei diese Fähigkeit in seltenen Fällen sogar bewusst eingesetzt werden kann, während sie meistens unbewusst auftritt. Schwer traumatisierte Patienten berichten, dass sie ihre Persönlichkeit aufteilen können: Ein Teil leidet, ein anderer tröstet, ein dritter erklärt, was los ist.

Merkmale einer Dissoziation


Die dissoziative Erfahrung fühlt sich unwirklich an, fremd in Bezug auf die gerade aktuelle Realität. Der Körper kann sich abgetrennt und unlebendig anspüren. Manche berichten von dem Gefühl, neben sich zu stehen. Im Extremfall meldet sich eine Angst verrückt zu werden oder schon zu sein. In milderer Form zeigen sich dissoziative Tendenzen im geistigen Weggehen aus einer Situation, in Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeiten und Gedankenschweifen. Wir alle kennen also Dissoziationen in mehr oder weniger ausgeprägten Gestalten.

Dissoziation und Spiritualität


Dissoziation ist nicht nur eine wirksame Methode zum Überleben während eines Traumas, sondern kann darüber hinaus sinnstiftend wirken und für tiefere spirituelle Einsichten öffnen. Es gibt viele Berichte über spirituelle Erfahrungen während einer traumatischen Erfahrung, ermöglicht durch den Dissoziationsmechanismus: Lichterfahrungen, Glückseligkeitsgefühle, Begegnungen mit Geistwesen usw.

Traumatisierte Personen suchen oft ein Leben lang nach Sinn, da im Trauma die Verbindung mit dem organischen Lebensprozess unterbrochen wurde. Der Sinn ist in der schrecklichen Situation der Traumatisierung abhanden gekommen, die Folge sind Verwirrung und Verzweiflung in einer bedrohlichen Umwelt. Dagegen kann es nur ein Gegenmittel geben, die Sinnsuche in einer Überrealität. Die Dissoziation bietet sich als Methode und als Weg an. Das Herausgehen aus einem Körper, der so viel Leiden erfahren hat und in sich trägt, dient zur Kompensation. Die lichtvolle Weite, die sich jenseits des Körpers zeigen kann, wird zum Fixstern der Sehnsucht und Ausflucht aus einer Welt der Dunkelheit.


Der finstere Körper und die strahlende Entkörperung – eine schillernde Dualität, die sich in vielen leibfeindlichen Traditionen und religiösen Strömungen findet. Sie ist aus der Psyche des Traumaopfers verständlich und nachvollziehbar. Aber in der Gestalt von spirituellen oder religiösen Lehren kann sie irreführend wirken. Denn der Zugang zur Spiritualität öffnet sich nicht in der Abspaltung vom Körper, sondern aus ihm heraus, unter Einschluss aller Erfahrungsbereiche des Menschen. Spiritualität gibt es also nur als ganzheitliche Erfahrung, nicht als Resultat von Abspaltungen.

Deshalb müssen die Traumatisierungen aufgearbeitet werden, um den vollen Zugang zur Welt der Spiritualität zu gewinnen. Die Heimat muss im Körper wiedergefunden werden. Er ist das Zentrum dieser Welt, die es nur im jeweiligen Hier und Jetzt gibt.

Menschen mit heftigerer Traumaerfahrung haben denen mit geringerer Belastung voraus, dass sie sich nicht so leicht mit der relativen Gestörtheit des Alltagslebens in der Gesellschaft zufriedengeben können. Sie suchen nach einem Sinn, der früh schon verloren gegangen ist und deshalb auch in der Welt von Leistung und Konsum nicht gefunden werden kann. Die Bekanntheit mit der Dissoziation kann den Zugang zu spirituellen Methoden erleichtern und die Phänomene, die dort auftreten, vertrauter finden. Häufig verfügen sie über eine erhöhte Sensibilität und feinere Wahrnehmungen, und sie können sich leichter für andere Wahrnehmungsdimensionen öffnen, da sie das Austreten aus der aktuellen Realität schon kennen.

Andere, die weniger massiv belastet wurden, sind besser im Lebensalltag verankert und stellen seine Eigentümlichkeiten schwerer in Frage. Sie haben weniger spektakuläre Erfahrungen mit Dissoziation (Abschweifen, Gedankenverloren-Sein, Unkonzentriert-Sein statt irritierende außerkörperliche Erfahrungen) und halten sie für normale Aspekte der Lebenspraxis. Das Relative und das Absolute erscheint ihnen weniger deutlich unterschieden, und sie vermeiden eher extreme Ausgestaltungen eines spirituellen Lebens. Wenn sie auf Sinnsuche gehen, bewegen sie sich eher graduell weiter, ohne spektakuläre Sprünge oder Durchbruchserlebnisse.

Die Verantwortung des Lehrers


Spirituelle Lehrer kann man danach unterscheiden, ob sie ihre Einsichten aus der Dissoziation gewonnen haben und deshalb Prozesse unterstützen, die mit Abspaltung verbunden sind, oder ob sie ganzheitliche und dissoziative Erfahrungen auseinanderhalten können und deshalb in der Lage sind, Menschen, die zur Dissoziation neigen, in den Körper zurückzubringen und zu körperlichen spirituellen Erfahrungen zu führen.

Manche Lehrer und Gruppenleiter arbeiten mit „bewusster Dissoziation“, sie leiten also Übungsprozesse an, in denen das Bewusstsein aus dem Körper heraus in einen jenseitigen Raum steigen soll. Dort könne sie dann an Ressourcen herankommen, die sonst unzugänglich sind. Das sind harmlose Übungen, solange die übende Person „in ihrem Körper“ „aus ihrem Körper“ herausgeht. Das Bewusstsein, im eigenen Körper verankert zu sein, sollte also nie verloren gehen, wohin auch immer die innere Fantasiereise geht. Denn solche Methoden beinhalten das Risiko, Prä-Trans-Verwechselungen zu fördern statt aufzulösen: In der dissoziativen „spirituellen“ Erfahrung wird die Traumasituation wiederholt und die Abspaltung verstärkt, wodurch auf die Aufstiegserfahrungen umso heftigere Abstürze folgen können. Statt in einem Zustand der Erlösung anzukommen, wird eine unverarbeitete Angstsituation wiederbelebt.

Es ist auch wahrscheinlich, dass Schülerinnen mit starken Dissoziationsneigungen Lehrerinnen suchen, die diese Tendenzen fördern. Sie werden fasziniert sein, wenn sie Lehren hören, die die Abspaltung und den Körper-Geist-Dualismus beinhalten, wie sie in vielen esoterischen Theorien vertreten sind. Auch kann es sein, dass auf die Lehrerin die Lichtgestalt projiziert wird, die in der ursprünglichen Dissoziationserfahrung aufgetreten ist. Von ihr wird jetzt Heilung und Befreiung erwartet, und die Schattenseiten und menschlichen Schwächen werden ausgeblendet. Umgekehrt gibt es unter solchen Lehrern viele, die gerade diese Idealisierung fördern und damit indirekt die Abtrennung ihrer Schüler von ihrer eigenen Kraft und Klarheit bestärken, obwohl sie vielleicht das Gegenteil predigen.

