Samstag, 30. September 2017

Hat die Vernunft eine Zukunft?

Wir leben in einer ins Unermessliche wachsenden Informationswelt und sehen uns der Überfülle an Wissen und Meinungen ausgesetzt, sodass wir nichts mehr wie Orientierung und Ordnungsgesichtspunkte brauchen, um uns nicht zu verlieren. Verschiedene Deutungsmächte, die um die Vorherrschaft buhlen, bietet ihre Dienste an, zumeist nicht uneigennützig.

In gewisser Weise erinnert die Situation an das Szenario des europäischen Mittelalters, in dem es das Meinungsmonopol der Kirche gab, die alles, was sich an abweichenden Gedanken am Rande rührte, mit aller Macht unterdrückte. Die Aufklärung machte Schluss mit diesem Machtmonopol und propagierte die Glaubens- und Meinungsfreiheit. Die Wissenschaften etablierten sich statt der Religion als oberste Instanzen der Wirklichkeitsdeutung, auf der Grundlage von nachvollziehbaren und kommunizierbaren Wegen der Erkenntnisgewinnung. Der Anspruch der Wissenschaften, objektives Wissen über die Wirklichkeit anbieten zu können, bot Sicherheit angesichts der schwindenden Deutungsmacht der religiösen Instanzen. Unterstützt wurde dieser Erfolg der Wissenschaften durch die Technik, die ihre Einsichten in alle Arten von Maschinen umsetzte, die in vielen Belangen das Leben der Menschen erleichtern. Die Wissenschaften bieten gültiges Wissen an, weil sie die Erzeugung brauchbare Güter ermöglichen.

Das ist das Credo der Moderne: Wir brauchen uns nur auf die Wissenschaften zu verlassen, dann kann es nur besser und besser werden. So unterschiedliche Geister wie Karl Marx und Auguste Comte waren sich einig im Vertrauen auf die Wissenschaften.

Inzwischen haben allerdings auch die Wissenschaften an Vertrauen verloren, so wie die Moderne insgesamt. Die Ambivalenz der technologischen Entwicklung hat zur Entstehung neuer Ängste beigetragen. Dort, wo uns das Leben leichter gemacht wird, richten wir ungeahnte Schäden an. Wir freuen uns über die Bewegungsfreiheit durch Autos und Flugzeuge, merken aber mehr und mehr, wie der Einfluss auf das Klima, das wir durch die Nutzung dieser Fortbewegungsformen herbeiführen, unsere Lebensqualität bedrohen kann. Durch die Technisierung der Landwirtschaft haben wir mehr als genug zu essen und haben dennoch den Eindruck, dass wir mehr Gifte als gesunde Nährstoffe zu uns nehmen. Offenbar halten sich Gewinne und Verluste in Hinblick auf die technischen Errungenschaften die Waage, oder, je nach Betrachtungsweise, wird gar alles in Summe schlechter und schlechter, je mehr wir den Weg der Technisierung unseres Lebens gehen.

Die Ernüchterung über die furchterregenden Kehrseiten des technischen Fortschritts hat auch zur Relativierung der wissenschaftlichen Autorität geführt. Es ist längst nicht mehr peinlich, wenn Leute ohne wissenschaftliche Ausbildung und Forschungspraxis die Ergebnisse von wissenschaftlichen Studien in Bausch und Bogen ablehnen und gegen andere Forschungen ausspielen, die der eigenen Ideologie entsprechen. Durch die Allverfügbarkeit von Information gelingt es leicht, Unseriöses als seriös darzustellen, sorgfältige und integre wissenschaftliche Arbeiten zu diskreditieren, indem gegenläufige Ansichten als wissenschaftlich ausgegeben werden, oft ohne, dass Quellen genannt werden, und wenn, dass sich diese Quellen als unwissenschaftlich herausstellen. Nur macht sich selten jemand die Mühe, den Hintergrund von Behauptungen auszuleuchten, und wir sind im postfaktischen „Zeitalter“ gelandet, in dem Fakt und Fiktion ununterscheidbar geworden sind.


