Mittwoch, 29. September 2021

Das volle Boot und die Angst vor der Überflutung

Die Horrorerzählung vom vollen Boot

Wir alle kennen die Bilder vom Untergang der Titanic dank des filmischen Monumentaldramas. Wenn das Boot übervoll ist, gehen alle unter, die drauf sind. Leicht verständlich ist die Metapher und leicht übertragbar auf abstraktere Zusammenhänge. Ein Staatsgebiet ist das Boot, mitten in einem stürmischen Ozean und randvoll mit den Leuten, die auf dem Boot heimisch sind. Und da wollen jetzt noch andere an Bord, die im Ozean herumschwimmen, knapp vor dem Ertrinken. Wie jede Metapher, hinkt auch diese: Ein Staat ist natürlich kein Boot, sondern ein umgrenztes Landgebiet. Dieses Land ist von Millionen Menschen bevölkert, aber es noch genug Platz für weitere Millionen da, zumindest räumlich. Es gibt keinen Ozean, auf dem es schwimmt und dem es auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. In der Umgebung sind in der Regel andere Staaten, manchmal auch Küsten. 

Der Sinn der Metapher vom vollen Boot liegt darin, Angst zu erzeugen. Es soll ein Gefühl einer Einengung erzeugt werden, die das eigene Leben bedroht. Andere, Fremde, nehmen weg, was man selber zum Überleben braucht. Also muss man sie mit allen Mitteln abwehren. 

Die Metapher ist deshalb so eindringlich, weil wir solche Gefühlszustände kennen. Es wird eng, die Luft wird knapp, die Angst schnürt alles ein. In jedem natürlichen Geburtsverlauf gibt es Situationen, in denen die Versorgung durch die Nabelschnur knapp wird und der Wehendruck alles eng macht. Wir haben die Erfahrung überstanden, aber wir wollen sie nicht nochmals erleben. Sie ist in unserem Unterbewusstsein gespeichert, ebenso wie die Impulse, ähnliche Situationen in Zukunft zu vermeiden.

Diese Impulse werden geweckt, wenn wir mit der Metapher vom vollen Boot erschreckt werden. Die Gefühle können sich gleich massiv melden und die gedanklichen Kontrollen ausschalten. Wir fühlen uns unter Druck und werden aggressiv, weil es scheinbar um unser Überleben geht. Wir müssen uns unter allen Umständen wehren, und denken nicht weiter darüber nach, was wirklich Sache ist. Das Böse ist im Außen und muss dort bekämpft werden.

Die Metapher mit dem vollen Boot wird verwendet, wenn es um Flüchtlinge und Asylsuchende geht, die ihre Heimat verlassen haben, weil dort Krieg, Hungersnot oder andere schwierige Lebensumstände herrschen. Sie wollen anderswo auf der Welt ihr Leben sichern und ihr Glück suchen.  Mit der Metapher suggerieren Politiker, dass wir um unser Überleben fürchten müssen, wenn Leute von außen hereinkommen, weil sie uns unsere Lebensgrundlagen wegnehmen. Und sie präsentieren sich als die Retter vor dieser Not und Gefahr.

Wie wir wissen, hat es immer wieder in der Geschichte Menschengruppen gegeben, die unfreiwillig unterwegs waren; der ganze amerikanische Kontinent wurde großteils von politischen, religiösen und wirtschaftlichen Flüchtlingen aus Europa besiedelt. Jede der europäischen Nationen ist ein Sammelsurium von verschiedenen Ethnien, die sich im Lauf der Jahrhunderte überlagert und vermischt haben. Die Einwohner eines Landes unterscheiden sich nur in der Dauer der Sesshaftigkeit ihrer Herkunftsfamilien. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass sich vor allem jene, die noch nicht so lang im Land sind, deutlicher und vehementer gegen neuen Zuzug wehren als jene, die über viele Generationen angesiedelt sind. 