Dagegen helfen alle Meditationsformen, die mit dem Körper verbinden, zu einem klaren spirituellen Weg. Das konsequente Wahrnehmen von Körperempfindungen, wie sie in der Vipassana-Meditation geübt wird oder die Bewusstheit auf das Atmen, die Teil vieler Achtsamkeitsmeditationen ist, sind Beispiele dafür, wie die Tendenz zum „Ausbüchsen“, zum Abheben in außerkörperliche Sphären hintangehalten werden kann. Auch „aktive“ Meditationsformen, die mit Bewegung und intensivem Atmen verbunden sind, wirken dissoziativen Tendenzen entgegen. Hier braucht es auch keine übermächtigen und angebeteten Lehrer und Meister, sondern Menschen, die kompetent und verantwortungsvoll auf dem Weg der inneren Suche begleiten können.

Therapie und Meditation


Die Stärkung der Verankerung in der gegenwärtigen Wirklichkeit schafft Vertrauen und Sicherheit. Die Aufarbeitung der Traumatisierungen ist dennoch notwendig, aber die Erfahrungen in der körperzentrierten Meditation helfen in der Traumatherapie, die damit auf eine wichtige Ressource zurückgreifen kann. Umgekehrt erlauben die aufgearbeiteten Traumen weitere Fortschritte auf dem inneren Weg der Befreiung. In jedem Trauma sind besondere Kräfte gebunden, die das Überleben dieser Situationen ermöglicht haben. Sie stehen wieder zur Verfügung, wenn die Ängste und Schmerzen durchlebt sind. Die Arbeit lohnt sich, die dissoziativen Tendenzen im Alltag werden weniger, die Präsenz steigt und damit wird das Leben in seiner lebenswerten Seite offenbar, und die spirituellen Erfahrungen beschränken sich nicht mehr auf die Retreats und Seminare, sondern werden zur tragenden Schwingung des tagtäglichen Lebens.

Zum Weiterlesen:

Dissoziative Weltbilder
Prä- und transrationale Erfahrungen unterscheiden

Mittwoch, 13. Dezember 2017

Illusion und Lebenspraxis

Wie können wir die Erkenntnisse der Wissenschaften, die uns zeigen, dass unser Unbewusstes sowohl zeitlich wie logisch vor unserem Selbst-Bewusstsein kommt, für unser Selbst-Bewusstsein nutzen? Es ist wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, was sich in uns abspielt, auch wenn es mit Konzepten, die wir von uns selber aufgebaut haben, nicht zusammenpasst. Es ist aber auch wichtig, dass wir wissenschaftliche Theorien als Versuche verstehen, die Wirklichkeit besser einzuschätzen, das zwingt uns aber nicht dazu, das wissenschaftliche Modell als die bessere Wirklichkeit anzusehen. Vielmehr gilt es, jedes dieser Modelle mit unseren anderen Lebensmodellen und mit unserer subjektiven und sozialen Lebenspraxis in Verbindung zu bringen.

Selbst-Vertrauen


Unser Leben wurde und wird mit großer Kompetenz von unserem Unbewussten gestaltet. Alles, was wir bisher geschafft und erreicht haben, verdanken wir den inneren Systemen, die Tag und Nacht arbeiten und einen Bruchteil ihrer Tätigkeit unserem Bewusstsein weitergeben. Wenn wir uns das vergegenwärtigen, können wir uns ein wenig zurücklehnen und unsere Sorgen einbremsen. Wir können (und müssen) unserem Unbewussten vertrauen und anerkennen, was es leistet. Wir brauchen uns selber nicht mehr so wichtig zu nehmen und können leichter mit dem Leben und seinen Herausforderungen mitschwingen, wenn wir zugeben, dass wir eher Zuschauer als Gestalter sind. Die zentrale exekutive Struktur wird es schon richten.


Selbst-Schätzung


Da wir uns viel in unserem Denken aufhalten, das wir alles unserem bewussten Selbst zuschreiben, nehmen wir uns enorm wichtig. Wir bestätigen uns fortlaufend, dass wir das Zentrum der Welt sind. Wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass unser Leben eigentlich von unserem Unbewussten geführt wird und wir nur die Kommentatoren oder Zuschauer dabei sind, können wir ein Stück bescheidener werden und unser Ich in seiner Wichtigtuerei milde belächeln. Da habe ich zu wenig Wertschätzung bekommen, dort hat jemand nicht bemerkt, wie toll ich bin usw. – all diese Kränkungen, die wir uns immer wieder selbst zufügen, weil wir ein überspanntes Konzept von uns selbst aufgebaut haben, können wir leichter loslassen, wenn wir anerkennen, dass wir eine recht einfache und kleine Rolle in unserem Leben spielen verglichen mit den enormen Aktivitäten, die unsere unbewussten Abläufe regeln. Wir sind so gut oder so schlecht, wie es unser Unbewusstes und seine Verfasstheit zulässt. Schätzen können wir, was da alles zu unserer Zufriedenheit läuft, ohne unser bewusstes Zutun.



Unser Ego ist vielleicht beleidigt, weil es mit der Kränkung seiner Wichtigkeit nicht einverstanden ist. Es schwankt mit Vorliebe zwischen Über- und Unterschätzung und sieht das als wichtige Anpassungsleistung. In Wirklichkeit sind es nur meist unbeholfene Versuche, sich an die Erwartungen anderer anzupassen, gesteuert von unbewussten Ängsten, auf die sich das Ego um keinen Preis einlassen will.

Erweiterung der Toleranz


Wenn wir die Theorie ernstnehmen, kann sie eine Grundlage für eine Erweiterung von Toleranz als zwischenmenschlichem Prinzip liefern. Wir unterstellen uns gegenseitig oft Absichten hinter den Handlungen, die uns missfallen. „Du wolltest mir wehtun.” „Du hast absichtlich nicht an mich gedacht.” usw.  Laufend machen wir Fehler, aber die Absicht spielt dabei keine Rolle, wir wären ja blöd, Fehler machen zu wollen. Ebenso laufend vermuten wir hinter den Fehlern anderer, die uns betreffen, schlechte Motive.

Wir sollten allerdings zur Kenntnis nehmen, dass es mit dem Wollen und den Absichten nicht weit her ist. Wir können eigentlich die bewusste Person nicht beschuldigen, sie kann nichts für die von ihrem Unbewussten initiierte Handlung oder Nichthandlung. Wenn wir psychologisch geschult sind und Freuds „Psychopathologie des Alltagslebens” gelesen haben, neigen wir dazu, die Klage an das Unbewusste der anderen Person zu richten: „Du bist so unbewusst, so achtlos, so rücksichtslos” usw. Allerdings geht diese Klage ins Leere, weil das Unbewusste keine Verantwortung tragen kann, sondern sich nur aus gesammelten Informationen speist, die zu Mustern zusammengefasst sind. Wenn man die Theorie ins eigene innere Verstehen überträgt, kann sie helfen, den Fehlern anderer mit Toleranz und Verständnis zu begegnen, statt sie mit Beschuldigungen, Abwertungen und Anklagen zu überschütten.

