Montag, 20. August 2012

Izy und sein Schatz - eine Geschichte zum Thema Einzigartigkeit

In Krakau lebte einmal ein frommer, alleinstehender alter Mann namens Izy. Ein paar Nächte hintereinander träumte Izy, er reise nach Prag und gelange dort an eine Brücke über einen Fluss. Er träumte, an einem Ufer des Flusses unter der Brücke stehe ein üppiger Baum. Er träumte, dass er gleich neben dem Baum zu graben anfing und auf einen Schatz stieß, der ihm Wohlstand und Sorglosigkeit bis an sein Lebensende sicherte. 
Anfangs maß Izy diesem Traum keine Bedeutung bei. Aber nachdem sich dieser wochenlang wiederholt hatte, deutete er ihn als Botschaft und beschloss, jene Nachricht, die ihm womöglich von Gott oder von sonst wem geschickt worden war, nicht weiter unbeachtet zu lassen. 

Er folgte also seiner Eingebung, belud sein Maultier mit Gepäck für eine lange Reise und machte sich auf den Weg nach Prag.
Sechs Tage später traf der Alte in Prag ein und begab sich gleich auf die Suche nach der Brücke über den Fluss am Rande der Stadt. 
Es gab nicht viele Flüsse und auch nicht viele Brücken, so dass er den gesuchten Ort schnell fand. Alles war genau wie in seinem Raum: der Fluss, die Brücke, das Flussufer, der Baum, unter dem er graben musste.
Nur eins war in seinem Traum nicht vorgekommen: Die Brücke wurde Tag und Nacht von einem Soldaten der kaiserlichen Garde bewacht. 

Izy wagte es nicht zu graben, solange der Soldat dort oben Wache schob, also schlug er in der Nähe der Brücke sein Lager auf und wartete erst einmal ab. In der zweiten Nacht begann der Soldat Verdacht zu schöpfen, und er fragte den Alten, der da am Flussufer kampierte, nach seinem Vorhaben. 
Der hatte keine Grund, ihm eine Lüge aufzutischen, und so erzählte er dem Wachmann, er habe diese weite Reise unternommen, weil er geträumt habe, dass hier in Prag unter einer gewissen Brücke in Schatz vergraben liege. 

Der Wachmann brach in schallendes Gelächter aus. 
„Eine so lange Reise wegen nichts und wieder nichts“, sagte er, „ich träume seit drei Jahren jede Nacht, dass in Krakau unter der Küche eines verrückten Alten namens Izy ein Schatz vergraben liegt. Ha, ha, ha, ha, ha. Denkst du, ich sollte nach Krakau reisen, um diesen Izy aufzusuchen und unter seiner Küche zu graben anfangen? Ha, ha, ha.“ 

Izy bedankte sich freundlich beim Gardisten und trat die Heimreise an. 
Zu Hause angekommen, grub er unter seiner Küche ein Loch und fand den Schatz, der schon ewig dort verborgen lag.

(Aus: Jorge Bucay: Komm, ich erzähl dir eine Geschichte. Fischer TB 2007)

Über die Einzigartigkeit

Für alle, die meine Blogeinträge zur Langeweile und zum Vergleichen gelesen haben, kommt jetzt das Konzept, das den Ausweg aus diesen beiden Themen verheißt: Langweilig ist uns, weil wir uns in einer Gleichförmigkeit gefangen fühlen; zum Vergleichen neigen wir, weil wir unsere Einzigartigkeit und die anderer nicht würdigen können. 

Das Prinzip der Einzigartigkeit ist eine Entdeckung des personalistischen Bewusstseins, das sich damit an ein Prinzip der Natur erinnert hat. Es besteht darin, dass die Natur weder in der Lage ist noch dass es für sie Sinn machen würde, gleichartige Duplikate herzustellen, identische Klone. Einfacher ist es, kommen zu lassen, was kommt, wenn in der Fortpflanzungsreihe neue Individuen entstehen. In der Fortpflanzung experimentiert die Natur durch Variationen und Neukombinationen. Ihre Kreativität beruht auf der Maxime: Immer wieder Neues zu produzieren, von dem sich einiges bewährt, anderes nur den Versuch wert war. Das macht uns zu schaffen, wenn Grippeviren mutieren und die Gegenmittel nicht mehr wirken, und das kommt uns zustatten, wenn wir merken, dass unser Immunsystem lernen kann. 

