Freitag, 30. Juli 2021

Akzeptieren, was ist: Teil 8: Akzeptanz und Scham

Jede Nichtakzeptanz der Wirklichkeit enthält ein Element der Scham. Wenn wir uns einem Aspekt dessen, was uns umgibt und was in uns ist, verweigern, trennen wir uns davon ab und stellen uns über diesen Aspekt – wir wollen etwas Besseres sein oder etwas besser wissen. Wir wollen der Wirklichkeit vorschreiben, wie sie sein soll. Das, was wir ablehnen, ist minder oder schlechter als, das was wir uns ausgedacht oder ausgemalt hätten. Das Gefühl des Stolzes, das dabei aktiviert wird, stellt die Kompensation einer Scham dar. Denn im Verhältnis zur Wirklichkeit stehen wir niemals über ihr. Vielmehr sind wir dem großen Ganzen, das die Wirklichkeit ausmacht, immer untergeordnet und als Teilchen eingeordnet. Die Ordnung besteht unabhängig von uns und erfordert beständig unsere Einstimmung und Anpassung. Wir sind in die mannigfaltigen Zusammenhänge eingebettet, die über das bestimmen, was und wie wir sind. Sie legen fest, wie unsere Handlungsspielräume beschaffen sind, wo sie beginnen und wo sie aufhören.  

Es ist also immer eine Anmaßung mit dabei, wenn wir aus der Akzeptanz mit dem Hier und Jetzt herausfallen. Anmaßung heißt, dass wir uns etwas zumessen, was uns eigentlich, nach den Regeln des großen Ganzen, nicht zusteht. Wir stellen uns fiktiv auf eine Stelle im Universum, die uns nicht gebührt. Wir tun so, als wären wir der archimedische Punkt, um den sich alles dreht, was sonst noch da ist. Tatsächlich werden wir von den verschiedensten Kräften, die auf uns einwirken, gedreht und gewendet, und alles, was wir dabei zustande bringen, ist, den Kurs da und dort ein wenig in unserem Sinn zu korrigieren. Das gelingt manchmal besser, manchmal schlechter, aber gibt uns immer wieder die Illusion, wir wären die großen Macher in unserem Leben und darüber hinaus.

Es ist wie mit dem Wetter: Wir wüssten immer besser, wie es sein sollte, aber das Wetter kümmert sich nicht im geringsten darum. Das einzige, was wir tun können, ist zu akzeptieren, wie es ist, und unsere Handlungen danach ausrichten. Jedes Jammern über das, was ist, ist verschüttete Milch.

All diese Anmaßungen pflegen wir, weil wir uns dem Schamgefühl nicht stellen, das hinter der Ablehnung unserer geschöpflichen Kleinheit steckt. Der Narzissmus in jeder Selbstüberhöhung und Selbstverminderung ist natürlich die Verführung, die uns aus dem „Paradies“ vertreibt, das in diesem Sinn für die stimmige Einordnung unseres Selbst in das große Panorama des Ganzen steht. Denn am richtigen Platz zu sein, führt zum erfüllendsten Selbstgefühl, das uns zufallen kann.

Wir brauchen die herausgehobene Sonderstellung, weil wir uns sonst schämen würden. Lieber baden wir uns in unserer Eitelkeit als dass wir die Scham spüren. Wir wollen nicht, dass es uns geht wie Adam und Eva, als sie sich nach der Übertretung einer Regel des großen Ganzen plötzlich ihrer Kleinheit, ihrer Nacktheit, ihrem Bloßgestelltsein, ihrer Scham bewusst wurden. Die Scham ist unangenehm und quälend, also verstecken wir uns vor ihr und ihrem richtenden Blick. Wir wollen nicht dabei ertappt werden, dass wir uns größer (oder kleiner) gemacht haben als wir sind. Lieber schmücken wir uns mit unseren Errungenschaften und Großtaten (oder mit unseren Misserfolgen und Versagenserfahrungen) als dass wir demütig anerkennen, dass wir in unserer Unvollkommenheit zum großen Konzert des Universums nicht mehr als unsere winzige Rolle beitragen können.