Freilich wenn Böses getan wird, Gesetze und wichtige Regeln des Zusammenlebens verletzt werden, muss der Täter mit aller Konsequenz darauf aufmerksam gemacht werden. Das stärkt den sozialen Zusammenhalt, fordert eine Verhaltensänderung und übt Druck aus. Dieser Einfluss wirkt auf die unbewusste exekutive Struktur im Täter und kann dort eine „Einsicht” bewirken, die allerdings nur wirksam werden kann, wenn sie auf der unbewussten Ebene ins persönliche Narrativ aufgenommen wird. Und, so müssen die Vertreter der Theorie argumentieren, alle Handlungen, die Böses mit Konsequenzen und Strafen eindämmen wollen, stammen selber wieder aus dem Pool der unbewussten Systeme, die auch alle sozial förderlichen Impulse beinhalten. 


Verbundensein


In unserem Unbewussten sind Unmengen von Informationen aus unserer Umwelt gesammelt. Wir tragen die Informationen aus all unseren Begegnungen mit anderen Menschen in uns, und sie tragen das, was sie mit uns erlebt haben, in sich. Wir können schwer auseinanderhalten, was von dem, was wir denken, fühlen oder tun, genuin aus uns selber kommt oder aus anderen Quellen gespeist ist. Genauer gesagt, gibt es so etwas wie das eigentliche Selbst gar nicht, weil das, was wir sind, immer schon ein Sammelsurium von äußeren und inneren Einflüssen darstellt. Einzig die Ordnung und Gewichtung all dieser Prägungen ist es, die uns besonders macht. Die Inhalte hingegen sind Allgemeingut. In diesem Sinn sind wir mit allen um uns herum in beständiger Verbindung und in fortlaufendem Austausch, und die Vorstellung von der selbständigen Abgetrenntheit von den anderen, die sich unser Bewusstsein zimmert, ist eine maßlose Übertreibung.


Willenskraft und Dankbarkeit


Wie oben erwähnt wurde, haben wir alle vielfältige Erfahrungen über unser Wollen, seine Möglichkeiten und Grenzen gesammelt. Wir brauchen die subjektive Geltung unserer Willenskraft nicht zu suspendieren, selbst wenn wir wissen, dass sie eine nachträgliche Rolle ausübt; sobald wir den Impuls spüren, eine üble Angewohnheit abzustellen, folgen wir einem unbewusst wirksamen Vorgang. Aber warum nicht? Wir können mit unserem Unbewussten zufrieden sein, wenn es sich in eine von uns als sinnvoll und förderlich empfundene Richtung entwickelt. Und wir können für uns die Annahme hegen und pflegen, dass das Wohlwollen und die Dankbarkeit, die wir uns selbst angedeihen lassen, solche Reaktionsweisen unserer inneren Systeme verstärkt, ob das nun wissenschaftlich haltbar ist oder nicht. Denn das Wohlgefühl, das eine positive Einstellung zu uns selber begleitet, ist auch etwas, das unser unbewusstes System anstrebt und schätzt.
Und für unser Leben gilt immer, dass die Praxis vor der Theorie kommt.


Therapie: Bewusste Umgestaltung des Unbewussten


Beim therapeutischen Arbeiten zielen wir mit bewusster Intention darauf, das Unbewusste zu verändern, Hintergrundaktivitäten und ihre Muster zu beeinflussen. Bloß an der Oberfläche mit verbaler Interaktion zu arbeiten, in der das Bewusstsein sich selber beleuchtet, kann nicht weit führen. Es gleicht zwei Menschen, die nach einem Kinofilm darüber reden, wie der Film anders hätte laufen können. Therapie kann nur verändernd wirken, wenn sie auf die unbewusst operierenden Systeme Einfluss nimmt, also Techniken nutzt, die das Bewusstsein umgehen, indem sie Zugänge zu den unbewussten Strukturen öffnen. Wann immer der innere Sinn, das Nach-innen-Spüren eingesetzt wird, kommen Informationskanäle zum Tragen, die den Kontakt zum Unbewussten aufbauen.

Wenn wir diese Kanäle nutzen, bekommen wir einen Einblick in die Funktionsweise unseres Unbewussten. Wir erkennen die Muster, nach denen unsere Reaktionsweisen geformt sind. Wir spüren, welche Gefühle sich dabei aktivieren. Sobald wir das tun, kommen wir zur Erfahrung, dass dieses Bewusstmachen des Unbewussten das Unbewusste in uns verändert. Wir sind auf der Ebene des Unbewussten lernfähig, und Psychotherapie kann als das Unterfangen verstanden werden, durch Einsatz von bewusster und fokussierter Aufmerksamkeit solche Lernprozesse in Gang zu setzen.

An dem Ansatz von Oakley und Halligan kann ich nicht verstehen, warum gerade diese Perspektive des Lernens ausgelassen wurde. Die sozialen und kulturellen Einflussgrößen auf unser Unbewusstes werden anerkannt, nicht jedoch die Einflussmöglichkeiten, die von unserem eigenen Bewusstsein kommen. Selbst wenn dieses von unserem Unterbewusstsein abhängig ist, hat es vielfältige Möglichkeiten, zurückzuwirken.

Therapie ist immer ein soziales Geschehen, bei dem viele Faktoren im interpersonellen Austausch eine Rolle spielen. Sehr wichtig scheint nach der hier diskutierten Theorie die Einflussnahme auf das Unbewusste zu sein, die vom Unbewussten des Therapeuten ausgeht, also die Abläufe der Übertragung und Gegenübertragung. Was geredet wird, ist offensichtlich weniger wichtig als wie es gesagt wird, die Atmosphäre wichtiger als die Inhalte.

Setzen wir in der Therapie die Körpererfahrung als Informationsquelle ein, so ist in diesem Zusammenhang interessant, was passiert, wenn wir z.B. das autonome Nervensystem, das „unterhalb“ des Exekutivzentrums operiert und dieses in grundlegender Weise beeinflusst, durch verstärktes Atmen auf ungewöhnliche Weise aktivieren. Wir können vermuten, dass es dadurch zu vielfältigen Anpassungsprozessen in den exekutiven Strukturen kommt, die uns ermöglichen, neue unbewusst gesteuerte Erlebens- und Verhaltensweisen aufzubauen.


Ohne Top-Down-Kontrolle keine sinnvolle Lebenspraxis


Was wir für viele Situationen unseres Lebens brauchen, ist die Verbesserung der Top-down-Kontrolle, also der Möglichkeit, über unser Bewusstsein unser Unbewusstes zu regulieren. Wir wollen unseren Gefühlen nicht hilflos ausgeliefert sein, wir wollen, wenn wir voll gestresst sind, wieder runterkommen können. Wir wollen Reaktionsweisen ändern, mit denen wir unseren Mitmenschen auf die Nerven gehen.

Auch wenn die Oakley-Halligan-Theorie diese Möglichkeit leugnet, sollten wir der Praxis den Vorzug vor der Theorie geben, also zumindest die Als-ob-Schleife als Hypothese annehmen: Wir setzen unser Bewusstsein für unsere Ziele ein, als ob wir dazu in der Lage wären. Offensichtlich üben wir eben damit einen informativen Einfluss auf unser Unbewusstes aus, das von diesem vor allem dann prominent aufgezeichnet wird, wenn wir ähnliche Aktionen wiederholen. Übung macht die Meisterschaft, d.h. die Kontrolle von oben nach unten. Je öfter wir etwas durchführen, desto stärker wird die Bereitschaft unseres Unbewussten, diese Aktionen von sich aus zu initiieren und desto selbstverständlicher werden sie.

