Mittwoch, 28. Dezember 2022

Die pädagogische Neugier

Die Neugier ist der beste Antrieb für das Lernen und für das Lehren. Eine besondere Begabung im Lehren liegt darin, die Neugier in den Herzen der Schüler entfachen zu können. Die „Gier“ nach dem Neuen ist ein Bewusstseinszustand, in dem wir in Aufregung geraten und Begeisterung spüren. Es ist der Drang, aus Gewohnheiten auszubrechen und Abenteuer zu erleben – Abenteuer im Außen durch neue Umgebungen oder neue Tätigkeiten oder Abenteuer im Inneren durch neue Erkenntnisse und Wissensinhalte. Wir suchen diese angenehme Spannung und genießen die Erwartung und Vorfreude, die schon vorher auftritt. Auch das Gehirn gerät in Aufregung und schüttet dabei viel Dopamin aus. Es handelt sich um die Impulse zum Wachsen, zum Eindringen in die Realität, zum Durchbrechen von Widerständen, zum Erobern von Neuland, die die leuchtenden Augen der Neugier hervorrufen. 

Neugierige Schüler sind ein Vergnügen und eine Freude für jede Pädagogin, sie sind dankbar für alles, was sie aus ihrem Überschuss an Kenntnissen anbietet und greifen es bereitwillig auf, um etwas Eigenes daraus zu machen. Es ist die Freude am Lernen, die die größte Freude im Lehren darstellt.

Lehren mit Neugier

Die Neugier ist deshalb nicht nur das optimale Milieu für Lernen, sondern auch für das Lehren. Was die Lehre lohnend macht, ist die Freude am Neuen, das im Inneren der Schüler eingepflanzt wird und zu sprießen beginnt. Gewissermaßen erschafft das erfolgreiche Lehren eine neue Schülerperson. Die größte Freude sollte es sein, wenn der Endzweck der Lehre erreicht ist, wenn also der Schüler aufhört, Schüler zu sein, weil er alles weiß, was es in dieser Lehre zu wissen gibt. Der Endzweck der Lehrer-Schüler-Beziehung ist ihre Auflösung, aus der Komplementarität der Rollen wird eine symmetrische Begegnung auf Augenhöhe.

Jede Lehrsituation ist neu und beinhaltet eine neue Lektion für die Lehrperson. Jeder Mensch ist anders, und deshalb ist auch jedes Lernen anders. Den pädagogischen Eros in jeder neuen Schülerin zu entfachen, stellt eine beständige Herausforderung dar, die das Lehren zu einem kreativen Prozess macht. Es muss also für jede Schülerin oder für jede Schülergruppe eine neue Lehre, eine neue Form des Unterrichts erfunden werden, die auf die Voraussetzungen und Bedürfnisse der Schülerinnen möglichst genau eingeht, sie also dort abholt, wo sie gerade sind.

Kommunikation auf der unbewussten Ebene

Das Geheimnis des Lehrens liegt demnach darin, einen Resonanzraum zu erschaffen, in dem die Lehrerin auf einer unbewussten Ebene mitbekommt, was die Schülerin braucht, damit sie in ihrem Lernprozess weiterkommt. Ein guter Tanzlehrer sieht, auf welche Weise sich die Schülerin blockiert und was sie braucht, damit sie diese Hemmung überwinden kann. Eine gute Klavierlehrerin erkennt, welches Musikstück den Schüler begeistert und zum Üben motiviert. 

In dieser Hinsicht gleicht die Pädagogik der Psychotherapie. Der Therapeut spricht gewissermaßen das aus, was ihm das Unterbewusste des Klienten mitteilt. Die Erfahrungen und Gefühle, die verdrängt sind, weil sie irgendwann nicht verarbeitet werden konnten, werden in dem vertrauensvollen Raum, der in der Therapie entsteht, auf den Therapeuten übertragen, der sie dann spüren und ausdrücken kann. Dadurch fühlt sich der Klient tiefer verstanden und kann einen Schritt in der inneren Entwicklung weitergehen. Auch in der Pädagogik geht es darum, sich auf die Schüler einzuschwingen und die für das Fortschreiten des Lernprozesses wichtigen Informationen aus dem pädagogischen Feld, aus dem Resonanzraum zu gewinnen. Der unterschwellige Kommunikationsprozess, der auf dieser Ebene wirkt, macht den Zauber jeder gelungenen Therapie und jedes Lehr- und Unterrichtsvorgangs aus.

Wichtig zu betonen in diesem Zusammenhang ist, dass dieser geheimnisvolle Kanal nur offen ist, wenn die Atmosphäre zwischen Lehrerin und Schülerin entspannt und vertrauensvoll ist. Die gegenseitige Wertschätzung ist die Voraussetzung, dass sich das Unterbewusste der Schülerin zu Wort meldet und die Informationen preisgibt, die es erlauben, den Lernprozess fortzusetzen und zu vertiefen. Sobald sich Ängste oder Schamgefühle einmischen, versiegt dieser Informationsfluss.

Im Fluidum einer zugewandten und wertschätzenden pädagogischen Beziehung vollzieht sich das Lernen mit großer Leichtigkeit. Die Neugier wandelt sich nach ihrer Befriedigung in die Freude über das Gelernte um und meldet sich wieder für den nächsten Lernschritt. 

Jedes gelungene Lehren ist ein Erneuern, ein Neuerschaffen. Die Neugier setzt den Anfang, die Begeisterung liefert den Treibstoff und die Disziplin trägt durch den Prozess der Aneignung durch.

Man könnte auch sagen, dass die Lehrerin mit jedem Lehren, das auf fruchtbaren Boden gefallen ist, jünger wird, weil sie sich mit dem Neuen, Jungen, Aufbruchsbereiten und Abenteuerlustigen in den Schülern verbindet und daran teilhat. In dieser Verbindung entzündet sich das Feuer des pädagogischen Eros, das im günstigen Fall beide gleichermaßen erhellt und begeistert, die Lehrerin und die Schülerin. 

Zum Weiterlesen:
Die Neugier und die Kreativität
Gier und Neugier


Dienstag, 27. Dezember 2022

Die Neugier und die Kreativität

Die Neugier ist ein von jeder Scham befreiter Zustand. Sie führt uns in einen Zustand der Unschuld, der uns an unsere Anfänge auf dieser Welt erinnert – diese faszinierende Welt, die wir einst mit staunenden Augen und Ohren erschlossen haben. Und wir erschließen noch immer, solange die Neugier in uns waltet. Es ist der Kontakt mit einer Welt voll von Wundern und Rätseln, voll von Mysterien und Schönheiten. 

Die Neugier ist der Schlüssel zur Kreativität, die sich ja nur entfalten kann, wenn die Scham überwunden ist. Sie bricht aus Gewohnheiten des Erlebens und Denkens aus und überwindet die Schranken, die mit jeder Gewohnheit errichtet werden.

Das Korsett der Gewohnheiten

Das erwachsene Leben besteht zu großen Teilen aus einer Aneinanderreihung von Gewohnheiten, die nur selten von angenehmen oder unangenehmen Überraschungen unterbrochen werden und auf die wir meist mit der Errichtung neuer Gewohnheiten reagieren. Sobald eine Lücke im Netz der Sicherheiten, die wir um uns errichtet haben, auftaucht, wollen wir es stopfen. Auf diese Weise streben wir nach der Absicherung unserer Sicherheit, sobald uns etwas verunsichert. 

Die Kehrseite der Ritualisierung des Lebens bildet die Langeweile, die uns befällt, wenn wir merken, dass wir in einem Korsett der Gewohnheiten gefangen sind und uns nicht mehr wohl fühlen. Wo bleibt die Abwechslung, wo bleibt das Neue? Wie kommen wir heraus aus der Eintönigkeit der Gewohnheiten? 

Viele Möglichkeiten bietet die Welt des Konsums, die realen und virtuellen Schaufenster in ihrer Pracht und Üppigkeit, die uns zum Einkaufen verlocken wollen. Sie versprechen uns das Neue, das wir noch nicht kennen und dessen Reize wir noch nicht ausgekostet haben. Wir kaufen uns die Kreativität anderer Menschen oder künstlicher Intelligenzen, um der Langeweile für kurze Zeit zu entfliehen. Schnell gewöhnen wir uns an die neuen Güter, sie werden eingereiht in das Inventar unserer Absicherungsgewohnheiten. 

Die nächsten Möglichkeiten gibt es in den weiten Feldern der Unterhaltungsindustrie, die uns wiederum mit Produkten fremder Kreativität zum Konsumieren verleiten möchte. Der nächste Blockbuster verspricht einige Zeit Spannung und Nervenkitzel, die nächste Serie will uns mit ihren Beziehungsdramen fesseln, das nächste Kurzvideo soll uns zu kurzzeitiger Heiterkeit bringen. Auch in diesen Bereichen wirkt die Macht der Gewohnheit und die Langeweile kommt verlässlich zurück. 

Schule der Neugier

Wie entrinnen wir der Pendelbewegung zwischen Gewohnheit und Reizsuche? Die Frage lautet auch: Wie finden wir unsere eigene Kreativität? Wie kommen wir in den Zustand schöpferischen Fließens, der uns in eine Welt jenseits der Gewohnheiten führt?

Ein verlässlicher Weg besteht darin, dass wir unsere Neugier aktiv halten, kultivieren und selbst zu einer Gewohnheit machen. Statt uns im Trott von Alltagsgedanken und Verhaltensgewohnheiten zu verlieren, können wir unsere achtsame Wahrnehmung nutzen, um in unserer Umwelt Neues zu entdecken. Selbst Wege, die wir täglich beschreiten, enthalten Elemente, die wir noch nie gesehen haben. Musikstücke, die wir immer wieder hören, können neue Stimmungen wecken, wenn wir aus darauf einstellen, sie auf eine neue Weise zu hören. Formen der Bewegung, die wir uns angewohnt haben, können wir erneuern, indem wir sie anders machen. Wir können z.B. anders gehen als wir es üblicherweise tun. Selbst jeden Atemzug können wir in seiner Neuheit entdecken. Wir können die Idee des Tanzes, also der freien Bewegung, in viele Abläufe unseres Lebens hineinbringen und dadurch in jedem Moment eine Abwechslung erschaffen. 

