Mittwoch, 30. November 2022

Die Schmerzen der Welt

Die Welt ist im Schmerz und wir sind Teil dieser Welt. Wir brauchen nur unser Bewusstsein ein Stück zu weiten und schon begegnen wir diesem unbegrenzten und unendlichen Meer an Schmerzen und Leiden. Wir spüren den Schmerz der anderen leidenden Wesen. Dieser kollektive Schmerz kann überwältigend werden, weil es so unglaublich viel Leid in dieser Welt gibt. 

Dazu kommt Ohnmacht und Hilflosigkeit, weil wir nichts dagegen tun können. Es ist schwer auszuhalten, Leid zu erkennen und zur Untätigkeit verdammt zu sein. Wir würden uns sicherer und selbstmächtiger fühlen, wenn wir etwas dazu beitragen könnten, was den Schmerz lindert. 

Denn so sind wir es gewohnt in unserem Alltag. Wenn jemand traurig ist oder an anderen Schmerzen leidet, können wir Zuwendung geben, Trost spenden oder auf andere Weise den Schmerz lindern. Wir kennen alle den menschlichen Impuls, dem, was uns an Leid begegnet, abzuhelfen. Dazu sind wir da, uns gegenseitig bei der Bewältigung des Leidens zu helfen. 

Doch hat diese Einstellung nur in den kleinen Lebenskreisen Sinn, in denen wir direkt miteinander zu tun haben. Darüber hinaus sind unsere Kapazitäten schnell überfordert. Ein paar Schritte auf der Straße einer Großstadt, und wir sind schon konfrontiert mit dem   Unglück der Bettler und Alkoholiker und dem Stress von fast allen anderen. Ein Blick in die Nachrichten, und das Leid von Millionen wird uns schmerzlich bewusst. Mit jeder Kenntnisnahme von Leidensbotschaften wächst die Ohnmacht.

Schmerz und Wachstum

Wie können wir unsere innere Balance behalten angesichts einer Welt in Schmerz und unserer Unfähigkeit, dem Einhalt zu gebieten?

Schmerz empfinden wir als sehr unangenehm und wir tun alles, um Schmerzen zu vermeiden. Dennoch haben sie eine wichtige Funktion, die darin besteht, uns auf Schwachstellen, Defizite oder Störungen aufmerksam zu machen. Schmerzentstehung und Schmerzempfindung sind Signale unseres Organismus, die zum Optimalzustand zurückführen sollen. Sie kommen in vielen, wenn nicht allen Bereichen der Natur vor und sind uralte Formen, wie sich das Leben selbst regelt. Wir können also den Wert des Schmerzes verstehen, auch wenn er uns weh tut.

Offensichtlich kann der Weltprozess, ähnlich wie unser eigener Lebensweg nicht frei von Schmerzen verlaufen. Schmerzen gehören zur Entwicklung und zum Wachsen. Mit Schmerzen und unter Schmerzen wurden wir geboren, schmerzhafte Krisen haben wir überstanden und für die Zukunft müssen wir damit rechnen, dass es wiederum schmerzhafte Erfahrungen geben wird. Ähnlich verläuft die Weltgeschichte. Der Fortschritt zu mehr Friede und Gerechtigkeit führt immer wieder zu schmerzhaften Vorkommnissen.

Wir erkennen dabei, dass es viele Schmerzen in der Welt gibt, die uns unnötig erscheinen, vor allem jene, die Menschen anderen Menschen antun. Schmerzen, die mit keiner Weiterentwicklung, sondern mit Rückschritten verbunden sind und die oft Lawinen von weiteren Zerstörungen nach sich ziehen, bereiten uns viel Kummer. Solche Vorfälle zu akzeptieren fällt uns am schwersten, weil etwas vom Wichtigsten dabei verletzt wird, was wir haben: der soziale  Zusammenhalt. Sie stellen zudem unsere Fähigkeit des Hoffens auf eine harte Probe.

Ohnmacht und Wunschvorstellungen

Wir erleben uns nur dort hilflos, wo wir meinen, dass wir nichts ausrichten können. Die Welt verhält sich nicht gemäß unserer Auffassung, wie sie sich verhalten sollte und wie wir sie haben wollen. Dann entsteht die Mischung aus Leid und Ohnmacht, die uns äußerst unangenehm ist. Wir kennen diese Gefühlskombination aus unserer Kindheit, in der es immer wieder Situationen gegeben hat, die uns nicht gepasst hatten und wo wir unsere Wünsche angesichts der elterlichen Übermacht zurückstellen mussten. Im Leiden an der Welt wiederholen wir diese Erfahrungen und vergessen dabei, dass wir schon erwachsen sind. 

Als Erwachsene wissen wir, dass Leid zum Leben gehört wie die Freude. Wir wissen auch, dass fast alles, was in der Welt geschieht, nicht in unserer Macht steht. Und wir wissen, dass es in unserem Leben genau um dieses „Fast“ geht, dass wir den Gestaltungsraum, der uns gegeben ist, sinnvoll und konstruktiv nutzen. Diesen Raum können wir mit unserer Macht füllen und formen. Es gibt also immer einen Beitrag, den wir leisten können, um das Leid zu mindern. Wir können das umso besser, je mehr wir uns vom Weltschmerz und seiner Verquickung von Leid und Unfähigkeit lösen.

Der Weltschmerz macht uns auf unsere Begrenztheit und Beschränktheit aufmerksam. Er ist auch ein Leiden an unserer Endlichkeit. Eine zentrale Aufgabe unseres Erwachsenenlebens besteht darin, diese Endlichkeit in ihrer Radikalität anzunehmen und die Angst vor der absoluten Grenze, der wir ausgesetzt sind, zu überwinden. Gerade angesichts der Endlichkeit öffnet sich der Raum für das Handeln – verbunden mit dem klaren Bewusstsein, dass es nicht die eigene Aufgabe sein kann, die ganze Welt zu retten, ja, dass es schon anmaßend ist zu meinen, auch nur annährend das Leid, das im eigenen Lebensumfeld auftaucht, heilen zu können.