Häufig ist die Verhaltensänderung besonders dann wirksam, wenn sie sozial unterstützt ist, wenn also Anregungen, Ermutigungen und Bestätigungen von anderen Menschen kommen, die dann ins Unterbewusste einfließen und dort motivierende narrative Strukturen aufbauen.

Wir können die Oakley-Halligan-Theorie nur dann in unserem Leben verwenden, wenn wir sie mit unserer Lebenspraxis verknüpfen. Dann können wir auch gar nicht anders, als von einer intensiven Kooperation und Kommunikation zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten auszugehen und diese permanent zu nutzen. Es läuft dabei eine wechselseitige Einflussnahme ab, die zwar aus der theoretischen Perspektive permanent relativiert werden kann, weil jede Aktivität Potenziale voraussetzt, die nur unbewusst  zugänglich sind. Aber offenbar gelingt es, gerade diesen Potenzialen und ihrer tragenden Struktur wichtige Impulse aus einer bewussten Intention zu geben. 


Eine Theorie ist eine Theorie


Die hier diskutierte Theorie will theoretische Annahmen korrigieren und einem neuen Menschenbild zum Durchbruch verhelfen, das das Bewusstsein als nachträgliches Epiphänomen darstellt. Sie liefert aber keine Beiträge für das Verständnis der gegenläufigen Prozesse, in denen das Bewusstsein die unbewussten Systeme verändert. Die Herabstufung des Bewusstseins zu einem Nebenprodukt und Seitenphänomen erweist sich nur solange gültig, als die vielfältigen Erfahrungen von bewusstseinsinitiierten Erlebens- und Verhaltensveränderungen nicht berücksichtigt werden. Nehmen wir zur äußeren Perspektive (Dritte-Person-Perspektive) die innere (Erste-Person-Perspektive) hinzu, wird ihre Einseitigkeit klar. Wir, für uns selbst, in unserem unmittelbaren bewussten Erleben, können mit der Nachträglichkeitstheorie des Bewusstseins nichts anfangen. Wir sind wie die

Nehmen wir die aktive Rolle unseres Bewusstseins für unsere Lebensgestaltung hinzu, so wird auch verständlich, warum uns die Evolution mit diesem „Nebenprodukt“ ausgestattet hat, das im Modell von Oakley und Halligan in seiner Nutzlosigkeit etwas einsam inmitten einer Welt voll von sinnvollen Phänomenen herumhängt.


Zum Weiterlesen:
Erzeugen wir unsere Gedanken?
Die Illusion des bewussten Selbst
Die Ko-Produkion der Wirklichkeit und das Absolute

Dienstag, 12. Dezember 2017

Die Illusion des bewussten Selbst

Die zentrale exekutive Struktur
(CES nach Oakley/Halligan)
Wie im vorigen Blogbeitrag beschrieben, nehmen viele Forscher an, dass unser Gehirn in uns eine fortlaufende Geschichte aufzeichnet, mit allen Erfahrungen, die wir so machen. Aus diesem Datenmaterial werden dann nach bestimmten Filterkriterien Vor-Gedanken ausgewählt, die uns dann als Gedanken bewusst werden. Diese Filter sind nach Überlebenskriterien ausgerichtet und sind deshalb auch mit Gefühlen verbunden. Sie berücksichtigen auch unsere aktuellen Wahrnehmungen und versuchen, relevante Informationen für die jeweilige Situation zu liefern.

Wir sehen in der Entfernung die Person X und fühlen uns zu ihr hingezogen. Es kommen gleich die Gedanken, was wir mit der Person reden könnten und ein paar Erinnerungen an das letzte Treffen, das so nett war. Schon bewegen wir uns in die entsprechende Richtung. Im anderen Fall bemerken wir Person Y auf der anderen Straßenseite, und ein unangenehmes Gefühl kommt auf, begleitet von Gedanken an eine schwierige Situation mit dieser Person. Wir wenden uns ab und tun so, als würden wir die Person nicht bemerken.

All das spielt sich in unserem Bewusstsein ab, aber wird gelenkt von gespeicherten Erfahrungen, die unsere Stimmungslage beeinflussen, ob wir wollen oder nicht. Die Stimmungslage wiederum lenkt unsere Handlungen, und wir sind dabei noch davon überzeugt, dass wir, also unser bewusstes Selbst, diese Handlungen gewählt hat.

Mit dieser Illusion machen die Gehirnerforschungen der letzten Jahrzehnte langsam, aber sicher Schluss. Unser bewusstes Selbst, auf das wir so selbstbewusst stolz sind, ist im besten Fall eine zeitweilig aktive Instanz, die den Impulsen, die aus dem Unterbewussten kommen, nachhinkt und, nachdem schon alles entschieden ist,  so tut, als wäre sie der große Macher.

Die zentrale exekutive Struktur 


Zum näheren Verständnis der Theorie gehe ich hier etwas genauer auf die Zusammenhänge ein. Der Oakley-Halligan-Ansatz, von dem hier die Rede ist, geht von einer in den unbewussten Hirnarealen operierenden Struktur aus, an der viele Systeme beteiligt sind, und die den laufenden Betrieb verwaltet. Sie heißt zentrale exekutive Struktur (CES) und trifft alle Entscheidungen nach Prüfung und Bewertung der einlangenden Informationen. In dieser exekutiven Struktur laufen die Informationen zusammen, um sie in sinnvolle Handlungen zu übersetzen.

Ein Teil dieser Struktur heißt „persönliches oder individuelles Narrativ“, und dort sind die Erlebnisse der betreffenden Person aufgezeichnet und werden laufend ergänzt (genauer gesagt: Es werden nicht Ereignisse aufgezeichnet, sondern eine personalisierte Erzählung von diesen Ereignissen) . Die Konstrukte des Selbst (für wen oder was wir uns halten) sind auch in dieser Struktur enthalten, ebenso wie Landkarten des Körpers (die mentalen Repräsentationen unserer Körperteile) und vieles andere mehr. Die Speicherung umfasst den Inhalt, aber nicht dessen Herkunft. Nicht enthalten sind die Regelkreise für die grundlegenden Lebensvorgänge: Atmung, Verdauung, Schlafrhythmen und individuelle Muskelkontrolle.

Die Schaffung eines stimmigen persönlichen Narrativs bietet nach der Theorie einen evolutionären Vorteil für das einzelne Individuum, weil dadurch ausgewählte Inhalte geteilt werden können, die dann allen dienen. Dieser soziale Vorteil entsteht, wenn private Inhalte wie Gedanken, Ideen, Konzepte, Glaubensannahmen, Abstraktionen, Empfindungen, Gefühle, Triebe und Sorgen aus dem eigenen Narrativ mitgeteilt werden, implizit durch Körpersprache und explizit verbal und über andere Kanäle wie das Schreiben oder die verschiedenen Formen der Kunst. Auf diese Weise prägen die Inhalte der unbewussten Kontrollsysteme die gesamte Kultur.

Was folgt daraus?


