Sonntag, 28. Dezember 2014

Erzählend sind wir und erzählt

Wir sind erzählende Wesen. Wir sind erzählte Wesen. Wie wir uns sehen, wie wir unsere Identität erleben, ist zum Teil das Resultat von Erzählungen. So sind wir ein beständig sich wandelnder Endpunkt einer Erzählung. Vollständig erleben wir uns, wenn die Erzählung einen durchgängigen Duktus aufweist, wenn also der Sinn von einem Ereignis zum nächsten weitergereicht werden kann und in jedem Moment ein Blick auf den Gesamtsinn eingeholt werden kann. Dann bildet sich eine dynamische und flexible Identität, die innere Stabilität und äußere Kontinuität in die Lebenspraxis einbringt.

Jede Körperzelle hat ihre Geschichte, ihre Entstehung und die Umstände ihrer Entwicklung in sich abgespeichert und präsent, soweit sie nicht abgebrochen und fragmentiert wurde. Leben ist dauerndes erzählendes Rekonstruieren von Vergangenheit. Leben ist das Herstellen von Kontinuität, die in jedem Augenblick neu geschrieben werden muss, wie die Geschichte einer Nation, die nicht nur durch das Weitergehen der Entwicklung neue Inhalte bekommt, die in die Erzählung eingebettet werden müssen, sondern auch beständig neue Blickpunkte möglich macht, die die Geschichte als ganze in einem neuen Licht zeigen. Archive werden geöffnet und erlauben Einblicke in bisher geheim gehaltenes Wissen, neue Fragen werden an die Geschichte gestellt, die neue Antworten möglich machen.

Die Kreativität der Geschichte zeigt sich darin, dass sie selber sich dauernd umschreibt und umschreiben muss. Nur Diktaturen versuchen, ihre Geschichte in Stein zu meißeln, und zerbrechen daran, weil das Einmeißeln der Geschichte unweigerlich den Verlust von Lebendigkeit und Kreativität nach sich zieht. Die große Lüge der Diktaturen liegt darin, dass sie die Traumen, die sie verursacht haben, hinter den vergoldeten Lettern einer gefälschten Geschichte verstecken.

Geschichtslosigkeit macht krank


Die Rekonstruktion der Geschichte, also das Auffüllen der Lücken in der Erzähltradition, kann nicht willkürlich erfolgen. Sie entsteht von selber, wenn die Geschichte durch das Hinschauen auf das bisher Verdrängte und Verlorene vervollständigt wurde. Werden statt der tatsächlichen Vorgänge erfundene Geschichten eingeschmuggelt, so erscheint die Geschichte verzerrt und verwirrt die Menschen. Deshalb müssen alle Gräueltaten der Geschichte benannt, alle Täter namhaft gemacht werden, um die Geschichte als Wirklichkeit wieder herzustellen und von jeder Fiktionalisierung zu unterscheiden.

Die Rekonstruktion der Geschichte ist also nicht der kreativen Gestaltung eines Kunstwerkes vergleichbar, das einer freien Fantasie, als Folge einer Wirklichkeitssicht, entspringt. Es ist auch kein Spiel, das sich innerhalb bestimmter Regeln frei entfaltet, sondern es unterliegt einem Ernst, den das Leben dort einfordert, wo es an der Kippe steht. Es fordert nichts weniger als die Wahrheit ein, das, was wirklich geschehen ist, ohne Beschönigung oder Verniedlichung, ohne Über- oder Untertreibung. Nur die Wahrheit kann heilsam sein, keine Lüge und keine Ablenkung, also auch kein esoterischer Hokuspokus, indem irgendwelche Geist- oder Naturwesen, Vorleben oder Teufelsaustreibungen einspringen sollen, um die Lücken der eigenen Lebensgeschichte mit Sinn aufzufüllen. Der schonungslose Blick auf die Wahrheit, das Eingestehen und Zulassen des Schrecklichen, so schwer das auch sein mag und soviel Kraft und Mut das auch kosten mag, soviel Schmerz das verursachen mag, ist das einzige dauerhaft und nachhaltig wirkenden Heilmittel, die einzige sinnstiftenden Heilmethode.

Nicht rekonstruierte Lebensgeschichte ist lang- und kurzfristig letal. Kurzfristig, indem sie Ressourcen bindet, die anderweitig fehlen. So kann sich die nicht rekonstruierte Lebensgeschichte in körperlichen oder seelischen Erkrankungen abbilden. Das Erscheinungsbild der Depression z.B. signalisiert das Abgeschnittensein von Sinnzusammenhängen, bis hin zur körperlichen Ebene, sodass eine depressive Person ihren Körper nicht mehr spüren kann, abgesehen von dem allgemeinen Gefühl der Sinnlosigkeit, von dem viele Depressive berichten.

Die unvollständige kollektive Geschichte ist Quelle von Konflikten, die in Kriegen ausarten können. So zehren z.B. die Konflikte in der muslimischen Welt von widersprüchlichen Geschichtsbildern und unaufgearbeiteten uralten Streitereien, Zwistigkeiten, Morden und Massakern. Der Wiederholungszwang, der aus der einseitigen Sicht der Geschichte erwächst, verlängert nur die Kette des Leidens und ist kein Schritt zur Lösung.