Besonders und unübergehbar ist es unsere Aufgabe, uns um unser eigenes Leid zu kümmern. Solange wir offene Wunden in uns tragen, sind unser Aktivitätspotenzial und unsere Kreativität gehemmt. Das eigene Leid hat einen ersten Ansprechpartner und Heiler, das eigene Selbst. Dafür benötigen wir Ressourcen. Wenn wir nicht ausreichend für uns selber sorgen, können wir nie im vollen Sinn für jemand anderen eine Stütze sein. 

In allen Berufen, die viel mit Zwischenmenschlichkeit zu tun haben und wo die Tätigkeit mit leidenden Menschen zu tun hat, erkennen wir die Notwendigkeit, sich beim Helfen nicht zu verausgaben und die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten und der eigenen Ressourcen nicht aus dem Blick zu verlieren. Es braucht ein klares Gefühl der Abgrenzung zwischen dem, was in der eigenen Macht steht, und dem, was man selber nicht schaffen kann. 

Das Mitgefühl als Brücke

Als Erwachsene haben wir das Mitgefühl zur Verfügung, das die Brücke zum Leid von anderen schlägt, ohne dass wir uns in ihm verlieren. Wir müssen uns nicht abschotten, wir müssen aber auch nicht an der Hilflosigkeit verzweifeln. Wir tun, was in unserer Macht und in unseren Möglichkeiten steht, mehr ist nicht notwendig und gefordert. Falls wir an einem schlechten Gewissen leiden, das uns unsere Mangelhaftigkeit im Helfen vorwirft, wird ein Blick in die eigene Lebensgeschichte zeigen, woher diese Tendenz zur Selbstkritik stammt. Das Verständnis für die alten Wurzeln der Schuldgefühle aus der Familiendynamik hilft uns, sie zu überwinden und wieder in unsere nach vorne gerichtete Handlungsfähigkeit zu kommen.

Pablo Neruda hat darüber geschrieben, den Schmerz der Welt in Hoffnung zu verwandeln. Das ist die Lehre, die wir aus der Erfahrung von Weltschmerz ziehen können: Diese Aufgabe zu kultivieren und mit unseren Kräften und unserer Bewusstheit daran zu arbeiten.

Montag, 14. November 2022

Die kapitalistische Trauma-Trance

„It's the economy, stupid.“

Warum ist das Wirtschaftswachstum ein derartig wirksames Totschlagargument, wenn es um Maßnahmen für den Klimaschutz geht? 

Eine einfache Erklärung würde besagen: Es gibt die Propaganda, mit der die Lobbyinginteressen von Unternehmen vertreten werden, die ihre Gewinne schwinden sehen, wenn sie ihre Produktion umstellen müssten. Davon müssten wir uns nicht beeindrucken lassen. Es gehört zum Wirtschaftsgeschehen, dass sich die Produktion laufend modernisieren muss, und wenn die Modernisierung jetzt darin besteht, klimafreundlich zu produzieren, dann ist das eben die Aufgabe, der sich das Unternehmen stellen muss.

Was aber häufig geschieht, ist, dass die ökologische Debatte dort aufhört und Klimamaßnahmen abgeschmettert werden, weil ja das Wirtschaftswachstum gefährdet würde, damit Arbeitsplätze wegfallen, die Wirtschaft schrumpft, allen geht es schlechter und schließlich und endlich bricht alles zusammen.

Der Clinton-Slogan: "it's the economy, stupid", könnte so übersetzt werden: Es dreht sich alles um die Wirtschaft, und wenn du das nicht begreifst, bist du ein Dummkopf. Oder: Die Wirtschaft ist der wichtigste Bereich, um den sich alles andere dreht und drehen muss. Oder: Die Wirtschaft betrifft die Menschen am unmittelbarsten und am wirkmächtigsten, alles andere ist dagegen sekundär.

Das Kapitalismus-Trauma

Dass wir solche Slogans verstehen und für plausibel und richtig halten, hängt mit der kollektiven Traumatisierung durch den Kapitalismus zusammen. Die Wirtschaft ist ein Teilbereich in jeder menschlichen Gesellschaft, aber seit der Einführung des kapitalistischen Wirtschaftssystems hat dieser Teilbereich die zentrale Stellung eingenommen. Diese Themenführerschaft hat sich tief in unser Bewusstsein eingegraben. Sie ist in alle Bildungs- und Ausbildungsvorgänge eingebunden und wird den Kindern und Jugendlichen von früh an eingetrichtert. Sie sollen in den Schulen „für das Leben“ fit gemacht werden, d.h. sie sollen in der Wirtschaft bestehen und sich eine „Existenz“ aufbauen können. Der Kapitalismus hat es also geschafft, die menschliche Existenz vom wirtschaftlichen Erfolg abhängig zu machen: Wenn wir es in der Wirtschaft nicht schaffen, verlieren wir unsere Existenz.

Was ist hier geschehen? Natürlich wussten Menschen immer, dass ihr Überleben davon abhängt, dass sie genug zum Essen und einen sicheren Aufenthaltsplatz haben. Aber sie wussten auch, dass sie das nie alleine schaffen können, sondern dass es nur gelingt, wenn alle zusammenhalten. 

In den Anfängen konnten und mussten unsere Vorfahren selber in ihren Gemeinschaften für alles sorgen, was zum Überleben notwendig war. Vor allem seit der jungsteinzeitlichen Revolution ist die Wirtschaft durch die fortschreitende Arbeitsteilung immer komplexer geworden. Es ist ein System von wechselseitigen Abhängigkeiten entstanden, das dann durch das kapitalistische System mit den Prinzipien von Gewinnmaximierung und Konkurrenz verschärft wurde. Während im Mittelalter geregelt war, wieviel ein Handwerker verdienen konnte, sollte im Kapitalismus jener, der am billigsten und effizientesten produziert, die anderen Mitbewerber ausstechen. Aus einem relativ ausgewogenen System von wechselseitigen Abhängigkeiten, in dem der soziale Ausgleich eine wichtige Rolle spielt, wird ein System des Konkurrenzkampfes nach dem Motto: Jeder gegen jeden. Wer zu wenig kämpft, geht unter. Stirb du, bevor ich sterbe. Die Existenzangst liefert den hintergründigen Antrieb für wirtschaftliches Handeln und wird jedem Teilnehmer an der Wirtschaft eingepflanzt. 

