Donnerstag, 25. Oktober 2018

Dinge und unsere Abhängigkeiten

Dinge geben Sicherheit, deshalb fällt es uns manchmal schwer, sie loszulassen und herzugeben, auch wenn wir sie nicht oder nicht mehr brauchen. Jedes Ding, das wir in unserer Umgebung haben, trägt einen Symbolwert. Bei manchen ist uns das bewusster (Erinnerungsfoto, Buch mit Widmung, Auto…), bei anderen ist dieser Bezug kaum wahrnehmbar und doch in subtiler Weise wirksam. 

Wir identifizieren uns mit den Dingen, die wir um uns haben, ob wir das wollen oder nicht. Das heißt, wir legen einen Teil von uns in diese Dinge und nehmen einen Teil der Dinge in uns auf. Wir verdinglichen folglich unsere Identität, und wir exportieren unsere Identität in ausgewählte Dinge. Also verfügen wir über eine Kühlschrank-, Bücherkasten-, Duschvorhangs- und natürlich Smartphone-Identität. Und der Kühlschrank ist unserer, er gehört uns und gehört zu uns. Er trägt den Imprint unserer Identität.

Diese enge Verflechtung zwischen uns und den Dingen macht es uns schwer, Ordnung zu schaffen, zu entrümpeln, wegzuschmeißen und auszumisten. Je stärker die emotionale Identifikation, desto mehr Überwindung brauchen wir beim Loslassen dieser Anhaftungen an die Dinge. Wir merken dann, wie stark wir uns über Dinge definieren und wie sehr wir sie dafür nutzen, dass sie uns Sicherheit geben. 

Eigentlich ist es nicht sehr klug, unsere innere Sicherheit vordringlich auf Dingen zu begründen. Zwar brauchen wir viele Dinge im Außen (Nahrung, Kleidung, Schutz…), aber Dinge sind vergänglich. Wir müssen damit rechnen, dass das, was unsere Sicherheit garantieren soll, über kurz oder lang verfallen und zugrunde gehen wird wie eine Stadtmauer unter dem Beschuss feindlicher Kanonen. Die Sicherheiten hingegen, die wir in unserem Inneren tragen, halten auf Dauer, niemand kann sie uns nehmen, niemand kann sie ruinieren.

Wir wissen auch nicht, wie die Welt die sich anbahnende Klimaveränderung verkraften wird. Die Natur wird sich anpassen, und das wird in vielen Gebieten der Erde nachhaltige Probleme für die Menschen verursachen. Die Verhältnisse werden uns zeigen, was wir als Menschheit mit unserer Lebensweise angerichtet haben. Deshalb ist es wichtig, dass wir unsere innere Sicherheit stärken und sie nicht von den Dingen um uns herum abhängig machen.

Unsere Wurzeln im Animismus 


Die Vermenschlichung der Dinge, die wir spätestens mit den Kuscheltieren unserer Kindheit begonnen haben, beruht auf uralten Ritualen und Vorstellungen. Unsere Vorfahren lebten in enger Verbindung mit der sie umgebenden Natur. Wir können davon ausgehen, dass das Verhältnis so eng war, dass die Ähnlichkeiten stärker waren als die Unterschiede. Die Menschen der Urzeit haben die Natur animiert mit ihrer reichhaltigen Fantasie, sodass sie in all ihren Aspekten als belebt wahrgenommen wurde. Die Geister und Naturwesen waren offensichtlich früher fast so real wie es die sichtbaren Dinge für uns heute sind.

Als Angehörige des Industriezeitalters sind wir gewohnt, Natur als etwas Fremdes wahrzunehmen, als etwas, das unseren Zwecken und Interessen zu dienen hat, das wir für unseren Wohlstand ausbeuten können und das keine eigene Stimme bekommt und kein Recht beanspruchen kann. Bei den Tieren tun wir uns da nicht so leicht; es kann uns an die Nieren gehen, wenn wir sehen, wie Kühe in engen Ställen dahinvegetieren oder Hühner am Laufband zerhäckselt werden. Aber alles, was nicht lebt, lässt unsere Gefühle kalt. 

Dennoch lebt das animistische Weltbild in den Tiefen unserer Seele weiter und zeigt sich darin, wie wir mit unseren Gegenständen umgehen. Wir hauchen ihnen unseren Geist ein, indem wir ihnen tagtäglich oder ab und zu begegnen, indem wir sie nutzen oder beiseite legen und vergessen. Wenn es darum geht, Dinge, die nutzlos geworden sind, wegzugeben, ist es so, als würde ein Stück unseres Geistes damit aufgegeben und für immer verschwinden.

Alles, was uns umgibt, ist Natur


Alle Dinge, die uns umgeben, sind aus der Natur entstanden. Alle Rohstoffe entstammen dem Fundus unseres Planeten und wurden durch die Arbeit von Menschen zu dem, was sie nun sind. Wenn wir entrümpeln, geben wir Dinge zurück, im günstigsten Fall gut sortiert, ökologisch entsorgt oder an Bedürftige weitergereicht. Es ist also in irgendeiner Form ein Zurückgeben von etwas, das wir genommen haben, und damit kommt wieder etwas in den Ausgleich. Wenn wir unsere Tendenzen, Güter anzuhäufen, nicht durch das Hergeben von Gütern ausgleichen, kommen wir selber ins Ungleichgewicht. Zu viele Dinge machen uns dinglicher, unlebendiger. Denn all die Dinge binden Energien, binden Aufmerksamkeit und füllen Raum, in unserer Wohnung und in unserem Inneren. Das Vollstopfen unserer Umgebung mit allen möglichen Sachen nimmt uns selber die Luft zum Atmen, weil all die Dinge auch in uns selber Raum beanspruchen. 

Nach einer Aufräum- und Entrümpelungsaktion fühlen wir uns deshalb befreit – in unserem Inneren sind Räume frei geworden, die für Neues zur Verfügung stehen. Die leeren Flächen und Bereiche ziehen neue Ideen und Einfälle an. Die Entlastung von nutzlosen oder nutzlos gewordenen Dingen beflügelt unsere Kreativität. Im Wort „Aufräumen“ steckt das Befreien von Räumen drin.

Alles, was wir über längere Zeit nicht nutzen, stirbt ab wie die nicht verzehrten Lebensmittel im Kühlschrank. Es ist ein Absterben der emotionalen Bedeutung, mit der wir den Gegenstand einst aufgeladen haben. Ein Klavier, auf dem wir immer wieder spielen, wird mit jedem Spielen reicher an emotionaler Bedeutsamkeit, während ein Klavier, das nur als Zierstück in einer Wohnung herumsteht, innerlich verarmt und eines langsamen Todes stirbt, weil es von niemandem in seiner speziellen Wertigkeit beachtet und genutzt wird. 

Erinnerung


Dinge binden uns an die Vergangenheit. Sie tragen Erinnerungen – an die Zeit, wo wir sie erworben und verwendet haben, an die Umstände und Erfahrungen, die damit verbunden sind. Oft wissen wir noch, in welcher Umgebung wir ein bestimmtes Buch gelesen haben, und erinnern uns an die Gefühle und Stimmungen, die uns damals begleiteten. Deshalb tun wir uns schwer damit, solche sentimental beladene Gegenstände wegzugeben. Wir wollen die Erinnerung bewahren und die damit verbundenen angenehmen Gefühle über die Gegenstände immer wieder reaktivieren. 

Solche Dinge können uns als Anker in unserer Geschichte dienen, als Symbole für Marksteine oder Lebenseinschnitte und Veränderungen. Sie erinnern uns an unser Gewordensein, an unsere Wachstumsschritte und Lernerfahrungen. Wir können sie dazu nutzen, um unsere eigene Geschichte zu würdigen oder aber auch, um sie zu glorifizieren und damit die Gegenwart abzuwerten. Dabei sollten wir nie übersehen, dass der gegenwärtige Moment das Einzige ist, was aus unserer Geschichte übrig geblieben ist, und dass wir uns ganz diesem Moment widmen können, auch wenn wir alte Fotos oder Erinnerungsstücke betrachten. Und vielleicht auch, wenn wir uns entschließen, solche symbolträchtigen Gegenstände aufzugeben und zu entsorgen, weil wir sie in dieser gegenwärtigen Präsenz nicht mehr brauchen.