Bei jeder Zellteilung entstehen aus einer Zelle zwei nahezu identische. Der Chromosomensatz ist zwar gleich, aber z.B. die Anordnung der Organellen ist unterschiedlich. Damit entwickelt jede Zelle eine Einzigartigkeit, die sie auszeichnet. Insbesondere bei der zweigeschlechtlichen Vermehrung ist die Variation das dominante Prinzip, während es zur weitgehenden Identität in der Fortpflanzung nur in Ausnahmefällen kommt (wie bei eineiigen Zwillingen). 

Deshalb gibt es so viele unterschiedliche Stimmen, Gangarten, Augenformen, Körpersprachen, usw., wie es Menschen gibt, je gegeben hat und je geben wird, viele, viele Milliarden. Mit jedem Kind, das geboren wird, kommt ein neues einzigartiges Lebewesen zur Welt mit ganz individuellen Ausdrucks- und Erlebensmöglichkeiten. Jedes neue Kind leistet einen ganz besonderen Beitrag zur Buntheit der Menschheit.

Kein Ei gleicht dem anderen, wie soll es da ein Mensch schaffen, einem anderen zu gleichen? Und wozu? 

Auch wenn wir gerne jemanden bewundern für ein Können, einen Erfolg, ein Aussehen, das uns abgeht, und auch wenn wir so sein wollen, ist das nur ein Gedanke, der uns für einen Moment Trost oder Ablenkung verschaffen soll. Wenn ich so wäre wie XY, dann hätte ich das Problem nicht oder dann wäre mir nicht fad. Dächten wir den Gedanken nur ein wenig weiter, würde schnell klar, dass wir erstens nicht in die Haut von jemand anderem schlüpfen können und dass es zweitens vielleicht gar nicht so optimal wäre, wenn es uns doch gelänge. Wollen wir wirklich das ganze Leben von einem Börsenzocker, der monatlich fette Boni einstreift? Wollen wir wirklich das ganze Leben einer Schönheit, die alle Idealmaße in sich vereint und sich beständig abmühen muss, sie nicht wieder zu verlieren? Wollen wir wirklich das ganze Leben eines Violinvirtuosen oder eines Meisterzauberers, einer Topsportlerin oder Popsängerin?

Haben wir schon alles über uns selbst entdeckt? Wäre es nicht lohnender, im eigenen Garten auf Erforschung zu gehen? Da könnte es ja, gut versteckt und verborgen, besondere Schätze geben, die schon lange darauf warten, endlich gehoben zu werden. Wir brauchen uns nur darauf besinnen, dass wir als ganz eigentümliches, eigen-artiges, unvergleichliches Individuum erschaffen und in die Welt gekommen sind. Dann wird uns wichtiger, herauszufinden, wer wir sind und wer noch und wer noch..., als uns mit anderen zu vergleichen, um uns an sie anzugleichen. Dann wächst die Lust, die eigene Art, die Art zu denken, zu fühlen, zu erleben, zu bewegen und zu ruhen, der Welt beizusteuern und ihr zuzumuten. Dann verstecken wir uns nicht mehr hinter Masken, von denen wir meinen, dass sie bei den anderen gut ankommen, sondern zeigen unser einzigartiges wunderschönes Gesicht, sagen unsere einzigartigen, wunderschönen Worte und schauen uns die Welt mit unseren einzigartigen und wunderschönen Augen an. 

http://www.coolphotos.de
Und dann erkennen wir auch die Einzigartigkeit in den anderen Menschen, die wir bewundern können, weil sie Ausdruck der unendlichen Schöpfungskraft der Natur und der Gesellschaft sind, ohne dass wir uns mit ihnen vergleichen müssen. Was für einen Sinn soll es machen, wenn eine Rosenblüte mit der anderen in Konkurrenz tritt, wer wohl die schönste ist? 