Wie ich schon an anderer Stelle ausgeführt habe, ist der Kapitalismus ein angstgetriebenes System, das allen eine chronische Stressbelastung auferlegt. Die versteckte Ideologie dieses Systems suggeriert, dass das Überleben permanent prekär ist. Man kann sich nie genug anstrengen, um endlich vor dem Untergehen sicher zu sein. Die Menschen werden gezwungen sich „freiwillig“ selber Gewalt anzutun, nicht mit vorgehaltener Pistole, sondern mit der implantierten Überlebensangst. 

Die Kapitalismus-Trance

Rein logisch betrachtet, hat das Umweltproblem, in das sich die Menschheit manövriert hat, den Vorrang vor den Wirtschaftsproblemen. Denn auf einem nicht mehr bewohnbaren Planeten kann auch keine Wirtschaft betrieben werden. Die Wirtschaft müsste also alles tun, was in ihren Kräften steht, um diese globale Bedrohung abzuwenden, und dazu bräuchte sie von der Politik die zwingenden Vorgaben. Aber weil im kapitalistischen Denken der kurzfristige Gewinn immer besser ist als eine langfristige Perspektive, trommeln die Vertreter der Wirtschaft ihre Parolen vom Vorrang der Wirtschaft und ihres Wachstums, gleich welche Kosten das sonst noch verursacht und welche Probleme daraus längerfristig erwachsen. Denn für Schäden aus den Wirtschaftsprozessen haftet die Allgemeinheit, bzw. der Staat, diese braucht die Wirtschaftsvertreter nicht zu bekümmern. 

Warum aber ist die Politik nicht in der Lage, der Wirtschaft die Rahmenbedingungen vorzuschreiben, die notwendig sind, damit die Umweltkatastrophe abgewendet werden kann? Offenbar steht sie, wie die meisten Menschen, genauso unter dem Druck, den die Überlebensangst, die Triebfeder des Kapitalismus, ausübt. Kollektive Traumen führen zu kollektiven Dissoziationen, und Dissoziationen führen zu Trancezuständen. Sobald von Gefahren für die Wirtschaft die Rede ist, geraten die meisten Politiker in einen Trancezustand, in dem sie alles andere vergessen, wofür sie sonst noch verantwortlich sind. 

Ein Aufwachen aus diesem entrückten Zustand gibt es für die meisten offensichtlich nur, wenn Erfahrungen auftreten, die so mächtig sind, dass sie nicht mehr ignoriert werden können. Verschwindende Gletscher oder abnorm heiße Sommer sind unangenehme Erfahrungen, aber wir können mit ihnen leben. Ein Sturm, der das eigene Haus niederreißt oder eine Flut, die alles wegschwemmt, was einem gehört, kann nicht mehr so leicht ignoriert werden. 

Die Gefahr besteht, dass wir uns langsam, so wie sich die Klimabedingungen und alle von ihnen abhängigen Phänomene verändern, an die veränderten Umstände anpassen und deshalb alles hinauszögern, was an neuen Gesetzen und an neuen Verhaltensgewohnheiten notwendig wäre. Wir verhalten uns wie die Frösche in dem Wasserglas, das langsam erhitzt wird, und wir merken die Misere erst, in der wir stecken, wenn wir schon verbrüht sind. (Die Geschichte mit den Fröschen ist übrigens ein Fake, Frösche sind nicht so blöd, sie springen aus dem Wasser, sobald es ihnen zu heiß wird.)

Wir haben die Wahl: Die Traumatrance, angetrieben vor der kapitalistischen Überlebensangst, oder das Aufwachen, angetrieben vom Überlebenswillen und von der Verantwortung für die Menschheit und den Planeten.

Zum Weiterlesen:
Kollektive Traumen und ihre Folgen
Kollektive Traumen hinter dem Angriff auf die Ukraine
Die kollektiven Traumatisierungen durch den Kapitalismus
Unverschämtheit, ein Merkmal des Kapitalismus
Kapitalismus und Sozialismus: Angstorientierung und Schamorientierung


Samstag, 12. November 2022

Kollektive Traumen und ihre missglückte Bewältigung

Kollektive Traumatisierungen führen zu kollektiven Reaktionsbildungen. Es handelt sich dabei um Versuche des Unbewussten, den Schaden, der durch die Traumatisierung entstanden ist, durch die Umkehr ins Gegenteil wettzumachen. Der aus der Psychologie und Psychoanalyse geläufige Abwehrmechanismus tritt nicht nur bei Individuen auf, sondern zeigt sich auch in kollektiven Bewegungen. 

Reaktionsbildung im Patriarchalismus 

Hier ein Beispiel zur kollektiven Traumatisierung durch den Patriarchalismus. Eine Frau aus Skandinavien berichtet, dass in ihren Ländern schon früh die Gleichberechtigung der Geschlechter ausgerufen wurde und zu entsprechenden gesetzlichen Veränderungen geführt hat. Doch die Reaktion der Frauen war es nicht, sich mehr ihrer Weiblichkeit bewusst zu werden, sondern mit den Männern in deren bisherigen Dämonen in Konkurrenz zu treten und dort „ihren Mann“ zu stehen. Sie begannen, sich männlicher zu kleiden, bevorzugten den Kurzhaarschnitt und kamen in vielen beruflichen Bereichen weiter, die früher Männern vorbehalten waren. Erst langsam wurde der Frau bewusst, wie sehr sie sich in diesem Trend, der sich so selbstverständlich etabliert hatte, immer mehr dem männlichen Rollenbild annäherte, so als wäre es das Ideal, dem es nachzueifern gelte. Im Prozess der langjährigen Selbsterforschung entdeckte sie mehr und mehr ihre eigene Weiblichkeit und konnte sie zunehmend in ihr Selbstbild übernehmen und in ihrem Leben verwirklichen.