Der Weg zur Lösung öffnet sich dort, wo wir beginnen, aktiv nach den Lücken in unseren eigenen Biographien zu forschen, als Individuen und als Kollektive.



Vgl. Narrative Rekonstruktion und Traumaverarbeitung
Rechtsterror braucht Geschichtstherapie
Die erzählte Geschichte und der Moment

Samstag, 27. Dezember 2014

Narrative Rekonstruktion und Traumaverarbeitung

Traumen bewirken Lücken in der Lebensgeschichte. Wenn etwas Drastisches in unser Leben hereinbricht, das wir nicht verarbeiten können, setzt auch die Erinnerung aus oder wird verzerrt. Unsere Lebensgeschichte hat an diesen Stellen Brüche. Sie kann nicht durchgängig erzählt werden. Es fehlt ein wichtiger Teil, der unserer Geschichte den Zusammenhang und durchgängigen Sinn gibt. Die Kontinuität ist unterbrochen, die Identität, die aus der historischen Kontinuität entsteht, ist fragmentiert. Die innere Ganzheit wird vermisst und bildet sich als starke Sehnsucht nach etwas aus, was nicht mehr erreichbar scheint.

Traumen wirken über den Moment hinaus, ohne dass dieser Schatten mit seinem Ursprung in Zusammenhang gebracht werden kann. Solche einschneidenden und unverarbeiteten Erfahrungen werfen Schatten, sodass die weiterlaufende Lebensgeschichte an wichtigen Stellen abgedunkelt ist, wo sie nicht bewusst erinnert werden kann. Es sind nicht die vergessenen Banalitäten, die solche Bruchstellen bewirken, sondern die Ereignisse, die das innere Erleben umgestaltet haben, sodass es ein Leben vorher und ein anderes nachher gibt. Sie ragen wie Fragezeichen aus dem Strom der vergangenen Erfahrungen heraus. Es ist, als ob die Erzählung eine zensurierte Stelle hätte, an der nicht mehr entziffert werden kann, was dort geschehen ist. Diese Stelle ist von Angst umzingelt, wie von einer unüberwindlichen Mauer, und man weiß hächstens, dass hinter ihr etwas Schlimmes lauert.

Die Traumaheilung besteht darin, dass diese Lücke geschlossen wird, indem die abgespaltene Erfahrung für das Wiedererleben geöffnet wird. Die Erzählung kann vervollständigt werden. Damit entsteht ein stimmiger Sinnzusammenhang, Teile fügen sich in ein Bild oder in eine Gestalt zusammen. Es tritt zunehmend eine Aufhellung in der Traumaumgebung ein, die meist längere Zeit in Anspruch nimmt.

Das Sprechen hilft bei der Rekonstruktion. Das Erzählen der Geschichte ist auf Sprechen und Gehörtwerden ausgerichtet. Wir erleben Sinn, wenn sich Zusammenhänge bilden, die uns einleuchten, die etwas erhellen, was vorher im Dunkeln war. Das Gespräch dient als Erneuerung und Vervollständigung der Erzählung, die an einem Punkt unterbrochen wurde, weil das Leben in seinem Fließen an diesem Punkt unterbrochen wurde.

Das Gespräch liefert das Modell für die narrative Rekonstruktion. Es muss die Kontinuität des Lebens nicht im Detail wieder hergestellt werden, es muss also nicht jede Einzelheit neu erzählt werden, es genügt das Modell. Dadurch, dass Licht ins Dunkel gedrungen ist, liegt alles offen und klar, und die Erzählstränge können von allen Seiten an das Ereignis andocken. Die Kontinuität ist nicht nur linear hergestellt, sondern auch in einem zusammenhängenden Netz von Sinnbezügen.


Wirkung auf das Gehirn


Das Modell der Rekonstruktion ermöglicht die Integration von rechtshemisphärischen Strukturen, wie sie in der Narration wirksam sind, und von linkshemisphärischen Elementen, die abstraktere Sinnbeziehungen vom Typus der Erklärung erlauben. Erklärt ist ein Ereignis, wenn seine Bedingungen und seine Ablaufstruktur verstanden werden kann, wenn also die Logik des Ereignisses rekonstruiert werden kann.

Integriert werden auch die „heißen“ und „kühlen“ Teile des limbischen Systems unseres Gehirns. Damit werden zwei für unser emotionales Gedächtnis wichtige Zentren in Verbindung gebracht, sodass implizite und explizite Erinnerung zusammenfinden. Dafür ist wichtig zu wissen, dass jede Stresserfahrung  in zwei Reizverarbeitungs- bzw. Speichersystemen unseres Gehirns parallel bewertet wird: im „kühlen“ Hippocampus und in der „heißen“ Amygdala.