Nehmen wir doch die Schönheiten, die uns begegnen, als Erinnerung an unsere eigene Schönheit, und nehmen wir unsere eigene Schönheit als Erinnerung an die Schönheit der anderen! Freuen wir uns an der unendlichen Vielfalt, die das Leben hervorbringt und die uns in jedem Menschen entgegentritt, statt dauernd an den anderen herumzumäkeln und ebenso eifrig uns selber abzuwerten!

Zum Nachlesen:
Kommentar zu Regel 21:  Die Verschiedenartigkeit der Menschen als Ausdruck göttlicher Kreativität, aus den "40 Regeln der Liebe"

Samstag, 18. August 2012

„Du spinnst ja!“ - Ebenen der Wirklichkeit

Wie wirklich ist die Wirklichkeit, fragte Paul Watzlawick und brachte damit die konstruktivistische Sichtweise an die Leute. Wirklichkeit steht nicht einfach fest, sondern wird hergestellt und muss fortwährend überprüft werden. Im psychotherapeutischen Geschäft ist die Frage auch relevant, wird aber selten diskutiert, vielleicht weil sie zu theoretisch klingt und weil viele Klienten kein Problem haben, auf verschiedenen Wirklichkeitsebenen Erfahrungen zu sammeln und diese zu integrieren. Was aber, wenn ein Klient für seine geistige und kognitive Klarheit wissen will, wo seine Erfahrungen hingehören und wie sie mit dem eigenen Weltbild vereinbar sind?

Unser Wirklichkeitsbegriff ist streng materialistisch, das haben wir von den Naturwissenschaften gelernt. Wirklich ist, was in Raum und Zeit für uns wahrnehmbar ist, bzw. wahrnehmbar gemacht werden kann (wir nehmen z.B. an, dass Viren wirklich sind, obwohl wir sie vielleicht noch nie gesehen haben, oder dass der Neptun wirklich 13 Monde hat, obwohl wir auf noch keinem einzigen waren). Wir schenken also der Wissenschaft großen Glauben, dass sie uns Erkenntnisse über die Wirklichkeit geben kann. 

Wenn es um unsere Innenerfahrungen geht, kommen wir in Bereiche, die nicht so einfach mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild kompatibel sind. Wenn wir träumen, haben wir ein Wirklichkeitserleben, das sich erst beim oder nach dem Aufwachen relativiert. Im Traum erscheint uns als real, dass wir verfolgt werden, Leute treffen, die anders ausschauen als sonst usw. 

http://www.lilienthal-museum.de/olma
/muse.htm
Während des Schreibens des Artikels hatte ich dazu einen witzigen Traum. Schon öfter hatte ich vom Fliegen geträumt, und das war immer so „traumhaft“, dass ich mir während des Träumens dachte, diesmal merke ich mir, wie das geht und mache das dann auch, wenn ich aufwache. Nun träumte ich wieder, dass ich fliegen kann und dass das ganz einfach ist und träume weiter, dass ich aufwache und es jetzt im aufgewachten Zustand noch immer kann, zwar nicht ganz so leicht, aber mit etwas Konzentration ziemlich locker. Dann bin ich allerdings wirklich aufgewacht, die Leichtigkeit war dahin und ich hatte überhaupt keine Idee mehr, wie ich mit den 70+ Kilo meines Körpers die Schwerkraft überwinden könnte. Der wache Wirklichkeitsbegriff hatte mich sofort wieder im Griff. So muss ich also auf den nächsten Flugtraum warten, um dieses besondere Freiheitsgefühl genießen zu können (oder auf eine Möglichkeit, die Traumwirklichkeit in die Wachwirklichkeit zu integrieren, was ja in vielfältiger Form ein alter „Traum“ der Menschheit ist).