Endlichkeit


Dinge erinnern uns nicht nur an unsere Geschichte, sondern an die Vergänglichkeit überhaupt. Selten denken wir daran, dass wir nackt, ohne jeden Besitz, ohne irgendeine Ahnung von Dingen, diese Welt betreten haben und dass wir nackt, ohne jeden Besitz und ohne Möglichkeit der Mitnahme von irgendwelchen Dingen diese Welt wieder verlassen werden. Dazwischen spielen die Dinge die Rollen in unserem Leben, die wir ihnen geben. Viele der Dinge erscheinen uns wesentlich, so als ob wir ohne sie nicht leben könnten, viele tragen zu unserem Luxus bei, andere zu unserer Bequemlichkeit oder dienen einem kurzzeitigen Nutzen. 

Mit jedem Ding, das wir aus unserem Leben weggeben, stirbt ein Stück von uns, und dieser kleine Tod macht uns darauf aufmerksam, dass wir im Grunde nichts festhalten können und alles nur so lange bei uns bleibt, wie es sein soll. Und eines Tages begegnen wir dem großen Tod, der uns beim großen Loslassen hilft.

Dienstag, 23. Oktober 2018

Selbstqual mit Selbstvorwürfen

Selbstvorwürfe sind eine perfide Form der Selbstquälerei, zu der wir Menschen neigen. Die meisten Menschen kritisieren sich häufig selbst, oft nur halb bewusst. Immer, wenn sie einen Fehler verschulden, klagen sie sich dafür an und erinnern sich immer wieder daran, um die Anklage zu wiederholen und zu wiederholen. Offenbar meinen wir, wir bessern uns nur, wenn wir uns unsere Fehler immer wieder vorhalten.  

All das ist das Resultat von Lernprozessen: Wir haben von unseren Eltern gelernt, dass Fehler mit Tadel bestraft werden. Eltern meinen, dass sie, um ihre Kinder in der richtigen Weise zu erziehen, diese mit strenger Miene und harten Worten auf ihre Fehler aufmerksam machen, damit das Schlimme ja nicht mehr vorkommt. Kinder lernen jedoch weniger von dem, was ihnen gesagt wird, und vielmehr daraus, wie es ihnen gesagt wird. Sie lernen, dass auf Fehler Kritik folgen muss.

Wir werden erwachsen, und unsere Eltern mischen sich (hoffentlich) immer weniger in unser Leben ein. Dann fehlt uns die Instanz, die unsere Missgeschicke kritisch kommentiert – und, beflissen wie wir sind, übernehmen wir den Job selber. Wir etablieren einen zuverlässigen inneren Kritiker, der sich bei jedem Fehler gleich mit aller Vehemenz zu Wort meldet. 

Über die Unsinnigkeit von Selbstvorwürfen 


Es gibt zwei logische Gründe, warum Selbstvorwürfe unsinnig sind. Zum ersten: Fehler sind immer schon vergangen, wenn wir auf sie aufmerksam werden. Wenn wir gleich merken, dass etwas nicht passt, können wir es gleich korrigieren, und es gibt kein Problem. Ich schlage einen Nagel in die Wand und merke, dass der Nagel zu schwach ist – ein Fehler. Also nehme ich einen stärkeren Nagel – der Fehler ist ausgebessert. Ich sage in einem Gespräch unbedacht eine Unfreundlichkeit und entschuldige mich – das Gespräch geht ungestört weiter. Die Qual der Selbstvorwürfe beginnt erst nachher, wenn die Situation schon vorüber ist und die Gedanken in sie zurückgehen und dort nachträglich alles anders machen wollen. 

Zum zweiten: Wenn wir Fehler begehen, geschehen diese meistens aus unbewussten Handlungen, also aus solchen, die wir nicht bewusst entschieden haben. Wir machen ja nicht absichtlich Fehler. Wir sind mit unseren Gedanken woanders und merken plötzlich, dass wir vergessen haben, rechtzeitig aus dem Zug auszusteigen. Wir sind mit einem wichtigen beruflichen Thema beschäftigt und vergessen auf den Geburtstag einer Freundin.  

Weshalb sollen wir uns da kritisieren? Fehler „geschehen“ ganz offensichtlich, sie unterlaufen uns, ohne unser bewusstes Zutun und Wollen. Wir sind ja nicht so blöd, dass wir uns beim Kartoffelschälen absichtlich in den Finger schneiden oder mit dem Hammer auf den Finger klopfen. Wir sind auch nicht so garstig, dass wir unseren Mitmenschen absichtlich Böses antun. Fehler sind Ausfluss der Unvollkommenheit unseres Körper-Geist-Systems, dem die Idee der Perfektion fremd ist, das dafür aber über eine enorme Lernfähigkeit und Plastizität verfügt. 

Aus Fehlern werden wir klug, das schulden wir unserer Lernfähigkeit: Selbstkritik macht uns hingegen nicht klug, weil sie Fehler zu Versagen und Scheitern aufbauscht und unseren Selbstwert prügelt. Aus Kleinigkeiten werden existenzbedrohende Selbstverurteilungen. Und damit engen wir uns selber ein, machen uns Angst und hindern uns, unsere Fehlerhaftigkeit zu korrigieren. Lernen können wir nur, wenn wir uns akzeptiert und angenommen fühlen. 

Der innere Kritiker verleiht den Fehlern eine moralische Wertigkeit: Die Fehlerhaftigkeit entscheidet darüber, ob wir als Mitglied der Gemeinschaft akzeptabel sind oder nicht. Wenn wir uns nicht bessern, müssen wir befürchten, die Anerkennung und Liebe der anderen zu verlieren.  

Komplexes ist fehleranfällig 


Unser aller Leben ist enorm komplex, viele Bedürfnisse liegen in uns im Widerstreit, viele Interessen wollen berücksichtigt werden, viele Leute wollen etwas von uns, mit vielen Themen sollten wir uns auseinandersetzen, über Vieles sollten wir informiert sein etc. Da fällt es schwer, in jedem Augenblick voll präsent zu sein, und Fehler schleichen sich schnell ein.  

Fehler im sozialen Bereich geschehen noch viel leichter als beim Umgang mit Dingen. Denn jeder Mensch bringt seine eigene innere Komplexität in die Kommunikation ein, sodass dort andauernd Fehler passieren, ohne dass irgendwo ein Verschulden vorliegt. Ein großer Teil der zahlreichen zwischenmenschlichen Konflikte beruht auf Missverständnissen und Übertragungsfehlern. Wir drücken uns nicht exakt aus oder hören nicht genau zu. Schon entsteht ein Konflikt, der meist in die Streifrage mündet, wer den Fehler gemacht hat (grundsätzlich immer die jeweils andere Person), und dort bricht der Konflikt auch gleich in sich zusammen, weil er an diesem Punkt unlösbar geworden ist. 

Wenn wir genauer in uns nachspüren, können wir bemerken, dass wir uns mit jedem Selbstvorwurf von der Wirklichkeit abschneiden. Wir unterwerfen uns dem inneren Kritiker und begeben uns in seinen Bann. Damit distanzieren wir uns von der Wirklichkeit um uns herum, von der Situation, in der der Fehler passiert ist und von den Menschen, die wir mit unserem Verhalten verletzt oder irritiert haben. Wir verfangen uns in eine innere Auseinandersetzung, die uns daran hindert, die Folgen unserer Handlung in eine konstruktive Richtung zu lenken. Erst wenn wir aus diesem Käfig wieder herausfinden, können wir daran denken, wie wir den Schaden wieder gut machen können. Unnötig viel Zeit ist verflossen. 

Warum ist die Tendenz zu Selbstvorwürfen so hartnäckig?  


Sie hat, wie oben angemerkt, ihre Wurzeln in unseren frühen Erfahrungen mit Kritik. Mit Selbstvorwürfen wollen wir uns schützen, jemals wieder auf diese Weise herabgesetzt und verletzt zu werden, und merken nicht, wie wir uns selber herabsetzen und verletzen. Wir sind in einem sado-masochistischen Muster gefangen, Täter und Opfer in einem.  

Die mühsame, aber lohnende Arbeit liegt darin, unsere Demütigungsgeschichte durchzugehen und die vielfachen Verletzungen aufzulösen. Je mehr wir mit unserer Vergangenheit ins Klare kommen, desto schneller gelingt es uns, nach unterlaufenen Fehlern wieder in die Gegenwart zu kommen und unsere Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit wiederzugewinnen, indem wir tun oder sagen, was notwendig ist. Dann kann das Leben wieder weitergehen, und wir können darauf vertrauen, dass wir etwas dazu gelernt haben, was uns das Leben in Zukunft erleichtern wird. 