Die Amygdala bildet eine Art Frühwarnsystem. Sie ist entwicklungspsychologisch früher angelegt (3. Monat der Schwangerschaft) und funktioniert schneller und primitiver als der Hippocampus. Sie stellt unser implizites Gedächtnis mit fragmentarischer Speicherung der komplexen Stressreize dar, ohne Raum-Zeit-Zuordnung (also auch ohne biographische Zuordnung). dabei wird das Broca-Sprachzentrums abgekoppelt und die Verbindung zum Thalamus, der darüber entscheidet, was zum Bewusstsein gelangt, unterbrochen. Es gibt also in der Amygdala keine Grundlagen für verbale Ausdrucksmöglichkeiten und für eine narrative Verarbeitung.

Demgegenüber regelt das „kühle“ Hippocampus-System das später entwickelte (2.-3. Lebensjahr), zeitlich geordnete, explizite Gedächtnis. Dort werden Informationen sprachlich ausdrückbar, episodisch geordnet, kognitiv überprüfbar und weniger emotional aufgeladen verarbeitet und gespeichert. Der Hippocampus ist eng verbunden mit dem Broca-Sprachzentrum und dem Thalamus.

So  verbleiben Traumata durch Überflutung mit Stress und durch die „Abschaltung“ des Hippocampus („peritraumatische Dissoziation“) im „heißen Speicher“. Sie können also nicht zu einer abgeschlossenen Geschichte werden, deren Anfang, Verlauf, Ende und Bedeutung der betreffenden Person bewusst sind.  Deshalb sind die so abgespeicherten Traumafragmente jederzeit durch Reize, die an die ursprüngliche Erfahrung erinnern, von außen auslösbar. Es wird dann eine für die gegenwärtige Situation der Person inadäquate körperliche Flucht- oder Kampfbereitschaft oder auch Erstarrungsreaktion ausgelöst. Erleben und Verhalten können dadurch stark beeinflusst und verzerrt werden, oft ohne dass für die betreffende Person der Zusammenhang zwischen der damaligen Situation und den irritierenden, ängstigenden Sinneseindrücken oder Veränderungen der Wahrnehmung und Reaktionen in der Gegenwart ersichtlich ist.

Die rekonstruktive Erzählung bettet die isoliert in der Amygdala abgelegte Traumaerfahrung in einen kognitiven Zusammenhang ein und nimmt ihr damit die destruktive Wirkkraft, die sie durch das Auslösen von unspezifischen Ängsten ausüben kann. Worüber wir reden und erzählen können, brauchen wir keine Angst zu haben.


Weiterführende Informationen zur Gehirntheorie

Vgl. Erzählend sind wir und erzählt
Die erzählte Geschichte und der Moment 

Freitag, 5. Dezember 2014

Die seelischen Trümmer der NS-Erziehung

Der zweite Weltkrieg hat eine Spur der Verwüstung in den Seelen hinterlassen. Gebrochene und traumatisierte Männer, die dann Väter werden, erschöpfte und ausgelaugte Frauen, die Mütter werden, bekommen Kinder, die all diese Lasten als Gepäck fürs Leben mitbekommen. Dort, wo sie nicht aufgearbeitet werden, plagen sie noch die Enkelgenerationen.

Dazu muss auch in Betracht gezogen werden, wie die Kindererziehung in dieser Zeit durch die NS-Ideologie geprägt wurde – ein weiteres düsteres Kapitel aus dieser Schreckenszeit.

In dem Buch „Seelische Trümmer“ von Bettina Alberti findet sich der Hinweis auf einen Erziehungsratgeber, der die Grundzüge der nationalsozialistischen Vorstellungen für den Umgang mit Kindern den Eltern vorgibt und damit Mitschuld trägt an tausendfacher emotionaler Misshandlung und Entwicklungstraumatisierung. Das Buch von Johanna Haarer heißt „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, ist 1934 erschienen und erreichte bis Kriegsende eine Gesamtauflage von 690 000 Exemplaren, empfohlen vom „Völkischen Beobachter“.

Alberti schreibt zu den bindungspsychologischen Aspekten, die das Buch empfiehlt:

•    „möglichst wenig physische Nähe zwischen Mutter und Kind von Geburt an,
•    größtmögliche emotionale Distanz,
•    Beschränkung auf die notwendige Versorgung des Kindes in seinen physiologischen Bedürfnissen wie Hunger und Sauberkeit,
•    Missachtung der Bedürfnissignale von Babys, die sie durch Schreien und Wimmern zu äußern in der Lage sind."(Alberti, S. 153)


Dazu ein Zitat von Johanna Haarer: „Liebe Mutter, (…) fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen, wenn es das möchte. Das Kind wird nach Möglichkeit an einen stillen Ort abgeschoben, wo es allein bleibt, und erst zur nächsten Mahlzeit wieder hervorgenommen.“


Sie empfiehlt der Mutter, den Säugling so weit weg von sich zu halten, dass er nicht auf ihre Augen fokussieren kann und so einen sicheren und beruhigenden Blickkontakt aufbauen kann. So, als hätte sie intuitiv die Ergebnisse der Bindungsforschung erkannt, propagiert sie alles, was dazu dient, dass die Beziehung zwischen Mutter und Kind von Anfang an gestört oder sogar zerstört wird.