Schon wenn wir uns entspannen und die Augen schließen, können Bilder kommen, Gefühle auftauchen und Körperwahrnehmungen spüprbar werden, die ihre eigene „andersartige“ Realität haben. Der Wirklichkeitsbegriff der Naturwissenschaften funktioniert also nur, wenn wir im Wachzustand bei klaren Sinnen sind und zusammenhängend denken können. Er erfordert, dass wir uns auf diese eine Dimension reduzieren, dass wir also eindimensional erleben (beschränkt auf die vier Dimensionen unserer sinnlichen Wahrnehmung).

In allen anderen Erlebnisbereichen befinden wir uns in anderen Wirklichkeiten. Offenbar, wie schon Sigmund Freud herausgefunden hat, regieren in unserem Unterbewussten ganz andere Mechanismen der Wirklichkeitsproduktion. Er hat zwar versucht, auch diese Mechanismen naturwissenschaftlich zu erklären, ist damit aber nicht weit gekommen. Zu unterschiedlich sind die Menschen, wenn es um ihr inneres Erleben geht, sodass wir sagen müssen, dass jeder Mensch im Inneren eine ganz und gar eigene Wirklichkeit hat, die ihm nur selber zugänglich ist und die er auch nur sehr eingeschränkt mitteilen kann. Sie ist also privat und einzigartig, Teil seiner Individualität. 

Wenn wir eine systemische oder ganzheitliche Sichtweise einnehmen, können wir nicht eine Wirklichkeitserfahrung über die andere stellen, sondern müssen sie als grundsätzlich gleichrangig anerkennen. Wir achten nur darauf, für welche Situationen und Erfordernisse des Lebens welche Wirklichkeit brauchbar und sinnvoll ist. Wenn wir von einem Verkehrspolizisten aufgehalten werden, wird der nicht an unseren Träumen oder inneren Zuständen interessiert sein, sondern erwarten, dass wir ihm auf seiner Wirklichkeitsebene begegnen. Begegnen wir einem Angehörigen des malaysischen Senoi-Stammes, bei denen das Traumdeuten zur täglichen Routine gehört, so werden diesen unsere Träume mehr als unser Führerschein interessieren. 

 Mit dieser Einstellung tun wir uns leichter, wenn uns Menschen über Erfahrungen berichten, die nicht in den naturwissenschaftlichen Rahmen passen, z.B. von Wunderheilungen (siehe meinen Blogbeitrag vom März 2012 - http://wilfried-ehrmann.blogspot.co.at/2012/03/die-wunderheiler-und-die-skeptiker.html ) oder übersinnlichen Wahrnehmungen. Wir brauchen sie auch, wie oben erwähnt, in der therapeutischen Arbeit. Wenn es etwa um die Verarbeitung eines Verlustes geht (beim plötzlichen Tod einer vertrauten Person wie auch beim Verlust eines Zwillingsgeschwisters im Mutterleib), besteht ein wichtiger Schritt in der Heilung darin, mit der verstorbenen Person Kontakt aufzunehmen. Im naturwissenschaftlichen Weltbild ist das unmöglich. Wer tot ist, kann nicht mehr kontaktiert werden. Wenn wir jedoch Klienten, die die Gefühle der Verlusterfahrung erlebt haben, vorschlagen, sich mit der verstorbenen Person zu verbinden, „wo immer sie gerade ist“, ist das den meisten Menschen leicht möglich, und dieser Kontakt wird fast immer als sehr heilsam und wohltuend erlebt. 

Es gibt also offenbar eine Wirklichkeitsform, in der die Grenzen von Raum und Zeit aufgehoben sind. Das ist ja insofern auch klar, weil die Raum- und Zeiterfahrungen auf die naturwissenschaftliche Realität beschränkt sind und dieses auf jene. Wir haben ein Erleben, „als ob“ die verlorene Person „wirklich“ noch irgendwo da ist und mit uns spricht. Wir wissen dabei, dass diese Wirklichkeit eine andere Qualität hat, dass wir also, wenn wir die Augen öffnen, die Person nicht mehr vor uns sehen und ihr nicht einfach die Hand schütteln können. Aber dieses Wissen nimmt der Erfahrung nichts von ihrer Gültigkeit und Bedeutsamkeit. 