Die Neugier ist bei all diesen kreativen Impulsen beteiligt und wird durch sie gefördert. Wir steigern unsere Lebenslust, sobald wir das Fließen der Energie wahrnehmen, die mit dem beständigen Neuerfinden unseres Lebens verbunden ist.

Wir können davon ausgehen, dass solche achtsamen Flexibilitätsübungen unsere Neugier fördern und unser Gehirn motivieren, neue Ideen zu produzieren. In der Psychologie wird dieser Vorgang als divergierendes Denken bezeichnet, also ein Denken, das nicht irgendwelchen bekannten Bahnen folgt, sondern völlig neue Assoziationen und Kombinationen hervorbringt. Es kommt zustande, wenn wir gut gelaunt, entspannt und in einem dopaminreichen Zustand sind. Diesen Zustand können wir mit verschiedenen Pillen oder Drogen herbeiführen, die immer auch Nebenwirkungen haben. Natürlicher und risikofrei ist es, wenn wir uns immer wieder einer offenen Beobachtungsmeditation (open monitoring meditation, im Yoga auch als Yoga Nidra bekannt) widmen. 

Eine Studie konnte nachweisen, dass diese Meditationsform den Dopaminlevel um 65 % steigern kann. Damit wird ein optimaler Zustand hergestellt, in dem dann das divergierende Denken stattfinden kann. Die Meditationsübung besteht darin, im Liegen möglichst ohne Bewegung einfach kommen und gehen lassen, was aufsteigt. Die Übung kann man 10 – 60 Minuten lang machen. Da sich der Körper nicht bewegt, produziert das Gehirn vermehrt Bilder, die aus der visuellen Erinnerung kommen. Zugleich wird das autobiografische Gedächtnis, das Erinnerungen untereinander vergleicht, reduziert und es entsteht ein Bewusstseinszustand, der für das divergierende Denken optimal ist. 

Zum Weiterlesen:
Gier und Neugier
Dopamin und unsere Anfälligkeit für Verführung

 

Mittwoch, 21. Dezember 2022

Überlegungen zur Sinnfrage

Was ist der Sinn des Lebens? Zu Festtagen oder zum Jahreswechsel besinnen wir uns manchmal auf diese ehrwürdige Frage, die uns als Schlüsselfrage für unser Dasein erscheint. Denn ohne Sinn können wir doch nicht leben.

Wir wollen ein sinnvolles und kein sinnloses Leben führen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir uns mit dem Sinn des Lebens beschäftigen. Woran können wir also sinnloses und sinnvolles Tun unterscheiden?

Die Sinnfrage bei Viktor Frankl 

Lassen wir zunächst Viktor Frankl, den berühmten Experten für die Sinnfrage, zu Wort kommen:

„Der Sinn des Augenblicks motiviert den Einzelnen zu seiner individuellen Stellungnahme gegenüber einer Anfrage des Lebens. Indem er den Sinn in einer Lebenslage wahrnimmt, sich für eine bestimmte Sinnmöglichkeit entscheidet und dann den konkreten Sinn in der Situation in der Verwirklichung eines Wertes herausarbeitet, erlebt oder in eine Haltung gegenüber der Lage umsetzt, aktualisiert er seine Verantwortlichkeit. Die gelingt, wenn Sinn traditionsunabhängig und bedingungslos in jeder Lebenslage gegeben ist.“ (Der Wille zum Sinn, S. 25)

Frankl trifft in diesem Text ein paar Annahmen. Nach ihm enthalten Augenblicke oder Lebenslagen einen Sinn, der ihnen entnommen werden kann. Weiters nimmt er an, dass wir uns fortlaufend für einen bestimmten Sinn entscheiden und diesen Sinn dann in unserem Tun verwirklichen. Diese Allgegenwärtigkeit des Sinns zeigt sich auch in diesem Zitat: „Wovon der Mensch zutiefst und zuletzt durchdrungen ist, ist weder der Wille zur Macht, noch ein Wille zur Lust, sondern ein Wille zum Sinn.“ (Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, S. 101)

Könnte es sein, dass „der Sinn“ nach Frankl einfach dem, was wir tun oder nicht tun, eine Nullstelle hinzufügt und auf diese Weise nur scheinbar Bedeutendes sagt? Menschen handeln nach ihrem Gutdünken, d.h. nach dem, was ihnen im gegebenen Moment am nächsten liegt. Jemand nimmt sich vor, einen Tag gesund zu leben. Er kommt bei einem Eissalon vorbei und kauft sich ein Eis, wissend, dass es nicht zu seinen Vorstellungen von gesunder Ernährung passt. Im Moment des Anblicks des angebotenen Eises hat sich das Motiv des Genusses vorgedrängt und die vorher getroffene Absicht überlagert. Nach der Sinntheorie ist das Eisessen das Sinnvollste, was getan werden konnte. Vielleicht war es nach der Auffassung der betreffenden Person auch unsinnig, vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich hat er das Eis genossen, ohne sich den Kopf über die Sinnfrage zu zerbrechen. Vielleicht war er unglücklich über die Vernachlässigung des Vorsatzes, was ihm den Genuss geschmälert haben könnte. Was auch immer im Inneren des Eisessers abgelaufen ist, es scheint die Annahme berechtigt, dass die Sinnfrage dabei keine oder höchstens eine ganz untergeordnete Rolle gespielt hat.

Hat alles seinen Sinn?

Wir kommen damit zur oft gehörten Aussage, dass alles, was geschieht, einen Sinn hat. Diese Aussage benötigt allerdings für die Praxis eine Einschränkung: Alles, was wir erleben, hat einen Sinn. Und sie braucht auch eine Erweiterung: Alles, was wir erleben, hat einen Sinn, weil oder wenn wir ihm einen geben. Zunächst sind Ereignisse einfach nur Ereignisse (der Regen fällt). Aber wir sind bedeutungsgebende Wesen, die alles, was in unserem Erleben geschieht und was wir bewusst wahrnehmen, mit einer Bedeutung versehen, z.B. die Bedeutung, dass uns der Regen abkühlt oder dass er uns an einer Freizeitaktivität hindert, oder, um auf das vorige Beispiel zurückzukommen, die Bedeutung, zum Genuss ein Eis zu essen oder aus Gesundheitsbewusstsein darauf zu verzichten. Wir können nichts erleben, ohne dass wir dem Erlebten eine Bedeutung geben. In dieser Hinsicht laufen wir als bedeutungs- und, wenn wir so wollen, sinngebende Wesen durch die Welt und können gar nicht anders. Selbst Psychotiker tun das, nur auf ungewöhnliche Weise.

Man könnte natürlich behaupten, dass die Abläufe und Dinge der Realität „in sich“ einen Sinn tragen. Doch kommen wir damit ins Reich der Spekulation. Die Frage, ob es einen Sinn „an sich“, also nicht nur „für uns“ gibt, führt zu Glaubensthemen, weil die Annahme, dass die Welt von Sinn erfüllt ist, eine Instanz benötigt, die diesen Sinn stiftet. Das kann eben keine Instanz sein, die Teil dieser Welt ist und die deshalb in der Erfahrung nicht auftaucht, sondern nur im Zusammenhang mit einer Glaubensentscheidung zugänglich wird.

Sinn und Bedeutung

Vielleicht liegt der Hauptunterschied zwischen Sinn und Bedeutung darin, dass „Sinn“ „bedeutungsvoller“ klingt als „Bedeutung“. Bei dem, was in unserer Erfahrung geschieht, dürfte es keinen Unterschied machen. Noch abstrakter und unspektakulärer ausgedrückt, kontextualisieren wir unsere Erfahrungen und nutzen dafür zumeist Bewertungsmaßstäbe, z.B. gefällt/gefällt nicht, sicher/unsicher usw. Wir hängen also an alles, was wir erleben, sinnstiftende Markierungen an und navigieren auf diese Weise durch unser Leben. So mannigfaltig, wie unsere Erfahrungen sind, so unterschiedlich sind auch unsere Bedeutungs- oder Sinngebungen und sie wechseln von Moment zu Moment.

Gefühle der Sinnlosigkeit

Wir haben Gefühle der Sinnlosigkeit bei versäumten Gelegenheiten, z.B. wenn ein Gespräch nicht zum erwarteten Ziel geführt hat, oder wenn wir ein Geschäft aufgesucht haben und den Artikel, den wir wollten, nicht bekommen haben, wenn wir einen sonnigen Urlaub gebucht haben und in einem Regenloch gelandet sind, erleben wir diese Frustrationen als sinnlose Aktionen, vergeudete Zeiten und Gelegenheiten. Aber wir verzweifeln nicht gleich am Ganzen unseres Lebens. Wir akzeptieren nur das nicht, was passiert ist und hätten es uns anders gewünscht. Dass wir solche Handlungen als sinnlos beschreiben, hat damit zu tun, dass wir gerade keinen Sinn in ihnen finden können. Falls wir später daran denken, fällt uns manchmal zu solchen Situationen noch ein Sinn ein.

Sinngebung und Werte

Hinter der Sinnfrage stecken die Werte, die uns wichtig sind und nach denen wir unser Leben ausrichten wollen. Wenn wir mit diesen Werten im Einklang sind, haben wir den Eindruck, dass unser Leben auf eine besondere Weise sinnvoll ist. Wir nehmen wahr, dass wir einen besonderen Beitrag zur Welt leisten, der zur Verbesserung der Zustände beiträgt. Werden wir diesen Werten untreu, so meldet sich die Scham. Als Idealitätsscham gibt sie uns Aufschluss darüber, inwieweit wir unseren eigenen Vorstellungen vom Leben gerecht werden. Wenn wir sie erkennen und annehmen, führt sie uns zurück auf unseren Weg. In dieser Hinsicht finden wir unseren Lebenssinn in der Übereinstimmung zwischen unseren Werten und dem, was wir tun, denken und fühlen.