Es ist klar, dass eine derart herzlose und kinderfeindliche Pädagogik nur von jemandem vertreten werden kann, der selber eine traumatisierte Kindheit hatte. Das entschuldigt nicht den massiven Schaden, der angerichtet wurde. Dass viele Eltern diese Erziehungsmaximen zu ihren eigenen machten, kann auch nur an ihrer traumatisierten Kindheit liegen und entschuldigt sie auch nicht.



Totalitarismus von Anfang an


Der totalitäre Anspruch des Regimes wird bis in die Säuglingsstube hinein ausgedehnt. Von Anfang an muss sich das Menschenwesen unterordnen. Dazu wurden die Eltern manipuliert: "Die Angst, das Kind sonst nicht mehr lenken zu können, wurde den Eltern systematisch ins Bewusstsein gepflanzt. Das Kind sollte möglichst früh lernen, die Welt in Befehlshaber und Gehorchende einzuteilen." (Alberti, S. 155)

"Die Selbstständigkeit des Kindes bestand in der freiwilligen Befolgung von Befehlen der Erwachsenen. Auch diese Maxime gab es noch häufig in den 50er- und 60er-Jahren. Selbstständigkeit war  nicht eigenes Wahrnehmen, Denken und Fühlen, sondern Gehorchen aus freiem Willen. (…) Dadurch gehörte der innere Schmerz der inneren Leere unvermeidbar zum Leben dazu. An viele Kinder der in den 50er- und 60er-Jahren Geborenen wurde dies unreflektiert von ihren bindungstraumatisierten Müttern und Vätern weitergegeben. Die Suche nach Erlösung aus innerer Einsamkeit, aus Schuldzuweisung und Versagen, aus dem Bemühen, liebenswert zu sein und es besser zu machen, kennen viele der heutigen Erwachsenen." (Alberti, S. 157)

Erstaunlicherweise wurde die letzte Auflage dieses autoritären Erziehungsratgebers 1986 gedruckt, dessen Quintessenz in folgendem liegt: in "der konsequenten Nichtbefriedigung früher Bindungsbedürfnisse, der Missachtung und Verleugnung der Seele von Kindern und Jugendlichen, daraus folgender Erzeugung eines schmerzlichen seelischen Hungers, der nach Erlösung suchte, und der Überführung der Sehnsucht in ein Kollektiv, das Halt, Geborgenheit und Anerkennung endlich zu geben versprach." (Alberti, S. 163)

"Funktionieren blieb ein Wert, der die Kriegskinder-Generation in ihrem viel zu frühen Erwachsenwerden gebunden hielt." (Alberti, S. 171)

Damit erkennen wir eine wichtige Wurzel des Funktionsmodus, der unsere Zeit tief imprägniert hat. Von Anfang an wird gezielt an dem Aufbau von chronischem Stress gearbeitet, der die Grundlage für eine Haltung bildet, die nur in der richtig erbrachten Leistung eine Überlebenschance sieht.

Offensichtlich haben die Nationalsozialisten diese Maschinisierung des Menschen nicht erfunden. Sie knüpften an eine Tradition der Instrumentalisierung der Kinder an, die weit in der Geschichte zurückreicht und eine besondere Verschärfung durch das militarisierte Preußentum erfahren hat. Der Nationalsozialismus hat sie mit der Verachtung von Minderheiten und der konsequenten Vorbereitung auf einen Vernichtungskrieg verbunden.


Literatur:
Bettina Alberti: Seelische Trümmer. Geboren in den 50er und 60er Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas. München: Kösel Verlag 2010
Gregor Dill: Nationalsozialistische Säuglingspflege. Eine frühe Erziehung zum Massenmenschen. Stuttgart: Enke 1999
Sigrid Chamberlain: Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Gießen: Psychosozial 2000

Donnerstag, 4. Dezember 2014

Die Idee der Inkarnation und die allgemeine Vernunft

Viele ungeprüfte Annahmen erzeugen viele Ungereimtheiten um das Konzept der bewussten Inkarnation, also der Vorstellung, dass sich die Seele, bevor sie in der Empfängnis körperliche Form annimmt, für das Leben, das sie auf sich nimmt, bewusst entscheidet. Im vorigen Blogbeitrag zu dem Thema wurde versucht, die Spuren des Egos in diesem Konzept aufzuspüren und die praktischen Folgen zu erörtern, die mit der Verantwortungsübernahme aus einer angeblich bewussten Entscheidung verbunden sind.

Die ätherische Mega-Verantwortung


Das Modell der Bewusstseinsevolution kann nützlich sein, um die Ebenen der Modellbildung besser verstehen und zuordnen zu können. Die persönlicher Verantwortungsfähigkeit, die der Seele vor der Empfängnis zugesprochen wird, ist ein Leitthema der personalistischen Stufe der Bewusstseinsevolution. Dort ist die Idee maßgeblich, dass jeder Mensch die umfassende Verantwortung für sein Leben übernehmen soll. Allerdings gehört auch die Einsicht dazu, dass diese Verantwortung nur schrittweise altersgemäß aufgebaut und übernommen werden kann. Ein Kleinkind kann nicht im gleichen Maß für sein Leben Verantwortung übernehmen wie ein Erwachsener, und noch weniger gilt das für einen winzigen Embryo. Auf der personalistischen Ebene lernen wir also zu unterscheiden, welches Ausmaß an Verantwortung einem bestimmten Menschen in einer bestimmten Situation zugemutet werden kann.

