Samstag, 28. Januar 2023

Über das Rat-Schlagen

Manchmal sind Ratschläge gesucht und willkommen. Wir sind als soziale Wesen auf Austausch untereinander angewiesen und wollen von den Erfahrungen anderer lernen. Wenn wir irgendwo nicht weiter wissen, sind wir auf den Erfahrungsvorsprung anderer angewiesen und suchen nach Rat. 

Manchmal befinden wir uns in der gegenteiligen Situation. Wir bekommen einen Rat, obwohl wir gar keinen wollen. Dann spricht man häufig von Rat-Schlägen, gewissermaßen von einem Gewaltakt, der uns angetan wird. Wir fühlen uns als inkompetent und unfähig abgewertet und beschämt. Es handelt sich dabei um einen Moment, in dem wir keine Lösung für unser Problem suchen, sondern Verständnis für das brauchen, was uns gerade stört und belastet. Wir wollen also emotionalen Beistand und wünschen uns empathisches Verständnis. 

In solchen Situationen erscheint uns jeder Rat als besserwisserisch oder überheblich oder als eine überflüssige Mitteilung über etwas, das wir sowieso schon wissen. Wir reagieren mit Abwehr und fühlen uns missverstanden.

Männer sind praktisch und Frauen sind emotional (?)

Solche Missverständnisse kommen häufig zwischen Männern und Frauen vor. Man sagt ja, dass Männer praktisch veranlagt und lösungsorientiert sind und sich auf der emotionalen Ebene nicht so gut auskennen, was natürlich Frauen gelten als kompetenter auf der emotionalen Ebene, während sie in logischen oder logistischen Fragen weniger fähig sind, was auch nicht immer zutrifft. Männer wollen häufig ein Problem durch eine Aktion aus der Welt schaffen, während Frauen Verständnis für ihre Problemerfahrung suchen, aus der heraus sie erst dann eine Lösung entwickeln. Auch wenn es sich hier um Stereotype handelt, die nicht in allen Fällen stimmen und bei denen es immer Ausnahmen und Mischformen gibt, haben wir es doch mit einer weit verbreiteten Prägung zu tun, die immer wieder wirksam wird und Sand in das Getriebe der zwischengeschlechtlichen Beziehungen streut.

In Konflikten, die sich aus diesen unterschiedlichen Erwartungen entwickeln, fühlen sich beide Seiten missverstanden und ungerecht behandelt: Die Männer, weil sie doch alles tun, um den Frauen zu helfen, und die Frauen, weil die Männer nicht auf sie und ihre Gefühle eingehen. 

Ratschläge der Eltern

Auch zwischen Eltern und Kindern kommt es zu solchen Formen der missverständlichen Kommunikation. Je kleiner die Kinder sind, desto stärker ist ihr Erleben von Emotionen geprägt und desto mehr brauchen sie es, auf dieser Ebene verstanden zu werden. Sie fühlen sich allein gelassen, wenn die Eltern mit Ratschlägen, Verbesserungsvorschlägen oder Kritik auf eine emotionale Not reagieren, und ziehen den Schluss, dass sie mit ihren Gefühlen falsch liegen. Wenn diese Art von Reaktion immer wieder vorkommt, bildet sich im Kind eine Spaltung zwischen den Gefühlen und dem Selbst, das sich mehr und mehr vom Spüren entfernt, weil es dafür kein oder zu wenig Verstärkung und Bestätigung bekommt. Es passt sich den Erwartungen der Eltern an und distanziert sich zugleich innerlich von ihnen. Es kann entweder seine Emotionen unterdrücken und immer weniger spüren, oder lernt nicht, die Gefühle zu regulieren, sodass sie immer wieder in übertriebenem Maß herausbrechen. In beiden Fällen kann das Kind sein Selbstgefühl nicht ausreichend entwickeln und der Selbstwert wird geschwächt.

Die Dynamik hinter dem Ratschlagen

Warum geben wir unwillkommene Ratschläge? Zum einen kann es immer sein, dass wir nicht erkennen und wissen, was die andere Person gerade braucht. Wir können nicht immer die Gefühle und Gedanken unserer Mitmenschen lesen. 

Zum anderen kommt aber immer wieder das subtile Spiel zum Tragen, das damit beginnt, dass sich der Zuhörer nicht vom Leid der klagenden Person abgrenzen kann. Er übernimmt es im Sinn von einem Mit-Leiden und kippt, vielleicht sogar, ohne es zu merken, in das Leid oder die Problematik der anderen Person hinein. 

Der Rat, der dann ausgesprochen wird, dient in solchen Situationen der eigenen Entlastung: Er bietet einen Ausweg aus dem Ohnmachtsgefühl, das uns in solchen Momenten der Identifikation mit fremdem Leid befällt. Indem wir einen Rat bereitstellen, erwarten wir, dass sich unsere eigene Belastung erleichtert und wir uns von dem Problem distanzieren können. 

Wir erteilen uns den Rat gewissermaßen selbst, um unserer eigenen Ohnmacht zu entkommen. Wir fühlen uns dabei besonders sozial und altruistisch, bemerken aber den Gewinn, den wir selber aus dem Ratschlag ziehen, nicht. 

Häufig reagieren wir verständnislos und ungehalten, wenn die andere Person den Rat nicht befolgt. Statt ihr die Verantwortung zu überlassen, kommt unsere Reaktion aus der Identifikation mit dem Problem, die weiterbesteht und sich für uns nur lösen kann, wenn die andere Person das tut, was wir ihr vorschlagen. Sobald sie sagt, sie wolle oder könne nicht, was wir für das Beste halten, geraten wir wieder in unsere Hilflosigkeit. Wir nehmen der anderen Person ihr Problem weg, heften eine Lösung dran, geben beides zurück und übernehmen das Problem gleich wieder, sobald sie nicht in unserem Sinn handelt. 

Wir können aus dieser Dynamik nur aussteigen, wenn wir das Problem dort belassen, wo es ist, und wo es allein gelöst werden kann: Bei unserem Mitmenschen. Statt uns in seine Problemlösung einzumischen, können wir ihm alles Gute wünschen und Verständnis für seine emotionale Belastung ausdrücken.