Soweit die Theorie in Umrissen. Was bedeutet sie nun für die Praxis? Macht es einen Unterschied, wenn wir davon ausgehen, dass unsere bewusste Mitwirkung in unserem Leben relativ bedeutungslos ist? Und macht es dann überhaupt noch Sinn, an unserer „Bewusstheit“ zu arbeiten? Der Ansatz von Oakley und Halligan beruht auf  einer klaren Unterordnung des Bewusstseins unter das Unbewusste. Er geht aber nicht darauf ein, dass durch die Tatsache, dass sich das Unbewusste laufend fortbildet, auch das eigene Bewusstsein mit seinen Intentionen zu einer Beeinflussungsquelle für das Unbewusste werden kann, also in der Weise kausale Einflüsse ausübt, in der auch andere Informationsquellen aus der Umwelt der zentralen exekutiven Struktur Wirkungen erzeugen und Veränderungen hervorrufen.

Die Rolle des Bewusstseins als Instanz der Verhaltenssteuerung hat möglicherweise ausgedient. Die Konsequenzen dieser Desillusionierung vor allem in Hinblick auf die persönliche Verantwortung und den freien Willen werden heiß diskutiert, darum geht es aber hier im Moment nicht.

Wie steht es um die Kontrolle von oben nach unten?


Vielmehr interessiert mich die Frage, ob die wissenschaftlich gut abgesicherte Erkenntnis, dass die unbewusste Handlungsplanung alles Nötige für die Entscheidungsprozesse erledigt, bevor wir uns dessen bewusst werden, zur Folge hat, dass wir keinen bewusst gesteuerten Einfluss auf die vorausliegenden unbewussten Entscheidungsprozesse nehmen können. Gibt es nach diesen Befunden noch so etwas wie eine Top-Down-Kontrolle, also die Einwirkung von bewusst gewählten Intentionen auf die unbewusst ablaufenden Selektions- und Festlegungsmechanismen? Können wir uns z.B. „echt“ entscheiden, Gewohnheiten, die wir nicht mehr haben wollen, zu beenden und stattdessen andere Verhaltensweisen zu wählen? Liegt es in unserer Macht, mit dem Schokonaschen oder Fernsehgewohnheiten aufzuhören oder geht das nur, wenn unser Unterbewusstsein das schon längst so entschieden hat, ohne dass wir wissen können, wie wir diese Disposition in unseren Tiefen herstellen können?

Wir alle kennen zweierlei Erfahrungen: Einmal, dass es schwer ist, alte und liebgewonnene Gewohnheiten zu ändern, auch wenn wir diese Liebesbeziehung unbedingt beenden wollen, und zum anderen, dass es doch gelingt, mit dem Rauchen, Kaffeetrinken oder Computerspielen aufzuhören, manchmal in Etappen, manchmal auf einen Schlag. Wir können auch auf Erfolge der Selbstüberwindung zurückblicken – vielleicht wollten wir um keinen Preis in die Schule gehen und haben es dann doch viele Jahre lang ausgehalten; vielleicht hatten wir Angst vor dem Wasser und können jetzt mit Begeisterung schwimmen; vielleicht konnten wir uns nie vorstellen, jeden Tag zu meditieren und missen es jetzt, wenn wir einmal wirklich keine Zeit finden. Wir haben immer wieder mal einen inneren Schweinehund überwunden, und zu anderen Zeiten war es partout nicht möglich. Wir können genügend Beispiele aus unserem Leben aufzählen, die davon zeugen (und uns selber überzeugen), dass unser Wille unser Leben steuert, je nachdem, ob er stark oder schwach ist.

Gibt es dennoch so etwas wie Selbstbeeinflussung?


Wären wir unserem Unterbewusstsein gegenüber machtlos, hätten alle Appelle an Selbstverantwortung, Ich-Stärkung, Zusammenreißen usw. keinen Sinn. Die Prediger der Willensstärkung und der Manifestation aller Wünsche mit der Kraft des Wollens würden nur leere Floskel verbreiten und illusionäre Versprechen verkaufen. Joe Dispenza z.B. schreibt: „Zwei unserer besonders einzigartigen menschlichen Leistungen sind, dass wir über die Fähigkeit von Selbstreflexion und Willensfreiheit verfügen.“ Alles, was dieser Seminarleiter, der mit Gruppen von über 1000 Leuten arbeitet, schreibt und anbietet, beruht auf der Annahme, dass wir in der Lage sind, mittels unseres Bewusstseins unsere inneren Abläufe in eine von uns gewünschte Richtung zu lenken.

Was hätte auch psychotherapeutisches Arbeiten für einen Sinn? Wozu sollte ein Ich gestärkt werden, damit es Gefühle meistern und das Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten kann? Schließlich wären es ja doch die Kräfte des Unbewussten, die Regie führen, gleich was das Ich sich einbildet. Dennoch zeigen viele Beispiele aus der praktischen Arbeit mit Klienten, wie sie mehr und mehr das Gefühl bekommen, ihr Leben selber, unabhängig von Prägungen und Ängsten, führen können. Sie können sich von Zwängen befreien und innere Blockaden überwinden.

All diese Beispiele setzen offensichtlich voraus, dass es eine effektive Kontrolle von oben, von den bewussten exekutiven Funktionen der Großhirnrinde, nach unten, in die limbischen Gefühlsregionen geben muss. Es gibt auch wissenschaftliche Untersuchungen, die belegen, dass durch Übungen in dieser Form der Einflussnahme die entsprechenden Vermittlungszentren im Gehirn nachhaltig gestärkt werden, während z.B. die Angstspeicher im limbischen System geschwächt und verkleinert werden. Es gibt die einfachen Messungen mit dem Autogenen Training, die belegen, dass der selbstsuggestive Satz: „Der rechte Arm ist schwer“ den Muskeltonus in diesem Arm verändert. Es gibt zahllose Belege dafür, dass langsames und regelmäßiges Atmen, das vom Bewusstsein gesteuert wird, die Herzschlagvariabilität verbessert usw.

Allerdings, so werden die Vertreter der erörterten Theorie einwenden, benötigen wir für alle Impulse zur Verhaltensänderung entsprechende neuronale Voraussetzungen – Hormone, Botenstoffe, Dispositionen unseres vegetativen Nervensystems usw., die alle einer unbewussten Steuerung und Verwaltung unterliegen.

Dreht sich hier die Argumentation im Kreis? Handelt es sich um ein Henne-Ei-Problem? Oder lesen die Forscher einer Richtung nichts von den Forschern der anderen Richtung? Wie können wir die Forschungen auf der einen Seite verbinden mit denen, die gegenläufige Beweise aufstellen? Und wie können wir all diese Erkenntnisse mit unserer Lebenspraxis verbinden? Dazu mehr im nächsten Blog.


Zum Weiterlesen:
Erzeugen wir unsere Gedanken?
Geistwanderung und mentale Autonomie

Donnerstag, 30. November 2017

Erzeugen wir unsere Gedanken?

Erzeugen wir unsere Gedanken oder erzeugen uns unsere Gedanken? So könnten wir fragen, wenn wir uns mit den Schlussfolgerungen auseinandersetzen, die immer mehr Forscher aus verschiedenen neurophysiologischen Befunden ziehen.