Klar ist, dass es kein objektives Kriterium dafür gibt, ab wann das Boot Staat voll ist, sprich von so vielen Menschen bewohnt wird, dass niemand Weiterer mehr Platz hat. Selbst die dichtest bevölkerten Staaten haben immer noch ausreichend Platz für Zuzügler. Klar ist auch, dass es Eingliederungs- und Anpassungsprobleme gibt, wenn in ein Land mit 8 Millionen Einwohnern innerhalb weniger Monate 100 000 Zuwanderer kommen. Aber zu sagen, dass ab nun das Boot voll ist, kann auf keinen nachvollziehbaren Grund verweisen, sondern ist eine subjektive Einschätzung. Die Integration von Zuzüglern wirft immer Probleme auf, und je mehr kommen, desto mehr Probleme gibt es. Wo aber ist die Grenze, ab der diese Probleme nicht mehr bewältigt werden können? Es gibt sie nur in Einschätzungen und Willenskundgebungen: Ich will nicht, dass noch mehr Leute reinkommen – weil sonst mein Sicherheitsgefühl ramponiert würde. 

Die subjektiven Einschätzungen, auf deren Grundlage vom „vollen Boot“ geredet wird,  sind aus der eigenen Emotional- und Traumabiografie unterfüttert und spiegeln das Ausmaß an Grundsicherheit und Grundvertrauen wieder, das in der Kindheit grundgelegt wurde. Sie treten zwar mit dem Anspruch auf objektive Gewissheit auf, können aber auf nichts zurückgreifen, was den Anspruch objektiv untermauern könnte.

Die Metapher von der Überflutung

Das Bild von der Überflutung von außen ist eine weitere Metapher, die Angst und Schrecken erzeugen soll. Sie hat auch mit dem Wasser zu tun wie die Metapher vom vollen Boot. Diesmal ist es das Wasser selbst, das in seiner Übermacht die Angst auslösen soll. Interessant ist die traumapsychologische Querverbindung. Ein Kennzeichen für ein Trauma besteht in der Überflutung mit feindlichen und bedrohlichen Reizen. Es strömen zu viele angstauslösende Informationen von außen auf den Organismus ein, der sie nicht mehr verarbeiten kann. Die inneren Systeme brechen zusammen, und Notfallsmechanismen übernehmen das Kommando, die ihrerseits dafür sorgen, dass flutartig Hormone ausgeschüttet werden. 

Solche Erfahrungen kennen wir alle in mehr oder weniger schlimmer Ausprägung. Die ersten Traumaerfahrungen sammeln wir im Mutterleib, etwa wenn die Mutter unter starken Stress gerät und ihre Stresshormone über die Nabelschnur ungefiltert einströmen. Wir werden von außen überflutet mit schädlichen Stoffen, und im winzigen Körper kommt es zur massiven Ausschüttung von eigenen Stresshormonen.

Wenn nun Szenarien des Überflutens von Politikern oder Medien heraufbeschworen werden, meldet sich im Inneren die Alarmreaktion von frühen Überflutungserfahrungen; das Denken wird ausgeschaltet, die Wirklichkeitswahrnehmung verzerrt, und die ganze emotionale Energie wendet sich gegen die Bedrohung, ob sie nun real ist oder fantasiert. Auf diese Weise gelingt es schnell, die verängstigten Menschen hinter einer politischen Parole zu versammeln. 

Die pränatalen Wurzeln der Ideologien

Ideologien nutzen gerne pränatal geprägte Metaphern, um die Emotionalzentren der Menschen anzusprechen und ihre Rationalität zu unterlaufen. In den hier genannten Fällen liefern sie damit Vorwände, die die Schamgefühle mindern sollen, die unterschwellig aktiviert werden, sobald es um die Fragen der Aufnahme von Notleidenden, Flüchtlingen und Vertriebenen geht, also um die Menschen, die unter dem Schutz der UN-Flüchtlingskonvention stehen. Diese Konvention, die die meisten Staaten unterzeichnet haben, wird zu einem leeren Stück Papier, sobald die emotional angetriebenen Ideologien die Oberhand gewinnen, mit Hilfe aller Ortsansässigen, die auf ihre Propaganda hereingefallen sind.

Mittwoch, 22. September 2021

Die Horrorerzählung vom unwirtlichen Planeten

Ich werde im Folgenden ein paar Aspekte des zweiten Zukunftsszenario besprechen: Die Welt ist überhitzt, von Unwetterkatastrophen geprägt und nur mehr in Randzonen für Menschen lebenswert. Die Ökosphären haben ihr Gleichgewicht verloren und driften auseinander, dort, wo die Naturforschung der vergangenen Jahrhunderte Ordnungen und Zusammenhänge ausfindig gemacht hat, bricht ein Chaos aus, das keine Prognosen mehr erlaubt.