Verlust der rationalen Öffentlichkeit


Unterstützt wurde diese Entwicklung durch den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, der seit dem Erscheinen des Buches von Jürgen Habermas im Jahr 1962 dramatische Wendungen vollzogen hat. Es scheint, dass sich im Gegenzug zur Allverbreitung von Information die Deutungsräume sukzessive verengt und fragmentiert haben. Während nahezu das gesamte Wissen der Menschheit allgemein zugänglich ist (vorausgesetzt es gibt einen Internet-Zugang), werden die Foren für die Auswahl und Interpretation der Informationsfülle immer kleinräumiger.

In einem lesenswerten Interview sagt der Philosoph Achill Mbembe: „An die Stelle der Öffentlichkeiten sind mittlerweile Binnengemeinden getreten, Empörungsgemeinschaften von Menschen, die genau dasselbe fühlen und denken; Argumente, rationales Für und Wider, Abwägen dergleichen, das alles verschwindet und wird preisgegeben zugunsten von Gefühlsräumen, wo wir alle nur das suchen, was wir alle ohnehin schon kennen.“

Wenn dieser Befund zutrifft, erfolgt die Verwaltung und Steuerung der öffentlichen Meinung dann konsequenterweise über die Erzeugung von Gefühlsfeldern, über die die überforderten Individuen und Kleingruppen unterhalb der kognitiven Schwelle erreicht werden. Auf dieser Ebene können die fingierten Fakten so eingestreut werden, dass sie bestehende Ängste und Vorurteile verstärken und stereotype Lösungen suggerieren. Die Gefühlsblasen von Gleichgesinnten, die sich auf der Ebene von unbewussten Ängsten zusammenfinden, bräuchten als Korrektiv rationale Diskurse, in denen das Abwägen und Vergleichen von Argumenten stattfindet und eine offene und tolerante Gesprächskultur herrscht. Solche Austauschprozesse können zeigen, dass unterschiedliche Einschätzungen und Meinungen nebeneinander stehen können, ohne dass Brücken abgebrochen werden müssen, dass es vielmehr Überschneidungen gibt, dass gemeinsame Interessen identifiziert und unterschiedliche Bewertungen stehen gelassen werden können.


Die Weiterführung der Aufklärung ist für die Menschheit überlebenswichtig


Gelänge es, die Gefühlslagen, die in den diversen emotionalisierten Meinungsräumen entstanden sind, in die Rationalität von diskursiven Öffentlichkeiten einzubringen, könnte die Demokratie zu neuer Blüte gelangen. Denn die Menschen, die sich offensichtlich in unterschiedlicher Weise emotional instrumentalisieren lassen, sind nicht dumm oder borniert; sie haben nur das Vertrauen verloren (oder nie gehabt), dass rationale Gespräche in einer wertschätzenden Atmosphäre dem gesellschaftlichen Fortschritt dienen, und zwar einem Fortschritt, der alle Teilhaber an der Gesellschaft mitberücksichtigt und deren Gefühlslage miteinschließt.

Ein solcher Fortschritt kann allerdings nicht aufgrund von Gefühlspolitik erreicht werden, wie des bisherige Scheitern der Trump-Administration in fast allen Belangen eindrucksvoll belegt. Nur auf rationaler Ebene wird einsichtig, dass aus unterschiedlichen Interessenslagen (die aus unterschiedlichen Gefühlsprioritäten entstehen), gemeinsame Lösungswege entwickelt werden können. Erst, wenn die Mühen des Dialogs und des Interessens- und Werteaustausches in einer konstruktiven Weise stattgefunden haben, zeigt sich dann die Rückwirkung auf die Gefühlswelten, in denen ein tieferes Vertrauen in das Ganze einer Gesellschaft wachsen kann, das mit jeder Isolation von voreinander abgeschotteten und sich permanent selbst bestätigenden Hassinseln unweigerlich ausgedünnt wird.

Nur die Weiterführung des Projekts der Aufklärung, die Menschheit durch gemeinsame Vernunftarbeit zu einer vertrauensstärkenden und gerechten Willensbildung zu motivieren, wirkt als Gegenmittel zur Entmachtung der Vernunft, die eine Selbstentmachtung der Menschheit darstellt. Haben wir den Mut, immer wieder zu argumentieren, wo nur Gefühle sind, und Gefühle anzusprechen, wo nur rational argumentiert wird, und dies in einer Atmosphäre der Offenheit und des Respekts.