Selbstüberhöhung und Demut

Die Scham hinter der Illusion der Überbedeutung, die wir uns zumessen, gibt es nur wegen unserer Neigung zur Selbstüberhöhung, die immer wieder dazu verführt – die Schlange in der Paradies-Geschichte. Sobald wir aufhören, den Anspruch zu stellen und die Erwartung an uns zu nähren, der Drehpunkt hinter allen Abläufen unseres Lebens zu sein, hat die Scham keinen Nährboden mehr. Wir nehmen in Bescheidenheit und Demut an, was unser Platz und der Handlungsspielraum ist, der uns zugeteilt wird.

Das richtige Maß zwischen Selbstüberschätzung und Selbstverkleinerung zu finden, ist ein wichtiger Zugang zur Lebenszufriedenheit und zum Lebensglück. Solange wir entweder unsere Schwächen nicht wahrhaben wollen bzw. nicht zu ihnen stehen können oder mit unseren Fehlern und Unzulänglichkeiten identifiziert sind, hat uns die Scham in ihren Fängen und verleitet uns zu Ausgleichsaktionen, die in die eine oder andere Form des ungesunden Stolzes führt.

Stolz und Dankbarkeit

Wir dürfen stolz sein auf bestimmte Handlungen, z.B. auf Leistungen, die auf Selbstdisziplin und Selbstüberwindung beruhen, also überall dort, wo wir innere Widerstände („Schweinehunde“) überwunden haben. Freilich ist alles, was wir für diese Taten an Ressourcen, Kräften, Begabungen usw. benötigen, auf andere Faktoren zurückzuführen, die nur minimal in unserem Einflussbereich liegen.

Wir brauchen deshalb nicht stolz zu sein auf das, was wir sind, weil es nur zum geringsten Teil unser Verdienst ist. Was können wir für unsere Körpergröße und Augenfarbe, unseren Intelligenzquotienten oder unsere künstlerischen Fähigkeiten? Hier können wir den Stolz zurückstellen, denn es ist die Dankbarkeit über alles angebracht, mit dem uns das Leben beschenkt hat und immer wieder beschenkt.

Die Formel der Selbstakzeptanz

Selbstakzeptanz bedeutet, dass wir alles, was wir sind und was uns ausmacht, annehmen, indem wir uns den Charakter des Geschenks bewusst machen, der in der Gnade unseres Lebens steckt und in allem, was dazu gehört. Deshalb ist die Selbstakzeptanz ein wirksames Heilmittel gegen die Scham und den überzogenen Stolz. In der Selbstannahme stehen wir zu dem, was uns übergeben wurde und immer wieder übergeben wird. Auf dieser Basis bauen wir auf, wenn wir neue Initiativen setzen und Projekte starten, wenn wir also unsere Beiträge zur Wirklichkeit gestalten.

Die Selbstakzeptanz ist ein guter Stabilisator für einen ausgewogenen Selbstwert, der die Balance zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstüberhöhung bildet. Beide diese Tendenzen haben ihre Wurzeln in unseren frühen familialen Beziehungserfahrungen. Überall dort, wo unsere Grundbedürfnisse nicht ausreichend gestillt wurden, wird unser Selbstgefühl geschwächt und eingeschränkt. Wir haben dann nur die Möglichkeit, nach „unten“ in Richtung Selbstzweifel und Selbstabwertung oder nach „oben“ in Richtung Selbstüberschätzung auszuweichen.

„Ich bin so, wie ich bin, und es ist gut so.“ Das ist die Formel der Selbstakzeptanz. Wir brauchen uns weder für unser Sein und Wesen zu schämen noch darauf stolz zu sein, sondern können uns an unserem So-Sein erfreuen. Wir sind einfach, wie wir sind, und dafür verdienen wir die Wertschätzung, die eigene und die unserer Mitmenschen. Das Leben als ganzes schätzt uns sowieso für das, zu dem sie uns gemacht und gestaltet hat.

„Ich bin so, wie ich bin, und es ist so, wie es ist, und es ist gut so.“ An diesem Punkt schließt sich der Kreis vom Ich zum Ganzen. Wir schwingen mit mit dem, was geschieht. Wir reiten die Welle des Lebens, unseres und des größeren. Wir lassen alles los, was der Selbstannahme im Weg steht.

Zum Weiterlesen:

Das Ja zum Selbst
Sag Ja zum Moment
Selbstakzeptanz und Schamheilung
Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)
Akzeptieren, was ist (Teil 5)
Akzeptieren, was ist (Teil 6)
Akzeptieren, was ist (Teil 7)

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