Der Sinn des ganzen Lebens

Was nun, wenn wir von den Details des Lebens zu seiner Ganzheit gehen und nach dem Sinn des ganzen Lebens fragen? Können wir auf diese Frage andere Antworten geben als Gemeinplätze? Wenn der Sinn von Augenblick zu Augenblick ein anderer wird, lässt sich daraus ein übergeordneter Sinn ableiten?

Klar ist, dass es den Sinn des Lebens nicht wie ein Ding gibt, klar ist deshalb auch, dass wir ihn nicht wie ein Ding besitzen können. Was heißt aber das, was wir immer wieder hören: Da es den Sinn nicht einfach gibt, müssen wir ihn finden. Also fangen wir an zu suchen. Es gibt viele Bücher, die sich diesem Thema widmen und zu verschiedenen Schlüssen kommen. Z.B schreibt der Dalai Lama: Der Sinn des Lebens besteht darin, glücklich zu sein. Heißt das also, dass ein Leben, das nicht glücklich verläuft, sinnlos ist? Und ist das Glück etwas, das wir so einfach gewinnen können, etwas, worauf es eine Garantie gibt? 

Sicher nicht, das Glück ist volatiler als der Kurs einer Kryptowährung, es erfüllt uns manchmal, um dann ganz schnell wieder zu verschwinden. Es gibt zwar Praktiken, die uns dabei helfen können, unseren Glückszuständen mehr Beständigkeit zu verleihen. Aber auch bei der besten Meditationsform oder mit dem besten Meister gibt es keine Sicherheit, zu den ersehnten inneren Zuständen zu gelangen. Wäre dann das ganze Meditieren sinnlos, wenn wir nicht zur Erleuchtung oder in ihre Nähe gelangen? Meditation ist immer gut und führt uns näher zu unserem inneren Wesen.

Der Sinn des ganzen Lebens ist nicht zu fassen, denn es gibt keinen Zeitpunkt, an dem wir ein stimmiges Resümee ziehen könnten. Manche meinen, die Zeit kurz vor dem Tod würde uns eine derartige Zusammenfassung bieten, doch kennen wir viele Sterbeprozesse, in denen es solche profunde Einsichten nicht gibt, sondern ein schweres Leiden im Vordergrund steht. Außerdem ist es fraglich, worin der Wert einer Summe des eigenen Lebens bestehen könnte, die ja auch nur Highlights oder Marksteine umfassen kann und vieles auslassen muss, was es sonst noch an Erfahrungen gegeben hat.

Man könnte deshalb sagen, dass der Sinn des Lebens ein Mysterium ist, das wir bestaunen und bewundern, aber letztlich nicht verstehen können und auch nicht verstehen müssen. Wir wissen nicht, wie wir in dieses Leben gekommen sind, und wir wissen nicht, wie wir es verlassen werden. Dazwischen wissen wir einiges über die Abläufe und Zusammenhänge in diesem Leben, ohne jemals einen Einblick in seine Gesamtheit zu gewinnen. Wofür auch sollte uns das weiterhelfen? 

Zum Weiterlesen:
Du musst dein Leben nicht verstehen
Vom Anfang und Ende der Sinnfrage
Geschehenlassen und Funktionieren
Die Krisen und der Sinn


Sonntag, 18. Dezember 2022

Du musst dein Leben nicht verstehen

„Du musst dein Leben nicht verstehen“, schreibt Rainer Maria Rilke in einem Gedicht, und setzt fort: „dann wird es werden wie ein Fest“.

Wenn wir nicht verstehen, was abläuft, fühlen wir uns verunsichert und irritiert. Wir haben keinen Plan und können auch mit dem Plan, den unser Leben mit uns vorhat, nichts anfangen. Wir fühlen uns ohnmächtig einem Geschehen ausgeliefert, das wir nicht kontrollieren können. Wir wollen also verstehen, was unser Leben ausmacht. 

Was meint jedoch der Dichter mit diesem Satz? Er erinnert daran, dass Kinder ihr Leben nicht verstehen, sondern leben wollen: „Und lass dir jeden Tag geschehen, so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen sich viele Blüten schenken lässt.“ Er regt an, dass wir die kindliche Unbefangenheit und Spontaneität zurückholen, die wir im Lauf des Erwachsenwerdens so gründlich verloren haben. Der „Ernst des Lebens“, vor dem wir als Kinder immer wieder gewarnt wurden, wäre das „eigentliche“ Leben, auf das wir hinstreben sollten. Die ganze Kindheit ist dann nur eine Vorbereitung auf diesen Lebensmodus. Alles Kindliche müsse so rasch wie möglich überwunden werden, damit wir uns in diesem ernsten Leben bewähren und behaupten können.

Spaß und Ernst

Der Gegensatz zwischen Spiel und Ernst kennzeichnet in dieser Auffassung die Grenze zwischen der Kinder- und der Erwachsenenwelt. Wenn Erwachsene spielen, dann machen sie das mit schlechtem Gewissen und fühlen sich kindisch. Unschwer erkennen wir in dieser Haltung die Prägung durch die kapitalistische Ideologie. Jede Tätigkeit, die nichts mit Produktion „im Schweiße des Angesichts“ zu tun hat, ist nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich, weil sie unseren Status und unsere Sicherheit in diesem System gefährden könnte. Wir dürfen uns keine Schwäche leisten und müssen immer am Ball bleiben. Wir brauchen also die maximale Kontrolle über unsere Lebensumstände und über unsere Handlungen. Jeder Kontrollmangel oder Kontrollverlust führt dann schnell zur Panik. Wir müssen so viel wie möglich von den Zusammenhängen verstehen, in denen wir tätig sind, einschließlich der Zusammenhänge in uns selber, die für unsere Leistungsmotivation zuständig sind.

Da erscheinen uns die Worte des Dichters als weltfremd, wenn nicht gar bedrohlich. Andererseits wecken sie auch die Sehnsucht, aus dem Treiben und Getriebensein des Wirtschaftsmolochs auszusteigen und ein anderes Leben zu beginnen. Wir hören von Menschen, die den Brokerjob hinschmeißen und Schafhirten werden. Wir spüren die unmenschlichen Züge des Systems, in das wir eingespannt sind und suchen eine Form des Menschseins, in der wir uns entspannen können. 

Die Logik der Produkion

Eine Klientin beklagt sich, dass sie mitten in der Woche krank wird und nicht am Wochenende. Sie befürchtet, dass sie ihren Job verlieren könnte, wenn sie zu oft krank wird – obwohl sie nur selten krank wird. Sobald das Optimum an Leistung, das vom System erwartet wird, nicht erbracht werden kann, meldet sich die Existenzangst.

Wir tun so, als ob wir das Leben verstehen würden, indem wir der Logik unserer Überlebensprogramme folgen. Diese Programme sind aus Traumatisierungen gespeichert, individuelle und kollektive. Das kapitalistische Szenario hat sich mit der Macht von kollektiven Traumen in den Seelen der Menschen eingenistet, sodass es wie eine zweite Natur geworden ist, die von Angst beherrscht wird und zum Kontrollzwang führt. Wir merken gar nicht, dass wir einem Lebensverständnis folgen, das von einem Bewusstsein geleitet ist, das am weitesten von dem entfernt ist, was unsere menschliche Natur ausmacht. 

Gerade deshalb erscheint die Vorstellung, das Leben als kontinuierliches Fest zu feiern statt es zu verstehen, so lebensfremd und absurd. Doch indem wir meinen, das Leben zu verstehen, merken wir nicht, dass wir nur vorgeprägte Angststrukturen wiederkäuen.

Bruchstückhaftes Verstehen

Ein Charakteristikum von Traumaerfahrungen besteht darin, dass im Traumamoment die bestehenden Lebenszusammenhänge zerfallen und zu Fragmenten werden, die nur als Bruchstücke Sinn ergeben. Kollektive Traumen wie das Kapitalismustrauma können deshalb nur einen bruchstückhaften Sinn vermitteln, der aus einem Überlebenswissen stammt. Sinn macht das, was das Überleben in diesem System möglich macht. Wenn wir uns im Bann des Traumas befinden, erkennen wir die Relativität nicht, sondern erleben diesen Sinn als umfassend und zwingend. Wir merken nicht, dass es sich um eine Ideologie handelt, die wir für wahr halten. Vielmehr glauben wir, dass die Welt so funktioniert und dass alle anderen Menschen das gleiche Verständnis haben. Vor diesem Hintergrund meinen wir, dass es um uns geschehen ist, wenn wir wieder, wie es im Evangelium heißt, wie die Kinder werden. Ja, es ist schon um uns geschehen, wenn wir ein wenig Schwäche zeigen wie es bei einer Krankheit der Fall ist.

Die Freiheit vom Verstehen

Der Zwang zum Verstehen ist das, was in dem Gedicht von Rilke bewusst gemacht wird. „Das Leben verstehen“ ist in unserem Verstand immer fragmentarisch, vorläufig und relativ. Es sind Konzepte, die wir unseren Lebensabläufen anheften, von denen wir annehmen, dass sie uns die Orientierung erleichtern. Meist stammen diese Konzepte aus traumatischen Erfahrungen, sodass ihr Wert auf diese Erfahrungen beschränkt ist. Deshalb ist es wichtig, die Wurzeln unserer Lebenskonzepte zu kennen, sodass wir die Spreu vom Weizen trennen können. Auf alle Konzepte, in denen Angst enthalten ist, können wir getrost verzichten. Sie sind nicht nützlich und erklären auch nichts von der aktuellen Welt. 

Das Leben verläuft, wie es verläuft. Wir erleben ruhigere und heftigere Zeiten, haben angenehmere und unangenehmere Erlebnisse, verstehen manchmal mehr, manchmal weniger davon. Nehmen wir uns die Anregung des Dichters zu Herzen, so finden wir in jedem Moment einen prächtigen Anlass zum Feiern.

Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.


Samstag, 17. Dezember 2022

Die Freudenscham

Es gibt sie, obwohl das Wort sehr seltsam klingt: Die Freudenscham. Freude und Scham haben ja so gar nichts miteinander zu tun: Wenn wir uns schämen, sind wir weit weg von der Freude; wenn wir uns freuen, plagt uns keine Scham. Dennoch gibt es das Phänomen, dass auf das Erleben von Freude die Scham folgt. Eine Klientin berichtet: „Neulich habe ich ohne jeden Grund Freude empfunden. Da habe ich mir gleich gedacht, mit mir stimmt etwas nicht.“ Die Annahme ist, dass Freude nur dann normal und berechtigt ist, wenn es einen Anlass gibt. Wir dürfen uns freuen, wenn wir einen Grund für unsere Freude benennen können, sonst könnte es sein, dass wir nicht ganz richtig sind im Kopf. 

Ein anderes Beispiel: Freude empfinden, wenn es anderen schlecht geht. Natürlich ist es eine unsoziale Reaktion, wenn wir uns über das Leid anderer Menschen freuen. Aber müssen wir selber leiden, wenn andere leiden? Müssen wir mitleiden, um als liebevolle Mitmenschen zu gelten? Sind wir unsolidarisch, wenn wir nicht ins Leid der Mitmenschen hineinkippen? Das Leid von anderen Menschen sollte uns nicht egal sein, aber wir müssen es nicht übernehmen, im Gegenteil, wir können besser für eine leidende Person da sein, wenn es uns selber gut geht. Wir müssen unseren Zustand nicht für den Zustand anderer Menschen opfern, sondern haben uns selber gegenüber das Recht und sogar die Pflicht, in guter Energie zu bleiben, wenn sie uns gerade geschenkt wurde, gleich, wie es jemand anderen geht.  

Der Zwang zum Verzicht auf die eigene Freude ist erlernt. Es kommt immer wieder vor, dass trübsinnige oder schwer belastete Eltern ihren Kindern die Freude austreiben. Entweder verbieten sie den Kindern, ihrer Lebensfreude Ausdruck zu verleihen, oder sie reagieren nicht oder missmutig auf Freudenkundgebungen der Kinder. So oder so verlieren die Kinder den Spaß an ihrer Freude und entwickeln ein schlechtes Gewissen, wenn es ihnen gut geht. Sie erlernen, mit den leidenden Eltern zu leiden und die eigenen Wohlgefühle zu unterdrücken. Freude darf es nur geben, wenn sich auch die Eltern freuen, sonst ist sie eine Fehlreaktion, die unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen kann. In diesem unbewusst ablaufenden Lernprozess wird die Scham der Freude vorgeordnet, sodass sie sich sogleich meldet, wenn ein Impuls zur Freude hochkommt. 

Es ist also die Scham, die uns unsere Freude verleidet und uns zum Mitleiden drängt. Wir glauben, dass wir der leidenden Person unser eigenes schlechtes Gefühl schulden. Also kippen wir ins Leid dieses Menschen. Die Identifikation mit dem Leid von Mitmenschen bedeutet, dass wir uns selber untreu werden, was wiederum eine Schamreaktion zur Folge hat. Wir haben uns also selber in eine Schamfalle manövriert. Lassen wir es uns gut gehen, obwohl es jemand anderen schlecht geht, schämen wir uns. Leiden wir mit der anderen Person mit, schämen wir uns auch. 

Der Ausweg aus der Falle zeigt sich, sobald wir unser Augenmerk auf die Ursprünge des Anspruchs, mitleiden zu müssen, richten. Es handelt sich dabei nicht um eine spontane, sondern um eine erlernte oder konditionierte Reaktion. In unserem Umfeld als Kind waren Leidenszustände besonders präsent, von einem Elternteil, einem Geschwister oder einem nahen Verwandten; manchmal handelt es sich um ein Leid, das in einer noch früheren Generation entstanden ist und wie ein schwerer Schatten über der Familie liegt. In solchen Fällen geschieht das Aufwachsen in einer gedrückten Atmosphäre, in der die Freude verpönt ist. Wer sich freut, vergisst oder ignoriert das Leid, das so zentral beachtet werden muss und gewissermaßen den Kitt der Familie ausmacht.  

Die Präsenz des Leidens kann sich in zweierlei Weise zeigen: entweder daran, dass dauernd darüber geredet wird oder dass es völlig verschwiegen wird und aus dem Unterbewussten heraus wirksam ist. Kleine Kinder sind sensibel für alles, was es an unbewussten Abläufen in der Familie gibt, und sie reagieren darauf, indem sie sich anpassen. Die Freudenscham ist eine solche Anpassungsstrategie, mit der die eigene Lebensfreude in ihrer Spontaneität verschwindet und zu einem ambivalenten Gefühl wird.  

Die Freude über und am Leben ist ein natürlicher Zustand, der uns auf allen Ebenen unseres Seins guttut, körperlich, seelisch, geistig. Dass wir uns das Geburtsrecht auf unsere Fröhlichkeit, Leichtigkeit und auf unseren unbeschwerten Lebensgenuss zurückholen, ist das Beste, was wir uns selber gönnen können und sollten. Dazu müssen wir uns lossagen von den Schamfallen, die um diese Gefühle herum entstanden sind und uns unser Geburtsrecht auf die unbeschwerte Lebensfreude zurückholen. 

Zum Weiterlesen:
Mitgefühl und Mitleid: Eine wichtige Unterscheidung
Das Mitgefühl zwischen Helfersyndrom und Gleichgültigkeit 
Gibt es Grenzen des Mitgefühls?
Mitgefühl hat keine Grenzen
Mitgefühl mit uns selbst
Das Mitgefühl und das schlechte Gewissen


Donnerstag, 8. Dezember 2022

Mitgefühl und Mitleid: Eine wichtige Unterscheidung

Das Mitleid gilt herkömmlich als Tugend, die der Selbstsucht und Selbstzentriertheit entgegenwirken soll. Als Menschen sind wir grundsätzlich auf soziale Verständigung und sozialen Ausgleich gepolt. Wir sind Gruppenwesen, die ohne die feine Abstimmung und das emotionale Aufeinander-Eingehen nicht überleben könnten. Mitleiden hieße, das Leid einer anderen Person mit ihr zu teilen und ihr damit das Gefühl zu geben, dass sie nicht alleine mit ihrem schlechten Gefühl ist. 

Genauer betrachtet, passiert beim Mitleiden nicht die beabsichtigte Grenzüberschreitung ins Leidensland der anderen Person, sondern eine Distanzierung zu ihr. Denn in dem Maß, in dem das Mit-Leiden wächst, wandert die Aufmerksamkeit zum eigenen Leid, das aus der Geschichte aufsteigt. Das Leid, mit dem wir konfrontiert sind, erinnert an eigenes Leid aus der Vergangenheit, und diese reproduzierten Gefühle werden von der Seele wichtiger genommen als das fremde Leid. Ohne es zu merken, schneidet sich die mitleidende Person vom anderen ab und versinkt in der eigenen Leidensgeschichte. Mitleid wird zu Selbstmitleid. Dabei schwinden die Fähigkeiten zu trösten, zu helfen und zu unterstützen, weil sie für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leid gebraucht werden. 

Hilfreichen Beistand können wir nur leisten, wenn wir zum Leiden, das vor uns auftaucht, einen angemessenen Abstand haben. Lassen wir das Leid zu nahe an uns ran, dann wächst die Gefahr, dass das eigene Leid aktiviert wird und sich vordrängt, sodass wir erst wieder nur auf uns selbst bezogen sind. Mitleid ist deshalb immer ich-bezogen, obwohl wir meinen, es wäre ein sozialer Akt. 

Halten wir andererseits zu viel Distanz, so schotten wir uns ab: Nach außen und nach Innen. Wir kappen die Verbindung zu den anderen Menschen und zu unseren Gefühlen. Folglich fühlt sich die andere Person im Regen stehen gelassen und wir fühlen uns leer, bitter oder hart. Die Verschlossenheit vor dem Leid von anderen wird eben vor allem durch die Angst aufrechterhalten, ins eigene Leid zu kippen, und nicht durch die Sorge, vom Leid des anderen Menschen überwältigt zu werden.  

Das weite Feld des Mitgefühls 

Zwischen emotionalem Rückzug und Leidensversenkung gibt es allerdings ein breites Feld, auf dem sich das Mitgefühl aufhält. Das Mitgefühl hält die Waage zwischen dem Selbst und dem Anderen, es speist sich aus der eigenen Leidenserfahrung, ohne aber in der eigenen Lebensgeschichte zu regredieren. Es ist umso stärker zugänglich, je mehr Leidensthemen aus der eigenen Lebensgeschichte aufgearbeitet wurden. 

Die Fähigkeit, Mitleid und Mitgefühl unterscheiden zu können, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für jede Form von heilender Arbeit mit Menschen. Es kommt hierbei immer zu einer Auseinandersetzung mit Leidenszuständen. Heilung kann aber nur entstehen, wenn die Offenheit und das Empfangen des Leides gegeben werden können, während andererseits das Leid aus der eigenen Geschichte beiseite gestellt wird. Das Mitgefühl erwächst aus einem ressourcenvollen Zustand, nicht aus einem Leidenszustand.

Auch für das Leben und Arbeiten mit Kindern ist die Unterscheidungsfähigkeit zentral, sei es in der Eltern-, in der Kindergärtnerinnen- oder in der Lehrerinnenrolle. Kinder brauchen kein Mitleiden, sondern ein fürsorgliches Mitgefühl.  Werden sie zu stark mit Mitleid konfrontiert, so entwickeln sie Schuldgefühle. Sie brauchen Eltern und Erzieher, die mit ihrem Leid soweit im Reinen sind, dass sie es von den Kindern fernhalten können.  