Dort, wo rationale, mit emotionaler Kompetenz geführt Diskurse die Menschen zusammenführen, halten die Wissenschaften ihren gebührenden Rang als unbestechliche und uneigennützige Ergründer der Wirklichkeit. Die Selbstkontrolle und Selbstkritik, die innerhalb der Wissenschaften etabliert ist, bedient sich der gleichen Grundsätze wie sie im gesellschaftlichen Diskurs notwendig sind. Das Vertrauen in die Wissenschaften kann allerdings nur dadurch wieder hergestellt werden, dass die Anwendungen wissenschaftlicher Forschungen im Sinn ihrer technischen Umsetzungen vom gesellschaftlichen Diskurs überwacht und kontrolliert werden müssen.

Die theoretische Vernunft, auf die sich die Wissenschaften stützen, kann den Stellenwert ihrer Wirklichkeitserkenntnis nur von einem funktionierenden sozialen Diskurs erhalten; die soziale Willensbildung kann allerdings ihrerseits nur mit dem Rückhalt der von den Wissenschaften gewährleisteten Qualität an Wissen zukunftsträchtige und sozial gerechte Regelungen aufstellen.

Burka-lose Integration

Am 1. Oktober tritt in Österreich das Burka-Verhüllungsverbot in Kraft, ein weiterer Meilenstein für die Integrationspolitik unseres bisher schon so erfolgreichen Integrationsministers, der sich allerdings längst zu höheren Weihen berufen fühlt und hoffentlich bald an den Schalthebeln der Macht angelangt sein wird, womit nach der Wahl die schwierige Suche nach einem angemessenen Nachfolger zu einem innenpolitischen Hauptproblem werden wird.

Da wir ab jetzt sicher sein können, dass keine ganzkörperverschleierten Bankräuber und Bankräuberinnen, Terroristen und Terroristinnen ihr Unwesen treiben, können wir unser Integrationsgefühl verstärken. Wir wissen immer, wen wir vor uns haben – am unverschleierten Gesicht können wir ablesen, ob es sich um ein integriertes oder um ein fremdes, Unwesen treibendes Wesen (=Alien) handelt. Niemand mehr und nichts bleibt verborgen, alles kommt jetzt ans Licht. Jeder muss in der Öffentlichkeit zu seinem Gesicht stehen, sodass wir sofort entscheiden können, ob jemand heimisch oder fremd ist, d.h. integrierbar oder nicht.

Hier beginnt nämlich die wirkliche Integrationspolitik: Integriert werden die, die schon immer da gewesen sind, die Hofers, Mayers, Müllers, Kurze und Kerne, und mittlerweile auch die schon von Georg Kreisler weiland besungenen Vondraks, Vortels, Viplaschils (in der Telefonbuchpolka), und vielleicht sogar die Kolarics, die vor Jahrzehnten noch als Tschuschn ausgegrenzt waren, sofern sie brav integrationswillig und ausländerfeindlich wählen. Integrieren heißt, die gemeinsamen heimischen, um nicht zu sagen völkischen Werte, Sitten und Gebräuche zu vertiefen und von allen nicht heimischen zu unterscheiden. Diese Integration muss vertieft werden, damit klar wird, wer dazugehört und wer draußen bleiben muss und damit die, die dazu gehören, gleicher werden und sich die Gräben zwischen Innen und Außen noch mehr vertiefen.

Und damit beginnt die wirkliche Willkommenspolitik: Willkommen geheißen werden alle, die schon längst und immer da gewesen sind, die sich schon längst und immer angepasst haben, die sich vorbehaltlos zur Wertegemeinschaft bekennen und den Zungenschlag des Österreichischen perfekt beherrschen. Alle, die da nicht dazugehören, kriegen großzügig ihre Auffanglager weit weg jenseits der Grenzen und werden dort für immer willkommen geheißen. So können wir unter uns bleiben, integriert und willkommen, und nicht belästigt von fremdländischen Kleidungssitten und ungewohnten, Misstrauen erweckenden Hautfarben.

Nicht willkommen geheißen werden jene scheinbaren Inländer, die die volksschädliche Willkommenskultur propagiert haben, indem sie massenhaft Fremde ins Land gelockt haben, sie können ja gerne ihre Willkommenssucht in den überseeischen Auffanglagern ausleben.