Auch bei der Arbeit mit Ahnen, die wir z.B. bei der Aufstellungsarbeit oder bei der Auflösung von über die Generationen vererbten Traumen nutzen,  ist diese Wirklichkeitsebene wichtig. Wir können dabei erleben, dass lange verstorbene Vorfahren von uns einen belastenden Einfluss ausüben und dass die Begegnung mit ihnen diesen Einfluss in eine positive Kraft ummünzen kann. Manche Vertreter der Aufstellungsarbeit sind der Meinung, dass die Auflösung von solchen Themen selbst den Verstorbenen eine Erleichterung bringt. Dabei wird angenommen, dass es eine Wirklichkeit gibt, in der diese Personen in einer anderen als der uns bekannten Form leben.

Wenn wir, aus „naturwissenschaftlicher Verantwortung“, sagen würden, dass solche Phänomene reine Einbildung sind und es sie nicht geben kann, weil ja die Wirklichkeit auf Raum und Zeit beschränkt ist, dann werten wir die andere Wirklichkeitsebene ab, also die Subjektivität des Klienten, was uns nicht zusteht. Schließlich wollen wir ja selber auch nicht, dass uns jemand anderer bei unseren Innenerfahrungen dreinredet und uns weismachen will, dass wir „in Wirklichkeit“ das, was wir erleben, gar nicht erleben, bzw. dass das, was wir erleben, eine ganz andere Bedeutung hat als die wir ihr selber geben.

Kinder kennen die unterschiedlichen Wirklichkeiten sehr gut. Sie halten sich gerne in Märchenwelten und Geschichten auf und stoßen damit häufig auf Unverständnis oder Kritik bei den Erwachsenen, die ihnen ausreden wollen, was sie innerlich erleben, wohl aus der Angst heraus, dass Märchenwelten zum Funktionieren beim Meistern des Lebens in unserer Gesellschaft nutzlos wären. So müssen die Kinder mit der Zeit lernen, die Ebenen auseinander zu halten, indem sie die Abwertungen mitnehmen, die besagen, dass es eine „wirkliche“ = gute oder nutzbringende Wirklichkeit gibt und eine „unwirkliche“=schlechte oder unbrauchbare. Mit dem Eintritt in die Schule beginnt bei den meisten Kindern die mehr oder weniger gründliche Reduktion auf das eindimensionale Weltbild der Naturwissenschaften.

Statt dass wir uns in eine Form der Wirklichkeitserfahrung einzementieren und diese mit allen Möglichkeiten verteidigen, scheint es sinnvoller zu sein, unsere Fertigkeiten zu schulen, uns auf verschiedenen Ebenen bewegen zu können und alle diese Ebenen in ihrem Eigenwert schätzen zu können. Wichtig bei dieser Kompetenz ist die die Fähigkeit, zu wissen, wo wir gerade sind. Psychotiker leiden unter der Abwesenheit dieser Fähigkeit. Sie können nicht unterscheiden, was „Wirklichkeit“ und was „Wahn“ ist, wobei das, was man als Wahn bezeichnet, nur eine andere Form der Wirklichkeitserfahrung ist, die aber nicht eingeordnet werden kann. Psychose ist ein Zustand der Verwirrung, auf welche Ebene der Wirklichkeit eine bestimmte Erfahrung gehört. Diese Irritation kann große Ängste auslösen und die Kommunikationsfähigkeit stark beeinträchtigen. 