Lange Zeit waren die Denker und Denkforscher der Meinung, dass Gedanken, Bewertungen, Glaubensannahmen und all die anderen Denkinhalte, die tagtäglich unseren Kopf füllen, Teile dessen sind, was man mit Bewusstsein bezeichnet. Deshalb nehmen wir auch an, dass wir diese Gedanken bewusst erzeugen, indem wir sie denken. Dem widersprechen nun Forscher, die Belege dafür gefunden haben, dass die Gedanken nicht aus unserer persönlichen Bewusstheit stammen, sondern dass sie in unbewusst ablaufenden Systemen entstehen, die im Hintergrund laufen.

Das würde bedeuten, dass wir unsere Gedanken nicht bewusst auswählen, sondern dass wir uns ihrer nur bewusst werden, wenn sie schon fabriziert sind und nachdem sie sich von sich aus in unser Bewusstsein gedrängt haben. Solche Ansichten widersprechen der großen Tradition des Denkens, die vom autonomen Denk-Subjekt ausgeht, das seine Gedanken steuern, formen, entwickeln und verändern kann. Was heißt dann noch „Nachdenken“, „Hinterfragen“, „Reflektieren“?


Innenschau


Wenn wir nach innen in unseren Kopf spüren, mit dem Ziel, unseren Gedanken beim Entstehen „zuzuschauen“, werden wir leicht erkennen, dass sie „von irgendwo her“ kommen. Wir beginnen damit, uns den Kopf als leer vorzustellen und merken dann, dass die Gedanken vom Rand dieses leeren Raumes in ihn eindringen und dabei Gestalt annehmen, wie Personen, die aus dem Dunkel langsam ins Licht treten. Es wird in dieser Innenschau ganz offensichtlich, dass es die Gedanken schon geben muss, bevor sie ins Bewusstsein treten. Sie werden aber erst durch dieses vom Hintergrund in den Vordergrund-Kommen zu Gedanken. Wir „wissen“ ja nicht, was sie vorher – oder im Hintergrund waren.


Studien und Schlussfolgerungen


Zwei britische Forscher, David A. Oakley vom University College London und Professor Peter Halligan von der Cardiff University, haben aus verschiedenen Untersuchungen den Schluss gezogen, dass wir unsere Gedanken nicht bewusst und absichtlich wählen, sondern dass sie uns einfach nur bewusst werden. So zeigen Experimente, dass unser Gehirn gleichermaßen reagiert, wenn der Arm von einem Flaschenzug gehoben wird oder als Folge einer hypnotischen Suggestion, während beim absichtlichen Armheben ganz andere Hirnareale aktiv werden. Andere Studien und viele praktische und klinische Erfahrungen mit Hypnose belegen, dass unsere Stimmungen und Gedanken durch Suggestionen, also durch die Beeinflussung des Unbewussten verändert werden können. 


Daraus folgern die Wissenschaftler, dass die unbewusst operierenden Systeme unseres Gehirns in der Lage sind, „alle psychologischen Aktivitäten durchführen können, von denen traditionellerweise angenommen wurde, dass sie vom ‚Bewusstsein' abhängen. In Übereinstimmung mit dieser letzteren Ansicht wurde auch argumentiert, dass die bewusste Kontrolle des Verhaltens eine reine Illusion darstellt.“


Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass auch Bewegungsabläufe zunächst in den unbewussten Systemen vorbereitet werden und „dass die Bewusstheit über die Absicht zum Bewegen erst dann erfahren wird, wenn die Vorbereitung Teil eines fortlaufenden, unbewusst erzeugten persönlichen Narrativs wird.“ 


Zusammenfassend heißt das, dass das persönliche Selbst-Bewusstsein ein Erzeugnis von vorher unbewusst ablaufenden Prozessen des Gehirns ist und dass es deshalb für sich keine funktionale Rolle in der Beeinflussung der nachfolgenden Gehirnzustände hat. Deshalb kann die Erfahrung der Bewusstheit als ein Epiphänomen bezeichnet werden, als etwas, das kausal entstanden ist, ohne selbst eine kausale Wirkung auszuüben, also ein Randphänomen mit geringer Bedeutung in der unendlichen Vielfalt der Vorgänge.
(Hier zur Quelle der Zitate - Übersetzung WE)


Die persönliche Erzählung


Woher kommen all diese Gedanken? Sie kommen aus der gleichen Quelle, die auch unsere Gefühle steuert. Wir verfügen über ein autobiografisches Gedächtnis, in dem unsere Lebensgeschichte abgespeichert ist. Der Speicher wird laufend auf den neuesten Stand gebracht. Diese persönliche Erzählung, die uns darüber Auskunft gibt, wer wir sind und was wir erlebt haben, existiert parallel zur persönlichen Bewusstheit, wobei die Forscher davon ausgehen, dass die letztere über die erstere keinen Einfluss ausüben kann.

Wir brauchen das persönliche Narrativ für Überlebenszwecke. Aus dem Erlebten können wir ableiten, wie sich andere Menschen verhalten und wie wir mit anderen Umweltbedingungen umgehen sollten, um auf der sicheren Seite zu bleiben. Doch dafür brauchen wir kein Bewusstsein; der evolutionäre Vorteil hat sich gerade aus dem unbewussten Funktionieren ergeben: Wir sollten, sobald es ums Überleben geht, eben nicht lange nachdenken, was denn nun das Richtige zu tun oder zu lassen wäre. Stattdessen sollte die Reaktion möglichst spontan erfolgen, um die Gefahr abzuwenden.

Wir nutzen den narrativen Speicher auch, um Ideen und Wissensinhalte und soziale Normvorstellungen, die wir im weiteren Sinn für das Überleben und die Verbesserung der Kultur benötigen, mit anderen Menschen zu teilen, wodurch die Leistungsfähigkeit der Gruppe und darüber hinaus der Gesellschaft insgesamt gesteigert wird.


Wozu dient dann überhaupt das Bewusstsein?


Die Wissenschaftler sind der Meinung, dass es die Kommunizierbarkeit des Inhalts des eigenen Narrativs ist und nicht die eigene Bewusstheit, die den Menschen ihre Überlegenheit gegenüber den anderen Lebewesen gebracht hat. Die letztere ist dann nur ein passiver Begleiter von autonom im Unterbewusstsein laufenden Prozessen, gewissermaßen der Zuschauer im Kino, der keinen Einfluss auf den Film hat, der vor seinen Augen abläuft.

Möglicherweise ist dieses Bewusstsein, auf das wir uns so viel einbilden, ein zweckfreies Überschussprodukt der Evolution, wie ein Regenbogen, der zwar schön anzuschauen ist, aber keinen praktischen Zweck hat und nur solange existiert, als es Betrachter gibt, die das Phänomen im richtigen Winkel und Abstand beobachten.