Zum Weiterlesen:
Mitgefühl und Mitleid - eine wichtige Unterscheidung


 

Samstag, 21. Januar 2023

Der Alkohol auf dem Prüfstand der Wissenschaft

Während das Rauchen in den letzten Jahrzehnten viel an Ansehen verloren hat und auch der Konsum von Tabak zurückgegangen ist, hat sich der Alkohol unbeschadet in einer zentralen Stelle unserer Gesellschaft behaupten können und in der Coronazeit noch zugelegt. Wir leben in einer alteingesessenen Alkoholkultur, die sich durch alle Gesellschaftsschichten zieht und mit ihren Riten das Feiern aller Feste gestaltet. Es wird angestoßen, es findet ein Umtrunk statt, es wird jemand mit dem Glas in der Hand hochleben gelassen, und das gilt alles nichts, wenn sich im Glas kein Alkohol befindet. Rührselige Lieder sind ihm gewidmet, und aufmunternde Lieder sollen zum Genuss animieren. Der Alkohol genießt also ein hohes Renommee in unserer Gesellschaft. Es gilt noch immer als Initiationsherausforderung, die natürliche Hemmung gegen Alkohol zu überwinden; der erste Rausch oder das Trinken bis zur Bewusstlosigkeit stehen für eine Mutprobe und für den Einstieg ins Erwachsenenleben.

Auf der anderen Seite wissen wir, dass der Alkoholismus eine gefährliche Erkrankung darstellt. In Österreich gibt es ca. 340 000 Alkoholiker, und fast jeder vierte Erwachsene trinkt Alkohol in einem akut gesundheitsgefährdetem Ausmaß. Aber wir beruhigen uns, indem die Folgen des Alkoholkonsums kleinredet und verharmlost werden. Schließlich wollen wir uns ein wenig Genuss in einem immer wieder schwierigen Leben nicht aus- und schlechtreden lassen. Sollen wir uns nur mehr kasteien und einschränken? Was wäre das dann für ein amputiertes und fremdbestimmtes Leben?

Es gibt viele Verteidiger des Alkoholkonsums, an ihrer Spitze der Wiener Genussphilosoph Robert Pfaller. Bevor er oder Seinesgleichen hinter den folgenden Zeilen ein lebensfeindliches moralinsaures Lustverbot ausfindig macht und dann einer wortgewaltigen Kritik unterzieht, möchte ich den nachstehenden Ausführungen voranstellen, dass es hier nicht um die Verkündung von moralischen Geboten geht. Vielmehr folgt hier die Darstellung dessen, was die Wissenschaften insbesondere im Bereich der Neurologie in den letzten Jahren an Erkenntnissen über die Wirkungsweise des Alkohols im menschlichen Körper herausgefunden haben. Ich fasse hier zusammen, was der Stanford-Professor Andrew Huberman auf seinem Podcast zu diesem Thema referiert (). Unter dem Video finden sich auch die Links zu den einzelnen Studien.

Jeder Leser und jede Leserin dieses Artikels kann selbst beobachten und entscheiden, ob sich durch die Kenntnis dieser Fakten das eigene Verhalten verändert oder nicht. Jeder Mensch ist frei, und die Freiheit können wir am besten nutzen, wenn wir möglichst viel über uns selbst und die Vorgänge in unserem Körper wissen.

Aus den Erkenntnissen wird auch deutlich, warum jemand trinkt und sich unter Umständen schwer tut, davon loszukommen, oder auch, warum manche meinen, sie könnten jederzeit mit dem Trinken aufhören, wenn sie nur wollten, es aber nie probieren. Es wird deutlich, warum das Alkoholtrinken eine starke soziale Bedeutung enthält. Deshalb brauchen wir keinen mahnenden Zeigefinger vor jenen erheben, die „ein Alkoholproblem“ haben oder von denen wir meinen, dass sie eins haben. Falls wir selber frei von solchen Anfechtungen sind, gar nichts trinken oder nur selten mit einem Glas anstoßen, können wir uns anerkennen, auf unsere Gesundheit zu schauen, müssen aber niemanden verurteilen, der sich damit schwerer tut.

Wie wirkt Alkohol?

Es ist schon etwas seltsam, dass wir etwas trinken und trinken wollen, das uns nachher ein lausiges Gefühl gibt. Aber der Alkohol bewirkt selber, dass wir uns nicht mehr gegen ihn wehren können.

Alkohol ist wegen seiner chemischen Struktur sowohl wasser- wie auch fettlöslich. Wenn man Alkohol trinkt, kann er in jede Zelle und jedes Gewebe des Körpers eindringen, und das geht ganz leicht und schnell. Während andere Drogen an die Zelloberfläche andocken und von dort aus eine Kaskade von Wirkungen verursachen, kann der Alkohol direkt in die Zellen eindringen. Das ist der Hauptgrund für die vielfachen schädlichen Folgen von Alkoholkonsum.

Der Äthylalkohol ist die einzige Alkoholform, die der Mensch konsumieren kann. Dennoch ist er giftig, weil er schweren Stress und schwere Schäden an den Zellen anrichtet. Wenn man Alkohol konsumiert, muss er in etwas anderes umgewandelt werden, eben weil er für den Körper ein Gift ist. Wir haben in jeder Zelle ein Molekül, das NAD heißt und das das Ethanol in Acetaldehyd umwandelt. Acetaldehyd ist hochgiftig und zerstört Zellen, ohne jeden Unterschied. Der Körper geht mit dem Problem so um, dass er Acetaldehyd in Acetat umwandelt. Das ist eine Substanz, die der Körper als Treibstoff (ATP) verwenden kann. Wenn es dem Körper nicht gelingt, den dritten Schritt schnell und ausreichend genug zu machen, dann bleibt zu viel von dem schädlichen Acetaldehyd im Körper. Diese Prozesse laufen in der Leber ab. Wo der letzte Schritt gelingt, werden Kalorien produziert, die man leere Kalorien nennt, weil der ganze Stoffwechselprozess teuer ist und diese Kalorien keinen Nährwert haben. Man kann sie nicht speichern, und sie haben keine Vitamine, Aminosäuren, Fettsäuren. Der Alkoholkonsum ist also immer ein Verlustgeschäft für den Körper.

Es ist das Acetaldehyd, das das Gefühl von Betrunkensein hervorruft. Menschen, die regelmäßig Alkohol trinken, fühlen sich währenddessen energetischer und glücklicher; bei Menschen, die seltener Alkohol trinken, ist diese Phase kürzer, und sie kommen schneller in eine Phase, in der sie sich müde fühlen, motorische Fähigkeiten einbüßen oder undeutlich reden.

Alkohol überwindet die Gehirnschranke. Er kann in jede Nervenzelle des Gehirns eindringen, doch gibt es Bereiche, die bevorzugt werden: Nach den ersten Schlucken nimmt die Aktivität im präfrontalen Kortex ab.  Dieser Bereich hat mit Denken und Planen zu tun und auch mit der Unterdrückung von impulsivem Verhalten durch das Ausschütten des Botenstoffes GABA. Eine Folge davon ist z.B., dass Personen unter Alkoholeinfluss keine Bewusstheit über die Lautstärke beim Reden haben und ihre Stimmmodulation zurückgeht.