Diese Erzählung beruht auf einem breiten Fundament an gesammelten Messungen, Fakten und Modellrechnungen. Es gibt zwar, wie es in der Natur der von Menschen betriebenen Wissenschaften liegt, Fachmeinungen, die die messbaren Veränderungen im Klima, das Abschmelzen der Polkappen und Gletscher, den Anstieg der Meereshöhe anders interpretieren (nämlich als nicht menschengemacht) als die große Mehrheit in der Zunft. Sie sind nach meiner Wahrnehmung in letzter Zeit leiser geworden und werden auch weniger über die sozialen Medien verbreitet als noch vor Jahren.  Sie können also getrost ignoriert werden, ohne dass wir einen Erkenntnisverlust über die Wirklichkeit befürchten müssen. 

Wir wissen also (verdammt) viel über die Zukunft des Mensch-Natur-Systems. Wir haben keine genauen Kenntnisse über die detaillierten Auswirkungen der Klimaveränderungen, weil Wissenschaftler keine Propheten sind und die Zukunft nur im Sinn von Wahrscheinlichkeiten prognostiziert werden kann. Wir wissen aber, dass vieles in eine Richtung läuft, die die befürchtete Richtung verstärkt statt sie zu korrigieren, und wir merken auch, dass viel zu wenig getan wird, um das Ruder herumzureißen. 

Die Konkurrenz der Ideologien

Der Grund für das schwerfällige Agieren der Menschheit liegt darin, dass die ökologische Zukunftserzählung in Konkurrenz mit den anderen Szenarien steht. Deshalb wird von der absehbaren Fehlentwicklung immer wieder durch die Erzählung anderer Horrorbilder abgelenkt. Die verantwortlichen Politiker, also die Vertreter der Mehrheitsparteien, die in allen Ländern auf andere ideologische Hintergründe zurückgreifen als die grünen Parteien, haben ihre eigene ideologische Richtung stark in ihren Köpfen verankert. So zählt das das, was ihnen die Fachleute erzählen, nicht, wenn es darauf ankäme, Entscheidungen zu treffen, die der eigenen Ideologie zuwiderlaufen. Außerdem schielen sie auf ihre Wählerschaft und deren angestammte oder zugeschriebene Interessen und bestätigen sie in ihren Ängsten, statt ihnen Zukunftsbilder zu einer neuen, realitätsadäquaten Orientierung zu präsentieren. Sie haben die Angst, ihre Basis zu verlieren, wenn sie die ökologische Erzählung übernehmen. Denn ihre eigene Identität ist viel zu stark verknüpft mit ihrer Ideologie, ob sie konservativ, neoliberal, sozialistisch oder nationalistisch ist. Deshalb meinen sie, sich selber aufgeben zu müssen, wenn sie die Zeichen der Zeit ernst nehmen.

Strategien der Beschwichtigung

Natürlich gibt es diese Ambivalenzen auch in der Bevölkerung. Die beunruhigenden Entwicklungen haben schon länger die Wahrnehmungsschwellen überwunden, aber all die anderen Motive, die im eigenen emotionalen Universum mitspielen, gleichen aus, was allzu viele ökologische Ängste an Verhaltensänderungen auslösen könnten. Stattdessen melden sich kleinere, auf das eigene Leben bezogene Befürchtung, wie jene um die Bequemlichkeit, den Wohlstand und den Luxus, die Ängste vor einem Verzicht auf Dinge, die zwar nicht lebensnotwendig, aber selbstverständlich geworden sind. 

Nützlich ist die Strategie, Verzicht mit Luxus gegenzurechnen, um sich um die eigene Verantwortung zu drücken: Ich fliege nicht mit dem Flugzeug, also kann ich ruhig weiter Fleisch essen. Oder: Ich esse kein Fleisch, also kann ich weiter Flugreisen unternehmen. Eine andere Strategie besteht darin, auf andere hinzuweisen, die weniger tun: Meine Nachbarn trennen nicht einmal den Müll ordentlich, wieso soll ich dann auf das Auto verzichten? Die Chinesen blasen so viel Gifte in die Luft, warum soll ich dann meine Heizung umstellen? Die wahren Umweltsünder sind die Industriebetriebe, solange die nicht aufhören, ihre Abgase in die Luft zu blasen, fange ich gar nicht an, irgendetwas in meinem Leben zu verändern. Nein, die wahren Umweltsünder sind die Autofahrer, nein, die Lastwagenfahrer, nein, die Flugzeuge, nein, die Rinder und die Hunde. So reden die Leute über die anderen und deren Sünden und entlasten sich dadurch vom eigenen Gewissensdruck. 