Das Aufspüren der Wurzeln unserer Zwänge zur Selbstkritik wird uns helfen, diese Gewohnheit zu schwächen und leichter mit unseren Fehlern umzugehen. Wir lassen aus Unachtsamkeit einen Teller fallen und sagen vielleicht: „Oh, Scherben bringen Glück!“, kehren die Scherben zusammen und weiter geht das Leben ohne Beschwernis. Oder wir versäumen einen Zug, weil wir zu wenig auf unsere Uhr geschaut haben und sagen: „Das kann jedem mal passieren“, schnappen uns ein Buch und warten geduldig auf den nächsten Zug. Jemand anderer ist beleidigt, weil wir ihn unbedacht angegriffen haben, wir entschuldigen uns gleich und erklären ihm kurz, dass da keine böse Absicht war, und das Gespräch geht entspannt weiter. 

Die Brücke der Selbstliebe 


Wenn wir uns Zeit für eine achtsame Selbstbesinnung oder Meditation nehmen, können wir diese Übung nutzen, um uns Selbstvorwürfe bewusst zu machen – auch subtile Formen des Abwertens und Kritisierens können uns dabei auffallen. Jedes Mal, wenn wir draufkommen, dass wir nicht ganz präsent im Augenblick sind, sondern Gedanken nachhängen, kann schon die Selbstkritik einsetzen, statt dass wir die Aufmerksamkeit behutsam und sanft in den Moment des unmittelbaren Erlebens zurückführen.  

Sobald wir uns von diesem momentanen Erfahren ablenken und damit in die abgetrennte mentale Welt wechseln, tun wir das, weil wir irgendetwas, was gerade geschieht, ablehnen und damit auch uns selbst als Erlebende abwerten. Insbesondere unangenehme Gefühle sind dabei ein passender Anknüpfungspunkt, um über deren Ablehnung in die Abtrennung zu flüchten. Wenn wir allerdings uns dem Unerfreulichen innerlich stellen und ihm Aufmerksamkeit und Präsenz widmen, bauen wir eine Brücke der Selbstliebe anstelle der Selbstablehnung. Das tut uns gut und beruhigt und entspannt unsere Selbstbeziehung, und damit verbunden, unsere Beziehung zu anderen Menschen. 

Zum Weiterlesen: 
Schwächen sind menschlich und machen menschlich 
Brauchen wir einen Selbstwert?
Vom Umgang mit unserer Fehlerhaftigkeit

Samstag, 20. Oktober 2018

Gefühle machen Gedanken machen Gefühle

Das Erwachen der Gefühle


Das Verhältnis von Gefühlen und Gedanken trägt viel dazu bei, wie wir mit uns selbst und unserem Inneren umgehen können, aber auch, wie wir den Austausch mit anderen Menschen gestalten. Wenn wir in unserer Entwicklungsgeschichte zurückgehen, fällt es uns nicht schwer, dass wir uns die Entwicklung unserer Subjektivität in folgender Weise vorstellen: Wir beginnen als winziger Organismus, dessen einzige Form der Selbsterfahrung auf der Empfindungsebene gelegen ist, vermutlich darin, bedrohliche von vertrauenerweckenden Situationen unterscheiden zu können. Dann entstehen komplexere Strukturen, die zur Entstehung von Gefühlen zusammenwirken. 

Schließlich entwickelt sich die Denkfähigkeit zusammen mit den höheren Gehirnfunktionen. Auf diese Weise baut sich in uns eine Hierarchie der Subjektivität und Selbstbezüglichkeit auf, wodurch ein mehrstufiger Prozess der Bedeutungsgebung für innere und äußere Vorgänge möglich wird:

Körperempfindungen bekommen mehr Sinn, wenn sie sich in Gefühle zusammenschließen, und Gefühle werden besser verstanden, wenn sie begrifflich benannt und in Denkzusammenhänge eingefügt werden können. Auf diese Weise verfügen wir über verschiedene Möglichkeiten zum Umgang mit der Wirklichkeit, was wiederum für unsere Handlungsfähigkeit von großer Bedeutung ist: wir können mit Empfindungen Situationen schnell einschätzen und unmittelbar reagieren, wir können mit Gefühlen genauere Bewertungen vornehmen und angepasstere Handlungen setzen und wir können mittels unseres Denkens die Situation umfassender verstehen und unterschiedliche Konsequenzen einplanen. Je nach Dringlichkeit und Gefahrenpotenzial entscheidet unser inneres Organisationssystem, ob Körperempfindungen, Gefühle oder Denken als Entscheidungsinstanz zur Handlungsleitung verwendet werden.


Als Gefühlswesen werden wir geboren


Wenn wir ein Baby erleben, erkennen wir, was intensive Gefühle sind. Das kleine Wesen kann mit solcher Inbrunst schreien und toben, so, als wäre es in diesem Moment nichts anderes als dieses Gefühl und als könnte es nicht anders, als es in alle Welt hinauszuschreien, scheinbar ohne jede Rücksicht auf die Umwelt. Sein ganzer Körper ist dieses Gefühl, in einem alles mit einbeziehenden Prozess, in dem die gesamte Energie dieses Gefühls zum Ausdruck kommt und dann wieder verebbt. Das Baby verfügt noch über keine Kontrolle und Regulation und ist dem Schwall der emotionalen Antriebe ausgeliefert.

Es zeigen uns die Beispiele der kindlichen Emotionen, dass Gefühle ursprünglich nichts anderes sind, als die äußere Seite von inneren organismischen Prozessen. Ihr Ausdruck dient als Signale an die Umgebung, einzugreifen, um dem inneren Spannungszustand abzuhelfen, wozu ein Baby selber noch nicht in der Lage ist. Über ihre Gefühle drücken die Kleinsten aus: „Bitte tu was, damit es mir wieder besser geht.“ Und sie sagen es so lange und so heftig, bis die entsprechende Reaktion von außen kommt – oder bis die Kräfte erlahmen. Wir alle kennen das, wir alle haben das schon erlebt, wir alle waren einmal ein emotional gesteuertes Energiebündel.

Diese unmittelbare Impulsivität wird durch die Reaktionen der Umwelt, also vor allem der bezugnehmenden Menschen geformt. Das vehement geäußerte Bedürfnis wird gleich oder in überschaubarer Zeit und in der erforderlichen Form erfüllt, und der Zyklus schließt sich, Zufriedenheit und Entspannung breitet sich aus. 


Offengebliebene Bedürfnisse


Es kann auch vorkommen, dass das Bedürfnis nicht genau erkannt wird, weil die erwachsene Person zu wenig Resonanz und Empathie für die Gefühlsäußerung des Kindes aufbringen kann. Sie reagiert zwar, aber nicht in der passenden Form. Das Kind kriegt z.B. einen Schnuller statt Körperkontakt, den es gebraucht hätte. In diesem Fall beruhigt sich das Kind, weil es wahrnimmt, dass es wahrgenommen wurde und dass eine Reaktion erfolgt ist, aber entspannt nicht vollständig. Denn das eigentliche Bedürfnis wurde nicht befriedigt. Es erfolgte bloß eine Ersatzbefriedigung.

Das Körperlichsein der Gefühle in ihrer elementaren und ursprünglichen Form ist der Ausgangspunkt für einen Entwicklungsprozess, in dem schrittweise Unterscheidungen und Differenzierungen entstehen. Erst langsam mischt sich das Denken ein, das den Gefühlen Namen gibt und die Unmittelbarkeit des Erlebens unterbricht. Es zieht eine neue Ebene ein, von der aus das Gefühlserleben distanziert betrachtet werden kann. Dadurch wird es den heranwachsenden Kleinkindern dann möglich, Gefühle „strategisch“ einzusetzen, aus dem unbewussten Impuls, drängende Bedürfnisse zu erfüllen, notfalls auf Umwegen, wenn es direkt nicht geht. 