Üben wir uns dagegen im Unterscheiden der Wirklichkeitsebenen, dann gewinnen wir an Einsichtsmöglichkeiten für die verschiedenen Qualitäten des Lebens und Erlebens, unserer selbst und der anderen Menschen.  Ich empfehle dazu auch, das Modell der Bewusstseinsevolution zu nutzen, weil es uns eine Landkarte an die Hand gibt, mit deren Hilfe wir die jeweiligen Wirklichkeiten verorten können.

Mittwoch, 15. August 2012

Meditation und Langeweile


Ob du mehr oder weniger in Meditation geübt bist – es würde mich wundern, wenn du beim Meditieren noch nie mit Langeweile in Kontakt gekommen bist. Da nehmen wir uns vor, uns eine halbe Stunde hinzusetzen, um nach innen zu schauen. Doch wir finden nichts, was uns interessiert, die Gedanken schweifen immer wieder ab, und das Sitzfleisch beginnt zu schmerzen. So hoffen wir, dass die Zeit endlich um ist. Da schauen wir auf die Uhr … und es sind erst fünfzehn Minuten vergangen. Wir wollen bei unserem Vorhaben bleiben und schließen wieder die Augen und öffnen sie hoffnungsvoll nach einer genügend langen Zeit, nur um zu sehen, dass wir noch immer fünf Minuten bis zur halben Stunde haben. Die Zeit zieht sich ganz seltsam in die Länge, sie dehnt und dehnt sich.


Es wäre ungewöhnlich, wenn uns die Langeweile in der Meditation nie begegnen würde. In der Meditation sollten wir auf alles stoßen, was wir von unserem Erleben kennen. Meditation ist kein vom sonstigen Leben abgesetzter, außergewöhnlicher Zustand, sondern ist die Zeit, die wir uns geben, um unserem Leben von innen her bewusst zu begegnen. Das kann alles umfassen, von Nervosität bis Stille, von Freude bis Traurigkeit, von Gedankenfülle bis innerer Stille, und eben auch Langeweile.

Das Eigentümliche der Langeweile besteht nun darin, dass sie verschwindet, sobald wir uns ihr bewusst zuwenden. Wenn wir also innerlich erforschen, wie wir uns fühlen, wenn uns langweilig ist, ist das nicht mehr langweilig, und das, was wir erforschen wollten, hat sich aufgelöst – in andere Gefühle und Empfindungen, z.B. Nervosität, Unruhe, Bewegungsimpulse, rastlose Gedanken usw. Sobald uns diese Inhalte unseres Bewusstseins bewusst werden, sobald wir also unsere innere Aufmerksamkeit auf sie lenken, werden sie interessant, vielfältig und bunt. Die lähmende und fahle Leblosigkeit, die dem Langeweile-Zustand eigen ist, weicht, und das Starre kommt ins Fließen.

Ich war vor kurzem auf einem Langstrecken-Nachtflug von Brasilia nach Lissabon „unterwegs“ (etwas Eingetümliches bei Flugreisen liegt ja darin, unterwegs zu sein, fast ohne sich bewegen zu können, d.h. der Weg wird nahezu bewegungslos zurückgelegt). Eingekeilt in den engen Sitz, desinteressiert am Filmangebot und unbegabt zum Schlafen im Flugzeug hatte ich viel Gelegenheit, die Langeweile zu erforschen, und am Ende der neun Stunden, als das Flugzeug europäischen Boden berührte, hatte ich nicht den Eindruck, eine endlos langweilige Zeit überstanden zu haben, sondern viel Interessantes erlebt zu haben, sodass sich der Geist frisch anfühlte (im Gegensatz zum Körper...).

Was lernen wir dabei über die Langeweile? Natürlich, sie ist ein Produkt des Verstandes, denn wenn wir im Moment sind, also in der unmittelbaren Erfahrung, so gibt es dort immer etwas Neues, aber keine Langeweile. Der Verstand konstruiert einen Zustand, der etwas Aufregendes fordert, etwas Reizvolles und Spannendes. Er hungert nach Beschäftigung und Herausforderung und übersieht das Unspektakuläre und Einfache, das das Erleben im Moment kennzeichnet, z.B. die Eigenart und Besonderheit des gerade aktuellen Atemzuges.