Der Alkohol hat einen stark unterdrückenden Effekt auf die Bereiche, die mit dem Entstehen und Speichern von Gedächtnisinhalten zu tun haben. Gehirnbereiche, die mit Flexibilität zu tun haben (ich könnte A machen oder B), werden völlig abgeschaltet. Unser Verhalten wird also stereotyper.

Das Folgende gilt für Menschen, die regelmäßig trinken (wenn auch nur einmal in der Woche): Man wird impulsiver und habitueller im Verhalten, auch in der Zeit, in der man nicht trinkt. Wenn man trinkt, dann werden diese Änderungen stärker sichtbar. Die Synapsen, die habituelles Verhalten (= etwas tun, von dem man schon weiß, wie es geht) steuern, werden vermehrt. Die Synapsen in den Bereichen, die impulsives Verhalten hemmen, werden verringert.

Diese Änderungen sind grundsätzlich reversibel, wenn auf das Trinken verzichtet wird: Nach zwei bis sechs Monaten mit Alkoholverzicht normalisiert sich das Verhalten. Ausgenommen sind Menschen, die über viele Jahre regelmäßig große Mengen von Alkohol konsumiert haben. Sie brächten wesentlich längere Zeiten der Abstinenz.

Manche Leute meinen, dass sie mit Nahrungsaufnahme die Wirkung von Alkohol verringern können. Das stimmt zum Teil: Wenn vor dem Trinken etwas gegessen wird, kommt der Alkohol nicht so schnell in den Blutkreislauf und die Entwicklung der Trunkenheit wird verlangsamt. Wenn man während des Trinkens isst, hat das keinen Einfluss auf das Ausmaß der Alkoholisierung.

Euphorisierung durch den Alkohol

Jeder Alkoholkonsum verändert Schaltkreise im Gehirn, indem er sie zunächst hyperaktiv macht. Deshalb reden die Leute viel und fühlen sich gut, sobald sie zu trinken beginnen. Nach mehr Alkoholkonsum oder wenn die Wirkung nachlässt, werden diese Schaltkreise schnell schwächer, und deshalb schwindet das Wohlgefühl. Sofort entsteht der Drang nach dem nächsten Drink, um sich wieder gut zu fühlen. Aber wenn man den dritten, vierten oder fünften Drink nimmt, gibt es absolut keine Chance, wieder in die gute Stimmung zurückzukommen. Die meisten Menschen fühlen sich mehr und mehr bedrückt. Das Frontalhirn schaltet ab, und Zentren, die mit der motorischen Koordination und willentliche Bewegungen befasst sind, werden stillgelegt. Man beginnt undeutlich zu reden, mit den Füßen zu scharren, sich anzulehnen oder in eine Couch zu sinken. Es kommt zur Verringerung der Wachheit und Erregung, und schließlich schläft man weg.

Es gibt aber auch Leute, die aufgrund von chronischem Alkoholkonsum und/oder von Genvariationen beim dritten oder vierten Drink zu mehr Wachheit und Erregung erleben. Sie reden mehr und haben viele Ideen, die ihnen Spaß machen. Das sind Leute, die eine höhere Alkoholtoleranz aufgebaut haben oder die genetisch bestimmte chemische Grundlagen haben, sodass sich, je mehr Alkohol konsumiert wird, das Wohlgefühl steigert und steigert. Aber auch bei ihnen gibt es eine Schwelle, bei der sie umfallen, einschlafen, nur ist die Schwelle viel höher.

Dabei ist das Blackout beim Trinken signifikant: Es gibt Leute, die im Zustand der Betrunkenheit alles Mögliche tun (im Meer schwimmen, Radfahren, Autofahren…), weil sie die Energie dazu haben. Und sie fühlen sich dabei gut, aber sie merken nicht, dass der Hippokampus, die Gedächtnisfunktion, völlig ausgeschaltet ist. Es gibt also keine Erinnerung über das, was geschehen ist. Wenn es öfters zu einer Betrunkenheit mit Blackout kommt, sollte man besorgt sein, denn das stellt eine Vorstufe zum Alkoholismus dar. Wer sich nach einigem Alkoholkonsum nicht sediert fühlt, hat eine Neigung zum Alkoholismus. Überaktivität im Zustand der Trunkenheit ist lebensgefährlich: Immer wieder sterben Menschen durch solche Aktionen.

Alkohol und die Stressachse

Der Alkoholkonsum führt zu Veränderungen im Verhältnis zwischen dem Hypothalamus, der Hypophyse und den Adrenalindrüsen in den Nebennierenrinden (HPA-Achse). Der Hypothalamus hat seinen Sitz oberhalb des Rachens und ist zuständig für Wut, Sextrieb, Temperaturregulation, Hunger und Durst etc. Er schickt der Hypophyse ganz spezielle Signale und diese schüttet dann Hormone aus, die zu den Adrenalindrüsen oberhalb der Nieren gehen. Sie setzen die Stresshormone Adrenalin und auch Cortisol frei.

Die HPA-Achse hält das physiologische Gleichgewicht zwischen Stress und Entspannung aufrecht. Sie wird bei Menschen geschwächt, die regelmäßig trinken (auch wenn es nur 1x die Woche ist). Sie haben einen signifikant höheren Cortisolspiegel, auch wenn sie nicht trinken. Folglich fühlen sie sich gestresst und empfinden mehr Angst, auch in den Zeiten, in denen sie nicht trinken. Deshalb sehnen sie sich nach einem Drink, der ihnen ein wenig Entspannung verspricht. So wird verständlich, warum Leute dann immer wieder trinken, weil sie dabei erleben, wie sie kurzzeitig vom Stress herunterkommen und ein Wohlgefühl erleben, das sie sonst nicht haben.

Der Teufelskreis besteht also darin, dass regelmäßiges Alkoholtrinken den Grundstress erhöht, die Stimmung verschlechtert und Wohlgefühle vermindert. Zugleich werden als Folge des Trinkens die neuronalen Schaltkreise, die den Konsum einschränken, umgepolt, sodass das neuerliche Trinken als einziger Weg erscheint, um das frühere Niveau der Stimmung wieder zu erreichen.

Wenn der Alkoholkonsum sehr früh im Leben beginnt, z.B. mit 13 oder 14, ist das Risiko, zum Alkoholiker zu werden, sehr hoch, unabhängig von der Familiengeschichte mit Alkohol. Wer erst mit 21 beginnt, ist weniger bedroht, Alkoholiker zu werden.