Die nächste, systemische Stufe des Bewusstseins relativiert dann schon die Bedeutung der Verantwortung und des freien Willens. Systemisch betrachtet, wird klar, dass es keine absolute Verantwortung für das eigene Leben geben kann. Denn es ist eingewoben in umfangreiche und weitreichende Zusammenhänge, Motive, Rücksichten, Einflüsse, Prägungen usw., die die Spielräume unserer Entscheidungen so eng halten, dass sich unsere Entscheidungsfreiheit in der Praxis ziemlich bescheiden ausnimmt.

Bei der Rückprojektion auf einen vorgeburtlichen Zustand wird dagegen im Modell der bewussten Inkarnation die höchstmögliche Form der Verantwortung angenommen, die auch notwendig ist, wenn eine Entscheidung von solcher Tragweite wie die über das eigene Lebensschicksal gefällt werden soll. Nie wieder im Leben stehen wir vor einer solchen Entscheidungssituation, nicht einmal dann, wenn wir überlegen, unserem Leben ein Ende zu setzen. Denn da ist ja vorher schon einiges passiert. Und wenn wir zu dieser Frage die Literatur zu Hilfe nehmen, sehen wir etwa bei Dostojewski, welch furchtbares inneres Ringen um die Entscheidung zum Selbstmord entsteht (z.B. im Roman „Die Dämonen“). Wir sind völlig überfordert, wenn wir uns vorstellen, über das, was wir sind, eine Entscheidung über Sein oder Nichtsein zu treffen. Deshalb ist es immer eine Form der Verzweiflung, der emotionalen Verwirrung, die dazu führt, Hand an sich zu legen. Ob also jemals ein „Freitod“ aus einer „wirklich“ freien Entscheidung gefällt wurde, ist äußerst fraglich.

Woher jedoch soll diese kristallene Klarheit in der Situation vor der Empfängnis kommen, mit der sich eine Seele in voller Freiheit entscheiden müsste, ihr zukünftiges Schicksal in der ganzen Last der Verantwortung, für die volle Länge und für alle Details, auf sich zu nehmen? Nie mehr sonst im Leben kommen wir in eine solche Lage, und deshalb entwickeln wir auch nie die Kompetenz, die wir für eine derartige weitreichende und umfassende Entscheidung benötigen würden.

Wie kommen wir überhaupt auf die Idee einer solchen Entscheidungsklarheit und Entscheidungsmacht? Es ist unser assoziatives Denken, das die Möglichkeit einer derartigen Entscheidungsfähigkeit entwerfen kann, ohne dass es dafür jemals die praktischen Grundlagen geben muss. Mit unserer Fantasie verfügen wir über die Macht, uns Dinge auszudenken, die nie in Wirklichkeit passiert, praktisch ausgeschlossen sind und auch wahrscheinlich nie eintreten werden. Unter der Leitidee der Perfektion verpassen wir uns selber in dieser fantasierten Rückprojektion eine gottähnliche Macht: Was wir teilweise und fehlerbehaftet in unserem realen Leben beherrschen, können wir uns als Ideal in vollkommener Form vorstellen und ausdenken, auch wenn wir es in der Realität nie verwirklichen können. Wir können uns auf diese Weise auch die Allmacht Gottes und weitere andere Attribute des höchsten Wesens vorstellen und ausdenken, ohne dass wir für uns selber je eine Verwirklichung dieser Macht erlebt hätten. Wenn wir uns eine solchen Macht im realen Leben selber anmaßen, werden wir schnell (und zu Recht) als größenwahnsinnig eingeschätzt. Wenn wir sie auf die Anfänge unseres Lebens rückprojizieren, können wir jedoch in esoterischen Kreisen mit „spiritueller Weisheit“ punkten.

Angesichts der Frage einer vor der Empfängnis wirksamen Entscheidungskompetenz und -intelligenz legt sich ein ätherischer Schleier über die Klarheit des Denkens. Dafür brechen sich die unterschwelligen Antriebe ihre Bahn, die uns größer machen wollen, als wir sind, weil wir uns so klein und ohnmächtig fühlen. Sie prägen zu diesem Zweck die Vorstellung der makellosen und übermächtigen Seele, wie sie vor dem Anfang einer Lebensbahn steht und heroisch die umfassendste Entscheidung trifft, die jemals getroffen wird. Damit brauchen wir uns nie mehr mit unserer inneren Kleinheit und all den Gefühlen der Ohnmacht auseinandersetzen, die wir aus vielen Erfahrungen unseres Lebens angesammelt haben.


Die Realität vor der Fantasie


Was ist die Realität vor der Fantasie? Millionen Samenzellen streben zu einer Eizelle, und im günstigen Fall kommt es zur Vereinigung und zur Entstehung neuen Lebens. Es entsteht ein Embryo, winzig klein (0,1 mm), kaum differenziert, wenig Ressourcen, der Umgebung ausgeliefert auf Gedeih und Verderb, mit einer minimalen Überlebenskompetenz.