Die Erzählung zeigt also, dass ein unmittelbarer Ausweg aus einer traumatisierenden Situation darin besteht, sich mit den Tätern zu identifizieren und sie nachzuahmen, mit der unbewussten Annahme, dass dadurch ein Schutz vor neuerlicher Traumatisierung gewährleistet sei. Das Motto lautet: Bin ich so stark oder mächtig wie die, die mich unterdrücken, kann mich nie jemand mehr unterdrücken. Ich bin sicher, wenn ich mich so verhalte wie die Täter, die mich in die Opferrolle gebracht haben. Die Identifikation mit dem Aggressor oder dem Unterdrücker bietet einen Ausweg aus der Opferrolle. Die Kraft, die daraus gewonnen wird, ist nicht die eigene, vielmehr ist sie geborgt von der Täterperson, bzw. von der Fantasie über diese Person. Geht es um kollektive Traumatisierungen, so sind es Tätergruppen oder –schichten, mit denen die Identifikation gesucht wird. Die scheinbare Umkehr ins Gegenteil entpuppt sich als Vermehrung des Gleichen. Der scheinbare Ausweg aus der Traumafalle wird zu ihrer Bestätigung.

Die 68er-Bewegung und die Gewalt

Ein weiteres Beispiel für diesen Zusammenhang liefert die sogenannte 68er-Bewegung, die auch als Studentenrevolte bezeichnet wird. Wir können sie als Reaktion auf die unbewältigte Nazi- und Kriegszeit verstehen. Die massive Traumabelastung der Generation der Mittäter und Mitläufer drängte in einer Generation an die Oberfläche, die in Sicherheit und Wohlstand aufgewachsen war. Sie konnte es sich erlauben, das Verdrängte zu einem Teil hochkommen zu lassen. Es wurde die vorige Generation für ihre Fehler und ihr moralisches Versagen angeklagt und ihren Mängeln eine Utopie entgegengestellt, in der Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit verschwunden sein sollten. 

Das bestehende Herrschaftssystem wurde in wesentlichen Elementen als das Weiterbestehen von nationalsozialistischen oder faschistischen Herrschaftsformen betrachtet, ausgerüstet mit einem hohen Maß an struktureller Gewalt. Daraus wurde von manchen Vertretern der Studentenbewegung die Schlussfolgerung gezogen, dass ein Gewaltapparat nur mit Gewalt beseitigt werden könnte. In der Folge kam es zu linksradikalen Terroranschlägen und Attentaten. 

Die harmlosere Version dieser Reaktion aus dem verdrängten kollektiven Trauma äußerte sich in der theoretischen Beschäftigung mit dem Marxismus, der als Universalschlüssel zum Sturz des kapitalistischen Systems betrachtet wurde. Dieser Ansatz enthält neben vielen Einsichten in die Funktionsweise des Kapitalismus auch Gewaltelemente, mit der Auffassung, dass der Weg vom Kapitalismus zum Kommunismus nur über eine gewaltsame Revolution möglich wäre.

Die unbearbeiteten Gewalterfahrungen der Elterngeneration, sowohl als Täter wie als Opfer, werden auf die nächste Generation übertragen und von ihr übernommen. Sie macht sich zwar die ursprünglichen Gewaltzusammenhänge bewusst, aber nicht die eigene Reaktion darauf und deren Implikationen. So verwundert es nicht, dass andere Formen von Gewalt gerechtfertigt werden. Beides wird aus Ohnmachtserfahrungen der Opferrolle gespeist: Die Ohnmacht der Eltern gegen ein unterdrückerisches Herrschaftssystem und die Ohnmacht gegen ein strukturell gewaltsames Wirtschaftssystem. Scheinbar erlaubt die Opferrolle, sich in die Täterrolle zu begeben oder erzwingt diesen Schritt geradezu, mit dem Anspruch auf eine kollektive Befreiung. Der Täter fühlt sich einer gerechten Sache verpflichtet und ist stolz, nicht, wie die Eltern, für faschistische Werte, sondern für das Wohl der ganzen Menschheit zu kämpfen. 

Gewalt wird weitergegeben, solange die Traumen nicht aufgelöst sind.

So lange die Ängste, Schmerzen und Schamgefühle aus der Traumaerfahrung individuell und kollektiv nicht aufgearbeitet sind, entstehen nur neuerliche Auflagen der früheren Gewalterfahrungen. Es ändern sich die Vorzeichen, aber nicht die Prozesse und Abläufe.  

Die Sackgasse linksradikaler Gewalt ist mittlerweile verstanden worden, die Hoffnungen auf eine Revolution im marxistischen Sinn sind insbesondere nach dem Zusammenbruch des “real existierenden Sozialismus” in Osteuropa geschwunden. 

Verharmlosung der Traumalast

Einfacher sind die Zusammenhänge bei der gewaltbereiten rechtsradikalen Szene, die immer wieder Zulauf erhält und in vielen Ländern aktiv ist. Auch hier kommt es zur Identifikation mit dem Aggressor, der als Vorbild genommen wird. Die Problemlösung mittels Gewalt wird von aktuellen oder früheren Regimen bruchlos übernommen. Auch hier wird der Wechsel in die Täterrolle aus der Erfahrung der Opferrolle in einer ungerechten oder unmenschlichen Gesellschaft gerechtfertigt. Die kollektive Traumabelastung wird nicht reflektiert, sondern verharmlost oder verherrlicht. Auf diese Weise wird ein Selbstverständnis aufgebaut, das der Gewalt einen notwendigen Platz einräumt und die zurechtgebogene Vergangenheit als Rechtfertigung nutzt. Es wird nichts ins Gegenteil verkehrt, sondern das Handeln erfolgt aus der scheinbaren Vollstreckung des generationalen Erbes. Die Traumalast kann deshalb so ungehindert weitergegeben werden, weil sie in voller Verdrängung verschlossen bleibt und von dort aus ungehindert wirken kann.