Die aus Frustrationen stammenden Gefühle wie Schmerz und Wut brauchen intensive und feinfühlige Zuwendung der Eltern, am besten mit Körperkontakt, damit sich das Kind sicher fühlen kann und sich seine inneren Gefühlsaufwallungen beruhigen. Bekommt es keine Zuwendung, sondern Schelte wegen der negativen Gefühle, baut das Kind in sich eine Gefühlsabwehr auf, die den Zugang zur Gefühlswelt sukzessive verschüttet. Es kann zwar sein, dass später die Gefühle eruptiv auftreten, insbesondere bei der Wut oder bei mit Zorn vermischtem Schmerz, aber die Tiefe dieser Gefühle ist dann nicht mehr zugänglich. Das mag zwar die Eltern erleichtern, die mit den starken Gefühlen des Kindes nicht umgehen konnten und sie können den Eindruck haben, dass sie es richtig erzogen haben. Aber häufig zeigt sich dann in der Pubertät, wie die aus der Kindheit aufgestauten Gefühle mit großer Vehemenz durchbrechen und massive Eltern-Kind-Konflikte bewirken können.


Denken und Gefühlskontrolle


Aus diesen Zusammenhängen wird deutlich, dass sich in Lauf der Entwicklung eine andere Ebene zwischen den Organismus und die Gefühle hineindrängt, die sich langsam als Regulationsinstanz über das Organismus-Emotionen-System aufbaut. Es ist der Verstand mit seinem Denken, der zunehmend Einfluss auf die Welt der Gefühle ausübt. Über das Denken erhalten die Gefühle eine Zeitdimension und werden in Kausalzusammenhänge eingebettet: Wenn A passiert, dann führt das zu Gefühl X, wenn B geschieht, kommt es zum Gefühl Y. Wenn mich die Mutter hochnimmt, fühle ich mich warm und angenehm. Wenn ich unten nass bin, fühlt sich das unangenehm und kalt an.

Mit zunehmendem Fortschritt in der Gefühlsregulierung bilden sich, wenn es nicht anders geht, irgendwann „instrumentelle Gefühle“, also Gefühle, die das Kind für seine eigenen Zwecke einsetzen kann, z.B. die Wut, um ein Wunschobjekt zu bekommen oder Weinen, um Trost zu kriegen. Unser Denken stellt dafür die Zusammenhänge zur Verfügung.

Schließlich sind wir in der Lage, über Gedanken Gefühle in uns wachzurufen. Wir denken an einen schönen Sonnentag und schon kommt ein angenehmes Gefühl, obwohl uns vorher der nebelige Herbsttag missfallen hat. Wir denken an jemanden, mit dem wir irgendwann einmal einen Konflikt hatten, und schon steigt Ärger in uns hoch. Wir üben uns darin, mittels Gedanken Gefühle zu erschaffen.


Erschaffen die Gedanken die Gefühle?


Nachdem sich also aus unseren Gefühlen das Denken entwickelt hat, kann es auf die Gefühle zurückwirken, zu einem kleinen Teil auf bewussten und zu viel größeren Teilen auf unbewussten Bahnen. So erscheint es, als ob wir mit unserem Denken große Teile unserer Wirklichkeit konstruieren und damit auch unsere Gefühlswelt manipulieren. Allerdings stecken hinter diesen Konstruktionsbemühungen wiederum unbewusste Gefühlsprozesse, die wir dann nur nachträglich mit unserem Denken, das die dazu passenden Erzählungen erzeugt, zu begründen:

„Da wir all unser Fühlen, Denken und Handeln vor uns selbst und vor den anderen sprachlich-logisch rechtfertigen müssen, erfinden wir ständig Geschichten. Wir glauben auch in aller Regel an sie und versuchen, unsere Mitmenschen von ihnen zu überzeugen.“ (Gerhard Roth, Hirnforscher)

Möglicherweise aus Unkenntnis dieser komplexen Interaktionen zwischen dem Denken und dem Fühlen kommen manche Autoren zur Meinung, dass Gedanken unsere Gefühle produzieren. Als Beispiel: Robert Betz schreibt in einem Buch: „Wir erschaffen unsere Gefühle mit unseren Gedanken. Da wir jedoch weitgehend unbewusst denken, ist uns dieser Vorgang selten klar. Wie … erläutert …, denken wir – als Reaktion auf das kritisierende Verhalten unserer Eltern – bereits als Kind Gedanken wie: ‚Ich bin nicht in Ordnung. Ich bin nicht liebenswert. Ich muss mich bessern.‘ Solche Gedanken erzeugen in uns Trauer,  Minderwertigkeit, Schuld- und Schamgefühle.“ (Robert Betz: Raus aus den alten Schuhen! So gibst du deinem Leben eine neue Richtung. München, Heyne 2016, S. 163)


Primäre und sekundäre Gefühle


Wir können das Beispiel auch so verstehen: Unsere Eltern kritisieren uns, das löst in uns primäre Gefühle aus (Angst, Schmerz, Ärger). Wenn wir bereits gelernt haben, dass diese Gefühle unerwünscht sind und deren Ausdruck die Situation verschlimmert, nutzen wir unseren Verstand, um die Erfahrung einzuordnen. Dazu bauen wir Denkstrukturen mit defensiven und selbstschädigenden Schlussfolgerungen auf, wie z.B. dass wir nicht in Ordnung sind, wie wir sind. Wir internalisieren die Kritik der Eltern und wenden sie gegen uns selbst. Das hilft uns zwar, unsere tieferen Gefühle nicht spüren zu müssen, hinterlässt aber auch Spuren in unserem Gefühlsleben, indem wir uns innerlich zurückziehen, und klein machen und resignieren. Schmerz und Angst verwandeln sich in Scham und Schuld. Beides sind sekundäre, kognitiv und sozial regulierte Gefühlsmuster, die bewirken sollen, dass wir nicht wieder aus der Rolle herausfallen und die Abwertung durch unsere Eltern auslösen.

Primäre Gefühle sind die unmittelbare Reaktion des Kindes auf die Gefühlsebene der Eltern, die in ihrer Kritik mitschwingt. Erst dann schaltet sich das Denken ein und produziert Selbstüberzeugungen, die dann wiederum sekundäre Gefühle hervorrufen und damit verbundene Haltungen wie Resignation oder Unterordnung oder Ressentiment verstärken. An all diesen Vorgängen ist unser Unbewusstes maßgeblich beteiligt, es handelt diese Prozesse gewissermaßen intern ab, und wir bekommen nur die Wirkungen zu spüren, die uns oft dann ein Leben lang in Bann halten, bis wir uns bewusst machen, was da eigentlich abgelaufen ist. 

Auf diese Weise können wir jetzt unsere höheren Denkfunktionen nutzen, um die defensiven Schlussfolgerungen zu korrigieren und ihre Macht über unser Selbsterleben zu brechen. Mit Hilfe der Kraft dieser Bewusstheit  beginnen sich unsere Scham- und Schuldgefühle aufzulösen und wir nehmen uns mehr als das an, was wir sind. Wir bekommen wieder einen ungehinderten Zugang zu unseren primären Gefühlen und zu unserer Lebendigkeit.

Zum Weiterlesen:
Gefühle - solche und solche

Donnerstag, 18. Oktober 2018

Wahrheit und Illusion

Die wirkliche Wirklichkeit 


Der Begriff der Illusion ist beliebt bei spirituellen Lehrern. Er geht zurück auf die Gestalt der indischen Göttin Maya, die unter anderem für geistige Verblendung, Illusion und Zauberei steht. In der Advaita-Tradition bezeichnet der Begriff den Zustand des begrenzten Ichs, das die Welt nur über die Sinne wahrnehmen kann, während die “wirkliche” Wirklichkeit, das wahre Selbst, erst im Zustand der Befreiung erfahren werden kann. Demnach gibt es ein Leben in der Illusion, bei dem die Menschen den Täuschungen der Sinne und des Geistes unterworfen sind, und als Kontrast dazu ein Leben in der Wahrheit, bestimmt von der wirklichen Erkenntnis des Seins. 


Das Höhlengleichnis 


Aus der westlichen Geistesgeschichte ist das Höhlengleichnis aus der Politeia des griechischen Philosophen Platon überliefert. Das Gleichnis beschreibt den inneren Läuterungsweg eines Menschen, der zuerst mit den anderen Menschen in der Höhle lebt und Schattenbilder, die dort gezeigt werden, für die Wirklichkeit hält. Nachdem er aber aus der Höhle geführt wird und am Sonnenlicht die Dinge in ihrer farbenfrohen Wirklichkeit sieht, kann er die Schattenbilder in der Höhle nur als täuschende Illusionen abtun. Allerdings glauben ihm die Menschen nicht, denen er von seinen Erfahrungen im Sonnenlicht erzählt, so stark sind sie in ihre Gewohnheiten eingebunden. 