Die nächste Strategie besteht darin, einzelne Entwicklungen in die Zukunft zu extrapolieren, um sie dort ad absurdum zu führen. Wenn niemand mehr mit dem Auto fahren kann, verhungern die Menschen am Land. Wenn niemand mehr Fleisch isst, veröden die Weideflächen und Almen. Wenn niemand mehr fliegt, verschwindet der Tourismus, verkommen alle Flughäfen und die Flugzeugindustrie wird zerstört. Diese scheinrationalen Überlegungen dienen ebenfalls der Gewissensberuhigung.

All diese Strategien sind kognitive Hilfen, um die Ängste vor einer ungewissen Zukunft zu bannen und zugleich in der eigenen Bequemlichkeitszone bleiben zu können. Vermutlich ist die Angst vor Veränderungen eine unserer größten, weil wir nie mit Sicherheit wissen, wohin wir geraten werden, wenn wir einen Schritt aus dem gewohnten Territorium wagen.

Ängste vor der Ungewissheit

Über kurz oder lang wird uns allerdings die Realität überholen und uns mit Ungewissheiten konfrontieren und vor völlig neue Herausforderungen stellen. Dass wir unser gewohntes Leben einfach so weiterführen können, wie wir es gerne hätten, sind fromme Wünsche mit äußerst geringer Wahrscheinlichkeit. Natürlich hängt es von Wohlstand und Reichtum ab, wieweit wir von den Folgen der Veränderungen betroffen sind. Vermutlich werden sich Inseln bilden, in denen die, die es sich leisten können, ihrem Lebensstil nachgehen können wie bisher, aber die größte Zahl der Menschen wird den Folgen der Versäumnisse, die wir in der Vergangenheit begangen haben und auch jetzt mit unserer Form des Alltagslebens begehen, ausgeliefert sein. 

Ob ein Horror durch plötzliche massive Veränderungen infolge von Kippeffekten eintreten wird oder graduelle Prozesse der Umgestaltung geschehen, ist völlig ungewiss. Doch brauchen wir jetzt keinen Horror in unseren Köpfen pflegen, sondern sollten diese freihalten, um die Maßnahmen zu setzen oder zu unterstützen, die wir in der Gegenwart angehen können. Wir brauchen auch die Kreativität für neue Lösungen, um aus dem Eck, in das wir uns manövriert haben, herauszukommen. Wenn wir in Horrorfantasien verstrickt sind, wird die Kreativität geblockt. Wir müssen also unsere Zukunftsängste bändigen und unsere Zuversicht und unser Vertrauen stärken, damit wir dem, was auf uns zukommt, gewachsen sind.

Zum Weiterlesen:

Kapitalismus und Sozialismus: Angstorientierung gegen Schamorientierung
Nachhaltiger Konsum, aber echt
Ökologie und Ausreden
Privileg Flugreisen


Dienstag, 7. September 2021

Kapitalismus und Sozialismus: Angstorientierung gegen Schamorientierung

Unsere Zukunft und vier Horrorerzählungen

Der Blick in die Zukunft geschieht manchmal hoffnungs- und vertrauensvoll, manchmal aber auch besorgt und ängstlich. Diese Sorgen und Ängste beruhen auf aktuellen Erfahrungen und Fakten, die wir aus verschiedenen Informationskanälen gesammelt haben. Die emotionale Ladung dieser Zukunftsbilder stammt aus unserer Kindheit und aus pränatalen Erfahrungen sowie aus kollektiven Traumatisierungen aus der Geschichte.

Wir können vier verschiedene Szenarien unterscheiden, die sich alle irgendwo überschneiden und miteinander interagieren, die aber auch getrennt von politischen Parteien und Gruppierungen bedient, propagiert und verstärkt werden: 

das Szenario einer entsolidarisierten Gesellschaft

das Szenario einer von außen überfluteten Gesellschaft

das Szenario des schwindenden Wohlstandes

das Szenario der zerstörten Natur.