Die  Eingeweide-Leber-Hirn-Achse

Der Bauch und das Gehirn kommunizieren über Nervenverbindungen, vor allem über den Vagus und über chemische Signale. Die gleichen Kommunikationskanäle bestehen zwischen den Eingeweiden und der Leber und zwischen der Leber und dem Gehirn. Jeder Alkoholkonsum bringt das Darm-Mikrobiom durcheinander, das aus Billionen Bakterien besteht und das über chemische und elektrische Signale mit dem Gehirn kommuniziert und Hormone wie Serotonin und Dopamin in Umlauf bringt und die Stimmung im allgemeinen positiv beeinflusst. Alkohol wurde schon immer zur Desinfektion verwendet, also zum Abtöten von Bakterien. Deshalb geht der Alkohol auch auf das Mikrobiom los und tötet unterschiedslos Darmbakterien, auch und besonders die guten.

Zugleich ist der Prozess in der Leber, bei dem Alkohol umgewandelt wird, entzündungsfördernd. Es werden entzündungsförderliche Zytokine freigesetzt, u.a. IL6 und der tumornekrotische  Faktor Alpha. Diese Moleküle werden ausgeschüttet und in Umlauf gebracht. Im Darm entstehen zumindest vorübergehend Löcher. Durch diese können ungesunde Bakterien in den Blutstrom gelangen, die aus ungenügender Verdauung entstehen. Die Nahrung wird bei Alkoholkonsum nur teilweise aufgespalten und Abfallprodukte der Verdauung kommen aus dem Darm in den Blutkreislauf, während gesunde Bakterien direkt vom Alkohol abgetötet werden. Die ungesunden Bakterien können in die Blutbahn entkommen, noch bevor sie durch den Alkohol zerstört werden könnten, und gelangen bis ins Gehirn, was als Neuroimmunsignal bezeichnet wird. Dort kommt es zur schädlichen Entwicklung, dass speziell diejenigen Nervenbahnen unterbrochen werden, die den Alkoholkonsum einschränken und kontrollieren könnten, und die Folge ist die Neigung zu mehr Alkoholkonsum.

Die nachalkoholische Malaise (der Kater)

Bekannt sind die nachalkoholischen Symptome: Verdauungsbeschwerden, Kopfweh, Schwindel bis hin zu diffusen Angstzuständen, für die es im Amerikanischen den Ausdruck hangxiety (=hang over anxiety) gibt und die durch die erhöhten Cortisolwerte bewirkt werden.

Das verkaterte Gefühl entsteht durch Vasokonstriktion, durch das Zusammenziehen der Blutgefäße, das nach dem Trinken passiert. Der Alkohol wirkt als Gefäßerweiterer (Vasodilator), zumindest in manchen Blutgefäßen, als Folge des von ihm herbeigeführten parasympathischen Modus. In diesen Bereichen fließt mehr Blut. Durch das Nachlassen des Alkoholeinflusses ziehen sich die Blutgefäße zusammen und erzeugen z.B. Kopfschmerzen.

Alkohol und Schlaf

Schon ein einziges Glas Alkohol verändert den Schlaf: Langwelliger Schlaf, Tiefschlaf, REM-Schlaf werden unterbrochen, die Qualität des Schlafes wird also verschlechtert. Oft spricht man von Pseudoschlaf, der auch dafür verantwortlich ist, sich am nächsten Tag schlecht und ausgelaugt zu fühlen. Denn statt zu schlafen befindet man sich in einer Art von hypnotischer Trance mit häufigem Aufwachen, das gar nicht registriert wird. Der Erholungscharakter des Schlafes ist stark gestört.

Ein guter Schlaf wäre gerade wichtig nach Alkoholkonsum, weil der Körper die Ruhezeit nutzen kann, um die alkoholischen Getränke, das Äthanol und die Zusatzstoffe abbauen zu können. Einerseits verhindern die massiv notwendigen Entgiftungsprozesse einen guten Schlaf, andererseits können diese Prozesse nicht optimal ablaufen, weil der Schlaf zu seicht ist.

Absinken der Körpertemperatur

Der Alkohol führt zu leichter Hypothermie, also zu einem Absinken der Körpertemperatur, weil die Steuerung der Körpertemperatur im Hypothalamus unterbrochen wird. Kälteexposition, z.B. kaltes Duschen, führt zu einem Anstieg von Epinephrin, Adrenalin und Dopamin und kann die Alkoholisierungsfolgen abmildern.

Alkohol ist dehydrierend, und ausgeschieden wird nicht nur Wasser, sondern auch Natrium, das wichtig für das Funktionieren der Nervenzellen ist. Alkohol unterbricht auch die Vasopressin-Bahnen. Mit jedem Glas Alkohol sollten zwei Gläser Wasser, am besten mit Elektrolyten (Natrium, Magnesium, Kalium) getrunken werden. Geschieht das nicht, fällt der Kater umso heftiger aus.

Das Kater-Spektrum

Die Wissenschaftler haben ein Kater-Spektrum erforscht: Welche Form von alkoholischem Getränk führt zu weniger oder zu mehr Kater? Es gibt die Vermutung, dass das mit dem Zuckergehalt im Getränk zu tun hat, doch diese Annahme konnte nicht bestätigt werden. Die geringsten Nachwirkungen hat Bier, gefolgt von Wodka, Gin, Weißwein, Whisky, Rotwein, Rum, und der Brandy steht an oberster Stelle. Die Unterschiede entstehen durch Aromabestandteile (Kongener), die bei der Alkoholerzeugung entstehen, z.B. Methanol. Methanol wird im Körper in Ameisensäure und Formaldehyd umgewandelt, Stoffe, die die Leber und die Darmflora belasten und den Kater verstärken.

Als Faustregel dient die Farbe des alkoholischen Getränks: Je dunkler es ist, desto mehr Methanol ist enthalten und desto schwerer wiegen die Nachwirkungen des Konsums.

Alkoholtoleranz

Darunter versteht man die verringerten Effekte des Konsum bei wiederholter Alkoholexposition. Die Wurzeln liegen im Gehirn: Als direkte Konsequenz der Giftigkeit von Alkohol werden Neurotransmitter im Gehirn verändert. Wer Alkohol trinkt, bewirkt, dass sich der Dopamin- und Serotoninspiegel rasch erhöht, aber nur für sehr kurze Zeit. Danach sinkt der Spiegel langsam und über einen längeren Zeitraum kontinuierlich ab. Deshalb trinken Leute immer wieder, um wieder in einen Höhenflug zu kommen. Beim chronischen Trinken wird dieses Absinken noch langsamer und dauerhafter. Aber auch die erste Phase des Wohlfühlens wird kürzer. Es wird immer weniger Dopamin und Serotonin ausgeschüttet. Die lohnenden Aspekte werden weniger, die schmerzhaften und störenden mehr.