Das Vermittlungsproblem, um das es in diesem Artikel gibt, wurde auch schon von Platon thematisiert. In ihrem festsitzenden Unglauben machen sich die Unwissenden über den Wissenden lustig und drohen sogar damit, alle, die sich von der Unwissenheit befreien wollen, umzubringen. Historisch wird damit auf den Tod von Sokrates angespielt, der von den “Unwissenden” wegen seiner Art der Wissensvermittlung angeklagt wurde und den Freitod wählte. Lieber halten die Menschen mit Gewalt an ihren Illusionen fest, als dass sie sich von einer neuen Perspektive überzeugen lassen, so die pessimistische Schlussfolgerung von Platon.  


Wahrheit und Illusion in der aktuellen Lehre 


Weniger von Platon, aber mehr von der Tradition des Vedanta-Advaita  ist die zeitgenössische spirituelle Szene geprägt, aus der hier ein paar Zitate zum Thema folgen. Der spirituelle Lehrer Mooji spricht von der Illusion in jeder spirituellen Suche: “Auf die Suche nach dem Selbst (als Ziel) zu gehen, ist eine Illusion.” Der Advaita-Meister Ramesh Balsekar sagte: “Der eigene Eindruck des Agierens ist eine Illusion, der freie Wille ist eine Illusion.” Und Osho meinte: “Was immer du siehst, hörst, fühlst, alles ist Illusion. ... Die ganze Welt ist Illusion, du bist es nicht.” Eckart Tolle spricht davon, dass alle Probleme Illusionen des Verstandes sind. Es wären Folgen von Konditionierungen, die uns vorspiegeln, dass wir wichtig sind, dass wir etwas darstellen und auf uns selber eingebildet sein können.  

Viele Menschen, die die Erfahrung der profunden Befreiung erlebt haben, sei es auch durch Nahtoderfahrungen, Meditationserlebnisse oder spirituelle Krisen, beschreiben einen klaren Unterschied von vorher und nachher als Unterschied von Illusion und Wirklichkeit, eben wie ein Aufwachen aus einem Traum oder eine Erleuchtung aus einer Dunkelheit. In diesem Zusammenhang wird die Rede von der Illusion oder der Täuschung sinnvoll, weil sie einen subjektiv erlebten Erfahrungsprozess beschreibt. 

Das Belehrungsgefälle 


Problematisch wird der Begriff der Illusion allerdings dort, wo er in die Kommunikation mit Menschen eingebracht wird, die solche oder ähnliche Erfahrungsprozesse nicht erlebt haben. Denn in diesem Zusammenhang fließt sofort eine Bewertung in die Unterscheidung von Illusion und Wahrheit ein. Einer Illusion verfallen zu sein ist im allgemeinen Verständnis einfach dumm oder naiv, während über die Wahrheit zu verfügen als weise gilt. Die Unterscheidung schafft ein Gefälle: Oben ist, wer über die Wahrheit verfügt, und unter ihm befinden sich jene, die in einer Illusion feststecken. Wer oben ist, ist überlegen, die unteren fühlen sich beschämt. Ihnen fehlt etwas Wesentliches, und sie sollten sich anstrengen, um auch nach oben zu kommen. Eine spirituelle Überlegenheit kann leicht zu einer spirituellen Überheblichkeit werden. 

Natürlich verwenden Lehrer provokative Begriffe, um die Schüler an ihren Schwachpunkten und Fixierungen zu erreichen und sie darauf aufmerksam zu machen. Sie wollen die Menschen aufwecken, um ihnen zu verdeutlichen, dass sie nur über eine limitierte Erfahrungsweise verfügen, die an ihren Problemen und ihrem Leiden beteiligt ist. Dazu nutzen sie auch plakative Unterscheidungen und verwenden Begriffe, die aus ihrer Sicht genau beschreiben, worum es geht, oft ohne darauf zu achten, wie diese Begriffe verstanden werden und welche Funktion sie auf der Vermittlungsebene bekommen.  

„Wenn du ein Problem hast, unterliegst du einer Illusion. Du bildest dir das Problem nur ein. Ich weiß das, weil ich mehr über die Wirklichkeit verstanden habe als du.“ Das mag aus der Perspektive einer absoluten Einsicht stimmen, ob es allerdings ein hilfreiches Wissen ist oder als herablassende Belehrung ankommt, die verstört, kann nur der jeweilige Adressat für sich entscheiden. 


Absolutes kann nur relativ kommuniziert werden 


Auf der Vermittlungsebene ist jeder Lehrer nur ein Lehrer, gleich ob er über Relatives oder Absolutes spricht. Das Absolute ist also auf der Ebene der zwischenmenschlichen Kommunikation immer ein Relatives, denn jeder Empfänger hat sein individuelles vorpräpariertes Empfangssystem. Dazu kommt, dass jeder Lehrer des Absoluten unterschiedliche Erklärungsmodelle und Zugangsweisen verwendet. Sobald ein Inhalt aus dem holistischen Bewusstsein öffentlich und kommunikativ mitgeteilt und dargestellt wird, spielt sich das schon auf einer anderen Bewusstseinsstufe ab, im besten Fall im systemischen Bewusstsein, wo die Relativität jeder Aussage als kommunikatives Grundprinzip erkannt und etabliert ist. 


Illusionen als Überlebenshilfen 


Andererseits behauptet der Lehrer, der über Illusionen spricht, von einem absoluten Standpunkt aus zu sprechen, von dem aus alle relativen Sichtweisen „unwirklich“ sind, also als wertlose Einbildungen des verwirrten menschlichen Verstandes erscheinen. Bei dem, was als Illusionen bezeichnet wird, handelt es sich freilich um wichtige Errungenschaften der Evolution und der innerpsychischen Entwicklung, notwendig zur Realitätsbewältigung in einer relativ strukturierten Welt, in der zunächst einmal überhaupt keine absoluten Wahrheiten vorkommen. Psychodynamisch betrachtet, haben wir es bei dem, was als Illusion etikettiert wird, im weitesten Sinn mit Überlebensprogrammen und den daraus abgeleiteten angstgesteuerten Schlussfolgerungen zu tun, die sich als Folge von Traumatisierungen faktisch bei allen Menschen zeigen. In vielen Fällen spielen sie schon lange keine konstruktive Rolle in der aktuellen Lebensgestaltung mehr, sind aber dennoch weiterhin als unbewusste Antriebe wirksam, solange, bis die zugrundeliegenden Verletzungen und Traumatisierungen bearbeitet sind.  

Folglich tragen wir viele dysfunktionale Denkstrukturen und Motive in uns herum, viel psychisches Gerümpel, das wir eigentlich schon längst nicht mehr brauchen. Es kann uns einleuchten, wenn da jemand kommt, der uns darauf aufmerksam macht. Aber wir sollten uns deshalb nicht abgewertet fühlen und schämen, wenn uns jemand sagt, wir befänden uns in einem Käfig von Illusionen und wären unfähig, die eigentliche Wahrheit zu erkennen. Denn das gilt für alle, die sich in der relativen Welt bewegen und mit ihren Komplexitäten umgehen müssen. Auch ein erleuchteter Mensch kommt nicht umhin, den Lastwagen als Realität anzuerkennen und am Straßenrand zu warten, bis er vorbei ist; die Ansicht, dass der Lastwagen nur eine Illusion ist, ist dazu relativ belanglos und unter Umständen lebensgefährlich. 


Erkenntnis und Mitgefühl 


Ein spiritueller Lehrer sollte darauf achten, ob und wo er in seinem Lehren in eine subtile Abwertung der Schüler kippt. Die Vermittlung des Absoluten ist in Worten nicht möglich, denn Worte führen immer direkt ins Dickicht der menschlichen Relativität. Es sind die kommunikativen Zusammenhänge, die die Bedeutungen festlegen, und dieser Dynamik kann sich kein spiritueller Lehrer entziehen. Ein Lehrer ist nur so gut, als er die Befindlichkeiten und Aufnahmekapazitäten seiner Rezipienten berücksichtigen kann.  

Platon drückt das in Hinblick auf das Höhlengleichnis folgendermaßen aus: “Wenn einer Vernunft hätte, (…) würde er (…), wenn er eine (Seele) verwirrt findet und unfähig zu sehen, nicht unüberlegt lachen, sondern erst zusehen, ob sie wohl von einem lichtvolleren Leben herkommend aus Ungewohnheit verfinstert ist oder ob sie, aus größerem Unverstande ins Hellere gekommen, durch die Fülle des Glanzes geblendet wird; und so würde er dann die eine wegen ihres Zustandes und ihrer Lebensweise glücklich preisen, die andere aber bedauern; oder, wenn er über diese lachen wollte, wäre sein Lachen nicht so lächerlich als das über die, welche von oben her aus dem Licht kommt.” (Politeia 106 c nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher). wir brauchen die Vernunft, um zu erkennen, ob ein Wissen, das uns begegnet, aus einer verengten oder einer geweiteten Perspektive kommt, d.h. ob wir es vernachlässigen oder ob wir von ihm lernen können. 