Die erste  Erzählung handelt von der sozialen Ungleichheit. Es ist ein uraltes Thema der Menschheit, das spätestens seit dem Übergang von den Stammeskulturen zu den Ackerbaukulturen vor ca. 10 000 Jahren entstanden ist. Viele Märchen und Sagen handeln von den hartherzigen Reichen und den leidenden Armen. Seit der Industrialisierung hat sich das Problem massiv verschärft, und es sind politische Bewegungen unter der Fahne von Sozialismus und Kommunismus aufgetreten, die sich dem Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit verschrieben haben.

Die Fakten zeigen seit dieser Zeit ein permanent ansteigendes Auseinanderdriften zwischen der Reichtumsakkumulation bei ganz Wenigen auf der einen Seite und der Erwerbs- Alters-, Alleinerzieher-, Arbeitslosenarmut bei sehr Vielen auf der anderen Seite, mit einem Mittelstand dazwischen, der zunehmend in Gefahr gerät, auf die Armutsseite abzurutschen. Die Klimakrise fügt dieser Entwicklung eine weitere Dimension hinzu, weil sie sich völlig anders auswirkt, wenn jemand die Hitze in einem überfüllten Slum unter einem Wellblechdach oder in einer abgeschiedenen und vollklimatisierten Villa am Meer überstehen muss. Die Lebensläufe, das Sterbedatum und die Todesursachen sind wesentlich durch die Stellung im sozialen Gefüge beeinflusst, die durch das Ungleichgewicht in der Verfügung über materielle Ressourcen definiert wird. Wer reich ist, lebt nicht nur besser, sondern auch länger.

Die Unverzichtbarkeit des sozialen Ausgleichs

Die Vernunft sagt uns, dass es einen sozialen Ausgleich braucht, damit das Zusammenleben der Menschen funktionieren kann. Es müssen nicht alle Menschen gleich viel verdienen oder ein gleiches Vermögen haben, aber es muss einen Rahmen geben, innerhalb dessen sich die Unterschiede bewegen, sowie Durchlässigkeiten, die eine Chancengleichheit oder -vergleichbarkeit erlauben. Denn sonst entsteht die Gefahr, dass die Gesellschaft auseinanderfällt und ein Krieg aller gegen alle ausbricht oder dass es zu einer Abschottung der happy few in ihren befestigten Ghettos vor der Masse der Schlechtweggekommenen kommt. Ein dynamischer Ausgleich zwischen Leistungsnormen und individuellen Stärken und Schwächen ist notwendig, um den Überlebensstress für die Einzelnen zu verringern und das kreative Potenzial, das in allen Menschen steckt, füreinander und für eine menschenwürdige Entwicklung nutzbar zu machen.

Es ist auch leicht nachvollziehbar, dass bei Krisen und Katastrophen die sozial und monetär Schwächeren noch schwerer zu leiden haben als die, die es sich aufgrund ihrer Mittel besser richten können. Zu Zeiten des Andrangs von Flüchtlingen und Asylsuchenden nach Mitteleuropa gab es dort die Wohlhabenden, die vor den Flüchtlingen ins Feriendomizil auf den Balearen oder Kanaren flüchteten. Ähnliche Absetzbewegungen gab und gibt es auch in den aktuellen Pandemiezeiten. Die Klimakrise ist, wie jede andere ebenso, immer auch eine soziale Krise.

Schreckensszenarien und Ideologien

Horrorerzählungen werden entworfen, um die Menschheit aufzuwecken und zum Handeln zu motivieren. Sie haben aber die Tendenz, sich mit Ideologien aufzuladen – solange ungeklärte Gefühlsenergien hinter den vernünftigen Anliegen stecken, also vor allem Ängste und Schamgefühle.