Alkohol und genetische Veränderungen

Jeder Alkoholkonsum, auch wenn er nur sehr gering ist, reduziert schon messbar die Dicke des Gehirns. Das Ausmaß dieser Verringerungen, die sowohl bei den grauen wie den weißen Zellen beobachtet werden kann, hängt ab von der Dosis. Doch nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ wirkt sich der Alkohol auf die Nervenzellen aus, denn er kann auch die DNA-Methylierung und die Genexpression in gefährlicher Weise verändern. Schon länger nachgewiesen ist der signifikanter Anstieg des Krebsrisikos, besonders für Brustkrebs, schon durch geringe Mengen von Alkohol. Mit einem kleinen Glas Bier oder einem Achtel Wein (10 Gramm Alkohol) pro Tag steigt das Risiko, an Krebs zu erkranken, zwischen 4 und 13 % (je nach Studie). Es ist erstaunlich, dass der Konsum von Alkohol angesichts eines gut erforschten und enormen Gesundheitsrisikos keinerlei legalen Einschränkungen unterliegt.

Alkohol und Geschlechtshormone

Testosteron und Östrogen sind wichtig für die Ausbildung der Geschlechtsteile vor und nach der Geburt, für die Libido und die sexuelle Entwicklung. Östrogen unterstützt das Gedächtnis und die Kognition und auch die Gelenksgesundheit. Alkoholkonsum führt dazu, dass die Umwandlung von Testosteron in Östrogen verstärkt wird, bei Frauen wie bei Männern. Man nennt das die Aromatisierung von Testosteron zu Östrogen, weil das Amoritase-Enzym dafür zuständig ist. Dieser Vorgang kann bei Frauen das Brustkrebsrisiko erhöhen und bei Männern zum Wachsen von Brustgewebe führen. Das bewirkt wieder einen verringerten Sextrieb und stärkere Fettspeicherung.

Was steht auf der Positivseite?

Nach der Beschreibung von so vielen Belastungs- und Risikofaktoren, die der Alkoholkonsum im menschlichen Körper hervorruft, sollte es doch auch Vorteile im Alkoholkonsum geben. Schließlich konsumieren die Menschen die Substanz seit Tausenden von Jahren, in vielen Kulturen. Doch schaut es damit auf der objektiven Seite äußerst mager aus: Alkohol ist und bleibt ein Gift. Es gibt die Geschichte von der Gesundheit des Rotweins wegen der Substanz Resveratrol und ihrer antioxidantischen Wirkungen. Allerdings müssten recht große Mengen von Rotwein getrunken werden, damit es zu nennenswerten Wirkungen kommen kann, und die Nebenwirkungen würden wohl die möglichen Vorteile übertreffen.

Es bleiben nur die subjektiven Faktoren, die angenehmen Gefühle, die das Trinken zumindest kurzfristig auslöst. Der Preis ist nicht unerheblich – im Subjektiven sind es die unangenehmen Gefühle, die mit Regelmäßigkeit nachher auftauchen, und auf der physiologischen Ebene die schweren Folgen der Vergiftungsprozesse, die den Körper auf vielen Ebenen destabilisieren und durch die Einwirkungen auf das Genom nachhaltig schädigen können. Wer gesundheitlich auf der sicheren Seite sein will, hat nur eine Option, nämlich nichts zu trinken. Wer nur moderat konsumiert, sollte auch über die Konsequenzen Bescheid wissen, die mit jeder Alkoholzufuhr verbunden sind. Und wer viel trinkt, sollte sich umschauen, welche Unterstützung ihm helfen könnte, dem Zwang der Sucht zu entkommen.

Die Entmachtung der Alkoholkultur

Die Alkoholkultur bedarf einer kritischen Reflexion. Sie verleitet zum Alkoholtrinken und verharmlost dessen Auswirkungen auf das Wohlbefinden und auf die Gesundheit. Wer im Alkoholismus landet, wird auch aus der feineren Alkoholkultur ausgegrenzt und als subjektiver Versager abgestempelt; die Verantwortung, die bei allen liegt, jemandem ins Trinken einzuführen, zum Trinken zu ermuntern und die „Trinkfestigkeit“ zu glorifizieren, wird dabei ausgeblendet.

Die Auswirkungen des Alkoholkonsums sollten in der Schulbildung umfassend vermittelt werden, als Informationen und nicht als moralische Unterweisungen; in Ländern, in denen der Alkohol einen erstaunlich zentralen und positiv konnotierten Stellenwert einnimmt, braucht es ein Gegengewicht aus solider Information, das jedem deutlich macht, welches Risiko auch schon mit leichter Alkoholisierung verbunden ist.

An der Zeit ist es, die Alkoholkultur zu relativieren und den Alkohol seines Nimbus zu entheben. Er ist ein Genuss- und Suchtgift, mit der Funktion, ein Bedürfnis zu befriedigen, das wir erst durch die Gewöhnung an den Alkohol entwickelt haben und das durch den Alkoholkonsum aufrechterhalten und verstärkt wird. Wir brauchen keine Kultur, die zum Trinken animiert und dessen Folgen verharmlost oder romantisiert. Wir brauchen eine klare Bewusstheit über die Auswirkungen des Alkohols auf unseren Körper, unsere Psyche und unsere sozialen Beziehungen. Wir brauchen eine alternative Kultur, in der ohne Konsum von Giftstoffen gefeiert werden kann.

Das Leben ist bekanntlich lebensgefährlich. Überall gibt es Risiken und es gibt kein risikoloses Leben. Der Alkohol ist eine dieser Gefahren. Am besten kommen wir durch das Leben, wenn wir die Gefahren, die uns drohen, einschätzen können. Dann können wir entscheiden, ob wir uns wir uns einer Gefahr aussetzen wollen, ob wir also bereit sind, ein Risiko auf uns zu nehmen.  

Es ist im Grund ein trauriger Befund für eine Gesellschaft, wenn viele ihrer Mitglieder glauben, dass sie zu Unbeschwertheit und Lebensfreude nur mit Hilfe einer Giftzufuhr gelangen können. Wir sollten stattdessen andere Quellen für unsere Glücksfähigkeit und Leichtigkeit erschließen, fördern und verbreiten, solche, die uns nicht schädigen, schwächen und abhängig machen, sondern die uns ohne Nebenwirkungen zu mehr Lebensglück führen, und das sind Quellen, die wir tiefer in uns selber tragen.

Zum Weiterlesen:

Der Alkohol und seine Kultur 1
Der Alkohol und seine Kultur 2
Neue Genusskultur
Verbindungen zwischen Missbrauch und Alkoholkonsum
Serotonin und Lebensfreude

Montag, 16. Januar 2023

Reichtum und Leistung, ein ungleiches Paar

Ein statistischer Befund: Das reichste Prozent der Weltbevölkerung kassiert ca. 19 Billionen $ als jährliches Einkommen, was so viel ist wie ein Viertel des globalen Bruttoprodukts (GDP). Bei diesen Zahlen sollte man mitbedenken, was daraus folgt: Ein Viertel all der Arbeit, die wir leisten, all der Ressourcen, die wir der Umwelt entnehmen und all der Klimagase, die wir emittieren, geschieht zu dem Zweck, damit die kleine Schicht der superreichen Leute noch reicher wird.