Die Rede vom Illusionären der phänomenalen Wirklichkeit, also der Welt der Alltagswahrnehmung, trifft genau auf diese Welt mit all ihren Verstrickungen. Der Schleier auf dieser Welt verschwindet nicht dadurch, dass er benannt wird. Allenfalls wird durch das Aufzeigen der Wunsch im Zuhörer ausgelöst, dass sich der Schleier lüften möge, er muss aber auch zur Kenntnis nehmen, dass es dazu keinen Weg gibt. Es ist nämlich gleich darauf die Rede davon, dass jeder Weg in diese Transzendenz ebenso illusionär ist. Auf diese Weise führt das Aufzeigen der getäuschten Weltsicht zu einem Koan, einem unauflöslichen Widerspruch. Du befindest dich im Gefängnis der Selbsttäuschung, und die einzige Erkenntnis ist, dass es sinnlos ist, einen Ausweg zu suchen.  

Wenn es dem Adressaten der Rede gelingt, die Spannung dieses Widerspruchs aufrecht zu erhalten, dann erreicht die Botschaft, was sie erreichen will. Die Lösung des Rätsels liegt darin, sich selber in seiner Kleinheit wahrnehmen zu können, in einer Haltung der Demut zu akzeptieren, wie sich der Widerspruch anfühlt und auf das zu vertrauen, was nun von selber geschieht. Spirituelle Einsicht trifft sich mit dem Mitgefühl und der Hingabe, die Kräfte von Dhyana (Erkenntnis) und Bakthi (Liebe) nach der hinduistischen Terminologie vereinigen sich. Im Annehmen dessen, was gerade ist und was sich daraus entwickelt, ist auf einmal der Schleier der Illusion durchbrochen.

Zum Weiterlesen:
Die Illusion des bewussten Selbst
Illusion und Lebenspraxis

Dienstag, 9. Oktober 2018

Gerechtigkeitsideen im Advaita

Manche Advaita-Lehrer finden, dass die Gerechtigkeit in der Welt durch ein von vornherein in diese Welt implantiertes Ausgleichsprinzip zwischen dem Guten und dem Bösen gewährleistet wird.

Der Advaita-Lehrer Werner Ablass schreibt z.B.: „Gottt ist absolut chancenlos sich selbst in seiner Manifestation zu helfen. So groß und gewaltig die Macht Gotttes ist, ist auch seine Ohnmacht! 50:50. Also im exakt gleichen Verhältnis wie Licht und Schatten, Hässlich und Schön, Gut und Böse zueinander.“ (Werner Ablass: Außergewöhnlich gewöhnlich. BoD Norderstedt 2018, S. 202) (Anm.: Werner Ablass schreibt Gottt mit drei t, um seinen Gottesbegriff von einem alltäglich verwendeten zu unterscheiden.)

Unser romantisches Gerechtigkeitsempfinden


Wir verfügen offensichtlich über ein biographisch und ästhetisch begründetes Gerechtigkeitsempfinden – jeder, der Geschwister hat, ist damit besonders imprägniert –  und wir fühlen uns wohl, wenn Güter paritätisch geteilt werden. Das ist das Prinzip des Erbrechts in vielen Kulturen: Kinder sollen von ihren Eltern gleichviel erben. Wenn alle gleich viel haben, wird alles gut, so die romantische Hoffnung.

Davon ausgehend erscheint es zwar plausibel, dass das Hässliche und das Schöne, das Gute und das Böse, dass also alle Dualitäten in gleichen Anteilen im Gesamtplan vertreten sind. Aber wir können nicht einmal wissen, ob irgendwer oder irgendwas außer uns Menschlein im Universum an dieser Form von distributiver Gerechtigkeit interessiert ist. Und zu klären bleibt, ob dieses Ideal, das wir uns im großen Ganzen wünschen, im Grund nur dazu dient, unsere unerfüllten kindlichen Sehnsüchte zu befriedigen: Es sollen am Ende alle Unebenheiten in Gerechtigkeit ausgeglichen werden, ein grandioses Happyend zur Feier des Endes der Geschichte. Vielleicht brauchen wir für die Tröstung dieser Bangigkeit nicht einmal eine spirituelle Lehre, sondern es genügt unser inneres Verständnis für unser vielfältiges biographisches Leiden an diversen Ungerechtigkeiten.

Gibt es eine ästhetische Waage?


Aus anderen Gründen fraglich ist die Vorstellung vom Ausgleich zwischen den gerne so genannten Dualitäten. Die Anwendung des Begriffs der Dualität habe ich schon an anderem Ort in Frage gestellt. Ob Schönes und Hässliches ausgeglichen im Universum vertreten ist oder nicht, scheint mir eine letztlich unbeantwortbare und ins Uferlose führende Frage, weil es gerade in diesem Bereich von unendlichen Subjektivitäten nur so wimmelt. Was für die eine Person der Inbegriff des Schönen ist, z.B. ein Klavierkonzert von Mozart oder ein Selbstportrait von Rembrandt, kann für die andere Person hässlich oder belanglos sein. Es geht der Prozess der kulturellen Evolution in einer kreativen Weise weiter und schafft beständig neue Kriterien für das Schöne, unbeschadet der Befunde über ein ultimatives Ergebnis der kosmischen ästhetischen Waage.

Unterwegs zu einer gerechteren Gesellschaft


Noch problematischer wird es im Bereich der ethischen Polarität zwischen dem Guten und dem Bösen. Wenn wir proklamieren, dass sich das Verhältnis zwischen dem Guten und dem Bösen immer im Gleichmaß auspendelt, bewegen wir uns von einem schlüpfrigen auf ein tendenziell asoziales Terrain. Denn wir brauchen für das Funktionieren und für die Verbesserung unserer Gesellschaften und unserer Menschheitsgemeinschaft die Ausrichtung auf die Reduktion des Bösen zugunsten des Guten. Wir können auch, wenn wir einen distanzierten Blick auf die Menschheitsgeschichte richten, erkennen, dass sich die ethischen Standards und deren Implementierung laufend weiterentwickelt haben. Ein Höhepunkt war die Formulierung der Menschenrechte ab dem 18. Jahrhundert und deren weltweite Proklamation im Jahr 1948. Wenn heute z.B. sexuelle Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche oder sexuelle Übergriffe in der MeToo-Bewegung angeprangert werden und häufig zu gerichtlichen Verfolgungen führen, zeigt sich der Fortschritt im ethischen Bewusstsein. Verletzungen der Menschenwürde, die vor Jahrzehnten noch vertuscht, verschwiegen und bagatellisiert wurden, kommen zunehmend in ihrer Bosheit in die Öffentlichkeit, wodurch eine Erweiterung und Vertiefung der ethischen Normen und Werte erfolgt.

Steven Pinker (Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. Fischer TB 2013) hat in Hinblick auf den Begriff der Gewalt eine detaillierte Studie vorgelegt, in der er nachweisen konnte, dass es einen durchgängigen Trend in der Menschheitsgeschichte gibt, der die kontinuierliche Reduktion von Gewalttaten anzeigt. Der Trend hat sich zwar im letzten Jahrzehnt abgeflacht (als Folge der vielen bürgerkriegsartigen Konflikte auf der Welt), aber aufs Ganze der Geschichte bezogen, ist der Befund eindrucksvoll und überzeugend, wenn auch möglicherweise subjektiv kontraintuitiv.

Wenn wir nun – aus welcher Quelle oder übernatürlichen Einsicht heraus auch immer – darauf beharren, dass das Gute und das Böse immer in Balance bleiben und aus Prinzip bleiben müssen, kann uns das vielleicht helfen, mit dem Ausmaß an Bösem in der Welt, das uns manchmal überfordert und überwältigt, zurecht zu kommen. Es kann vielleicht als Trost dienen, wenn wir uns einreden, dass den Bösen irgendwann auch Böses widerfahren wird, wie in einem gängigen Hollywood-Film, und dass die armen Guten, die immer draufzahlen, schließlich und endlich doch ihren Lohn bekommen. Aber wir erlangen auf dieser Ebene keine spirituellen Meriten, sondern im günstigen Fall die Heilung von Wunden aus unserer eigenen Lebensgeschichte.