Das Wegnehmen des Leids 

Eine verbreitete Form, Mitleid zu bekunden, besteht darin, zu erzählen, dass man das Problem, an dem die andere Person leidet, aus der eigenen Erfahrung kennt. Damit soll signalisiert werden, dass diese Form des Leids bekannt ist und dass sich die leidende Person in Gesellschaft Gleichbetroffener befindet, also nicht allein mit ihrem Problem ist. Wenn man sich aber dann in der Schilderung der eigenen Geschichte ergeht, mit der heimlichen und unbewussten Intention, dafür Verständnis und Trost zu bekommen, bleiben Trost und Zuwendung auf der Strecke. Ohne es zu merken, wird der Person deren Leid weggenommen und das eigene in den Mittelpunkt gestellt. Statt Verständnis und Mitgefühl zu zeigen, wird der anderen Person signalisiert, dass ihr Leid weniger wichtiger ist als das eigene. 

Solche Strategien entwickeln sich vor allem dann, wenn Eltern ihre Kinder als Empfänger für ihre eigenen Sorgen und Nöte auserkoren haben. Diese Form des emotionalen Missbrauchs wird dann später kompensiert, indem versucht wird, endlich jemanden zu finden, bei dem das eigene Leid verstanden wird. 

Die Mitleidskultur 

In einem Land, in dem Leiden allgegenwärtig mit dem gekreuzigten Jesus repräsentiert wird, ist es nicht verwunderlich, dass das Mitleiden einen derart breiten Raum einnimmt. Die Darstellung des leidenden Christi soll in das Mysterium um Tod und Auferstehung hineinführen, bleibt aber auf der Stufe des Leids stehen. Der Auferstandene, der den Tod überwunden hat, kommt demgegenüber in der Öffentlichkeit kaum vor. Die Omnipräsenz des Crucifixus, des ans Kreuz Genagelten, suggeriert die Allmacht des Leidens, des Opferseins und der Ohnmacht und fixiert damit ein eindimensionales Menschenbild. Die frohe Botschaft von der Befreiung von allem Leid und aller Sündhaftigkeit wird dagegen einmal jährlich im Ostergottesdienst vor spärlichen Gläubigen verkündet. Suggeriert wird zudem die Mahnung, dass es sich niemand zu gut gehen lassen sollte angesichts des Leidens des Erlösers, an das permanent erinnert wird. Niemand soll auf sein Leid vergessen, auch wenn es immer geringer ist als das des Erlösers. Suggeriert wird schließlich auch die Notwendigkeit des Mit-Leidens mit dem Jesus, der mit schmerzverzerrtem Gesicht dargestellt wird und damit Menschen mit ihrem Leid konfrontiert, außer jene, die sich an den Anblick gewohnt haben oder ihn nicht genau betrachten.  

Der Rückgang der Gläubigkeit und der Religionszugehörigkeit in der Gesellschaft kann auch damit zu tun haben, dass diese Suggestion des Leides und der Appell an das Mitleid immer weniger verfängt. Der Einfluss der Aufklärung, der Wissenschaften und der modernen Lebensweise mit ihren vielfältigen Absicherungen hat viele Quellen des Leides stillgelegt. Es gibt noch immer genug Leid auch in den hochentwickelten Gesellschaften, aber der Mitleidskult hat bei vielen Menschen ausgedient. Sie wollen sich nicht vorschreiben lassen, woran sie leiden oder wofür sie Mitleid spüren sollen. Sie suchen sich ihre eigenen Wege zur Sinnfindung und kehren den Kirchen ihren Rücken zu. 

Die christliche Tradition enthält auch den Zugang zum Mitgefühl im Sinn der Nächstenliebe und kennt dessen Praxis. Doch werden die Grenzen zwischen Mitgefühl und Mitleid oft schwimmend präsentiert und spiegeln auf diese Weise die gängige Erziehungspraxis wieder, die in vielen Familien vorherrscht. Die klare Unterscheidung zwischen diesen beiden Richtungen hilft auch dabei, das Christentum von Einstellungen zu befreien, die nichts mit der ursprünglichen Botschaft zu tun haben. 

Zum Weiterlesen:

Das Mitgefühl zwischen Helfersyndrom und Gleichgültigkeit 
Gibt es Grenzen des Mitgefühls?
Mitgefühl hat keine Grenzen
Mitgefühl mit uns selbst
Das Mitgefühl und das schlechte Gewissen

 


Mittwoch, 30. November 2022

Die Schmerzen der Welt

Die Welt ist im Schmerz und wir sind Teil dieser Welt. Wir brauchen nur unser Bewusstsein ein Stück zu weiten und schon begegnen wir diesem unbegrenzten und unendlichen Meer an Schmerzen und Leiden. Wir spüren den Schmerz der anderen leidenden Wesen. Dieser kollektive Schmerz kann überwältigend werden, weil es so unglaublich viel Leid in dieser Welt gibt. 

Dazu kommt Ohnmacht und Hilflosigkeit, weil wir nichts dagegen tun können. Es ist schwer auszuhalten, Leid zu erkennen und zur Untätigkeit verdammt zu sein. Wir würden uns sicherer und selbstmächtiger fühlen, wenn wir etwas dazu beitragen könnten, was den Schmerz lindert. 

Denn so sind wir es gewohnt in unserem Alltag. Wenn jemand traurig ist oder an anderen Schmerzen leidet, können wir Zuwendung geben, Trost spenden oder auf andere Weise den Schmerz lindern. Wir kennen alle den menschlichen Impuls, dem, was uns an Leid begegnet, abzuhelfen. Dazu sind wir da, uns gegenseitig bei der Bewältigung des Leidens zu helfen. 

Doch hat diese Einstellung nur in den kleinen Lebenskreisen Sinn, in denen wir direkt miteinander zu tun haben. Darüber hinaus sind unsere Kapazitäten schnell überfordert. Ein paar Schritte auf der Straße einer Großstadt, und wir sind schon konfrontiert mit dem   Unglück der Bettler und Alkoholiker und dem Stress von fast allen anderen. Ein Blick in die Nachrichten, und das Leid von Millionen wird uns schmerzlich bewusst. Mit jeder Kenntnisnahme von Leidensbotschaften wächst die Ohnmacht.

Schmerz und Wachstum

Wie können wir unsere innere Balance behalten angesichts einer Welt in Schmerz und unserer Unfähigkeit, dem Einhalt zu gebieten?

Schmerz empfinden wir als sehr unangenehm und wir tun alles, um Schmerzen zu vermeiden. Dennoch haben sie eine wichtige Funktion, die darin besteht, uns auf Schwachstellen, Defizite oder Störungen aufmerksam zu machen. Schmerzentstehung und Schmerzempfindung sind Signale unseres Organismus, die zum Optimalzustand zurückführen sollen. Sie kommen in vielen, wenn nicht allen Bereichen der Natur vor und sind uralte Formen, wie sich das Leben selbst regelt. Wir können also den Wert des Schmerzes verstehen, auch wenn er uns weh tut.

Offensichtlich kann der Weltprozess, ähnlich wie unser eigener Lebensweg nicht frei von Schmerzen verlaufen. Schmerzen gehören zur Entwicklung und zum Wachsen. Mit Schmerzen und unter Schmerzen wurden wir geboren, schmerzhafte Krisen haben wir überstanden und für die Zukunft müssen wir damit rechnen, dass es wiederum schmerzhafte Erfahrungen geben wird. Ähnlich verläuft die Weltgeschichte. Der Fortschritt zu mehr Friede und Gerechtigkeit führt immer wieder zu schmerzhaften Vorkommnissen.

Wir erkennen dabei, dass es viele Schmerzen in der Welt gibt, die uns unnötig erscheinen, vor allem jene, die Menschen anderen Menschen antun. Schmerzen, die mit keiner Weiterentwicklung, sondern mit Rückschritten verbunden sind und die oft Lawinen von weiteren Zerstörungen nach sich ziehen, bereiten uns viel Kummer. Solche Vorfälle zu akzeptieren fällt uns am schwersten, weil etwas vom Wichtigsten dabei verletzt wird, was wir haben: der soziale  Zusammenhalt. Sie stellen zudem unsere Fähigkeit des Hoffens auf eine harte Probe.

Ohnmacht und Wunschvorstellungen

Wir erleben uns nur dort hilflos, wo wir meinen, dass wir nichts ausrichten können. Die Welt verhält sich nicht gemäß unserer Auffassung, wie sie sich verhalten sollte und wie wir sie haben wollen. Dann entsteht die Mischung aus Leid und Ohnmacht, die uns äußerst unangenehm ist. Wir kennen diese Gefühlskombination aus unserer Kindheit, in der es immer wieder Situationen gegeben hat, die uns nicht gepasst hatten und wo wir unsere Wünsche angesichts der elterlichen Übermacht zurückstellen mussten. Im Leiden an der Welt wiederholen wir diese Erfahrungen und vergessen dabei, dass wir schon erwachsen sind. 

Als Erwachsene wissen wir, dass Leid zum Leben gehört wie die Freude. Wir wissen auch, dass fast alles, was in der Welt geschieht, nicht in unserer Macht steht. Und wir wissen, dass es in unserem Leben genau um dieses „Fast“ geht, dass wir den Gestaltungsraum, der uns gegeben ist, sinnvoll und konstruktiv nutzen. Diesen Raum können wir mit unserer Macht füllen und formen. Es gibt also immer einen Beitrag, den wir leisten können, um das Leid zu mindern. Wir können das umso besser, je mehr wir uns vom Weltschmerz und seiner Verquickung von Leid und Unfähigkeit lösen.