Der ideologische Ballast tritt dort zu Tage, wo die Hintergründe und Ursachen des Ungleichgewichts mythologisiert werden, indem scheinbare Drahtzieher hinter den Entwicklungen identifiziert werden. Entweder sind es ein paar Verschwörer, die die Fäden in der Hand haben und mit dem Schicksal der Menschen spielen, oder es ist „der Kapitalismus“, der mit seiner destruktiven Macht die Menschheit in den Untergang steuert. Wenn es um die Verantwortung für das „Böse“ geht, neigen die Sozialrevolutionäre zu verkürzenden Konzepten. Die komplexen Systeme, die diese Entwicklungen antreiben, werden auf diese Weise auf einfache Feindbilder reduziert, die dann so übermächtig erscheinen, sodass es keine Basis für politische Gegenaktivität zu geben scheint und alles, was zur Verbesserung der Situation oder zur Korrektur der destruktiven Tendenzen unternommen wird, als Symptomkur abgetan werden kann. Die auf Karl Marx zurückgehende Ideologie besagt, dass die ganze Gesellschaft umgestürzt werden muss, um das Gespenst des Kapitalismus zu erledigen. Solange das nicht gelingt, wird alles nur noch schlimmer, weil selbst jeder Versuch einer Reform den Kapitalismus stabilisiert und widerstandsfähiger macht.

Doch ist die kommunistische Revolution, in der gesamten Geschichte der Neuzeit betrachtet, nie wirklich und grundlegend gelungen. Das kapitalistische System wirkt heute ungebrochen auf der ganzen Welt, und eine seiner stärksten Mächte ist die kommunistische Volksrepublik China. Der Kommunismus (oder der “real existierende Sozialismus”), wie er in der Geschichte aufgetreten ist, ist ein Herrschaftssystem, das Machtstrukturen festschreibt und mögliche Gegner kontrolliert und unterdrückt. Die Wirtschaft dient als Experimentierfeld, an dem mit Hilfe der Machtinstrumente herumgedoktort wird. Die Erfahrung hat gezeigt, dass jeder Versuch, den Kapitalismus völlig der politischen Macht unterzuordnen, katastrophale Auswirkungen auf die wirtschaftliche Performanz hatte. Das war ein Hauptgrund dafür, dass das kommunistische System in Osteuropa 1989 sang- und klanglos untergegangen ist. So schnell konnte man gar nicht schauen, schon wurden viele der vormaligen Bannerträger des Sozialismus zu den erfolgreichsten Kapitalisten. 

Der chinesische Kommunismus produzierte solange Hungersnöte und andere wirtschaftliche Katastrophen, als versucht wurde, den Kapitalismus mit politischer Macht auszurotten. Erst als mehr und mehr kapitalistische Elemente zugelassen wurden, stellten sich dann wirtschaftliche Erfolge ein, und damit auch Korruption in vorher unbekannten Ausmaßen.

Kein Kommunismus mit traumatisierten Menschen

Karl Marx hat viel vom Wesen des Kapitalismus verstanden, doch seine Schlussfolgerung, dass der Kapitalismus durch die Revolution der unterdrückten Massen beseitigt werden muss, war kurzsichtig. Was Marx übersehen hat, ist die Eingewobenheit des Kapitalismus in das menschliche Wesen. (Karl Marx war nicht mit der Psychologie und noch weniger mit der Traumatheorie vertraut.) Kapitalistisches Denken und Handeln ist ein Aspekt des Menschseins und ist eng mit den emotionalen Antrieben von Angst und Gier verbunden. Psychologisch betrachtet, stellt der Kapitalismus die Spielwiese einer weit verbreiteten Überlebensstrategie dar: Durch das Anhäufen von Gütern die Angst vor der eigenen Auslöschung zu bewältigen. Paradoxerweise steigt die Angst noch weiter, wenn mehr Sicherheit vor den Lebensbedrohungen durch giergeleitete Anhäufungshandlungen geschaffen werden soll. Die Angst bringt die Gier hervor, und die Gier steigert die Angst. Der Kapitalismus spiegelt also die Angstbewältigung nur vor und reproduziert sie in Wirklichkeit beständig.

Wie wir gesehen haben, können wir den Kapitalismus als das interaktive System verstehen, das von den Emotionen der Angst und Gier angetrieben ist und daraus ein Eigenleben entwickelt hat, das von einzelnen Individuen nicht mehr kontrolliert werden kann. Alle sind ihm unterworfen, niemand kann sich dem Sog gänzlich entziehen, und folglich wirkt auch jeder daran mit, dass die Macht des kapitalistischen Systems weiter wächst. (Wir alle müssen Lebensmittel und andere Güter kaufen, die im Rahmen des Kapitalismus erzeugt und vertrieben werden. Mit jedem Preis, den wir zahlen, stimmen wir diesen Produktions- und Vertriebsbedingungen zu. Wir alle müssen unseren Lebensunterhalt verdienen und verkaufen unsere Arbeitskraft und stimmen damit den Regeln des Arbeitsmarktes und der Lohnarbeit zu.)