Und dann hören wir, dass sich Leistung doch auszahlen sollte und wir den Reichen ihren Reichtum nicht neiden sollten. Schließlich wolle doch jeder gerne reich werden, aber die wenigsten schaffen es, und die sind eben besonders gut und fleißig. Wer mehr leistet, kriegt eben mehr.

Was aber, wenn all diese Rechtfertigungen einer Ideologie entspringen, einer Kopfvernebelung? Die Vorstellung, dass Reichtum 1:1 das Ergebnis von Leistung ist, lässt sich nicht aufrechterhalten. Das gilt für Individuen und für Gesellschaften. Vielmehr ist die Gleichsetzung von Reichtum und Leistung ein Konstrukt, eine ideologische Leistung, mit der es den Propagandisten der Leistungs- und Reichtumsgesellschaft gelungen ist, die Menschen zu manipulieren. Sie sollen die Reichen bewundern für ihren Reichtum und verstehen, dass sie es selber zwar schaffen könnten, aber aufgrund ihrer Mangelhaftigkeit nie schaffen werden.

Absurde Maßstäbe

Es fällt schnell auf, dass da absurde Maßstäbe am Werk sind, wenn es Leute gibt, die in fünf Tagen so viel verdienen wie der Durchschnitt in einem Jahr. Das müssten Menschen sein, die 73mal so viel leisten wie der Durchschnitt, und das Tag für Tag. Es ist sofort einsichtig, dass es nicht die individuelle Arbeitsleistung ist, die den Unterschied macht, sondern das System, das eine Leistung höher bewertet als eine andere, und zwar in exorbitanten, und man könnte sogar sagen, unverschämten Ausmaßen. Die Existenz von Milliardären und Superreichen erscheint aus der Sicht einer egalitären Ethik als ein Skandal, als ein unerträglicher Missstand. Aber auch der einfache Menschenverstand sieht klar, dass es obszön ist, wenn einige Wenige Unmengen im Geld schwimmen, das ihnen Tag für Tag zugespült wird, oft ohne dass sie einen Finger rühren, während viele viel zu wenig kriegen, Millionen hungern und Hunderttausende an Hunger sterben müssen.

Natürlich ist es nicht die Schuld oder ein moralisches Versagen der Betroffenen, reich zu sein. Die meistens von ihnen meinen auch von sich selber, dass sie sich ihr Geld redlich verdient haben, oft auch dann, wenn sie es bloß geerbt haben oder aufgrund einer Erbschaft über wesentlich bessere Startbedingungen verfügen als alle anderen. Es handelt sich  auch in den meisten Fällen nicht um illegal erworbenen Reichtum, sondern wurde nach allen Regeln des Rechtsstaates angehäuft. Es ist also kein Verbrechen, reich zu sein.

Wir mögen diese Menschen als tolle Typen, intelligente Geschäftemacher oder geniale Visionäre bewundern und verehren, als Menschen, die besondere Leistungen erbracht haben. Wir können sie aber auch als Nutznießer des Profitsystems und als Beschleuniger des Kapitalismus ansehen, die besonders von Mechanismen profitiert haben, durch die die Geldflüsse so lenken, dass sie dorthin fließen, wo schon viel Geld ist. Tatsächlich ist jeder Cent, den ein Superreicher in seiner Tasche oder auf einem seiner steuergeschonten Konten hat, zum weitaus größten Teil aus der Arbeit anderer Menschen entstanden.

Was jemand leistet, ob bettelarm oder superreich, verdient Anerkennung und verhältnismäßigen Ausgleich. Es macht wohl keinen Sinn, wenn jeder Tätigkeit der gleiche finanzielle Ausgleich zusteht, wie es in manchen Utopien gefordert wird. Es macht einen Sinn, wenn ein Arzt mehr verdient als die Reinigungskraft. Es macht aber keinen Sinn mehr, wenn die Unterschiede ins Unermessliche wachsen. Superreichtum entsteht, wo es keine Verhältnismäßigkeit mehr gibt, die die Gier mäßigt und für Balance sorgt. Übermäßiger Reichtum entsteht nicht aus übermäßiger Leistung, sondern aus dem Ausnutzen derer, die die Knochenarbeit im Schweiß ihres Angesichts leisten und damit vergleichsweise bestenfalls mit Brosamen abgespeist werden. Reiche Menschen sind nicht wegen ihres Reichtums böse, obwohl ihnen Jesus den Zugang zum Himmelreich abgesprochen hat, weil sie nicht durch ein Nadelöhr kommen, sie sind nur besonders geschickt darin, das System für die eigenen Interessen auszunutzen. Dem kapitalistischen System ist es völlig egal, ob die Akteure, die es antreiben, ein soziales Gewissen haben oder nicht. Es begünstigt jene, die seine Regeln skrupellos und giergetrieben befolgen.

Reichtum und ökologische Belastung

Dazu kommt, dass die Verfügung über Reichtum mit einem höheren Verbrauch an Ressourcen verbunden ist. Die Reichen bekommen nicht nur mehr, sie nehmen auch mehr aus dem Reichtum der Natur. Sie schneiden also am meisten ab beim Aneignungs- und Vernichtungsprozess, mit dem die moderne Wirtschaft die natürlichen Vorräte ausbeutet und plündert, und konsumieren gleichzeitig wesentlich mehr als die Armen oder die Otto-Normalverbraucher. Sie tragen deshalb mehr bei zum Turbo des Kapitalismus und sind deshalb auch interessiert daran, dass die Mechanismen verfeinert werden, die sie im doppelten Sinn zu den Profiteuren macht: Sie geben ihnen mehr vom Kuchen auf der Einkommensseite und erlauben ihnen, mehr zu konsumieren. Vielleicht hätte jeder gerne eine Yacht oder einen Privathubschrauber, aber nur wenige können ihn sich leisten. Wer etwas davon sein Eigen nennt, wird es auch nutzen und entsprechend die Ressourcen dafür verbrauchen, die man sich locker leisten kann.

Es gibt reiche Menschen, die ihre soziale Ader nicht verdrängt haben und Teile ihres Vermögens in karitative oder zukunftsorientierte Stiftungen einbringen. Doch die individuelle Großzügigkeit von einzelnen Wohlhabenden rechtfertigt nicht ein System, das strukturell bedingt die Armen und Ärmeren konsequent benachteiligt, die arbeiten können, soviel nur geht, ohne dass mehr dabei herausschaut als dass sie nicht verhungern müssen oder dass sie ein bisschen materielle Sicherheit schaffen können. Auf der anderen Seite bringt die Leistung einer Unterschrift Millionen ein.