Individuelle und kollektive Traumalösung

Wie diese Beispiele zeigen, kann die Kette der Weitergabe von Traumatisierungen von Generation zu Generation nicht durchbrochen werden, wenn die Triebkräfte und Dynamiken nur zum Teil bewusst gemacht werden, ohne dass die Wirkungen auf die eigene Person erkannt werden. Die fragmentarische Anerkennung eines kollektiven Traumas führt zu seiner Wiederholung, ähnlich wie bei seiner völligen Leugnung oder Verdrängung, mit dem Unterschied, dass es leichter geht, von einer fragmentarischen zu einer umfassenden Anerkennung zu gelangen als von seiner konsequenten Verleugnung.

Die Lösung aus den Fesseln von kollektiven Traumatisierungen und die Überwindung von den reaktiven Erlebens- und Verhaltensweisen, die davon ausgehen, gelingt auf der individuellen Ebene nur durch das Aufarbeiten aller Angst-, Schmerz- und Schamgefühle, die mit den Traumen abgespeichert sind. Auf der kollektiven Ebene ist die sorgfältige und ideologiefreie Aufarbeitung und Rekonstruktion der historischen Vorgänge wichtig. Sie bildet die Basis dafür, dass das Anerkennen dessen, was an Schlimmem und Grausamem passiert ist, in der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wird. Auf diese Weise kommt immer mehr Licht in die Zusammenhänge und wirkt auch auf die allgemeine Wahrnehmung und auf die schulischen Bildungsprozesse. Ideologien werden durch reflektiertes Wissen und abwehrbefreites Schauen auf das Schreckliche und Traurige der Vergangenheit ersetzt. Auf diese Weise löst sich der Bann historischer Traumatisierungen, die bisher im Kollektiv verdrängt waren.

Zum Weiterlesen:
Kollektive Traumen und ihre Folgen
Kollektive Traumen hinter dem Angriff auf die Ukraine
Die kollektiven Traumatisierungen durch den Kapitalismus
Rechtsextremismus und die Täter-Opfer-Umkehr

Sonntag, 6. November 2022

Die Meinungsfreiheit und ihre Grenzen

Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, das zu den Haupterrungenschaften der bürgerlichen Revolutionen zählt und ein wichtiger Bestandteil moderner Demokratien darstellt. Alle wissen es zu schätzen, die in einer Diktatur leben, in der die freie Meinungsäußerung unterdrückt ist und in der man mit Bestrafung rechnen muss, wenn die eigene Meinung nicht den Vorstellungen des Regimes entspricht. 

Wie alle anderen Rechte auch, hat das Recht auf Meinungsfreiheit auch Grenzen, die mit der Integrität der Menschen zu tun hat. Das Äußern der eigenen Meinung kann nicht nur Diktatoren erzürnen, die um ihre Macht zu bangen beginnen, wenn jemand etwas Kritisches oder auch etwas Witziges über sie sagt. Es kann auch jeden Mitmenschen ärgern, verletzen und beleidigen, wenn Meinungen vertreten werden, die die eigene Person herabwürdigen. Denn wir können unsere Meinungen auch als Waffen verwenden, die anderen Personen Leid zufügen. Wir können beispielsweise unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit unseren Wut- und Hassgefühlen Ausdruck verleihen, ohne Rücksicht auf die Betroffenen. 

Worte, ob gesprochen oder geschrieben, haben unter Menschen eine starke Macht. Sie können manipulieren, beleidigen, verletzen und im Extremfall in den Wahnsinn treiben. Deshalb ist eine sorgfältig abgewogene und achtsame Wortwahl eine wichtige Voraussetzung, um an den kommunikativen Abläufen der Zivilgesellschaft konstruktiv teilnehmen zu können.

Bei den Grenzen der Meinungsfreiheit geht es um das liberale Prinzip, dass jedes Freiheitsrecht dort endet, wo das Freiheitsrecht von anderen Personen beginnt. Die Meinungsfreiheit wird missbraucht, sobald die Grenzen anderer Menschen, ihre Integrität und Würde verletzt werden. 

Der Gebrauch der Meinungsfreiheit setzt also zivile Umgangsformen und den grundlegenden Respekt für andere Menschen voraus. Wer dazu nicht in der Lage ist, kann dieses Recht für sich nicht beanspruchen. Meinungsfreiheit gedeiht nur in einem Rahmen der wechselseitigen Achtung und den Grundformen der Höflichkeit, über die sich diese Achtung ausdrückt. 

Verrohung durch soziale Medien

Die sozialen Medien, deren Macht im vorigen Artikel erörtert wurde, haben durch die in ihnen angelegten Möglichkeiten der Anonymisierung in vielen Bereichen zu einer Verrohung der Umgangsformen geführt. Es ist relativ einfach, mit einem anonymen Account die eigenen Hassgefühle beliebig an alle zu verteilen, die einem nicht passen oder die andere Meinungen vertreten. Diese Medien bieten ein einfaches Ventil für das Ablassen aller aufgestauten Gefühle. Die Schamschranke, die im direkten Umgang immer mäßigend wirkt, wird durch die Anonymität, die das Medium bietet, abgeschwächt. Zudem ist es ist relativ schwierig und unwahrscheinlich, für Ehrenbeleidigungen und Rufschädigungen zur Verantwortung gezogen zu werden. Viele Menschen gewinnen aus dieser Rolle des anonymen Angreifers eine Befriedigung durch das Ausleben von Rache- und Machtgefühlen.

Psychologisch betrachtet, stammen solche Hass- und Aggressionsgefühle aus frühen Quellen der Lebensgeschichte. Diese Gefühle können nur in einem therapeutischen Rahmen befriedet werden. Werden sie in sozialen Medien ausagiert, richten sie dort beträchtlichen Schaden nicht nur an den betroffenen Menschen an, sondern schwächen den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt. Außerdem regen andere zum Nachahmen ein, ohne dass Konsequenzen befürchtet werden müssen. 