So hoffen wir auf die nächsten Schritte der Integrationspolitik: Die Dirndl- und Lederhosenpflicht zumindest am Nationalfeiertag, an dem wir ja feiern, dass seinerzeit die letzten Ausländer Österreich verlassen haben, oder nicht?

Samstag, 16. September 2017

Aida und die Illusion der romantischen Liebe

Die berühmte Oper Aida von Giuseppe Verdi entfaltet eine romantische Tragödie, die uns die Fatalität des romantischen Liebeskonzepts vor Augen führt. Das Dilemma steht schon am Anfang fest. Aida, die versklavte Tochter des Nachbarkönigs, liebt den aufstrebenden ägyptischen Feldherrn Radamez, der sie ebenfalls liebt. Die Tochter des Pharaos liebt nun Radamez, dieser sie aber nicht. Radamez bekommt das ersehnte Kommando für den Krieg gegen die Nachbarn, diese werden besiegt, und Aidas Vater wird gefangen genommen. Aida ist gespalten zwischen der Liebe zu Radamez und der zu ihrer Heimat und Familie. Schließlich endet alles tragisch, Radamez und Aida finden erst eingemauert in der Todeskammer zueinander.

Was verstehen die Protagonisten dieser Oper unter Liebe? Es ist eine Kraft, die nicht ihrer Kontrolle unterliegt und die sie nicht beeinflussen können. Soweit deckt sich das mit der Erfahrung vieler anderer Menschen. Die besondere Liebe, die wir einem anderen Menschen entgegenbringen, wenn wir uns verlieben, können wir nicht machen, können wir nicht durch bewusstes Handeln erzeugen. Sie trifft uns wie eine übergeordnete Macht. Außerdem kennen wir alle die Erfahrung, dass sich diese Form der Liebe nach einiger Zeit verflüchtigt. Sie wird schwächer und schwächer, macht aber im günstigen Fall einer anderen Form der Liebe Platz, die mehr Beständigkeit aufweist und die Grundlage für längerfristige Beziehungen bilden kann. Diese Form der Liebe ist vielfältiger, differenzierter und schließt tendenziell alle Ebenen unseres Seins mit ein. Wir tauschen uns mit unseren Partnern über die meisten Bereiche unseres Lebens aus und teilen viele dieser Erfahrungen. Dabei entstehen Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die Konflikte auslösen und in der Versöhnung das Verständnis vertiefen. Diese Form der Liebe entwickelt sich in Übereinstimmung mit der Entwicklung der beteiligten Personen weiter, und die Liebenden arbeiten aktiv an dieser Entwicklung mit. Es ist eine Form der Liebe, die stärker und schwächer werden kann, die verloren gehen, aber auch wieder gefunden und neu erfunden werden kann.

Liebe als Schicksal


Im Kontext der romantischen Liebe taucht diese Form der wachsenden, der „arbeitenden“ und reflektierenden Liebe allerdings nicht auf. Liebe ist da oder sie ist nicht da, es gibt keine Auskunft darüber, wie und warum sie entsteht und was sie bedeutet, und für die im Wortsinn Betroffenen gibt es nur die Wahl, sich ihr hinzugeben oder sich ihr zu verweigern. Andererseits zeigt das romantische Drama die Abgründe dieser Form von Schicksalsabhängigkeit auf: Wenn die äußeren Umstände dagegen wirken, führt die Liebe nicht zur Vermehrung und Steigerung des Lebens, sondern in den Tod, der paradoxer Weise als Erfüllung der Liebe dargestellt wird.

Doch dieses Paradoxon ist die treibende Kraft der romantischen Liebe. Sie hat gar keinen anderen Ausweg: Jener ins Leben einer alltäglichen Gemeinsamkeit verliert sofort die romantische Strahlkraft. Zwei Herzen finden zueinander und können – brauchen – nicht mehr voneinander zu lassen, aber was passiert dann? Bloß ein „Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“? Die romantische Spannung ist weg, sobald sich die beiden finden und ihr normales, bald langweilig werdendes Beziehungsleben beginnen – da können sie gleich in eine Kerkerzelle eingemauert werden. Der Nervenkitzel der romantischen Liebe speist sich gerade daraus, dass die Protagonisten nicht zueinander finden und ein gemeinsames Leben beginnen können, mit allen Aufgaben und Pflichten, ein Leben, in dem das Holz gehackt, die Kinder versorgt und eine Einigung über das Fernsehprogramm des Abends gefunden werden muss.