Da braucht es niemanden, der entscheidet, da hat keine Verantwortung Platz, sondern es ist die Übermacht des biologischen Prozesses, die hier das Sagen hat. Solche Vorgänge finden in der Natur permanent statt. Braucht es eine Seele, die sich bewusst entscheidet, in eines von fünf Katzenbabys zu schlüpfen? Braucht es eine Seele, die in eine der Tausenden Moskitolarven schlüpft, die sich in eine Lacke tummeln?

Bei vielen befruchteten Eizellen bestimmt die Natur einen frühen Tod, bei anderen, dass sie wachsen und reifen können. Um diese Zusammenhänge verstehen zu können, braucht es keine vorab getroffenen Entscheidungen, keine Übernahme von Verantwortung, keine Schuld und keine Rechtfertigung. Verantwortung setzt voraus, dass es Ressourcen der Selbststeuerung gibt und dass Alternativen zur Verfügung stehen. Bei der minimalen Handlungskompetenz, über die jedes ungeborene Leben verfügt, ist kaum ein Verantwortungsspielraum vorhanden.


Geist über Natur


Vielleicht ist es gerade dieses enorme Ausgeliefertsein, das unsere Anfänge kennzeichnet und das in der Funktionsweise der Natur begründet ist, das uns dazu motiviert, eine seelische Macht in diese Situation hineinzuprojizieren, die all das inszeniert hat? Vielleicht ist es unser Narzissmus, der nicht zugeben will, dass unser Leben immer schon einer größeren Macht ausgeliefert war? Bezeichnenderweise ist die Idee der bewussten Inkarnation im 19. Jahrhundert entstanden, in der Zeit, in der viele Menschen vom Überschwang der grenzenlosen Beherrschung und Kontrolle der Natur durch Wissenschaft und Technik begeistert waren. Wenn wir als Menschheit der Natur unseren Willen aufzwingen können, kann es doch nicht sein, dass unser eigener Beginn dem Gutdünken der Natur unterworfen ist. Auch hier muss der menschliche Geist der Natur übergeordnet werden.
 

Ist das nicht ziemlich unfair?


Weiters könnte man noch fragen, wie dann der Körper, dieses reine Naturprodukt, dazukommt, die Last dieser Entscheidung zu übernehmen, die ihm die Seele aufbürdet? Schließlich leidet er genauso unter den Schwierigkeiten des Lebens, zu dem sich die Seele entschieden hat. Ein unfaires Bündnis, das er da mit dieser Seele im Moment seiner Entstehung eingeht, eingehen muss, gewissermaßen im schwächsten Moment über den Tisch gezogen, oder  schon mit einer Hypothek belastet, sobald es los geht, ohne selber die Chance zu haben, ja oder nein zu sagen. Anschließend, für den Rest des Lebens, kann er gemeinsam mit der Seele die Suppe auslöffeln, die sie ihm eingebrockt hat.

Aber wer fragt einen Körper, wenn doch der Geist der Materie überlegen ist? Vielleicht ist der Geist nur deshalb überlegen, weil er überlegen sein will, weil er nicht akzeptieren kann, dass er nur ein Partner des Körpers ist?

Schließlich fragt sich der gemeine Menschenverstand, was in einer Seele vor sich geht, wenn sie sich bewusst entscheidet für ein Leben, das sie schon vor sich sieht: Mühsal, Armut, Probleme ohne Ende? Wer würde sich da frohen Mutes und voll Begeisterung auf ein solches Abenteuer einlassen? Würden sich nicht alle diese Seelen, die da zu einem bestimmten Zeitpunkt inkarnieren wollen, erst einmal um die knappen Startplätze für die Wohlstandsoasen der Welt streiten, sodass nur die, die ihre Ellbogen schlechter einsetzen können, dann die Masse der Elendsinkarnationen übernehmen müssen? Wie anders als ein wildes Gerangel können wir uns den Selektionsprozess vorstellen: Wer kriegt die Generaldirektorsfamilie, wer die alleinerziehende Supermarktverkäuferin, und wer den Slumbewohner in Bangla Desh?

Krass gesagt: Wie blöd muss so eine Seele sein, wenn sie, wohlgemerkt im vollen Wissen, was ihr blühen wird, ein mieses Leben mit minimalen Möglichkeiten und Chancen wählt, vorauswissend, was da alles schiefgehen wird und was alles fehlen wird, von dem die Nachbarseele, die clever in die Kreise der lucky few inkarniert, im Überfluss haben wird? Schwach dagegen ist das Argument, dass ja jedes Leben seine Herausforderungen hat und sich auch die Prinzessin schwertun kann, ihr Lebensglück zu finden, wenn unter der Matratze eine Erbse versteckt ist.

Dazu fällt mir Otto Waalkes ein: „Neulich besuchte ich einen Freund, einen Millionär. Der glaubte, der unglücklichste Mensch zu sein, weil ihm sein Rasierpinsel ins Klo gefallen war. Da nahm ich ihn beiseite und sprach: ‚Freilich bist du übel dran, dass dir dein Rasierpinsel ins Klo gefallen ist. Aber es gibt Leute, die sind viel schlechter dran als du. Die haben noch nicht einmal einen Bart!‘ Da fiel es ihm wie Schuppen aus den Haaren.“ („Das Wort zum Montag“)

Da hat offenbar eine Seele vor ihrer Inkarnation übersehen, dass auch ein Millionärsleben seine täglichen Dramen zu bewältigen hat, und sie könnte deshalb für das nächste Leben vielleicht für bengalischen Straßenkehrer optieren.