Demokratiefeindliche Meinungen

Eine weitere Grenze der Meinungsfreiheit muss dort beachtet werden, wo sie dazu benutzt wird, um der Einschränkung oder Abschaffung der Meinungsfreiheit das Wort zu reden. Rechtsgerichtete und rechtsextreme Gruppierungen nutzen die Medien gezielt, um Ängste und Verunsicherungen zu verbreiten und dabei politische Modelle propagieren, die anderslautende Meinungen unterdrücken sollen. In einer Demokratie dürfen alle Meinungen geäußert werden, aber Meinungen, die die Meinungsfreiheit und den demokratischen Grundkonsens untergraben, muss mit der Kraft von Gegenargumenten begegnet  werden. Die Demokratie kann sich nicht mit einer überdehnten Toleranz den Boden unter den Füßen wegziehen lassen.

Dem Plädoyer für die Vergesellschaftung der medialen Schlüsselindustrien wird hier ein Plädoyer für die Erhaltung und Absicherung der Meinungsfreiheit angefügt. Die Meinungsfreiheit kann es jedoch nicht in einem unbegrenzten und absoluten Maß geben, wie das manche einfordern, sondern muss gesamtgesellschaftlichen Anforderungen untergeordnet sein. Medien, die Hassbotschaften nicht zensieren, fördern sie, indem sie Freiräume öffnen, in denen sich jeder austoben kann, ohne Rücksicht auf andere, und damit die Verrohung und Entsolidarisierung vorantreiben. Sie fördern also die Tendenzen zur Atomisierung und zur Auflösung von sozialen Bindungen, wie sie die kapitalistische Wirtschaftsweise von sich aus produziert.  

Entsolidarisierung

Deshalb überantwortet eine Meinungsfreiheit, der keine Schranken auferlegt werden, die soziale Welt dem kapitalistischen Gewinnstreben und Konkurrenzdenken, also der Asozialität, der Gesellschaftsfeindlichkeit und damit der Menschenfeindlichkeit. Das können Einzelne wollen, die sich davon ökonomische oder psychologische Vorteile für sich selbst erhoffen, und dem Vernehmen nach ist das die Richtung, die der neue Eigentümer des Nachrichtendienstes Twitter durchsetzen möchte. Solche Bestrebungen muss aber die Gesellschaft als ganze ablehnen und mit allen Mitteln, die in ihrer Macht liegen, abwenden. Der Kapitalismus sägt an den Wurzeln der Gesellschaft, die er von den nährenden Säften des Bodens, sprich der Lebendigkeit, abschneiden will. Wird er nicht in seine Schranken gewiesen, werden tendenziell die Menschen untereinander zu Feinden. Deshalb ist es die beständige Aufgabe der Zivilgesellschaft, die Auswüchse und das Überhandnehmen dieser Form der Wirtschaftsorganisation einzudämmen und ihm entgegenzuwirken. Sie kann und muss genügend Druck auf den Staat ausüben, damit er seine Macht für die Erhaltung und Stärkung des sozialen Zusammenhalts einsetzt. Wird die Meinungsfreiheit nach kapitalistischen Sichtweisen in den sozialen Medien zugelassen, dient sie blind dieser Entgesellschaftung und Entsolidarisierung. 

Staatliche Organe schützen die Rechte Einzelner gegen den Missbrauch der Meinungsfreiheit. Das ist gut und notwendig, und die entsprechenden Regeln müssen laufend verbessert werden, weil sich die Medien und deren Nutzer schnell ändern. Schwieriger ist es, die schädlichen Wirkungen von sozialen  Medien auf die Atmosphäre und das Klima in der Gesellschaft einzudämmen. Hassbotschaften und Fakenews lösen in der Gesellschaft Verunsicherung und Entsolidarisierung aus und wirken deshalb erodierend auf den sozialen Zusammenhalt. Die Ängste, die oft mutwillig und nicht selten geplant und gezielt gestreut werden, werfen die Menschen auf sich selber zurück, mobilisieren Überlebensstrategien und destabilisieren die Gesellschaft. Es sind starke und vielfältige Gegengewichte notwendig, damit die Meldungen aus solchen Ecken nicht zu dominanten Trends im Diskurs und in der politischen Debatte werden. In diesem Bereich kann und soll der Staat die Aufgabe übernehmen, Medien zu fördern, die sorgfältig recherchieren und extremen Meinungen entgegentreten, und Medien zu kontrollieren, die tendenziell den politischen Diskurs, die Sozialstruktur und die Innenwelt der Menschen zerstören.

Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, das nicht aufs Spiel gesetzt werden darf. Sie ist aber nur insoweit ein hohes Gut, als sie achtungsvoll verwendet wird, unter der Respektierung ethischer Grundsätze. Sie ist eine wichtige Grundlage für unser Zusammenleben in einem demokratischen Staatswesen und als aufgeklärte Zivilgesellschaft, deshalb müssen wir sie und uns vor jeder Form von Missbrauch schützen.

Zum Weiterlesen:
Plädoyer für die Vergesellschaftung der medialen Schlüsselindustrien
Toleranz und ihre zweifache Grenze
Toleranz ist ein relativer Wert


Donnerstag, 3. November 2022

Ein Plädoyer für die Vergesellschaftung der medialen Schlüsselindustrien

Suchterzeugende Medien

Dass die Nutzung von sozialen Medien zur Sucht ausarten kann, wird uns immer bewusster. Es geht hier um fremdgesteuerte Dopaminzyklen, mit denen die User bei Stange gehalten, sprich zur permanenten Dauernutzung der Medien konditioniert werden. Die Programme sollen uns mit an- und aufregenden Kicks versorgen, die die Langeweile vertreiben und die Stimmung heben. So scrollen wir gespannt von Bild zu Bild, von App zu App, stets auf der Suche nach etwas besonders Aufregendem, ohne jemals bei der ersehnten Befriedigung anzukommen.