Die hartnäckige Sehnsucht nach der Romantik in der Liebe, die unsere Kultur durchzieht, die Seiten der bunten Illustrierten und der sozialen Medien, die fettleibigen Taschenbuchromane und Geschichten der kitschigen Fernsehserien, sie alle zehren vom Konzept der hochgepeitschten Emotionen und unzähmbaren Gefühle, der Verwirrung und der Entmachtung der Vernunft. Die Chaotik des limbischen Systems wird zum Zentrum des Lebens erklärt, um das sich alles zu drehen hat und an dem alle anderen Ordnungsstrukturen zum Scheitern verurteilt sind.

Gegensatz von Liebe und Wirklichkeit


Offensichtlich liegt das eigentliche Scheitern der romantischen Manie im konstruierten Gegensatz zwischen Liebe und Wirklichkeit. Die Liebe wird in einen überwirklichen Raum abgeschoben, in dem es allein zur Erfüllung kommen kann; die Wirklichkeit der Lebenswelt mit den Abläufen des (Arbeits-)Alltags wird dagegen als oberflächlich, ereignislos und langweilig, und, was noch schlimmer ist, als Vergiftung der romantischen Liebe abgewertet. Die eigentümliche Dynamik, die von der Romantik aufgespannt wird, begünstigt den Eskapismus, die Flucht in eine illusionäre Erfüllung (in der Aida als Untergang in der eingemauerten Todeszelle dargestellt), verbunden mit der Verachtung der biederen und liebesfeindlichen Wirklichkeit, die sich ihrerseits rächt und die „wahre“ Liebe kaltblütig aushungert und schließlich erledigt. Deshalb gilt dem Romantiker diese Wirklichkeit als das Schlechte, Verderbliche, während die Überwelt der Liebe der einzige Ort ist, an dem das Leben zur Fülle gelangen kann.

Die Liebe in ihrer übersteigerten Form gelingt nur in Ausnahmefällen, selbst wenn sie die Norm sein sollte. Eigentlich wird sie geschenkt oder auferlegt, je nach Sichtweise. Jedenfalls kann sie nicht erarbeitet oder erkauft werden. Die übernatürliche Verwandtschaft zweier ineinander verschmolzenen Seelen kann nur durch ein übernatürliches Arrangement eingefädelt und entflammt werden. Für die Betroffenen, von den aus dem Hinterhalt gelenkten Pfeilen des Eros durchbohrt, gibt es kein Entrinnen.

Die Fatalität liegt darin, dass die romantische Sehnsucht nicht zur Ruhe kommen kann, bis sie ihr Ziel, die Vereinigung mit dem Seelenpartner, erreicht hat und dass andernfalls das Leben sinnlos und verfehlt ist; wird hingegen schicksalhaft geschenkt, was ersehnt ist, zerschellt jeder Versuch der Erfüllung an den unerbittlichen Mächten der Wirklichkeit.

Im Anderen sich selbst lieben


Charakteristisch für die romantische Liebe ist ihre narzisstische Verkürzung. Die enthusiastischen Gefühlsüberschwänge resultieren aus der Widerspiegelung der eigenen Liebe. Der romantisch Liebende erkennt sich in der anderen Person selbst und findet die eigene Besonderheit und Großartigkeit durch den liebenden Partner bestätigt. Er liebt sich im Liebespartner selbst und übersieht die Andersheit des Partners, der auf der unbewussten Ebene als Erweiterung des eigenen Selbst erlebt wird. Das Sich-Wiedererkennen im Anderen ist die Täuschung, die deutlich wird, sobald die Gefühlsströme versiegen. Dort begänne die eigentliche Aufgabe der Liebe: Die Andersheit des Anderen zu erkunden und in ihrer Verschiedenheit anzuerkennen und zu lieben. Die romantische Liebe scheitert also, wie jeder Narzissmus scheitern muss: An ihrer Selbstbezüglichkeit und Realitätsverweigerung.

In den Zeiten des Verliebtseins (s.u.) ist dieser Narzissmus ein normaler Mechanismus, der uns aus der Komfortzone lockt und zu neuen Verhaltensweisen wie Gedichteschreiben oder Dauertelefonaten verleitet. Problematisch wird die Sache erst, wenn daran zwanghaft festgehalten wird und an jeder Schwächung der Gefühlsintensität leiden und den Sinn des Lebens in Frage stellen.