Der Weltschmerz macht uns auf unsere Begrenztheit und Beschränktheit aufmerksam. Er ist auch ein Leiden an unserer Endlichkeit. Eine zentrale Aufgabe unseres Erwachsenenlebens besteht darin, diese Endlichkeit in ihrer Radikalität anzunehmen und die Angst vor der absoluten Grenze, der wir ausgesetzt sind, zu überwinden. Gerade angesichts der Endlichkeit öffnet sich der Raum für das Handeln – verbunden mit dem klaren Bewusstsein, dass es nicht die eigene Aufgabe sein kann, die ganze Welt zu retten, ja, dass es schon anmaßend ist zu meinen, auch nur annährend das Leid, das im eigenen Lebensumfeld auftaucht, heilen zu können.

Besonders und unübergehbar ist es unsere Aufgabe, uns um unser eigenes Leid zu kümmern. Solange wir offene Wunden in uns tragen, sind unser Aktivitätspotenzial und unsere Kreativität gehemmt. Das eigene Leid hat einen ersten Ansprechpartner und Heiler, das eigene Selbst. Dafür benötigen wir Ressourcen. Wenn wir nicht ausreichend für uns selber sorgen, können wir nie im vollen Sinn für jemand anderen eine Stütze sein. 

In allen Berufen, die viel mit Zwischenmenschlichkeit zu tun haben und wo die Tätigkeit mit leidenden Menschen zu tun hat, erkennen wir die Notwendigkeit, sich beim Helfen nicht zu verausgaben und die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten und der eigenen Ressourcen nicht aus dem Blick zu verlieren. Es braucht ein klares Gefühl der Abgrenzung zwischen dem, was in der eigenen Macht steht, und dem, was man selber nicht schaffen kann. 

Das Mitgefühl als Brücke

Als Erwachsene haben wir das Mitgefühl zur Verfügung, das die Brücke zum Leid von anderen schlägt, ohne dass wir uns in ihm verlieren. Wir müssen uns nicht abschotten, wir müssen aber auch nicht an der Hilflosigkeit verzweifeln. Wir tun, was in unserer Macht und in unseren Möglichkeiten steht, mehr ist nicht notwendig und gefordert. Falls wir an einem schlechten Gewissen leiden, das uns unsere Mangelhaftigkeit im Helfen vorwirft, wird ein Blick in die eigene Lebensgeschichte zeigen, woher diese Tendenz zur Selbstkritik stammt. Das Verständnis für die alten Wurzeln der Schuldgefühle aus der Familiendynamik hilft uns, sie zu überwinden und wieder in unsere nach vorne gerichtete Handlungsfähigkeit zu kommen.

Pablo Neruda hat darüber geschrieben, den Schmerz der Welt in Hoffnung zu verwandeln. Das ist die Lehre, die wir aus der Erfahrung von Weltschmerz ziehen können: Diese Aufgabe zu kultivieren und mit unseren Kräften und unserer Bewusstheit daran zu arbeiten.

Montag, 14. November 2022

Die kapitalistische Trauma-Trance

„It's the economy, stupid.“

Warum ist das Wirtschaftswachstum ein derartig wirksames Totschlagargument, wenn es um Maßnahmen für den Klimaschutz geht? 

Eine einfache Erklärung würde besagen: Es gibt die Propaganda, mit der die Lobbyinginteressen von Unternehmen vertreten werden, die ihre Gewinne schwinden sehen, wenn sie ihre Produktion umstellen müssten. Davon müssten wir uns nicht beeindrucken lassen. Es gehört zum Wirtschaftsgeschehen, dass sich die Produktion laufend modernisieren muss, und wenn die Modernisierung jetzt darin besteht, klimafreundlich zu produzieren, dann ist das eben die Aufgabe, der sich das Unternehmen stellen muss.

Was aber häufig geschieht, ist, dass die ökologische Debatte dort aufhört und Klimamaßnahmen abgeschmettert werden, weil ja das Wirtschaftswachstum gefährdet würde, damit Arbeitsplätze wegfallen, die Wirtschaft schrumpft, allen geht es schlechter und schließlich und endlich bricht alles zusammen.

Der Clinton-Slogan: "it's the economy, stupid", könnte so übersetzt werden: Es dreht sich alles um die Wirtschaft, und wenn du das nicht begreifst, bist du ein Dummkopf. Oder: Die Wirtschaft ist der wichtigste Bereich, um den sich alles andere dreht und drehen muss. Oder: Die Wirtschaft betrifft die Menschen am unmittelbarsten und am wirkmächtigsten, alles andere ist dagegen sekundär.

Das Kapitalismus-Trauma

Dass wir solche Slogans verstehen und für plausibel und richtig halten, hängt mit der kollektiven Traumatisierung durch den Kapitalismus zusammen. Die Wirtschaft ist ein Teilbereich in jeder menschlichen Gesellschaft, aber seit der Einführung des kapitalistischen Wirtschaftssystems hat dieser Teilbereich die zentrale Stellung eingenommen. Diese Themenführerschaft hat sich tief in unser Bewusstsein eingegraben. Sie ist in alle Bildungs- und Ausbildungsvorgänge eingebunden und wird den Kindern und Jugendlichen von früh an eingetrichtert. Sie sollen in den Schulen „für das Leben“ fit gemacht werden, d.h. sie sollen in der Wirtschaft bestehen und sich eine „Existenz“ aufbauen können. Der Kapitalismus hat es also geschafft, die menschliche Existenz vom wirtschaftlichen Erfolg abhängig zu machen: Wenn wir es in der Wirtschaft nicht schaffen, verlieren wir unsere Existenz.

Was ist hier geschehen? Natürlich wussten Menschen immer, dass ihr Überleben davon abhängt, dass sie genug zum Essen und einen sicheren Aufenthaltsplatz haben. Aber sie wussten auch, dass sie das nie alleine schaffen können, sondern dass es nur gelingt, wenn alle zusammenhalten. 

In den Anfängen konnten und mussten unsere Vorfahren selber in ihren Gemeinschaften für alles sorgen, was zum Überleben notwendig war. Vor allem seit der jungsteinzeitlichen Revolution ist die Wirtschaft durch die fortschreitende Arbeitsteilung immer komplexer geworden. Es ist ein System von wechselseitigen Abhängigkeiten entstanden, das dann durch das kapitalistische System mit den Prinzipien von Gewinnmaximierung und Konkurrenz verschärft wurde. Während im Mittelalter geregelt war, wieviel ein Handwerker verdienen konnte, sollte im Kapitalismus jener, der am billigsten und effizientesten produziert, die anderen Mitbewerber ausstechen. Aus einem relativ ausgewogenen System von wechselseitigen Abhängigkeiten, in dem der soziale Ausgleich eine wichtige Rolle spielt, wird ein System des Konkurrenzkampfes nach dem Motto: Jeder gegen jeden. Wer zu wenig kämpft, geht unter. Stirb du, bevor ich sterbe. Die Existenzangst liefert den hintergründigen Antrieb für wirtschaftliches Handeln und wird jedem Teilnehmer an der Wirtschaft eingepflanzt. 

Wie ich schon an anderer Stelle ausgeführt habe, ist der Kapitalismus ein angstgetriebenes System, das allen eine chronische Stressbelastung auferlegt. Die versteckte Ideologie dieses Systems suggeriert, dass das Überleben permanent prekär ist. Man kann sich nie genug anstrengen, um endlich vor dem Untergehen sicher zu sein. Die Menschen werden gezwungen sich „freiwillig“ selber Gewalt anzutun, nicht mit vorgehaltener Pistole, sondern mit der implantierten Überlebensangst. 

Die Kapitalismus-Trance

Rein logisch betrachtet, hat das Umweltproblem, in das sich die Menschheit manövriert hat, den Vorrang vor den Wirtschaftsproblemen. Denn auf einem nicht mehr bewohnbaren Planeten kann auch keine Wirtschaft betrieben werden. Die Wirtschaft müsste also alles tun, was in ihren Kräften steht, um diese globale Bedrohung abzuwenden, und dazu bräuchte sie von der Politik die zwingenden Vorgaben. Aber weil im kapitalistischen Denken der kurzfristige Gewinn immer besser ist als eine langfristige Perspektive, trommeln die Vertreter der Wirtschaft ihre Parolen vom Vorrang der Wirtschaft und ihres Wachstums, gleich welche Kosten das sonst noch verursacht und welche Probleme daraus längerfristig erwachsen. Denn für Schäden aus den Wirtschaftsprozessen haftet die Allgemeinheit, bzw. der Staat, diese braucht die Wirtschaftsvertreter nicht zu bekümmern. 

Warum aber ist die Politik nicht in der Lage, der Wirtschaft die Rahmenbedingungen vorzuschreiben, die notwendig sind, damit die Umweltkatastrophe abgewendet werden kann? Offenbar steht sie, wie die meisten Menschen, genauso unter dem Druck, den die Überlebensangst, die Triebfeder des Kapitalismus, ausübt. Kollektive Traumen führen zu kollektiven Dissoziationen, und Dissoziationen führen zu Trancezuständen. Sobald von Gefahren für die Wirtschaft die Rede ist, geraten die meisten Politiker in einen Trancezustand, in dem sie alles andere vergessen, wofür sie sonst noch verantwortlich sind. 

Ein Aufwachen aus diesem entrückten Zustand gibt es für die meisten offensichtlich nur, wenn Erfahrungen auftreten, die so mächtig sind, dass sie nicht mehr ignoriert werden können. Verschwindende Gletscher oder abnorm heiße Sommer sind unangenehme Erfahrungen, aber wir können mit ihnen leben. Ein Sturm, der das eigene Haus niederreißt oder eine Flut, die alles wegschwemmt, was einem gehört, kann nicht mehr so leicht ignoriert werden. 

Die Gefahr besteht, dass wir uns langsam, so wie sich die Klimabedingungen und alle von ihnen abhängigen Phänomene verändern, an die veränderten Umstände anpassen und deshalb alles hinauszögern, was an neuen Gesetzen und an neuen Verhaltensgewohnheiten notwendig wäre. Wir verhalten uns wie die Frösche in dem Wasserglas, das langsam erhitzt wird, und wir merken die Misere erst, in der wir stecken, wenn wir schon verbrüht sind. (Die Geschichte mit den Fröschen ist übrigens ein Fake, Frösche sind nicht so blöd, sie springen aus dem Wasser, sobald es ihnen zu heiß wird.)