Der Reizhunger unseres Verstandes folgt einem Suchtmuster. Je mehr wir uns mit Reizen füttern, desto mehr steigt das Verlangen nach noch mehr und noch vielfältigeren Reizen. Das Suchtmuster hat also eine quantitative und eine qualitative Komponente und ist deshalb praktisch unendlich in seiner Gier. Es ist übrigens eine Ableitung aus der im materialistischen Bewusstsein geprägten Steigerungsform im Anhäufen von materiellen Werten. Wir suchen z.B. den Besitz von Geld zu steigern, ohne je zu einem befriedigenden Endzustand zu gelangen, wie auch die Zahlenreihe kein happy end kennt. So treibt das Verlangen immer weiter, bis zur Erschöpfung oder bis zum Tod.

Dem Stillen dieser Gier nach Reizen widmet sich eine riesenhafte Industrie, die das Vertreiben der Langeweile verspricht und dabei immer mehr derselben produziert. Wenn wir uns Fernsehsendungen aus den sechziger Jahren anschauen, halten wir das kaum aus, weil sie so umständlich und langsam dahinplätschern, mit einfachen Mitteln und simplen Dekorationen. Doch wer damals die Anfänge des Fernsehens (zunächst schwarz-weiß und dann farbig) mitverfolgt hat, weiß, wie aufregend jede Sendung war. Seither hat sich unser Reizhunger beständig weiter entwickelt, bis hinein in die Schnitttechnik von Spielfilmen, die in immer kürzeren Sequenzen die Zuschauer in Bann halten will. Beinahe im Sekundenrhythmus muss Neues geschehen, bricht Unerwartetes an Bildern und Emotionen auf das Publikum ein, das damit in Dauerstress versetzt wird. Die Lücken zwischen einem Gag und dem nächsten werden immer kürzer (damit braucht der Gag keine besondere Qualität mehr, muss also nicht besonders witzig sein, weil die Zeit zum Lachen sowieso nur kurz ist).

In dieser Art wird die Stresserwartung unseres Verstandes befriedigt und zugleich gekräftigt. So dreht sich die Spirale weiter, immer schneller. Innerlich dehnt sich die Spannung zwischen maximaler Reizfütterung und Erschöpfung. Langeweile muss um jeden Preis vermieden werden, da sie uns auf uns selbst zurückwirft und uns zwingt, uns selbst zu spüren. Das ist unangenehm, deshalb gieren wir nach dem nächsten Außenreiz.

Wie wohl tut uns deshalb die Natur, weil sie uns einen beständigen ruhigen Fluss von sanften Reizen vermittelt. Die Natur verspricht nie mehr als sie ist und geht nicht auf unsere Stresserwartungen ein, sondern zeigt uns, wie wir uns mit der Fülle dessen, was schon da ist, begnügen können und entspannen dürfen.

Und wie wohl tut uns Meditation, in der wir uns auf den Weg zur inneren Stille machen. Dass wir dabei der Langeweile begegnen, sollte uns nicht verwundern. Sie zeigt uns, wie wir unser Leben bis an den Rand mit Dingen ausgefüllt haben, damit uns keine Lücke Angst machen kann. Wenn wir in die Angst hineinspüren, die dort auftauchen kann, wo es innerlich leer wird, kommen wir an die Wurzel der Langeweile-Stimmung. Wir machen uns vertraut mit der Angst und nehmen ihr ihren Schrecken. Dabei wandelt sich die Sucht nach Außenreizen in ein inneres Abenteuer, das uns näher zu uns selbst führt. Je mehr wir diesen Innenraum zu schätzen lernen, desto freier werden wir von den Verlockerung der Unterhaltungsindustrie und zugleich von der öden Stimmung der Langeweile. Statt dessen lernen wir den Reichtum in der Einfachheit zu schätzen und zu mehren.

Vgl.: Störungen in der Meditation