Eine Zeiterscheinung


Nüchtern betrachtet, ist die romantische Liebe eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, auch wenn es schon Vorläufer gibt, die ins Mittelalter zurückreichen. Die Hochblüte der Liebesverfallenheit hängt mit der Ausfaltung des personalistischen Bewusstseins im Modell der Bewusstseinsevolution zusammen. Die im Zug der Herrschaftsübernahme der materialistischen Stufe atomisierte Person macht aus der Not die Tugend der Individualisierung, der Heraushebung ihrer Einzigartigkeit. Die allein wirksame und erfüllende Sozialform im Rahmen dieses Bewusstseins liegt in der Zweier-Liebesbeziehung, jede andere fällt ab dagegen und wird an ihr gemessen. Die Beziehungskiste als abgeschottete Insel der Glückseligkeit ist umgeben von der Trostlosigkeit einer immer stressiger werdenden Leistungs- und Arbeitswelt. Das ist die Sackgasse der Romantik.

Robert A. Johnson, US-amerikanischer und jungianischer Psychologe hat dieses Phänomen in seiner lesenswerten Analyse der Tristan-Erzählung als „Irrtum des Abendlandes“ bezeichnet, als folgenschweres Missverstehens dessen, was die Liebe zwischen Mann und Frau jenseits von narzisstischen Spiegel-Verzerrungen ausmacht: Traumvorstellung Liebe. Der Irrtum des Abendlandes (Walter Verlag).

Die alltagstaugliche Romantik


Zur Ehrenrettung der Romantik sollte noch erwähnt werden: Neben dieser extremen Ausgestaltung der Romantik gibt es die realistischeren, sanfteren Formen, mit Kerzenschein und Lavendelduft, die jeder Liebesbeziehung gut tun können, als bewusst inszeniertes Heraustreten aus der Routine der Alltagsverrichtungen und den Verflachungstendenzen in der Liebeskommunikation. Diese Spielart der Romantik abseits der Hochglanz- und Seitenblicke-Welt, die ohne die manische Besessenheit und Fixierung auf „die eine und wahre Liebe“ auskommt, ermöglicht das Feiern der Einzigartigkeit einer Liebesbeziehung und verbindet es mit ästhetischen Ansprüchen und verfeinertem Genießen. Sie lädt die Kreativität in die Beziehung ein und belebt und vertieft das gegenseitige Verstehen und Erkennen.

Der Zustand des Verliebtseins, der meist am Beginn einer Liebesbeziehung steht, wird oft als romantisch erfahren. Das Erleben eines unvergleichlichen Hochgefühls, des andauernden  Hingezogenseins zu der erwählten Person, der Begeisterung für den anderen Menschen und die Bereitschaft, alles dafür zu geben, lässt beide Partner zu neuen Menschen mit viel mehr Möglichkeiten und reicheren Gefühlen werden, etwas, wogegen die restlichen Bereiche des Lebens verblassen. Doch, ganz banal betrachtet, schwinden über die Wochen und Monate die Glückshormone, die im Überschwang des Verliebens ausgeschüttet werden, und der Realismus kehrt langsam aber sicher in die Beziehung ein. Die romantische Sehnsucht, also die Sehnsucht nach Romantik ist der Wunsch, die emotionale Urkraft des Verliebens erneut in sich aktivieren zu können.

Die Pflege der Romantik in einer längerdauernden Beziehung kann die Rolle erfüllen, Elemente der anfänglichen Phase des Verliebtseins neu zu beleben und in die Gegenwart in verwandelter Form einzubringen. Eingeschliffene Verhaltensweisen, Verhakungen im Zusammenleben und kommunikative Abnützungserscheinungen können durch spielerische und kreative Elemente aufgelockert und entkrampft werden. In diesem Sinn kann die richtig dosierte Romantik als Jungbrunnen einer in die Jahre gekommenen Beziehung dienen.