Reichtum und Verpflichtung

In einigen großen Religionen werden die Reichen zu besonderer Großzügigkeit gegenüber den Armen verpflichtet. Reichtum gilt hier nicht primär als das Ergebnis eigener Leistung, sondern als letztlich von Gott gegeben, mit dem Auftrag, zu teilen. Diese Religionen haben offenbar verstanden, dass eine Gesellschaft nur dann im Gleichgewicht bleibt, wenn die Unterschiede zwischen reich und arm gering gehalten werden und es zu Verwerfungen kommt, wenn die Reichen von ihrem Reichtum nichts teilen, sondern ihn nur für sich verkonsumieren. Die Kombination von Reichtum und Verpflichtung zu sozialer Gerechtigkeit hat die Armut nicht beseitigt, aber die Entkoppelung von Reichtum und Scham verhindert. Reichtum galt nicht als etwas, mit dem sich das Ego des Reichen stolz brüsten kann, sondern das es in Bescheidenheit annehmen sollte und mit der Haltung der Barmherzigkeit den Armen gegenüber verbinden musste, um sich nicht sündhaft, also schambeladen zu fühlen. Die ethische Trennlinie verläuft zwischen der gemeinnützigen und der eigennützigen Verwendung von individuellem Wohlstand.

Die Ausbreitung des Kapitalismus in der Epoche der Neuzeit, von Europa ausgehend, hat die soziale Wirkung der Religionen unterhöhlt und den Individualismus der Profitanhäufung verstärkt, emotional getrieben von Gier. Auch die Aufklärung hat mit ihrer Religionskritik den Einfluss der Religionen zurückgedrängt, während andererseits die Etablierung der Menschenrechte die Stellung der Schwachen in der Gesellschaft gestärkt und damit zur Begründung und Verbreitung des Sozialismus beigetragen hat. Manche sehr einflussreiche Teile der christlichen Religion, besonders der katholischen Kirche haben sich auf die Seite der Reichen und damit der Mächtigen gestellt und den Sozialismus bekämpft, der sich stark für die Rechte der Wenigerbemittelten eingesetzt hat. Damit haben sie den ausbeuterischen Kapitalismus unterstützt und die Armut der Armen ideologisch gerechtfertigt. Der Calvinismus mit seiner Ethik der Reichtumsanhäufung hat diese Ideologie besonders gestärkt, vor allem in den USA, die damit zur Wirtschaftsmacht Nr.1 aufgestiegen sind und zugleich die Nr.1 im Ressourcenverbrauch und zum Hauptausbeuter der Natur wurden.

Im Zug der Ausbreitung des Kapitalismus schotteten sich die Reichen immer mehr ab, um der Scham, die mit Ausbeutung, Güteranhäufung und sozialer Ungerechtigkeit verbunden ist, zu entkommen.  Wir erwarten von den Reichen, dass sie sich Inseln kaufen und riesige Villen bauen, dass sie viele Autos haben und teuer essen gehen. Wir erwarten vielleicht, dass ihre illustren Frauen einmal im Jahr einen Charity-Abend veranstalten, bei dem sie ein paar Tausend Dollar für die armen dickbäuchigen Kinder in der Sahelzone sammeln. Wir erwarten aber nicht mehr, dass sie ihren Reichtum mit der Allgemeinheit teilen. Wenn sie das tun, freuen wir uns darüber und schätzen es, weil es die Ausnahme darstellt und keinem ethischen Gebot mehr unterliegt.

Strukturelle Korruption

Die Reichen haben sich verständlicherweise sehr bemüht, die Ideologie, die die eigene privilegierte Stellung befestigt, ins Zentrum der Gesellschaft zu bringen, was ihnen zu einem großen Maß gelungen ist. Viele Geldmittel fließen diesem Zweck zu, Parteien, die die Steuer- und Einkommensprivilegien der reichen Minderheit vertreten, werden großzügig unterstützt. Man kann diese Vorgehensweise auch als strukturelle Korruption bezeichnen, weil Politiker damit manipuliert werden, nicht das Allgemeinwohl ins Zentrum ihres Wirkens zu stellen, sondern die Interessen einer winzigen Minderheit, deren Wohlstand durch die Leistungen der großen Mehrheit finanziert wird. Damit bekommt die Minderheit mit ihrer finanziellen Übermacht einen überproportionalen Machteinfluss, ohne dass es dafür eine demokratische Kontrolle gibt. Das politische Ungleichgewicht, das die Demokratie gefährdet, kann nur durch Aufklärung und durch die Einführung von Parteispendengrenzen behoben werden.

Das Wirtschaftssystem des Kapitalismus erzeugt und mehrt Reichtum bei einer Minderheit. Es kann nur durch politische Willensbildung begrenzt werden. Und dieser Wille kann sich nur dann bilden, wenn er nicht der Macht des Geldes unterworfen ist. Die Entmachtung des Kapitalismus als eines Systems, das von der Wirtschaft in alle gesellschaftlichen Bereiche eindringt und sie seinen Prinzipien unterwirft, ist der entscheidende Weg, um das weitere Auseinanderklaffen der Schere zwischen arm und reich rückgängig zu machen. Wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit, wir brauchen mehr Schambewusstsein, wo es um die Fragen von reich und arm geht. Und wir müssen uns von der Gleichsetzung von Reichtum und Leistung verabschieden, weil es eine Ideologie darstellt, die uns, soweit wir nicht zu den Millionären und Milliardären zählen, Schaden zufügt und die bestehenden Ungleichheiten verschärft.

Zum Weiterlesen:
Abschied vom Kapitalismus

 

Sonntag, 8. Januar 2023

Abschied vom Kapitalismus

Die Befunde kennen wir: Die Erde erwärmt sich immer schneller und die Maßnahmen dagegen sind zu langsam, wenn sie überhaupt ergriffen werden. Wir steuern sehenden Auges auf die Destabilisierung des Klimas mit unabsehbaren Folgen zu. Jeder neue Wärmerekord, jede neue Hiobsbotschaft aus den Forschungen zum Artenschutz, jede gescheiterte Klimakonferenz, jede neue Modellrechnung zur Zukunft der Menschheit nehmen wir zur Kenntnis, mit Betroffenheit und Sorge, um dann zur Tagesordnung überzugehen. Vielleicht nehmen wir uns einen Vorsatz, z.B. ein wenig auf das Auto zu verzichten oder weniger Fleisch zu essen, um unser Gewissen zu beruhigen, und denken dann vielleicht an die anderen, mit ihren Fernreisen oder Kreuzfahrten, mit ihren teuren Autos und Schiurlauben, also an alle, die noch mehr verbrauchen als wir selber und die endlich ihre Konsumgewohnheiten verändern sollten, wo wir doch selber schon unseren Gürtel enger schnallen. Oder wir haben andere Gewissensberuhiger parat: Die Chinesen und Inder, die immer mehr Abgase in die Atmosphäre blasen, die US-Amerikaner mit ihren Spitzen-Öko-Fußabdrücken, die Schwerindustrie oder unsere Politik, die endlich aufhören sollte, klimaschädigende Unternehmen zu subventionieren. Vielleicht auch hoffen wir auf die Wissenschaften, die uns bald Technologien zur Verfügung stellen, mit denen das Klima repariert werden können, sodass wir unsere Lebensweise nicht ändern müssen.