Gedankenwandern und Unterbrechungen


Soweit die Ergebnisse der zitierten Forschungsarbeiten. In einem früheren Blogartikel habe ich die Erklärungen von Thomas Metzinger zum Gedankenwandern vorgestellt. Vieles, was hier oben angesprochen wurde, deckt sich mit den Ansichten von Metzinger, doch möchte ich auch einen wichtigen Unterschied hervorheben. Das Gedankenwandern, dem wir den Großteil unserer wachen Zeit unterliegen, kann gut aus unbewusst ablaufenden Prozessen erklärt werden. Die Phänomene des Meta-Bewusstseins allerdings passen dann nicht mehr in das Schema. Wir können mentale Abläufe durch bewusste Intentionen beeinflussen. Z.B. können wir Gedankenketten unterbrechen, indem wir „absichtlich“ an etwas anderes denken. Wir können mit Gedanken spielen, indem wir sie als Objekte verkleiden oder ihnen Farben geben. Wir können uns in Zustände der Gedankenfreiheit durch Meditation begeben usw.

Zu diesen Akten des Meta-Bewusstseins zählt auch die Reflexion, das Sich-Bewusst-Machen dessen, was gerade ist. Auch hier wird der rastlose Ablauf der Gedanken unterbrochen und durch eine übergeordnete Perspektive ergänzt und relativiert. Wir erleben uns als aktiv in die innere Wirklichkeit eingreifendes Ich.

Zwar könnte es sein, dass auch die Mentalhandlungen des Meta-Bewusstseins von unbewusst ablaufenden Gehirnprozessen vordeterminiert sind, aber in diesen Fällen ist es wichtig, der Phänomenologie den Vorrang vor der Empirie zu geben. Die subjektive Erfahrung der Autonomie, also des ohne kausale Ursache Beginnens einer Aktivität, gibt sich selbst die Priorität vor jeder möglichen nachträglichen Kausalerklärung dessen, was vorher abgelaufen sein kann. In der reflexiven Selbstvergewisserung verlassen wir die empirische Beobachter- und Forscherposition und werden zu aktiv handelnden Personen, die in der Lage sind, für sich selber das Zentrum und den Ausgangspunkt des Denkens und Handelns zu definieren.

Die Relativierung dieser pragmatischen Position, ohne die kein soziales Zusammenleben funktionieren könnte, ist ein wertvolles Unterfangen, weil es uns hilft, mehr von der Komplexität unseres Inneren zu verstehen und Fehlannahmen über diese Vorgänge zu korrigieren, die sonst in sozialen Zusammenhängen zur Grundlage von Ideologien werden können. Je mehr wir verstehen, wie stark unser Unbewusstes unser Leben lenkt, desto leichter können wir uns dort entspannen, wo wir uns Fehler vorwerfen und desto besser können wir unsere reflexiven metabewussten Mentalhandlungen kultivieren. Denn deren letztlicher Zweck liegt darin, zu erkennen, dass jede Form unseres Zutuns ein Geschehen ist, dem wir uns hingebungsvoll überlassen können.

Auf dieser Ebene begegnen sich dann die Erkenntnisse der Neurowissenschaften mit den Weisheiten des spirituellen Bewusstseins - die einen kommen von außen und die anderen von innen.


Zum Weiterlesen:
Geistwandern und mentale Autonomie
Die Illusion des bewussten Selbst

Dienstag, 21. November 2017

Polaritäten lähmen, Kontinuen befreien

Wie schon ausführlicher in einem früheren Artikel dargestellt, sind Polaritäten mentale Konstrukte, die in der Realität keine Entsprechung haben. Es sind also Versuche unseres Verstandes, die Vielfalt der Wirklichkeit in überschaubare Ordnungen zu bringen. Deshalb suchen wir Polaritäten, die es uns erleichtern, Phänomene zuzuordnen, wie wir am Computer ähnliche Dateien einem gemeinsamen Ordner hinzufügen. So verfügen wir über Ordner für die Guten und die Bösen, für Schönes und für Hässliches usw.

Je mehr wir uns jedoch in unserer Erfahrung auf die Wirklichkeit einlassen, desto deutlicher erleben wir, dass es Prozesse mit graudellen Veränderungen gibt und keine polaren Sprünge. Wir erleben, wie der Tag in die Nacht übergeht, statt den Gegensatz von Tag und Nacht, wir nehmen wahr, wie Stille in Lärm und Lärm in Stille übergeht (im Außen wie in unserem Kopf), wir erfahren das langsame Ansteigen und Zurückgehen der Temperatur im Lauf eines Tages statt eines abrupten Wechsels usw.

Wir haben zum Beispiel in unserem Denken polare Kategorien für das Gute und das Böse, und es fallen uns schnell Beispiele für Individuen ein, die in den einen oder den anderen Topf gehören. Aber wenn wir auch in diese Bereiche genauer hinschauen, erkennen wir, dass es hier ebenfalls keine Eindeutigkeiten gibt. Die vermeintlich durch und durch böse Person zeigt da oder dort einen Zug von Menschlichkeit. Die andere Person, die so viele gute Charakteristika aufweist und so viele Wohltaten getan hat, ist auch nicht vollkommen in ihrem Gutsein. Von uns selber kennen wir, wenn wir ehrlich sind, mehr Kontinuitäten zwischen guten und weniger guten Aktionen als dass wir rein Gutes und rein Böses tun.


Wenn wir uns die Polarität zwischen schön und hässlich vergegenwärtigen, kommen wir mit unserer näheren Erfahrung wieder in Schwierigkeiten. Wir haben unsere vorgefertigten Schablonen, die wir nutzen, um uns auf Schönes zu fokussieren und Hässliches auszublenden, auch was Menschen anbetrifft. Hier entscheidet ein erster flüchtiger Eindruck. Sobald wir uns näher mit einer Person beschäftigen, wird uns deutlich, dass es neben der äußeren auch eine innere Schönheit gibt und dass diese wichtiger ist als das Aussehen. Je mehr wir jemanden kennen lernen, desto mehr Variable entdecken wir, und desto unwichtiger werden polare Zuschreibungen. Die Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit zeigt uns den Reichtum der Unterschiede und Nuancen, in dem das Fließen der Erscheinungen sichtbar und spürbar ist, auf das wir uns einlassen können. Die Kunst könnte gerade darin liegen, in allem, was es gibt, eine besondere Schönheit zu finden.

Mann-Frau – eine Polarität?


Auch in Hinblick auf die Geschlechter-„Dichotomie“ stellen sich Fragezeichen. Natürlich gibt es Männer und Frauen, doch lehrt uns die Gender-Debatte, dass die Unterschiede fließend sind und dass wir sie auch fließend halten sollten. In früheren vorindustriellen Zeiten (mit patriarchalen Strukturen) hat eine rigide Rollenteilung klare polare Verhältnisse begünstigt. Als Folge der sozio-ökonomischen Veränderungen in den letzten Jahrhunderten sind allerdings immer mehr Gründe für geschlechterspezifische Berufe und Beschäftigungen weggefallen. Fast alle Tätigkeiten in unserer Gesellschaft können gleichermaßen von Männern wie von Frauen ausgeübt werden, die Qualität der Arbeit hängt nicht vom Geschlecht, sondern von den individuellen Fähigkeiten und der Ausbildung ab. Es scheint sogar, dass durch die Fortschritte in der Robotik vor allem traditionelle Männerberufe verschwinden werden; die meisten Tätigkeiten, die eine besondere Kraftanstrengung benötigen, können durch Maschinen ersetzt werden. Tätigkeiten, die eher der weibliche „Natur“ zugeordnet wurden – alle sozialen Berufe, wo also Menschen mit Menschen zu tun haben, sind durch Maschinen grundsätzlich nicht ersetzbar. Hier werden sich vermutlich in Zukunft die Männer mehr engagieren.