Die Sehnsucht nach dem verlorenen Zwilling


Ein eigenes Kapitel dieses Themas, das hier nur angedeutet werden kann, führt zurück zu den vorgeburtlichen Wurzeln des liebeszehrenden Begehrens. Es geht um die Spur der romantischen Illusion zurück zum Thema des verlorenen Zwillings, denn allzu offensichtlich sind die Ähnlichkeiten zwischen den Gestalten der romantischen Liebe, ihrer Sehnsucht und ihrem Scheitern, und der Dramaturgie einer pränatalen Zwillingsgeschichte, die mit dem Tod eines Zwillings endet. Die manische Illusion der romantischen Vereinigung kann als die Rückprojektion zur intakten Zwillingsbeziehung verstanden werden, in der ein tief inniges und unmittelbares Verstehen und eine einzigartige Verbindung vorherrschen; die traumatisierende Katastrophe des Verlustes des Zwillings spiegelt sich im Zerbrechen der Liebesbeziehung an den Widerständen der Realität. Die Macht und Unausweichlichkeit der romantischen Dramatik, die in den verschiedensten Formen und Varianten wieder und wieder durchgespielt werden muss, stammt aus dem unbewussten und unbewältigten Trauma.

Die marktdominierende Vorherrschaft der romantischen Liebe vor allen anderen Möglichkeiten der zwischenmenschlichen Bezogenheit könnte als Hinweis darauf verstanden werden, wie viele Menschen vom Drama im Mutterleib betroffen sind und sich deshalb immer wieder hingezogen fühlen, dessen Inszenierung im realen Beziehungsleben wie in künstlerischer Bearbeitung zu durchleben, um den tiefen Schmerz und die ausweglose Verzweiflung, die in die Zwillingsdramatik eingewoben sind, auf diese Weise zu heilen.

Montag, 11. September 2017

Machen uns Smartphones infantil?

Als Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel können wir tagtäglich beobachten, wie viele Menschen in ihrem Smartphone versunken sind, geschäftig daran herumdrückend, die Augen gebannt auf den kleinen Bildschirmen. Wenn uns aufgrund des vorgerückten Alters als analog Aufgewachsene die entsprechende Sozialisierung in das digitale Welterleben fehlt, möchten wir verstehen, was da abläuft. Schließlich zeigen zunehmend mehr Menschen Symptome von suchtartiger Abhängigkeit von den elektronischen Wunderdingen, wobei laut Experten das Leiden stärker von der sozialen Umgebung wahrgenommen wird als von den Betroffenen selbst.

Wie schaffen es diese Maschinen, die Aufmerksamkeit zu fesseln und Zeit zu konsumieren, die dann für andere Aktivitäten fehlt? Was ist der Preis für das gewohnheitsmäßige Abdriften in eine sekundäre Realität? Die sogenannten sozialen Medien haben es offenbar fertiggebracht, das soziale Wesen Mensch in ein virtuell asoziales zu verwandeln, in einer Weise, dass es den Betroffenen nicht auffällt.

Eine wichtige Rolle bei dieser Entwicklung spielt das Erwartungshormon Dopamin. Wenn wir Benachrichtigungen aus den sozialen Medien erhalten, wird das Belohnungssystem aktiviert. Am Anfang steht eine unerwartete Belohnung: Jemand schickt mir eine Nachricht. Jemand denkt an mich – Glücks- und Bindungshormone werden ausgeschüttet. Beim nächsten Mal, wenn das Smartphone vibriert, wird gleich Dopamin ausgeschüttet: die Spannung steigt, ich erwarte wieder eine Belohnung und dazu muss ich gleich klicken, damit ich schnell kriege, wonach ich mich sehne. Das Dopamin sorgt dann dafür, dass ich automatisiert und immer schneller, ohne langes Nachdenken, auf den Reiz reagiere. Das Handy vibriert – ich muss ihm die volle Aufmerksamkeit geben. Mit jedem Reiz wird mehr Dopamin freigesetzt, das Verlangen wird immer stärker und braucht immer mehr Futter. Also brauche ich mehr virtuelle Freunde, mehr virtuelle Plattformen, Foren und Applikationen, in denen sich was tut, was meine Aufmerksamkeit fesselt. Ohne es zu merken, wird ein Gerät zum Mittelpunkt des eigenen Lebens.