Wir haben die Wahl: Die Traumatrance, angetrieben vor der kapitalistischen Überlebensangst, oder das Aufwachen, angetrieben vom Überlebenswillen und von der Verantwortung für die Menschheit und den Planeten.

Zum Weiterlesen:
Kollektive Traumen und ihre Folgen
Kollektive Traumen hinter dem Angriff auf die Ukraine
Die kollektiven Traumatisierungen durch den Kapitalismus
Unverschämtheit, ein Merkmal des Kapitalismus
Kapitalismus und Sozialismus: Angstorientierung und Schamorientierung


Samstag, 12. November 2022

Kollektive Traumen und ihre missglückte Bewältigung

Kollektive Traumatisierungen führen zu kollektiven Reaktionsbildungen. Es handelt sich dabei um Versuche des Unbewussten, den Schaden, der durch die Traumatisierung entstanden ist, durch die Umkehr ins Gegenteil wettzumachen. Der aus der Psychologie und Psychoanalyse geläufige Abwehrmechanismus tritt nicht nur bei Individuen auf, sondern zeigt sich auch in kollektiven Bewegungen. 

Reaktionsbildung im Patriarchalismus 

Hier ein Beispiel zur kollektiven Traumatisierung durch den Patriarchalismus. Eine Frau aus Skandinavien berichtet, dass in ihren Ländern schon früh die Gleichberechtigung der Geschlechter ausgerufen wurde und zu entsprechenden gesetzlichen Veränderungen geführt hat. Doch die Reaktion der Frauen war es nicht, sich mehr ihrer Weiblichkeit bewusst zu werden, sondern mit den Männern in deren bisherigen Dämonen in Konkurrenz zu treten und dort „ihren Mann“ zu stehen. Sie begannen, sich männlicher zu kleiden, bevorzugten den Kurzhaarschnitt und kamen in vielen beruflichen Bereichen weiter, die früher Männern vorbehalten waren. Erst langsam wurde der Frau bewusst, wie sehr sie sich in diesem Trend, der sich so selbstverständlich etabliert hatte, immer mehr dem männlichen Rollenbild annäherte, so als wäre es das Ideal, dem es nachzueifern gelte. Im Prozess der langjährigen Selbsterforschung entdeckte sie mehr und mehr ihre eigene Weiblichkeit und konnte sie zunehmend in ihr Selbstbild übernehmen und in ihrem Leben verwirklichen.

Die Erzählung zeigt also, dass ein unmittelbarer Ausweg aus einer traumatisierenden Situation darin besteht, sich mit den Tätern zu identifizieren und sie nachzuahmen, mit der unbewussten Annahme, dass dadurch ein Schutz vor neuerlicher Traumatisierung gewährleistet sei. Das Motto lautet: Bin ich so stark oder mächtig wie die, die mich unterdrücken, kann mich nie jemand mehr unterdrücken. Ich bin sicher, wenn ich mich so verhalte wie die Täter, die mich in die Opferrolle gebracht haben. Die Identifikation mit dem Aggressor oder dem Unterdrücker bietet einen Ausweg aus der Opferrolle. Die Kraft, die daraus gewonnen wird, ist nicht die eigene, vielmehr ist sie geborgt von der Täterperson, bzw. von der Fantasie über diese Person. Geht es um kollektive Traumatisierungen, so sind es Tätergruppen oder –schichten, mit denen die Identifikation gesucht wird. Die scheinbare Umkehr ins Gegenteil entpuppt sich als Vermehrung des Gleichen. Der scheinbare Ausweg aus der Traumafalle wird zu ihrer Bestätigung.

Die 68er-Bewegung und die Gewalt

Ein weiteres Beispiel für diesen Zusammenhang liefert die sogenannte 68er-Bewegung, die auch als Studentenrevolte bezeichnet wird. Wir können sie als Reaktion auf die unbewältigte Nazi- und Kriegszeit verstehen. Die massive Traumabelastung der Generation der Mittäter und Mitläufer drängte in einer Generation an die Oberfläche, die in Sicherheit und Wohlstand aufgewachsen war. Sie konnte es sich erlauben, das Verdrängte zu einem Teil hochkommen zu lassen. Es wurde die vorige Generation für ihre Fehler und ihr moralisches Versagen angeklagt und ihren Mängeln eine Utopie entgegengestellt, in der Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit verschwunden sein sollten. 

Das bestehende Herrschaftssystem wurde in wesentlichen Elementen als das Weiterbestehen von nationalsozialistischen oder faschistischen Herrschaftsformen betrachtet, ausgerüstet mit einem hohen Maß an struktureller Gewalt. Daraus wurde von manchen Vertretern der Studentenbewegung die Schlussfolgerung gezogen, dass ein Gewaltapparat nur mit Gewalt beseitigt werden könnte. In der Folge kam es zu linksradikalen Terroranschlägen und Attentaten. 

Die harmlosere Version dieser Reaktion aus dem verdrängten kollektiven Trauma äußerte sich in der theoretischen Beschäftigung mit dem Marxismus, der als Universalschlüssel zum Sturz des kapitalistischen Systems betrachtet wurde. Dieser Ansatz enthält neben vielen Einsichten in die Funktionsweise des Kapitalismus auch Gewaltelemente, mit der Auffassung, dass der Weg vom Kapitalismus zum Kommunismus nur über eine gewaltsame Revolution möglich wäre.

Die unbearbeiteten Gewalterfahrungen der Elterngeneration, sowohl als Täter wie als Opfer, werden auf die nächste Generation übertragen und von ihr übernommen. Sie macht sich zwar die ursprünglichen Gewaltzusammenhänge bewusst, aber nicht die eigene Reaktion darauf und deren Implikationen. So verwundert es nicht, dass andere Formen von Gewalt gerechtfertigt werden. Beides wird aus Ohnmachtserfahrungen der Opferrolle gespeist: Die Ohnmacht der Eltern gegen ein unterdrückerisches Herrschaftssystem und die Ohnmacht gegen ein strukturell gewaltsames Wirtschaftssystem. Scheinbar erlaubt die Opferrolle, sich in die Täterrolle zu begeben oder erzwingt diesen Schritt geradezu, mit dem Anspruch auf eine kollektive Befreiung. Der Täter fühlt sich einer gerechten Sache verpflichtet und ist stolz, nicht, wie die Eltern, für faschistische Werte, sondern für das Wohl der ganzen Menschheit zu kämpfen. 

Gewalt wird weitergegeben, solange die Traumen nicht aufgelöst sind.

So lange die Ängste, Schmerzen und Schamgefühle aus der Traumaerfahrung individuell und kollektiv nicht aufgearbeitet sind, entstehen nur neuerliche Auflagen der früheren Gewalterfahrungen. Es ändern sich die Vorzeichen, aber nicht die Prozesse und Abläufe.  

Die Sackgasse linksradikaler Gewalt ist mittlerweile verstanden worden, die Hoffnungen auf eine Revolution im marxistischen Sinn sind insbesondere nach dem Zusammenbruch des “real existierenden Sozialismus” in Osteuropa geschwunden. 

Verharmlosung der Traumalast

Einfacher sind die Zusammenhänge bei der gewaltbereiten rechtsradikalen Szene, die immer wieder Zulauf erhält und in vielen Ländern aktiv ist. Auch hier kommt es zur Identifikation mit dem Aggressor, der als Vorbild genommen wird. Die Problemlösung mittels Gewalt wird von aktuellen oder früheren Regimen bruchlos übernommen. Auch hier wird der Wechsel in die Täterrolle aus der Erfahrung der Opferrolle in einer ungerechten oder unmenschlichen Gesellschaft gerechtfertigt. Die kollektive Traumabelastung wird nicht reflektiert, sondern verharmlost oder verherrlicht. Auf diese Weise wird ein Selbstverständnis aufgebaut, das der Gewalt einen notwendigen Platz einräumt und die zurechtgebogene Vergangenheit als Rechtfertigung nutzt. Es wird nichts ins Gegenteil verkehrt, sondern das Handeln erfolgt aus der scheinbaren Vollstreckung des generationalen Erbes. Die Traumalast kann deshalb so ungehindert weitergegeben werden, weil sie in voller Verdrängung verschlossen bleibt und von dort aus ungehindert wirken kann.

Individuelle und kollektive Traumalösung

Wie diese Beispiele zeigen, kann die Kette der Weitergabe von Traumatisierungen von Generation zu Generation nicht durchbrochen werden, wenn die Triebkräfte und Dynamiken nur zum Teil bewusst gemacht werden, ohne dass die Wirkungen auf die eigene Person erkannt werden. Die fragmentarische Anerkennung eines kollektiven Traumas führt zu seiner Wiederholung, ähnlich wie bei seiner völligen Leugnung oder Verdrängung, mit dem Unterschied, dass es leichter geht, von einer fragmentarischen zu einer umfassenden Anerkennung zu gelangen als von seiner konsequenten Verleugnung.

Die Lösung aus den Fesseln von kollektiven Traumatisierungen und die Überwindung von den reaktiven Erlebens- und Verhaltensweisen, die davon ausgehen, gelingt auf der individuellen Ebene nur durch das Aufarbeiten aller Angst-, Schmerz- und Schamgefühle, die mit den Traumen abgespeichert sind. Auf der kollektiven Ebene ist die sorgfältige und ideologiefreie Aufarbeitung und Rekonstruktion der historischen Vorgänge wichtig. Sie bildet die Basis dafür, dass das Anerkennen dessen, was an Schlimmem und Grausamem passiert ist, in der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wird. Auf diese Weise kommt immer mehr Licht in die Zusammenhänge und wirkt auch auf die allgemeine Wahrnehmung und auf die schulischen Bildungsprozesse. Ideologien werden durch reflektiertes Wissen und abwehrbefreites Schauen auf das Schreckliche und Traurige der Vergangenheit ersetzt. Auf diese Weise löst sich der Bann historischer Traumatisierungen, die bisher im Kollektiv verdrängt waren.