Holistisches Verständnis


Die Theorie, dass alles, so wie es geschieht, in sich einen Sinn trägt, und dass es gut ist, wenn wir es so akzeptieren, wie es kommt, können wir erst auf der holistischen Bewusstseinsstufe verstehen und verwenden. Wird dieses Konzept auf einer vorherigen Stufe der Evolution angewendet, stiftet es Verwirrung und verschiebt die Gewichte der Verantwortung. Das wäre so ähnlich, wie wenn eine Mutter zu ihrem Kind, das sich verletzt hat und weint, sagt, dass das genauso hat kommen müssen, wie es kommt, und dass es, statt zu jammern und zu klagen, akzeptieren soll, was ist. Ein Kind muss erst in seinen Gefühlen verstanden, unterstützt und getröstet werden, dann kann es irgendwann einmal selber zu der Einsicht kommen, dass alles, was passiert, seinen Sinn und seine Berechtigung hat.

Mit dieser Einstellung kommen wir in Frieden mit uns und unserer Umgebung. Zu dieser Einstellung kommen wir, indem wir uns durch die Themen durcharbeiten, die wir nicht so akzeptieren können, wie sie sind. Es hilft dabei nicht, die Beschwernisse und Belastungen unseres Lebens durch vorexistenzielle Konstruktionen zu beschönigen und uns zusätzlich noch die Verantwortung für unsere Existenz von Anfang an aufbürden.

Das holistische Bewusstsein lehrt uns, dass die Wahrheit einfach ist. Es zeigt uns, wie befreiend es ist, Konzepte und Modelle loszulassen, die uns, auch wenn wir ihnen vertraut haben und uns an sie gewöhnt haben, eigentlich Ballast und Hindernis auf unserer Innenreise sind. Da kann es helfen, diese Modelle von verschiedenen Seiten zu betrachten und auf unterschiedliche Erfahrungsebenen zu beziehen. Dann erkennen wir ihre Willkürlichkeit und Relativität und können leichter auf sie verzichten, was uns im Sinn dieser Bewusstseinsstufe hilft, mehr im Fließen des Moments zu sein.


Vgl. Das Modell der Inkarnation und die praktischen Konsequenzen

Montag, 1. Dezember 2014

Das Modell der Inkarnation und die praktischen Konsequenzen

Ein zentrales Element des christlichen Glaubens besteht in der Inkarnation = „Fleischwerdung“ Gottes als Jesus Christus (vgl. Katechismus 463) ("Das Wort ist Fleisch geworden", Joh 1,14). Gott gibt sich eine menschliche Form, um den Menschen zu zeigen, dass sie das Göttliche in sich finden können.

Der ursprünglich theologische Begriff der  Inkarnation wurde in manchen esoterischen Anschauungen auf den Eintritt der Seele in die befruchtete Eizelle bei der Empfängnis übertragen. Dabei spielt die Vorstellung eine Rolle, dass die Seele vorher an einem anderen „Ort“ weilt und sich dort zur Inkarnation entscheidet. Ausgestattet mit der Fähigkeit zur Präkognition, weiß die Seele, was sie erwarten wird, die Mutter, den Vater und die weitere Lebensgeschichte mit all den Schicksalsmomenten. Die Entscheidung zur Inkarnation wird also im Wissen um die Konsequenzen getroffen, für die die Seele dann auch die Verantwortung übernimmt.

Soweit diese Vorstellung, die in der modernen Esoterik weit verbreitet ist, z.B. bei Ralph Metzner. Er sieht den Lebenszyklus zusammengesetzt aus den Stationen: Inkarnation, Empfängnis, Geburt, Tod, das Leben danach und Reinkarnation usw.

Dieses Konzept beruht auf einer Reihe von Voraussetzungen:
1.    Es gibt eine Trennung von Leib und Seele, die ab der Empfängnis auf Lebenszeit aufgehoben wird.
2.    Die vom Körper getrennte Seele verfügt über ein detailliertes Vorauswissen, was das weitere Leben anbetrifft.
3.    Sie ist in der Lage, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen, sie verfügt also über Kompetenzen, die erst im Erwachsenenalter wieder erlangt werden.
4.    Mit der Empfängnis, also mit dem "Eintritt" in den Körper, gehen diese Fähigkeiten schlagartig verloren und werden langsam und mühsam im Lauf des weiteren Lebens zumindest teilweise wieder erworben. Die Seele verfügt also über die Fähigkeit, ihre eigenen Fähigkeiten zu verlieren, um sie dann wieder vom Neuen mühsam zu erwerben, allerdings in viel mangelhafterer Form.