Wie werden Menschen abhängig gemacht? Es braucht die richtigen Trigger und eine niedrige Hürde, die Belohnung muss also leicht erreichbar sein. Wie können Produkte erzeugt werden, die zum Gewohnheitskonsum führen, ohne die der Kunde nicht mehr sein will? Es gibt drei Möglichkeiten: Soziale Belohnungen; Informationen; Kontrolle oder neue Fähigkeiten. Eine neue Nachricht zu kriegen ist eine Belohnung, und noch mehr, wenn die Nachricht interessant ist. Die Verwaltung der vielen Nachrichten gibt ein Gefühl von Kontrolle und Eigenaktivität. Jede geschriebene Nachricht erhöht die Wahrscheinlichkeit, Antworten zu bekommen, also gilt es, noch mehr schreiben oder zu posten, so belanglos der Informationsgehalt immer auch sein mag.

Die diversen Medien haben von der Konditionierungsforschung gelernt: Sie verteilen die Belohnungen unregelmäßig. Damit wissen die Konsumenten nicht, wann es wieder zu einem Dopamin-Kick kommt und schauen deshalb immer wieder in all den Programmen nach, ob nicht schon was Neues hereingekommen ist, was den Lohn fürs Warten und Suchen verspricht.

In einer israelischen Studie wurden Erwachsene mit ihrem ersten Smartphone ausgestattet. Schon nach drei Wochen waren die Veränderungen messbar: Die Versuchspersonen taten sich schwerer, Belohnungen aufzuschieben, im Vergleich zu Personen, die kein Smartphone hatten. Das Aufschieben von Belohnungen ist eine wichtige Fähigkeit, die Kleinkinder erlernen müssen und die eine relative sichere Prognose über die zukünftige Laufbahn ermöglicht. Nur wenn der zeitliche Bogen zwischen dem Auftreten eines Bedürfnisses und seiner Befriedigung groß genug ist, kann sich das Kind für längerfristige Aufgaben motivieren, eine wichtige Voraussetzung für die Schulreife: Schulkinder bekommen ihre Belohnung (das Zeugnis) erst nach einigen Monaten des Lernens.

Die Belohnungsabhängigkeit, die mit der intensiven Smartphone-Nutzung erzeugt wird, trägt regressive Züge: Die Menschen werden tendenziell zu Kleinkindern, die Gesellschaft geht einer Infantilisierung entgegen. Ganz offensichtlich regredieren die Menschen mit fortschreitendem Smartphone-Gebrauch, einhergehend mit dem Realitätsverlust, der den Unterschied zwischen der „realen“ und der virtuellen Wirklichkeit immer mehr vermischt. Was die Konsumenten in den digitalen Medien suchen, soll vor allem niedlich, nett, lustig und überraschend sein, alles, was unser inneres Kind braucht, um sich kindlich zu freuen. Und es soll unsere Neugierde stillen und unsere Langeweile übertönen, auf eine einfache, anstrengungslose Weise.

Außerdem tauchen die Nutzer mit ihren medialen Konsumverhalten in eine Blase ein, die ein Algorithmus erzeugt hat, sodass sie dort all dem begegnen, was ihr  Herz begehrt und ihr Kopf für richtig hält, ein virtuelles Schlaraffenland und Meinungsghetto.

Was kaum mitbedacht wird, ist die Tatsache, dass mit jedem Klick irgendwo eine Kassa klingelt und Werbegeld auf ein (vermutlich unversteuertes) unbekanntes Konto strömt – Werbegeld, das ja in irgendeiner Form die Konsumenten durch den Kauf der Produkte, die ihnen durch ihr Nutzungsverhalten vor die Nase gehängt werden, berappen.

Dieses Verhalten ähnelt dem von Versuchsratten in einem Experiment, die durch Belohnung zu einem bestimmten Handeln dressiert werden. Die eigentliche Belohnung kriegt der Versuchsleiter, während für die Ratten nur billige Futterpillen bleiben, obwohl sie wohl bei sich denken, wie großzügig sie doch belohnt werden. Und wir sind der großen Cyberwelt dankbar, die uns so viele überraschende und unerwartete Belohnungen zukommen lässt. Damit sind wir eingespannt in eine Belohnungsmaschinerie, die uns immer unbefriedigter und infantiler werden lässt.


Anregung und Quelle für den Text: Ein Artikel von Anna Goldenberg „Warum kann ich nicht ohne mein Handy sein?“ in: FALTER 36/2017