Wir müssen also unsere kognitive Dissonanz, die innere Spannung zwischen den Befunden und unserer Lebensweise reduzieren und haben dafür eine Menge Argumente im Ärmel. All diese Argumente haben einen Nachteil: Sie sind nicht stichhaltig, sondern verschieben nur die Verantwortung, aber wir brauchen sie dringend. Denn die Alternative zum Verharmlosen oder Wegdiskutieren oder Kopf-in-den-Sand-Stecken wäre die radikale Veränderung unserer Lebens- und Konsumgewohnheiten: Wir müssten aufhören, der Natur mehr zu entnehmen als wir ihr zurückgeben, als Individuen und als Gesellschaften. Wir leben in Gegenden, in der wir nicht nur wesentlich mehr verbrauchen als weitaus die meisten anderen Gesellschaften auf dieser Erde (v.a. der globale Süden), sondern auch, in denen dieser Verbrauch ständig ansteigt, stärker als in allen ökonomisch schwächeren Volkswirtschaften.

Die Hintergrunddynamik ist befeuert vom profitorientierten Kapitalismus, der die Ressourcen dieser Welt kontinuierlich und mit beständig ansteigendem Verbrauch ausplündert. Wir sind in dieses System eingebunden und wirken deshalb an dieser Dynamik mit. Natürlich trifft das auf alle Menschen zu, die Geld verdienen und für Einkäufe ausgeben, aber in ganz unterschiedlichem Maß. Je ärmer Länder und deren Bewohner sind, desto weniger wirken sie an der Ausbeutung und Plünderung der Natur mit, je reicher, desto mehr.

Um aus dieser Falle, die immer mehr zuschnappt, zu entkommen, müssen wir uns bereit dafür machen, eine heilige Kuh zu schlachten, die uns seit dem Beginn der Industrialisierung in Bann hält: Die Idee des Wirtschaftswachstums, das in Form des BNP (Bruttonationalprodukt oder Bruttoinlandsprodukt) gemessen wird – ein Maß, das die ökologischen Folgen des Wachstums nicht miteinschließt. Diesem Bann hängen selbstverständlich die meisten Wirtschaftsvertreter an, die ihn immer wieder besonders lauthals einfordern und die permanent die Angst davor schüren, ihn zu vernachlässigen (weil ihre Profite dadurch Schaden leiden könnten). Aber auch fast alle Politiker wie viele andere Bürger unterliegen dieser Vernebelung.

In einem früheren Artikel habe ich versucht zu begründen, dass die blinde Gefolgschaft zu dieser Ideologie mit der kollektiven Traumatisierung zusammenhängt, die das kapitalistische System der Menschheit zugefügt hat und weiterhin zufügt. Um die Traumalast zu verdrängen, ist die kritiklose Übernahme des Grundmechanismus des Kapitalismus das probateste Mittel: Der bedingungslose Glaube an das Wachstum, das für alle das Heil bewirkt. Jason Hickel, Autor des Buches „Weniger ist mehr“, nennt diesen Glauben den Growthismus. Er hat mit Verweis auf wissenschaftliche Studienergebnisse aufgezeigt, dass nur ein Ausstieg aus dem Modell des beständigen Wirtschaftswachstums helfen kann, die Zukunft der Menschheit zu sichern. Selbst die Hoffnung, Ökologie und Wachstumswirtschaft koppeln zu können, funktioniert nicht, weil Wachstum heißt, der Natur das zu entnehmen, was in Profit umgemünzt wird. Wirtschaftswachstum bedeutet damit, neben dem, was aktuell schon geplündert wird, Tag für Tag und Jahr für Jahr noch mehr zu plündern, was zu einem exponentiellen Anstieg der weiteren Verknappung der Ressourcen führt. Wir entkommen dieser Dynamik nicht, wenn wir nur da und dort ein paar Schrauben drehen und das System mit seinen Mechanismen unbeschadet weiter läuft.

Wie aber soll ein Ausstieg aus dem Wachstumsmodell gelingen? Wir müssen uns von der Verhexung durch das materialistische Bewusstsein lösen, wenn ich hier mein Modell der Bewusstseinsevolution einbringen darf. Ein Grundelement dieser Bewusstseinsform besteht in der Symbolik der Zahlenreihe, die nach unten und oben unendlich ist und bei der es immer ein Mehr gibt, ohne dass jemals ein Ende erreicht werden kann, ohne dass also ein Sehnsucht zur Erfüllung kommen kann.

Wir entkommen dem Wachstumsdruck nur, wenn wir Quantität durch Qualität ersetzen: Langlebige Produkte statt solche, die nach einer vorbestimmten Zeit kaputt werden; unseren Konsum nach unseren inneren Bedürfnissen ausrichten und nicht nach den Sehnsüchten, die uns die Werbung einredet; faire Preise bezahlen statt Schnäppchen zu jagen und Billigprodukte anzuhäufen etc. Im Rahmen der bestehenden Bedingungen ließe sich relativ einfach die Nahrungsmittelverschwendung beenden. Viele Möglichkeiten haben wir, wenn wir der kapitalistischen Profitmaschinerie ein Schnippchen schlagen wollen. Sie sind Tröpfchen auf heiße Steine, aber wenn sie Breitenwirkung entfalten, wird der härteste Stein erweicht.

Zu einer wirklichen Wende gelangen wir aber nur, wenn die Politik die Perspektive der Befreiung von der Profitmaxime und der Wachstumsideologie schafft, also den Ausstieg aus der Unterordnung unter den Kapitalismus und seine Ideologie. Als Bürger sind wir dazu aufgerufen, diese Wende einzumahnen, Parteien herauszufordern und Überzeugungsarbeit auf allen Diskursebenen zu leisten. Parteien, die sich von der kapitalistischen Ideologie nicht lossagen können (weil sie von den Geldgebern in der Wirtschaft abhängig sind), sollten als systemkorrupt gebrandmarkt werden, bis sie schließlich abgewählt sind.

Jason Hickel: Weniger ist mehr. Oekom Verlag 2022

Zum Weiterlesen:
Die kapitalistische Traumatrance