Abwertung des Körpers


Das Inkarnationsmodell enthält eine abgestufte Wertung von Körper und Seele: Die Seele wird als reif, klar und integer vorgestellt, während der Körper über keinerlei besondere Qualitäten verfügt, sondern ganz bei Null beginnt und langsam seine Form aufbaut, die dann irgendwann wieder zugrunde geht. Er ist auch der Bösewicht, der der Seele zunächst wegnimmt, was sie an Kompetenzen hat, sodass sie wieder von ganz vorne beginnen muss. Hier passt die Vorstellung vom Gefängnis Körper, in das die Seele bei der Inkarnation hineinschlüpfen muss, alles hinter sich lassend, was sie auszeichnet. Es handelt sich dabei um eine Weiterführung von manichäischem Gedankengut, das als Körperabwertung und -verachtung in das frühe Christentum eingedrungen ist und weite Verbreitung gefunden hat.


Praktische Konsequenzen


Was sind die Konsequenzen dieser Annahmen? Ist das Modell in einer lebenspraktischen Hinsicht hilfreich oder nützlich? Ihre Vertreter weisen darauf hin, dass es zu einem Ende der Beschuldigung beitragen und zur Verantwortungsübernahme motivieren kann: Ich muss mich selber um mein Schicksal kümmern und kann mich nicht ausreden auf meine schlechte Kindheit und überhaupt auf die widrigen Umstände in der Welt, sondern muss die Verantwortung für mein Leben selber tragen. Ich muss erkennen, dass ich von Anfang an mein Leben so gewollt habe, wie es dann geworden ist. Ich kann deshalb niemandem Vorwürfe machen und habe die gesamte Verantwortung für alles zu tragen, was mir das Leben beschert.

Also nimmt das Konzept dem Opfer die Grundlage dafür, das Opfer sein zu können. Das mag insofern hilfreich sein, als die Opferhaltung die eigene Lebenskraft schwächt und abhängige Beziehungen schafft. Menschen sollen sich selbstbewusst und nicht als Opfer fühlen.

Der Haken an dieser Argumentation ist, dass die Befreiung aus der Opferrolle am falschen Ort ansetzt. Denn das Modell verwandelt das Opfer in den Täter: Es mutet sich zu, Täter an sich selbst zu sein. Denn es hat sich für das eigene Leid entschieden. Wenn das Opfer zum Täter wird, bleibt es an die Opferrolle gebunden.

Was ganz offensichtlich ist: Kinder haben nicht die Verantwortung, wenn sie misshandelt oder missbraucht werden, wenn sie vernachlässigt und manipuliert werden. Die Erwachsenen, die es besser wissen müssten, tragen hiefür die Verantwortung, und sie ist ihnen auch zuzumuten. Oder ist es hilfreich, wenn Eltern ihren Kindern, denen sie vieles schuldig geblieben sind, erklären, dass sich diese das selber ausgesucht hätten, also sich bei sich selber beschweren müssten? Wenn ihnen was nicht gepasst hat, hätten sie sich ja auch andere Eltern aussuchen können. Das klingt ja wie blanker Zynismus.

Dennoch: Die Vorstellung der bewussten Inkarnation verlangt diese Einstellung, und alle Täter in der schwarzen Pädagogik sind damit entschuldigt, überhaupt alle Missetäter und Verbrecher dieser Erde bekommen da ihren Persilschein. Schließlich hat sich jedes Opfer einer Gewalttat, einer Ungerechtigkeit und Gemeinheit vor der Inkarnation genau dafür entschieden, und so hat es kommen müssen. Alle Beschwerden sind zwecklos.


Der Ausweg aus der Opferrolle


Um die Schmerzen aufarbeiten zu können, die durch Verletzungen in der Kindheit und noch früher entstanden sind, muss die Beziehung zwischen Täter und Opfer klar und unmissverständlich sein: Hier ist der Täter, hier das Opfer. Beim Täter liegt die Verantwortung, das Opfer trägt das zugefügte Leid. Wenn das klargestellt ist, kann die Wut, die die natürliche Reaktion auf eine Schlechtbehandlung darstellt und in der Kindposition oft nicht ausgedrückt werden durfte, zu ihrem Recht kommen. Ohne das Zulassen der Wut kann der Schmerz nicht voll empfunden werden, und ohne das Durchleben des Schmerzes können die Wunden nicht geheilt werden.

Wenn also die Verantwortung für etwas übernommen wird, wo es noch keine Verantwortung geben kann, werden nur die eigentlichen Täter, die Erwachsenen, geschont, ohne dass es zu einer wirklichen Versöhnung kommen kann. Nur wenn die Verantwortung dort gelassen wird, wo sie hingehört, kann es zu einer Verarbeitung in der Tiefe kommen. Natürlich ist das Ziel nicht, Schuld zuzusprechen und daran festzuhalten. Wenn die Wut und der Schmerz durchgespürt werden konnten, besteht kein Bedürfnis mehr, die Erwachsenen als Schuldige zu benennen und anzuklagen. Es wächst dann, aber erst dann, das wirkliche seelische Verständnis dafür, dass die, die einem selber etwas angetan haben, so handelten, weil ihnen in ihrer Lebensgeschichte selber etwas angetan worden war. 


Vgl. Die Idee der Inkarnation und die allgemeine Vernunft