Samstag, 23. September 2023

Der Nationalismus und die Scham

„Beim Nationalismus handelt es sich um die schlechte Ausdünstung von Leuten, die nichts anderes als ihre Herden-Eigenschaften haben, um darauf stolz zu sein.“  (Friedrich Nietzsche)

Der Nationalismus ist ein Kind des Stolzes. Stolz hat die Aufgabe, schambetroffene Teile der Selbstbeziehung auszugleichen und zu kompensieren. Nationale Gefühle haben wir, wenn wir uns anderen Nationen überlegen fühlen, z.B. bei einem sportlichen Ereignis, bei dem Angehörige der eigenen Nation besser waren als die anderer.  Im umgekehrten Fall schämen wir uns für unsere eigene Nation.

Der Begriff der Nation ist eine historische Spätgeburt und fällt ins 18. Jahrhundert. In der französischen Revolution wurde bekanntlich das Königtum gestürzt und die Republik eingeführt. Der König hatte lange Zeit als die Identifikationsfigur für alle Mitglieder eines Staates gegolten. Nun gab es ihn nicht mehr, und es brauchte einen anderen Anker für das Gemeinschaftsgefühl, für den die Nation herhalten musste. Fortan war es die Zugehörigkeit zu einer Nation, die den Einzelnen definieren sollte. Bis heute gibt es keine klare Begriffsbestimmung zur Nation. Manchmal ist von der Gemeinsamkeit der Sprache die Rede, doch da gibt es gleich die Schwierigkeit mit Staaten, die mehrere Sprachgruppen aufweisen. Oder es wird die Kultur als Kitt der Nation festgelegt, ein Begriff, der noch schwammiger ist, weil es in vielen Staaten unterschiedliche Volkskulturen gibt und alles, was über die lokalen Kulturen hinausgeht, wiederum nur schwerlich einer Nationalkultur zugerechnet werden kann. Oder man beruft sich auf eine gemeinsame Geschichte, die nur dort beginnen darf, wo sie sich mit der Vorstellung der Nation deckt und alles ausblenden muss, was mit der Einmischung von anderen Nationen zu tun hat oder auf Wurzeln verweisen, die gar nichts mit der aktuellen Nationalität zu tun haben. Daraus wird klar, dass wir es bei einer „Nation“ nicht mit einem objektiv existierenden Tatbestand zu tun haben, sondern mit einem Konstrukt, das viele Menschen teilen, ohne genau zu wissen, was es beinhaltet. Es ist also ein Konstrukt mit einem hohen Anteil an Fantasie und Fiktionalität, das seine Wirklichkeit dadurch erhält, dass es immer wieder und wieder erzählt wird, so lange, bis alle daran glauben. 

Der Erfolg des Nationsbegriffs hat damit zu tun, dass er eine einheitsstiftende Funktion im Prozess der Modernisierung ausübte. In diesen vom Kapitalismus geprägten Entwicklungen kam es zu vielfältigen Umgestaltungen und Zerfallsvorgängen von sozialen Einheiten, die eine hohe soziale Unsicherheit hervorriefen. Für diese Leerstelle kam der Begriff der Nation wie gerufen. Wenn die Menschen schon der Anonymität und Unbarmherzigkeit der Wirtschaftsprozesse ausgeliefert waren, wurde ihnen zumindest als Mitglieder einer Nation eine bestimmte Sicherheit gewährt. In Kriegen versuchten sich die Staaten voneinander als Nationen abzugrenzen und die Bevölkerungen hinter sich zu scharen. Selbst der russische Angriff auf die Ukraine hat zu einem starken Schub der nationalen Geschlossenheit geführt, der selbst die russisch-sprachigen und vor dem Krieg russlandfreundlichen Bevölkerungsgruppen und Gegenden erreicht hat und einer der vielen Effekte dieses Krieges ist, der von den Angreifern nicht vorausbedacht wurde.

Es war und ist bis heute ein riskantes Unterfangen, den Nationsbegriff durch Kriege zu untermauern. Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts z.B. wurden genau mit dieser Absicht begonnen und endeten in beiden Fällen mit Katastrophen, auch für den Nationsbegriff. Im Ersten Weltkrieg zerfiel das österreichisch-ungarische Konstrukt, im Zweiten wurde der Nationsbegriff in Deutschland nachhaltig ramponiert. Eine wichtige Konsequenz aus dem Zweiten Weltkrieg war die Begründung der europäischen Zusammenarbeit, die zur EU geführt hat, einem übernationalen Zusammenschluss. Denn verantwortungsbewusste und weiterblickende Politiker hatten erkannt, dass das ewige, vom Nationengedanken angestachelte Kriegführen ein Ende haben müsse und dass die Verstärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit Kriege in Hinkunft erschweren wurde, womit sie Recht behielten. 