Die Süchte, die auf diese Weise entstehen, sind keineswegs harmlos, sondern können zu drastischen Auswirkungen auf die betroffenen Personen führen. Die Zahl der Kinder, die am Aufmerksamkeitsdefizit leiden, steigt seit 2005, also seit der Einführung der Smartphones massiv an. Dazu kommt die Anforderung, gleichzeitig mehrere unterschiedliche Informationskanäle zu kontrollieren, die jedem Gehirn enorm viel Energie abverlangt, ohne dass es entsprechende Erholungszeiten gibt, weil die spannungsgeladenen Suchtvorgänge in den Schlaf hineinwirken oder zu verkürzten Schlafzeiten führen. Gleichzeitig gibt es da immer noch die äußere Realität, auf die geachtet werden muss (z.B. müssen wir einem entgegenkommenden Fußgänger Platz machen, während der Blick durch das Smartphone gebannt ist). Die Folgen sind höhere Fehleranfälligkeit, Gedächtnisschwächen und verringerte Kreativität. Das Gehirn befindet sich gewissermaßen in einem Dauerstress und wird süchtig danach. Jede Beschäftigung der Aufmerksamkeit wird vom nächsten Reiz unterbrochen, sodass keine Gefühle für Kontinuität zustande kommen können.

„Wir sind keine Kunden von Apps wie TikTok, Facebook, Twitter, unsere Aufmerksamkeit ist das Produkt, das die Unternehmen an die echten Kunden, die Werbetreibenden, verkaufen.“ (Johann Hari, Medienforscher und Autor des Buches „Stolen Focus“ im Falter 42/22, S. 26) Je mehr Menschen süchtig gemacht werden können, desto mehr Geld wird in die Kassen der Medienbetreiber gespült.

Es ist eine Tatsache, dass Menschen länger auf Dinge schauen, die sie aufregen, als auf jene, die sie glücklich machen (negativity bias). Daraus folgt, dass die Medien jene Leute belohnen, die schockierende, angstmachende und beschämende Inhalte verbreiten: Solche Nachrichten werden öfter geteilt und länger konsumiert. Damit haben die menschenfeindlichen oder menschenverachtenden Triebkräfte der Leute einen mächtigen Verstärker auf ihrer Seite. Solche Meinungen und Sichtweisen werden tendenziell höher belohnt als menschenfreundliche.

Suchtbekämpfung als öffentlicher Auftrag

Die Suchtprävention ist nicht nur eine private Herausforderung, sondern auch Teil der staatlichen Aufgabe, die darin besteht, Menschen vor Gefahren zu schützen, vor denen sie sich selber nicht oder nur mangelhaft schützen können. Es handelt sich in diesem Fall um Gefahren, die nicht direkt wahrnehmbar sind, sondern sich im Anschein eines harmlosen Zeitvertreibs verstecken. Sie wirken aber auf Körper und Psyche mit weitreichenden schädigenden Folgen. Ebenso wenig wie Staaten nicht zulassen können, dass ihre Bevölkerung dem Opium oder anderen suchterzeugenden Drogen verfällt, müssten sie auch verhindern, dass raffiniert manipulative Medienmaschinen die Gehirne der Menschen in Besitz nehmen und sie zu emotionalen und sozialen Krüppeln machen.

Die sozialen Medien befinden sich im Privatbesitz und stellen eigene, in sich weitgehend autonome Wirtschaftsbetriebe dar, die gewinnorientiert arbeiten. Das Suchtmodell ist der beste Garant für steigende Werbeeinnahmen und Unternehmensgewinne. Es wird deshalb immer weiter ausgebaut und verfeinert. Vonseiten der Betreiber ist es logisch, möglichst viele Menschen süchtig zu machen, denn je stärker die Sucht verbreitet ist, desto stärker sprudeln die Gewinne. Indem die Leute vermehrt das Medium konsumieren und mit eigenen Inhalten füttern, agieren sie als nützliche Idioten, die sich freiwillig vor den Karren der Medienbetreiber spannen lassen. Es ist die Logik des Kapitalismus, der sie unterliegen und durch die sie sich ausbeuten und abhängig machen lassen, ohne es zu merken. 

Für diese Logik wird riskiert, auf einer riesigen und fortlaufend wachsenden Basis Menschen zu infantilisieren und in Konsumidioten zu verwandeln, die hilflos ihrer Sucht ausgeliefert sind. Die Folgen für die mentale und emotionale Gesundheit der Menschen haben die Medien und ihre Eigentümer nicht zu tragen, für sie ist natürlich die Allgemeinheit zuständig. Die Privaten streichen die Gewinne ein, die öffentliche Hand kommt für die Schäden auf, das ist ein beliebtes Modell, das im Rahmen eines ungeregelten Kapitalismus gut gedeiht.

Immer wenn massiv wirksame Suchtformen in der Geschichte aufgetreten sind, haben sich Regierungen eingeschaltet, um die Schäden einzudämmen. In der gegenwärtigen Situation ist es dringlich erforderlich, dass die Medien mit ihren massiven Zugriffsmöglichkeiten auf das Bewusstsein der Individuen unter staatliche Kontrolle gestellt werden. Da die Medien zugleich auch eine wichtige Rolle in der Informationsbereitstellung und Kommunikation leisten, hätte ein Verbot oder die Abschaffung keinen Sinn. Vielmehr sollten sie dem kapitalistischen Gewinnzwang entzogen und dem Gemeinwohl untergeordnet werden.

Die Untätigkeit der staatlichen Organe in diesem Bereich hinzunehmen, ist so, als würde man argumentieren, dass der Opium- oder Heroingebrauch einerseits der individuellen Verantwortung unterliegt und andererseits ein privatwirtschaftliches Geschäftsgebaren ist, in das sich der Staat nicht einmischen soll. Jeder soll nach seiner Fasson süchtig werden, und jeder Drogenproduzent oder -dealer soll seinem Geschäft im Rahmen der freien Marktwirtschaft ungehindert nachgehen können. Die meisten Staaten messen zwar in diesem Bereich mit unterschiedlichen Maßstäben, weil z.B. der Drogenvertrieb unter Strafe gestellt ist, der Alkoholvertrieb aber nicht. Aber diese Inkonsequenz enthebt sie nicht der Pflicht, dort regulierend einzugreifen, wo systematisch und raffiniert die Schwächen der Individuen, und hier vor allem der Kinder und Jugendlichen ausgenutzt werden, um sich an ihnen zu bereichern und die verursachten Schäden durch andere ausbaden lassen. Denn auch vor Alkoholkonsum werden Minderjährige staatlicherseits geschützt.