Nun, wenn schon nicht im Gender-Bereich, so gibt es doch in Hinblick auf den Sex eindeutige Unterschiede, und die Polarität von Männern und Frauen kann gerade da nicht aufgehoben werden, so lautet das nächste Argument. Unbestritten mag bleiben, dass Männer und Frauen in ihrer unterschiedlichen Ausstattung mit Fortpflanzungsorganen für die menschliche Reproduktion notwendig sind, bzw. der naturgemäßesten Form der Fortpflanzung dienen. Doch gibt es schon länger die verschiedenen Methoden der Reproduktionsmedizin, die neue Szenarien für die Weitergabe des Lebens jenseits der Sex-Polarität erlaubt. Für die künstliche Befruchtung sind zwar Spermien, aber nicht mehr bestimmte Männer erforderlich. Dazu kommen die Diskussionen um das „Dritte Geschlecht“, die zur Zeit gerade in die europäischen Öffentlichkeiten gelangen – es geht um Personen, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen. Ihre Anliegen verweisen darauf, dass es ein Übergangsfeld zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen gibt, das offenbar von der Natur so vorgesehen ist, in ihrem Bestreben nach größtmöglicher Variabilität.

Polarität im Beziehungskampf


Die Dynamik der Zweierbeziehung, der nach wie vor prädominante Modell des Zusammenlebens, kann als pulsierendes System verstanden werden. Auf Phasen der Anziehung folgen meist Phasen des Auseinanderdriftens. Kommt es zum Streit, so ziehen sich die Partner auf die Extrempositionen zurück, in denen sie sich sicher fühlen und ihre Kräfte sammeln können – die Mitte des Begegnungsfeldes bleibt leer. Dadurch steigt die Spannung, die mehr und mehr unüberbrückbar werden kann, je stärker sich jeder in der eigenen Sicherungsposition verschanzt. Die emotionale Festung kann im physischen Rückzug bestehen oder in angriffslustiger Aggression aus den Schießscharten der eigenen Trutzburg heraus.

Typisch für solche Situationen ist der Aufbau und Ausbau von Projektionen. Statt die Distanz zu nutzen, um mehr zu sich selber zu finden, wird das Bedrohliche und Feindliche an der anderen Person besonders aufgebauscht. Auch deren Anderssein wird verschärft akzentuiert wahrgenommen, und aus dem Gedächtnis werden vorwiegend schlechte Erfahrungen aufgerufen. Im Extremfall wird der Sinn der Beziehung in Frage gestellt und ein weiterer gemeinsamer Weg bezweifelt. Die Polarisierung dient dem Selbstschutz und steht im Zeichen von tiefsitzenden Ängsten.

Denn der Beziehungsstreit ist ein Stellvertreterkampf. Es werden Szenarien aus den frühen Kindheitsphasen wachgerufen, in denen es zu Polarisierungen gekommen ist, z.B. durch Trennungserfahrungen von den Eltern oder im Zug von deren Streitigkeiten. All die damals erlebten Ängste werden spürbar, und dementsprechend werden die Schutzmechanismen hochgefahren und mit der Macht aller Emotionen verteidigt.


Erst wenn die Erkenntnis dämmert, dass die wirklich bedrohlichen Situationen schon längst überlebt sind und dass in der Gegenwart genügend Ressourcen zuhanden sind, um Auseinandersetzungen zu bewältigen, wird die Absurdität der Polarisierung deutlich. Die Sicherungszonen können verlassen werden, und im achtsamen Aufeinander-Zugehen wird die Beziehungsmitte mit Leben erfüllt. 

Polaritäten erkunden


Wenn wir uns bewusst auf die Erkundung von Polaritäten einlassen, indem wir z.B. wir mit Schnelligkeit und Langsamkeit experimentieren, erweitern wir unseren Möglichkeitsspielraum. Zugleich verstehen wir Menschen besser, die unser gegenteiliges Muster aufweisen: Als schneller agierende Menschen verstehen wir den Wert der Langsamkeit und umgekehrt. Wir gewinnen an Flexibilität, d.h. wir können leichter unser Muster ändern, und bekommen zugleich ein besseres Gefühl für die Mitte zwischen den Extremen.

Ein weiteres Beispiel ist die Erweiterung der Polarität zwischen warm und kalt. Vor hundert Jahren galt in unseren Breiten eine Zimmertemperatur von 14 Grad als optimal, und die Heizungssysteme waren danach ausgerichtet. Heute brauchen die Menschen eine Durchschnittstemperatur von 22 Grad (Tendenz steigend), um sich wohlzufühlen. Offenbar hat sich unser Wohlfühlbereich von kühler zu wärmer verschoben oder der Toleranzbereich (vielleicht auf Grund der noch unbeschränkt zur Verfügung stehenden Heizenergie) reduziert. Unsere Temperaturtoleranz ist wegen fehlender Herausforderungen durch bequemere Heizsysteme geschrumpft.

Wir können dieser Tendenz bewusst entgegensteuern, indem wir uns auf die Erfahrung von Kälte einlassen (vielleicht brauchen wir gar nicht die dickste Daunenjacke, wenn es draußen 5 Grad hat; vielleicht macht es auch Spaß, bloßfüßig durch den Schnee zu laufen; vielleicht kann sich eine kalte Dusche nach dem ersten Schock angenehm und belebend anfühlen). Mit solchen Übungen erweitern wir nicht nur unseren Toleranzbereich, sondern stärken auch die Fähigkeit unseres Organismus, mit Kältebedingungen besser umgehen zu können.

Schulung der Flexibilität


Durch Erfahrungen mit der bewussten Erkundung von Polaritäten lösen wir uns von den mentalen Konstrukten, die dahinter stehen. Polaritäten haben die Tendenz uns zu lähmen. Wir stecken in einer Alternative von Entweder-Oder fest. Wir haben nur zwei Möglichkeiten, in unserem Erleben wie in unserem Wahrnehmen. Bei beiden Extreme steht das Denken über der Wirklichkeitserfahrung.

Wenn wir Polaritäten in Kontinuen umwandeln, gewinnen wir an Freiheit. Wir wandeln sie in lebendige Prozesse um und nähern uns der Wirklichkeit in der Erfahrung an. Dabei durchbrechen wir Gewohnheiten, lockern eingespeicherte Programme und gehen über konditionierte Grenzen hinaus. Wir dehnen uns über die Endpunkte einer imaginierten und selbstgesetzten Polarität hinaus. Wir beweisen uns, dass wir mehr sind und vermögen als wir es gewohnt sind. Wir schulen unsere Flexibilität. Wir wandeln starre Polaritäten in fließende Kontinuen um, die sich in jede Richtung erweitern können. Wir stärken Kompetenzen, die uns in allen Lebensbereichen gute Dienste leisten können.

Zum Weiterlesen:
Polaritäten - Ursprünge und Folgen
Liebe und Hass - eine Polarität?
Das Gute und das Böse
All-Erfahrung und Nicht-Dualität