Nationalismus und Stolz

Die Angehörigen einer Nation sollen stolz sein, dass sie dazugehören. Sie sollen auch stolz sein, dass sie nicht zu den anderen gehören. Es ist ein Stolz, der auf der Verherrlichung des Eigenen und  der Abwertung und Verachtung des Anderen beruht. Nationalismus besteht nie nur in der Bekräftigung der eigenen Nation, sondern immer auch in der Abwertung anderer Nationalitäten. Es ist also ein Stolz, der sich nicht nur aus den eigenen Errungenschaften nährt, sondern zu seiner Vollständigkeit noch die Überlegenheit über andere benötigt. Die eigenen Leistungen sind so viel wert wie sie die der anderen übertreffen. Es läuft wie bei einer Konkurrenzsportart wie z.B. dem Schirennlauf. Es geht nicht darum, die Abfahrt in einer tollen Zeit hinzulegen, sondern schneller zu sein als alle anderen. Es genügt, dass die anderen schlechter sind, dann hat man schon gewonnen und kann stolz sein.

Der Nationalismus lebt von der Konkurrenz. Seine Vertreter behaupten gerne von ihm, dass es um den Erhalt der nationalen Eigentümer und Eigenheiten ginge, gewissermaßen, was die Österreicher anbetrifft, um das Schnitzel (das Wiener Schnitzel kommt bekanntlich aus Mailand) und das Schmähführen (der Wiener Humor bezieht seine wichtigsten Quellen aus dem Jüdischen und dem Böhmischen). Die Eigentümlichkeiten müssen überzeichnet werden, damit sie bei der emotionalen Nationenbildung helfen können, die der eigenen und die der fremden Gruppe. Mit dieser Kontrastierung werden die Unterschiede verstärkt und es entstehen Grenzen, wo vorher Übergangsfelder bestanden: Die dialektischen Färbungen einer Sprache verändern sich graduell von Landstrich zu Landstrich. Wird nun eine Grenze inmitten eines Sprachfeldes eingeführt, dann driften längerfristig die Dialekte auseinander. Zum Beispiel war das Innviertel bis 1779 bei Bayern und es wurde dort der bayrische Dialekt gesprochen. Dann kam das Gebiet zu Österreich und nahm nach und nach das Oberösterreichische an, mit einem bayrischen Einschlag. 

Aus Übergangsfeldern werden unter dem Einfluss des Nationalismus Spannungsfelder. Die Grenzen, die die Gebiete trennten, wurden mit der Zeit immer stärker kontrolliert und aufgerüstet. Die Hiesigen unterschieden sich damit zunehmend von den Diesigen. Solche Grenzen sind immer Stolz- und Schamgrenzen: Der Stolz soll im Hüben sein, die Scham im Drüben.

Jeder Stolz, der auf Überheblichkeit ruht, ist nicht mehr als eine kompensierte Scham. Der Drang nach der Überlegenheit kommt aus der Minderwertigkeit, die schambesetzt ist: Ich muss besser sein als die anderen, um von ihnen nicht unterdrückt zu werden. Ich muss sie abwerten, damit ich mich sicher fühle und mir besser vorkomme. Mein Sicherheits- und Wohlgefühl ist davon abhängig,  dass andere schlechter dastehen und weniger wert sind.

Aus diesem psychologischen Mechanismus können wir verstehen, dass der Nationalismus als Ausgleich für Schamgefühle entstanden ist. Er bezieht seine suggestive Macht aus dem Kompensieren von kollektiven Minderwertigkeitsgefühlen. Er schafft es immer wieder, die Menschen hinter sich zu scharen, weil er ihnen die Entlastung von der Scham der Minderwertigkeit verheißt. 

Die paradoxe Geschichte des Nationalismus, in ihrer Gänze erzählt, lautet also: Zunächst werden die Nationen eingeführt, um den Menschen eine Erleichterung der Scham und des Schmerzes der Vereinzelung als Folge der ökonomischen Modernisierung zu verschaffen. Einmal etabliert, wirkt der Nationalismus wie eine Ersatzdroge und führt eine neue Schambelastung ein. Sie ist mit dem Ringen verbunden, die nationale Schwäche auf Kosten anderer Nationen zu überwinden. Es ist das kapitalistische Konkurrenzmodell, das für das Verhältnis der Nationen Anwendungen gefunden hat und das dann für alle Kriege verantwortlich ist, die im Zeichen dieser Ideologie begonnen werden. Eine weitere Spielwiese für den Nationalismus bot der Kolonialismus, der in dem Streben besteht, Länder, die sich noch zu wenig als Nationen etablieren konnten, der eigenen nationalen Sphäre einzuverleiben, um diese zu bereichern.

Nationalismus im Zeitfenster

Der Nationalismus hat seinen Referenzpunkt in einem relativ schmalen Zeitfenster zwischen einer Vergangenheit, der der Begriff der Nation fremd war, weil er nicht benötigt wurde, und einer Zukunft, die ihn als Relikt aus einer barbarischen Zeit abtun wird. Wir stammen aus vielfältigen Ahnenlinien ab, die sich nicht an irgendwelche politisch definierte Grenzen halten, und wir gehen in eine globalisierte Zukunft, in der die Menschen über die Kontinente, Religions- und Rassengrenzen hinweg mobil sind und ihre Zugehörigkeiten und ihre Identität laufend neu definieren müssen.