Der Kapitalismus entsteht also als Gemeinschaftsprodukt, das überindividuell wirkt. Er ist aus der Summe der kapitalistisch motivierten Aktionen der Menschen zusammengesetzt. Deshalb kann der Kapitalismus nicht einfach zerstört werden; das ist die Illusion, durch die die kommunistischen Ideen zu einer Ideologie werden. Denn die Menschen und ihre emotionalen Überlebensstrategien bleiben die gleichen, welches System auch immer auf der politischen Ebene installiert wird. Die Menschen verlieren ihre Ängste und die Gier als Angstbewältigung nicht, bloß wenn das politische und ökonomische System anders geregelt wird. Jeder kommunistische Diktator und Apparatschik ist dafür ein historischer Beweis.

Der Kapitalismus ist also kein historischer Irrtum oder keine böse Macht, die über die Menschheit gekommen ist, sondern der kollektive kreative Versuch der Menschheit, ab einer bestimmten Stufe der Komplexität der gesellschaftlichen Entwicklung (ich habe sie als die fünfte Stufe der Bewusstseinsevolution beschrieben) ihr Überleben zu sichern. Es braucht auf jeder Stufe eine heikle Balance zwischen individuellen und sozialen Motiven, damit das kollektive Überleben gewährleistet werden kann. Das Überwiegen der individuellen Überlebensanreize vor den kollektiven im kapitalistischen System zeigt dessen Wurzeln in den Urängsten der Menschen. Denn die Angst macht immer auf die Bedrohung des eigenen Lebens durch die anderen aufmerksam. In der Angst werden uns die anderen Menschen zu feindlichen und gefährlichen Wesen.

Aus der Sicht der Psychologie hat im Kapitalismus die Angst vor der Scham das Sagen. Die Scham fordert die soziale Rücksichtnahme bei den eigenen Überlebenshandlungen ein: Wenn wir uns in einer Notsituation egoistisch verhalten, wenn wir uns z.B. beim Schiffsuntergang vor anderen auf das letzte Boot drängen, dann meldet sich die Scham. Wenn bei einer Pandemie die Intensivbetten knapp werden, müssen wir alles tun, um die Scham abzuwenden, die entsteht, wenn wir bei Erkrankten nicht alles Menschenmögliche für ihre Heilung tun.

Das bedrohliche Potenzial des Kapitalismus liegt darin, dass es ihm gelungen ist, die Scham weitgehend zu entmachten. An der Spitze der kapitalistischen Umtriebe befinden sich nicht zufällig die schamlosesten Menschen. Gerade deshalb brauchen wir schamgetriebene Systeme, die die Macht der angstgetriebenen Systeme ausgleichen. Nur auf diese Weise kommt es zu einem Gleichgewicht auf der Ebene der Überlebensimpulse. 

Hier sehen wir die unverzichtbare Aufgabe des Sozialismus. Wenn die Gegenkräfte gegen den Kapitalismus nicht aufrechterhalten und gestärkt werden, nimmt unweigerlich der angstgesteuerte Individualismus die Vorherrschaft ein, und das Prinzip der Solidarität geht flöten. Der frei entfesselte Kampf von jedem gegen jeden ist der Anfang vom Ende der Menschheit. Demgegenüber fordert der Sozialismus die Solidarität zwischen den Stärkeren und Schwächeren, zwischen den Reicheren und Ärmeren ein. Es gibt ein zutiefst menschliches Bedürfnis nach einem Ausgleich zwischen oben und unten und es entstehen massive Ängste, wenn es missachtet wird.  

Der Kapitalismus verspricht nicht nur Sicherheiten für die eigenen Überlebensängste, indem er im Allgemeinen den Wohlstand steigert, sondern füttert sie gleichzeitig, indem er immer mehr von den Menschen einfordert. Das ist das unheilvolle Rückkoppelungssystem, für das die Menschen in der industriellen und postindustriellen Gesellschaft einen steigenden Tribut an körperlicher und immer mehr an seelischer Ausbeutung zu bezahlen haben. Auch hier meldet sich eine vergesellschaftete Scham, die auf die Schmach hinweist, dass trotz der erstaunlichen Errungenschaften der modernen Luxusgesellschaften die Lebensqualität und Lebenszufriedenheit nicht gestiegen ist, sondern dass die Menschen von neuen Ängsten, von Gier, Neid, Arroganz und Selbstzweifeln befallen sind.