Anfälligkeiten für die Mediensucht

Erwähnt sei auch, dass es innerpsychische Faktoren gibt, die die „meta“-modernen Süchte beeinflussen. Sie liefern Scheinbefriedigungen für emotionale Mängel und Scheintröstungen für erlittene Verletzungen. Sie fördern narzisstische Persönlichkeitszüge, vor allem, wenn die Grundlagen durch unsichere Bindungsmuster schon in früher Kindheit gelegt wurden. Sie dienen paranoiden Angstmustern, wenn es frühe Wurzeln für solche Neigungen gibt. Stabile und flexible Persönlichkeiten fallen weniger leicht auf die Verlockungen der medialen Konsumwelt herein und tun sich auch leichter darin, ihren Mediengebrauch einzuschränken. Diese Schiene zur Reduktion des Suchtverhaltens ist in gewisser Weise wichtiger als staatliche Regelwerke, weil sie das Problem an der Wurzel packt. Aber die dafür notwendige Arbeit ist langwierig und herausforderungsreich und erfordert viel Eigeneinsatz der Betroffenen. Sie kann nur dort beginnen, wo der Leidensdruck entsprechend hoch ist, dass der Aufwand auf sich genommen wird. Bis eine genügend große Zahl an Menschen durch solche Bewusstwerdungsprozesse durchgegangen ist, vergeht viel zu viel Zeit, in der laufend weitere Personen und Personengruppen in die Sucht fallen, in immer jüngerem Alter und in immer mehr Gesellschaftsschichten. 

Medienbildung

Es ist sicher mehr und mehr Medienbildung notwendig, um zumindest die ärgsten Auswüchse der Mediensucht hintan zu halten und deren Folgen bewusst zu machen. Eine kritische Haltung den virtuellen Inhalten gegenüber kann nicht über die Medien erlernt werden, sie erfordert Anregungen und Auseinandersetzungen auf der persönlichen Ebene und sie gedeiht im Teamwork und in Kleingruppen. Die Entwicklung der Medien hat ein hohes Tempo; die entsprechenden Bildungsprozesse hinken immer hinterher, aber wenn es gelingt, bei Jugendlichen und Erwachsenen Basiskompetenzen in der Mediennutzung aufzubauen, ist ein wichtiger Schritt gegen die Sucht gelungen. 

Gesellschaftliche Kontrolle

Zusätzlich ist ein Hebel notwendig, der noch tiefer ansetzt, um ein Gegengewicht gegen die Machtkonzentration, die die großen Informationskonzerne bei sich monopolisieren, zu etablieren. Es kann nicht angehen, dass eine superreiche Person ein Medium aufkauft und ihm die Linie verpasst, die ihm selbst gefällt – man stelle sich nur kurz vor, die Person wäre nicht Elon Musk, sondern Donald Trump oder ein ähnliches Kaliber. Medien, die Millionen und Milliarden von Menschen erreichen, die von dort ihre Informationen beziehen und sich ihre Meinungen bilden, die dann auf die Gesellschaft zurückwirken, können nicht der subjektiven Willkür und den politischen Ideen einzelner Menschen überantwortet werden, seien sie noch so gewiefte Geschäftsleute.

Zu diesem Zweck halte ich hier ein Plädoyer für die Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der medialen Schlüsselindustrien, nicht in der Weise, dass staatliche Organe die operationalen Geschäfte übernehmen, sondern in der Weise, dass die Gesellschaft mit Hilfe der Macht des Staates die Richtlinien und Werte vorgibt, nach denen die Algorithmen gestaltet und die Informationskanäle gesteuert werden. So sollten z.B. nicht nur pornografische oder radikalisierende Inhalte herausgefiltert werden, sondern auch alle, die Hass schüren, und solche, die die Demokratie gefährden. In jedem Fall sollten alle Abläufe, die Sucht erzeugen, abgestellt und Mediennutzer zum Medienfasten angeregt werden. Außerdem könnten die Medien danach ausgerichtet werden, bei den Konsumenten Bildungsprozesse auszulösen und ihre Kreativität anzuregen.

Lebensverbessernde statt ausbeutende Medien

Es braucht eine Massenbewegung, die sich auf die Fahnen schreibt, dass wir Technologien wollen, die unser Leben verbessern und nicht solche, die uns ausbeuten und versklaven. Wir wollen Medien, die allen gehören und deren Grundfunktionen dem Gemeinwohl dienen, das in manipulationsfreien Diskursen festgelegt wird. Wir brauchen virtuelle Räume, in denen sich Menschen austauschen können, ohne dass sie dabei von Geschäftsinteressen gegängelt und durch Daten- und Identitätsklau missbraucht werden. Wir wollen Medien, die die gesunde Gehirnentwicklung der Kinder fördern und ihre Entwicklung zu kreativen, selbstbewussten und kritischen Menschen unterstützen. 

Die Medienkonzerne sind Unternehmen, die nach den Regeln des Kapitalismus funktionieren. Wenn klar wird, wo wir als Gesellschaft hinwollen, was die Werte sind, nach denen wir uns orientieren, und wenn wir uns klarmachen, dass wir die Macht darüber haben, was in unserer Gesellschaft passiert, dann ist der Schritt naheliegend, die Konzerne zu kontrollieren, statt dass wir uns von ihnen kontrollieren lassen. Die Konzerne werden sich anpassen und ihre Geschäftsmodelle neu justieren. Sie haben von sich aus kein Interesse, dass die Menschen dümmer und desorientierter werden; wir können aber auch nicht von ihnen erwarten, dass sie von sich aus dem Fortschritt der Menschheit zu mehr Menschlichkeit dienen, solange sie gewinnorientiert arbeiten. Das ist unser Job als Zivilgesellschaft, und wo wir dafür die staatliche Macht brauchen, sollten wir sie auch einfordern.

Mit dem Hauptargument gegen die staatliche oder gesellschaftliche Kontrolle von sozialen Medien, der Gefahr der Einschränkung der Meinungsfreiheit, werde ich mich am nächsten Artikel beschäftigen.

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