Dieses Zeitfenster hat die Ideologie des Nationalismus weidlich genutzt – einerseits zum Schutz von Traditionen, Sprachgruppen und Kulturräumen, andererseits zur Aggression gegen andere Nationen. Vom 19. über das 20. Jahrhundert bis in unsere Tage können wir die Auswüchse und Verwirrungen des Nationalismus beobachten. Während sich die Wirtschaft längst über alle Grenzen hinwegsetzt, greift erst langsam das Bewusstsein, dass wir in erster Linie Weltbürger sind und irgendwann nachgeordnet Angehörige einer bestimmten Nation oder Volksgruppe.

Erkenntnis macht frei

Die Erkenntnis der historischen Relativität und Ideologiegebundenheit des Nationalismus entkoppelt uns von seiner suggestiven Macht, und diese Entkoppelung macht uns frei, auch von den Ängsten und Schambelastungen, die die Konzepte der Nationalität enthalten. Vorgeprägte und ungeprüfte Identitäten, an denen wir festhalten, schränken uns ein, weil wir deren Gefühlskonglomorat in uns tragen. Der Vorgang der Entidentifizierung erlaubt uns, eine Beziehung zu den Prägungen aufzubauen, die wir vorher als selbstverständlichen Teil von uns angesehen haben und gar nicht von uns  selbst unterscheiden konnten. Die Distanz erlaubt uns, die Beziehung zu gestalten. Wir sind nicht mehr von ihr beherrscht, sondern können ihre Bedeutung für uns selbst festlegen. Wir können also für uns festlegen, was wir unter der Zugehörigkeit zu einer Nation verstehen und wir tun uns dann leichter, das Gemeinsame im Fremden zu erkennen und über das Trennende zu stellen. Wo wir Gemeinsamkeiten erkennen, finden wir den Weg vom Misstrauen zum Vertrauen, von der Angst zur Entspannung, vom Hass zur Liebe.

Hereinnahme statt Ausgrenzung

Demokratische Reife besteht dagegen darin, die Andersheit der anderen anerkennen und gelten lassen zu können. Die Diversität der Ansichten, Meinungen, Lebensorientierungen, kulturellen Prägungen usw. hat in einer Demokratie einen Platz und eine wichtige Bedeutung, die dazu führt, dass schwache Positionen gefördert werden. Pluralität und gegenseitige Akzeptanz sind der Nährboden für die Kreativität und Resilienz von Gesellschaften; Ausgrenzungen und Aggressionen gegen Minderheiten oder Schwächere destabilisieren den gesellschaftlichen Zusammenhalt und steigern die allgemeine Unsicherheit und Angst. 

Zur Demokratie gehört die Inklusion, zum Nationalismus die Exklusion, das Ausschließen alles dessen, was bestimmten vordefinierten Kriterien nicht entspricht. Jede Ausschließung enthält eine Beschämung der Betroffenen. Der Nationalismus ist rückwärtsgewandt, weil die Identifikation mit einer Nation kein Lösungspotenzial für irgendeine der aktuellen Krisen liefern kann. Die Zukunft der Menschheit liegt in der Zusammenarbeit über die Grenzen von Nationalstaaten hinaus. Sie kann nur dann in eine gute Richtung führen, wenn diese Kooperation auf demokratischen Grundsätzen beruht, also inklusiv und nicht exklusiv ist. Es sollte uns langsam deutlich werden, dass wir die Zukunft mit ihren Herausforderungen nur meistern, wenn wir alle mit anpacken und uns gemeinsam anstrengen, über alle urtümlichen Grenzen hinweg und jenseits aller Hoffnungen auf irgendwelche starken Männer als Erlöser. Jede der Krisen, unter denen wir leiden, ist eine Menschheitskrise; lösen kann sie nur die Menschheit in Gemeinsamkeit, auf das Basis einer fundamentalen Gleichheit.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir alle Möglichkeiten des Zusammenwirkens stärken und all den Bestrebungen, die die Lösungen in veralteten Modellen und rückwärtsgewandten Ideologien suchen, entgegenzutreten und sie an der Machtübernahme zu hindern. Die Demokratie muss streitbar sein, wenn sie weiterbestehen will, und dazu gehört, dass sie ihre Gegner benennt und in die Schranken weist. Die Demokratie ist niemand anderer als wir selber, die Summe unserer politischen Einstellungen und Handlungen, soweit wir uns zu ihr bekennen und ihre Wichtigkeit für eine breite Basis der Menschlichkeit erkannt haben. Im Prinzip der Inklusion ist die Garantie enthalten, Menschen vor jeder strukturbedingten Beschämung zu bewahren.

Zum Weiterlesen:
Sportlicher Nationalismus und Globalisierung
Das kleine Fenster des Nationalismus
Nationalismus und Opferstolz