Vielmehr laufen wir Gefahr, mit dem Konzept von der Ausgleichung von Gut und Böse in eine ethische Nivellierung zu geraten. Wir missbrauchen dabei die Advaita-Lehre für einen sozialethischen Indifferentismus, der im gesellschaftlichen Kontext bestens dafür taugt, reaktionäre und asoziale Tendenzen zu unterstützen oder zu rechtfertigen. Jeder Extremist, der der Gesellschaft seine Moralvorstellungen mit Gewalt aufzwingen will, hätte sonst eine perfekte Rechtfertigung seiner menschenverachtenden Taten: Ich will ja nur die guten Taten mit etwas Bösem ausgleichen.

Wir alle sind, Advaita hin oder her, Teil der Gesellschaft, ob viertel-, halb- oder ganz erleuchtet, erwacht oder normal neurotisch. Und auf dieser Ebene tragen wir unsere individuelle Verantwortung, die uns niemand abnehmen kann, auch keine spirituelle Lehre, dafür, dass sich die Achtung unter den Menschen verstärkt und die Missachtung zurückgeht. Nehmen wir diese Verantwortung nicht wahr, so behindern wir aktiv die Weiterentwicklung des Guten zugunsten des Bösen. Nutzen wir dafür eine spirituelle Theorie, dann agieren wir einfach als blinde Heuchler.

Innenarbeit verringert das Böse


Nach meiner Ansicht und Einsicht kann die Advaita-Lehre nur funktionieren, wenn sie anerkennt, dass Menschen in ihrer inneren Entwicklung, in der sie sich mehr und mehr von Ängsten und Verletzungen lösen und in Frieden mit sich und der eigenen Geschichte gelangen, immer mehr ihre Impulse verlieren, böse zu handeln und statt dessen zur Selbstverständlichkeit des Guten gelangen.

Um es im Kontext von Advaita auszudrücken: Im Bewusstsein der Einheit mit dem Ganzen, in dem das, was geschieht, ohne Entscheidung, Handlung und Verantwortung geschieht, geschieht das, was im konventionellen sozialen Sinn als das Gute bezeichnet wird, „von selber“ und es wird ebenso das Böse weniger. Wer mit sich selbst im Frieden ist, verspürt keinen Impuls mehr, andere in Unfrieden zu stürzen. 

In diesem Sinn haben wir jeden Grund, darauf zu vertrauen, dass das Gute mehr und das Böse weniger wird, je mehr Menschen sich ihrer eigenen inneren Entwicklung und spirituellen Suche widmen. Die Welt darf ruhig eine bessere werden, d.h. das Leiden der Menschen soll weniger werden, und dafür tragen wir alle die Verantwortung. Denn jeder von uns kann dazu seinen Beitrag leisten, durch innere Heilungsschritte und dadurch, im Außen Gutes zu tun und Böses zu lassen. Kosmologische Theorien, die ein vorherbestimmtes Gleichgewicht zwischen diesen Polen proklamieren, können dieser Entwicklung nur im Weg stehen und sollten deshalb nicht weiter ernst genommen werden.

Die ethische und die spirituelle Vernunft


Zuständig für das Gute und das Böse sowie deren Unterscheidung ist die ethische Vernunft (die bei Immanuel Kant die „praktische Vernunft“ heißt). Sie hat die Aufgabe, das Zusammenleben der Menschen zu regeln und zu verbessern, um eine menschenwürdige und friedliche Gesellschaft zu bilden. Die spirituelle Vernunft hat eine andere Aufgabe – sie prüft und verfeinert die Wege zur inneren Befreiung und zum inneren Frieden. Aus der Ethik und auch aus der Politik sollte sie sich tunlichst heraushalten, sonst kommt es zu Überscheidungen und Verwerfungen, für die es in der Geschichte bis heute viele abschreckende Beispiele gibt. Wann immer spirituelle Autoritäten – Kirchen, religiöse Führer und spirituelle Meister – kraft ihrer Autorität in „weltlichen“ Dingen mitmischen wollen, stehen sie in der Gefahr, Radikalität, Fundamentalismen und Gewalt zu säen.
Denn sie wecken in den Menschen die Hoffnung, es bedürfe nur der Durchsetzung bestimmter Werte, Normen oder Gesellschaftsordnungen, um ein inneres oder ewiges Heil zu erlangen. Mit dieser vermeintlichen Hoffnung verbinden die verzweifelten Menschen schnell die Bereitschaft zur Gewalt. 

Die spirituelle Vernunft macht uns auf die Unterschiede aufmerksam: Die Bereiche der Ethik und der Politik haben ihre eigenen Erfordernisse und Eigentümlichkeiten, und wer diese missachtet, wird dort scheitern, auch mit den besten Absichten. „Schuster, bleib bei deinem Leisten“, ist man versucht zu sagen, wenn spirituelle Lehrer aus ihrer Weisheit heraus versuchen, ethische Grundfragen zu lösen oder politische Ansichten zu äußern. Ihre Kompetenz in diesen Themenbereichen bemisst sich nicht an der Kompetenz in der spirituellen Sphäre, sondern an ihrem Verständnis und Informationsstand für die ethischen und politischen Lebensbereiche und ist sonst in nichts anderen in diesem Feld überlegen.

Die spirituelle Weisheit ist viel zu weit entfernt von der Alltagspraxis und den damit verbundenen Problemen. Sie ist nicht tauglich für die feineren Differenzierungen zwischen Gut und Böse, die im zwischenmenschlichen Leben immer wieder neu gefunden werden müssen, und noch weniger für die komplexen Fragen der Machtverteilung und des Interessensausgleiches, die in der Politik ausverhandelt werden müssen. 

Jeder Mensch hat das Recht auf seine Meinungen und Stellungnahmen, und jeder sollte sich auch in die öffentlichen Diskurse einbringen. Aber eine wichtige Verantwortung spiritueller Führer und Lehrer liegt darin, die eigenen persönlichen Ansichten zu den lebenspraktischen Verhältnissen von den Weisheiten, die sie aus tieferen Quellen schöpfen, säuberlich und klar zu unterscheiden, um die Zuhörer und Schüler nicht zu verwirren oder zu manipulieren. Absolute und relative Wahrheiten müssen als solche gekennzeichnet werden, da es sonst zu einem Etikettenschwindel kommen kann. So sollten wir das Wort von Jesus anwenden: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ Die Beschränkung auf das Wesentliche sollte ein Markenzeichen jeder spirituellen Lehre sein, denn das Absolute verträgt keine konstruierten subjektiven Beiwerke, sei die lehrende Person noch so berühmt und heilig.

Zum Weiterlesen:
Sind wir zwei oder eins?

Die Anhänglichkeit an die Dualität
Das Ego und die Dualität
Advaita und die Vorherbestimmung

Sonntag, 7. Oktober 2018

Advaita und die Vorherbestimmung

Eine weitere Frage stellt sich bei der Advaita-Lehre, die, wie in den vorigen Beiträgen besprochen, auf den freien Willen verzichtet. Welche Kraft bestimmt die Ereignisse und vor allem den Ablauf des Lebens der Menschen, wenn es keine Willensfreiheit gibt? Wer oder was also lenkt unser Schicksal? Oder gibt es überhaupt eine Lenkung? 


Vorplanung und Vorbestimmung


Dazu gibt es keine Einigkeit unter den Advaita-Lehrern. Manche, wie Maitreya Ishwara, proklamierten eine unendliche Intelligenz oder eine göttliche Instanz, die alles, was seit Anbeginn der Zeit geschehen ist und bis zum Ende aller Zeiten geschehen wird, bis ins Kleinste vorgeplant und vorgesehen hat. Auch Ramesh Balsekar, ein indischer Weisheitslehrer, der viele Sucher mit der Advaita-Lehre inspiriert hat, schrieb: „Alles, was geschieht, richtet sich nach dem Willen Gottes,“ und er bezeichnete die Gesamtheit des Geschehens als das „Drehbuch des göttlichen Dramatikers“. Er meinte auch, dass selbst eine simple Tätigkeit wie das Naseputzen vorherbestimmt wäre. 