Angstorientierung und Schamorientierung im Wechselspiel

Solange nicht bewusst geworden ist, dass der Kapitalismus von Angst und der Sozialismus von Scham angetrieben ist, wird die Machtverteilung zwischen beiden Kräften hin- und her schwanken. Einmal regieren die einen, dann wieder die anderen. Denn die Wähler schwanken genauso zwischen diesen Gefühlsmustern, die sie beide in sich tragen. Inzwischen sind viele Sozialisten etwas kapitalistischer geworden und manche Kapitalisten etwas schamvoller. Doch die Grundstruktur hat sich nicht geändert: Die Ängste, die der Kapitalismus vorgibt zu vermindern, werden in Wirklichkeit durch den Druck auf die Individuen gesteigert. Ähnlich ist es mit der Scham, die im Sozialismus beruhigt werden soll: Sie sucht sich andere Betätigungsfelder, sobald der soziale Ausgleich auf einer breiteren Basis verwirklicht ist. 

Ein Beispiel ist die (schamlose) Überwachung der Individuen, die in allen kommunistischen Staaten installiert wurde. Mit ihr sollte das Schambewusstsein bei den Menschen aufrechterhalten werden, damit sie ihre individuellen Bestrebungen, ihre Egoismen, dem Kollektiv unterordnen. In Wirklichkeit setzen sich allerdings die machtgeilen Egoisten im herrschenden Machtapparat gegenüber den Untertanen durch, oft mit äußerster körperlichen und seelischen Grausamkeit.  

Ein weiteres typisches Exempel bilden die erzwungenen Selbstbeschämungen, die als Rituale der Machtbestätigung in diesen Systemen vollzogen wurden: Die absurden Geständnisse von Angeklagten in den stalinistischen Schauprozessen und die erzwungene Selbstkritik der Funktionäre im chinesischen Kommunismus zeugen von der Instrumentalisierung der Scham für die Zwecke des Machterhaltens und der Unterdrückung der individuellen Freiheiten.

Auch das heutige China zeigt das Wechselspiel zwischen einer kapitalistischen und einer sozialistischen Diktatur. Nachdem in der letzten Zeit die chinesische Wirtschaft mit Rekordzahlen gewachsen ist und das Land immer mehr Milliardäre hervorgebracht hat, scheint jetzt die Regierung in die Schamrichtung zurückzusteuern. Der Unterhaltungsindustrie werden Schamschranken auferlegt, Großkonzerne werden gemaßregelt und die ausgeuferte Arbeitszeit eingeschränkt. Unter dem Stichwort des „allgemeinen Wohlstandes“ wird die soziale Seite des chinesischen Sozialismus reaktiviert. (Zur Quelle)

Jenseits der Überlebensmuster: Optimismus statt Horror

Der Horror des Szenarios einer entlang der Reichtumsschere auseinanderlaufenden Gesellschaft lichtet sich erst, wenn der Einfluss der Ideologie aus den Zusammenhängen schwindet. Ideologien neigen zu einer wirklichkeitsverzerrenden Schwarz-Weiß-Sicht und zu einem Freund-Feind-Denken. Die vorurteilsfreie Sicht auf die Wirklichkeit ermöglicht die Handlungen, die notwendig sind, um der Entsolidarisierung entgegenzuwirken und die sozialen Intentionen, die jedem Menschen innewohnen, zum Tragen kommen. Der Einsatz für mehr soziale Gerechtigkeit auf allen Ebenen ist dann nicht von der Scham angetrieben, sondern von dem Wollen einer gerechten und humanen Gesellschaft, einem zutiefst menschlichen Anliegen. Er bildet ein Anliegen, das immer wieder formuliert, eingefordert und eingemahnt gehört, um Willen einer gerechten Gesellschaft.

Vieles wurde auf diesem Weg schon erreicht, vieles ist noch offen und muss mit aller Kraft angegangen werden. Viele Menschen sind in diesen Belangen engagiert. Es gibt viel Anlass für Optimismus, und das ist die Haltung, die Energien freisetzt und bündelt.