Die Frage, die sich bei solchen Gedankengängen stellt, ist, woher die Einsicht stammt, die zu solchen weitgespannten kosmologischen Aussagen berechtigt. Verfügen diese Meister über eine direkte Verbindung zur Quelle des Seins? Maitreya Ishwara hat sich auf eine göttliche Eingebung berufen, die ihm seine Lehre und sein ganzes Buch diktiert hat (Unity. The Dawn of Conscious Civilisation, 2002). Diese subjektive Gewissheit ist zwar nicht anzweifelbar, ihre kommunikative Evidenz ist aber schwach, d.h. andere Menschen können solche Gedankengänge überzeugend finden und daran glauben oder sie unbegründet finden und nicht daran glauben. Die argumentative Basis ist dünn, wenn es nichts als eine nur subjektiv zugängliche Quelle für die Wahrheitseinsicht gibt.


Kontrolle über unser Schicksal


Die Radikalität des Advaita-Ansatzes wird durch solche zusätzliche Konstruktionen abgeschwächt. Es erscheint, als ob es zu viel verlangt wäre, auf den freien Willen und dann selbst noch auf einen Gott oder eine andere Macht der Vorsehung verzichten zu müssen – ein Übermaß an Kränkung für unseren Geist, der das Ganze verstehen will, das, was „die Welt im Innersten zusammenhält“. Wir wollen wissen, wessen Wille regiert, wenn unserer so massiv an Bedeutung verliert oder gänzlich aufgegeben werden muss. Und wenn ein Mensch der göttlichen Vollkommenheit so nahe kommt, wie es bei einem erleuchteten Menschen der Fall sein könnte, scheint der Drang groß, die letzten Fragen umfassend zu beantworten. Und es scheint auch der Drang der Schüler groß, dem Meister zu glauben, in Umgehung der eigenen Vernunft und Einsicht.

Wir als Statisten in diesem grandiosen Stück können uns schlecht damit zufrieden geben, nicht zu wissen und nicht wissen zu können, was sich der Autor dabei gedacht hat, vor allem, soweit es uns selber und unser Leben anbetrifft. Wir wollen zumindest noch ein Zipfelchen an Kontrolle über unser Schicksal erhaschen. Allerdings kommen wir mit Kontrolle nirgends weiter, weil sich unsere leidsüchtige Willkür einmischt. Immer, wenn uns Gutes widerfährt, neigen wir dazu, den Autor zu preisen, aber wenn wir gerade im Eck sind, fühlen wir uns von ihm verraten oder missachtet. Manchmal finden wir das Drehbuch exzellent und dann wieder wollen wir es am liebsten umschreiben oder überhaupt in den Müll werfen.

Das sind alles menschliche, allzu menschliche Reaktionsweisen. Sie haben möglicherweise mit der Funktionsweise des großen Ganzen nichts oder kaum etwas zu tun. Wenn wir unser Denken, und damit das Treiben unseres Verstandes auf das Notwendige beschränken, und das sollte ja ein Bestreben auf jedem spirituellen Weg sein, dann kommen wir viel schneller an Grenzen, die allenfalls mit der leichtfüßigen und unverbindlichen Kraft der Fantasie überwunden werden können. Dort finden sich aber keine mit intellektueller Redlichkeit und kommunikativer Argumentierbarkeit vereinbare Einsichten. Dem Sucher bieten sich allenfalls Plausibilitäten oder Absurditäten, je nach Geschmacksrichtung und vielfach vorgeprägten emotionalen und kognitiven Erwartungen. Wir befinden uns damit im Bereich konkurrierender relativer Wahrheiten, die am Markt der Spiritualitäten ihre Kunden und Anhänger suchen.


Radikale Nicht-Dualität


Die Radikalität der nicht-dualen Weltsicht allerdings, wie sie die Advaita-Lehre anstrebt, verträgt keine außer- oder vorweltlichen Instanzen, die sich ihr göttliches Spiel (Leela) in ihrer Hängematte zusammenfantasieren und dann irgendeinen Knopf drücken, damit der Film genannt Universalgeschichte abgespult wird mit all seinen Schönheiten und Grauslichkeiten. 

Nach der Advaita-Lehre geschieht alles, was geschieht, genau so, wie es eben geschieht. Es gibt niemanden, der entscheidet und niemanden, der handelt. Also braucht es auch niemanden, der plant oder vorherbestimmt. Wir fallen nur dann ganz in den Moment, wenn wir ihn in seiner Gänze annehmen können, völlig unabhängig davon, ob er vorgeplant, von einer göttlichen Intelligenz oder einem göttlichen Dramaturgen ersonnen ist. Es ist dieses Geschehen, das sich im einen Moment auftut und im nächsten verschwunden ist, das uns geschenkt wird, und es ist ein Geschehen ohne tiefere Zweckbestimmung und Sinnhaftigkeit im Sinn irgendeines Gesamtplans. 


Konstruktionen ohne Konstrukteur


Alle Konstruktionen, die sich daran anhängen, sind ad libidum – wir können sie uns aneignen oder sie verwerfen, es ändert sich höchstens unsere Befindlichkeit, aber nicht die Tiefe unserer Einsichten. So kann es sein, dass sich das Gute und Böse im Gesamtplan durch die verschiedenen Vorleben der Menschen insgesamt ausgleichen und dadurch ein Gerechtigkeitsprinzip verwirklicht wird (in Summe gäbe es dann gleichviel böse wie gute Taten, gleichviel Leid wie Freude – für die individuelle Seele, die durch ihre 108 Inkarnationen durchwandert und für die Schöpfung insgesamt), oder es kann auch nicht so sein. Vielleicht gibt es überhaupt kein übergeordnetes und von einer jenseitigen Instanz verwaltetes Gerechtigkeitsprinzip.

Vielleicht spielt die oft zitierte Dualität von Böse und Gut nur im Denken und Handeln der Menschen eine wichtige und unverzichtbare Rolle, weil sie ohne diese Begriffe ihr Sozialleben nicht auf die Reihe kriegen, aber ist das im Gesamten des Universums kein Ordnungsprinzip: Sind schwarze Löcher, Supernovas, Meteoriten böse oder gut? Sind Atomkerne gut oder böse zu ihren Elektronen? Sind Raubtiere böse und Fluchttiere gut, oder umgekehrt? Schnell kommen wir an Grenzen dieser dualen Begriffe und merken daran, dass es genügt, sie auf die menschliche Sphäre, und zwar auf das interaktive Sozialleben zu beschränken. Dort haben diese Begriffe eine grundlegende Funktion, darüber hinaus verlieren sie ihren Sinn.

Wenn wir die Botschaft der Advaita-Lehre kompromisslos ernst nehmen, bleibt kein Platz für eine allmächtige Instanz, die außerhalb von Raum und Zeit steht und von dort aus lenkend oder vorausplanend eingreift, weil es nur die Geschehnisse in Raum und Zeit gibt und alles darüber hinaus Kreationen unseres endlichen und relativen Verstandes sind. Das Naseputzen findet statt, weil es gerade stattfindet und nicht weil es von irgendwem vorausgeplant wäre.

Ramana Maharshi, der indische Weise und Lehrer vieler Advaita-Lehrer, verkündete deshalb: „Keine Schöpfung, keine Auflösung, kein Weg, kein Ziel, kein freier Wille, keine Vorherbestimmung.“ Freiheit ereignet sich erst, wenn aller Ballast abgeworfen ist. Was in der spirituellen Sphäre unnütz ist, braucht uns nicht mehr zu beschäftigen und damit erweitern wir den freien Raum in uns. Wir können also getrost alle überflüssigen Begriffe und Fragen weglassen und ganz beim momentanen Erleben bleiben. Maharshi sagte auch: „Erkenne dich selbst, bevor du dir über das Wesen Gottes und der Welt Gedanken machst.“ Und wenn wir uns erkannt haben, brauchen wir keine Gedanken mehr über das Wesen Gottes und der Welt. Solange wir die Einheit mit allem Sein in uns wahrnehmen, ist es still und frei in uns. Kommen diese Gedanken in uns hoch, so erkennen wir, dass wir gerade nicht in der Einheit (=Nicht-Dualität) sind. Und das ist natürlich einfach so geschehen, wie alles andere vorher geschehen ist und nachher geschehen wird.

Zum Weiterlesen:
Das Ego und der freie Wille
Flexibilität und Ego-Entmachtung
Tun und Geschehenlassen
"Alles ist bestimmt"
Die Kraft des Ja
Freier Wille - Heilige Kuh oder Wesensmerkmal?
Freier Wille und Bewusstseinsentwicklung