Zum Weiterlesen:
Kollektive Traumen und ihre Folgen
Kollektive Traumen hinter dem Angriff auf die Ukraine
Die kollektiven Traumatisierungen durch den Kapitalismus
Rechtsextremismus und die Täter-Opfer-Umkehr

Sonntag, 6. November 2022

Die Meinungsfreiheit und ihre Grenzen

Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, das zu den Haupterrungenschaften der bürgerlichen Revolutionen zählt und ein wichtiger Bestandteil moderner Demokratien darstellt. Alle wissen es zu schätzen, die in einer Diktatur leben, in der die freie Meinungsäußerung unterdrückt ist und in der man mit Bestrafung rechnen muss, wenn die eigene Meinung nicht den Vorstellungen des Regimes entspricht. 

Wie alle anderen Rechte auch, hat das Recht auf Meinungsfreiheit auch Grenzen, die mit der Integrität der Menschen zu tun hat. Das Äußern der eigenen Meinung kann nicht nur Diktatoren erzürnen, die um ihre Macht zu bangen beginnen, wenn jemand etwas Kritisches oder auch etwas Witziges über sie sagt. Es kann auch jeden Mitmenschen ärgern, verletzen und beleidigen, wenn Meinungen vertreten werden, die die eigene Person herabwürdigen. Denn wir können unsere Meinungen auch als Waffen verwenden, die anderen Personen Leid zufügen. Wir können beispielsweise unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit unseren Wut- und Hassgefühlen Ausdruck verleihen, ohne Rücksicht auf die Betroffenen. 

Worte, ob gesprochen oder geschrieben, haben unter Menschen eine starke Macht. Sie können manipulieren, beleidigen, verletzen und im Extremfall in den Wahnsinn treiben. Deshalb ist eine sorgfältig abgewogene und achtsame Wortwahl eine wichtige Voraussetzung, um an den kommunikativen Abläufen der Zivilgesellschaft konstruktiv teilnehmen zu können.

Bei den Grenzen der Meinungsfreiheit geht es um das liberale Prinzip, dass jedes Freiheitsrecht dort endet, wo das Freiheitsrecht von anderen Personen beginnt. Die Meinungsfreiheit wird missbraucht, sobald die Grenzen anderer Menschen, ihre Integrität und Würde verletzt werden. 

Der Gebrauch der Meinungsfreiheit setzt also zivile Umgangsformen und den grundlegenden Respekt für andere Menschen voraus. Wer dazu nicht in der Lage ist, kann dieses Recht für sich nicht beanspruchen. Meinungsfreiheit gedeiht nur in einem Rahmen der wechselseitigen Achtung und den Grundformen der Höflichkeit, über die sich diese Achtung ausdrückt. 

Verrohung durch soziale Medien

Die sozialen Medien, deren Macht im vorigen Artikel erörtert wurde, haben durch die in ihnen angelegten Möglichkeiten der Anonymisierung in vielen Bereichen zu einer Verrohung der Umgangsformen geführt. Es ist relativ einfach, mit einem anonymen Account die eigenen Hassgefühle beliebig an alle zu verteilen, die einem nicht passen oder die andere Meinungen vertreten. Diese Medien bieten ein einfaches Ventil für das Ablassen aller aufgestauten Gefühle. Die Schamschranke, die im direkten Umgang immer mäßigend wirkt, wird durch die Anonymität, die das Medium bietet, abgeschwächt. Zudem ist es ist relativ schwierig und unwahrscheinlich, für Ehrenbeleidigungen und Rufschädigungen zur Verantwortung gezogen zu werden. Viele Menschen gewinnen aus dieser Rolle des anonymen Angreifers eine Befriedigung durch das Ausleben von Rache- und Machtgefühlen.

Psychologisch betrachtet, stammen solche Hass- und Aggressionsgefühle aus frühen Quellen der Lebensgeschichte. Diese Gefühle können nur in einem therapeutischen Rahmen befriedet werden. Werden sie in sozialen Medien ausagiert, richten sie dort beträchtlichen Schaden nicht nur an den betroffenen Menschen an, sondern schwächen den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt. Außerdem regen andere zum Nachahmen ein, ohne dass Konsequenzen befürchtet werden müssen. 

Demokratiefeindliche Meinungen

Eine weitere Grenze der Meinungsfreiheit muss dort beachtet werden, wo sie dazu benutzt wird, um der Einschränkung oder Abschaffung der Meinungsfreiheit das Wort zu reden. Rechtsgerichtete und rechtsextreme Gruppierungen nutzen die Medien gezielt, um Ängste und Verunsicherungen zu verbreiten und dabei politische Modelle propagieren, die anderslautende Meinungen unterdrücken sollen. In einer Demokratie dürfen alle Meinungen geäußert werden, aber Meinungen, die die Meinungsfreiheit und den demokratischen Grundkonsens untergraben, muss mit der Kraft von Gegenargumenten begegnet  werden. Die Demokratie kann sich nicht mit einer überdehnten Toleranz den Boden unter den Füßen wegziehen lassen.

Dem Plädoyer für die Vergesellschaftung der medialen Schlüsselindustrien wird hier ein Plädoyer für die Erhaltung und Absicherung der Meinungsfreiheit angefügt. Die Meinungsfreiheit kann es jedoch nicht in einem unbegrenzten und absoluten Maß geben, wie das manche einfordern, sondern muss gesamtgesellschaftlichen Anforderungen untergeordnet sein. Medien, die Hassbotschaften nicht zensieren, fördern sie, indem sie Freiräume öffnen, in denen sich jeder austoben kann, ohne Rücksicht auf andere, und damit die Verrohung und Entsolidarisierung vorantreiben. Sie fördern also die Tendenzen zur Atomisierung und zur Auflösung von sozialen Bindungen, wie sie die kapitalistische Wirtschaftsweise von sich aus produziert.  

Entsolidarisierung

Deshalb überantwortet eine Meinungsfreiheit, der keine Schranken auferlegt werden, die soziale Welt dem kapitalistischen Gewinnstreben und Konkurrenzdenken, also der Asozialität, der Gesellschaftsfeindlichkeit und damit der Menschenfeindlichkeit. Das können Einzelne wollen, die sich davon ökonomische oder psychologische Vorteile für sich selbst erhoffen, und dem Vernehmen nach ist das die Richtung, die der neue Eigentümer des Nachrichtendienstes Twitter durchsetzen möchte. Solche Bestrebungen muss aber die Gesellschaft als ganze ablehnen und mit allen Mitteln, die in ihrer Macht liegen, abwenden. Der Kapitalismus sägt an den Wurzeln der Gesellschaft, die er von den nährenden Säften des Bodens, sprich der Lebendigkeit, abschneiden will. Wird er nicht in seine Schranken gewiesen, werden tendenziell die Menschen untereinander zu Feinden. Deshalb ist es die beständige Aufgabe der Zivilgesellschaft, die Auswüchse und das Überhandnehmen dieser Form der Wirtschaftsorganisation einzudämmen und ihm entgegenzuwirken. Sie kann und muss genügend Druck auf den Staat ausüben, damit er seine Macht für die Erhaltung und Stärkung des sozialen Zusammenhalts einsetzt. Wird die Meinungsfreiheit nach kapitalistischen Sichtweisen in den sozialen Medien zugelassen, dient sie blind dieser Entgesellschaftung und Entsolidarisierung. 

Staatliche Organe schützen die Rechte Einzelner gegen den Missbrauch der Meinungsfreiheit. Das ist gut und notwendig, und die entsprechenden Regeln müssen laufend verbessert werden, weil sich die Medien und deren Nutzer schnell ändern. Schwieriger ist es, die schädlichen Wirkungen von sozialen  Medien auf die Atmosphäre und das Klima in der Gesellschaft einzudämmen. Hassbotschaften und Fakenews lösen in der Gesellschaft Verunsicherung und Entsolidarisierung aus und wirken deshalb erodierend auf den sozialen Zusammenhalt. Die Ängste, die oft mutwillig und nicht selten geplant und gezielt gestreut werden, werfen die Menschen auf sich selber zurück, mobilisieren Überlebensstrategien und destabilisieren die Gesellschaft. Es sind starke und vielfältige Gegengewichte notwendig, damit die Meldungen aus solchen Ecken nicht zu dominanten Trends im Diskurs und in der politischen Debatte werden. In diesem Bereich kann und soll der Staat die Aufgabe übernehmen, Medien zu fördern, die sorgfältig recherchieren und extremen Meinungen entgegentreten, und Medien zu kontrollieren, die tendenziell den politischen Diskurs, die Sozialstruktur und die Innenwelt der Menschen zerstören.

Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, das nicht aufs Spiel gesetzt werden darf. Sie ist aber nur insoweit ein hohes Gut, als sie achtungsvoll verwendet wird, unter der Respektierung ethischer Grundsätze. Sie ist eine wichtige Grundlage für unser Zusammenleben in einem demokratischen Staatswesen und als aufgeklärte Zivilgesellschaft, deshalb müssen wir sie und uns vor jeder Form von Missbrauch schützen.

Zum Weiterlesen:
Plädoyer für die Vergesellschaftung der medialen Schlüsselindustrien
Toleranz und ihre zweifache Grenze
Toleranz ist ein relativer Wert


Donnerstag, 3. November 2022

Ein Plädoyer für die Vergesellschaftung der medialen Schlüsselindustrien

Suchterzeugende Medien

Dass die Nutzung von sozialen Medien zur Sucht ausarten kann, wird uns immer bewusster. Es geht hier um fremdgesteuerte Dopaminzyklen, mit denen die User bei Stange gehalten, sprich zur permanenten Dauernutzung der Medien konditioniert werden. Die Programme sollen uns mit an- und aufregenden Kicks versorgen, die die Langeweile vertreiben und die Stimmung heben. So scrollen wir gespannt von Bild zu Bild, von App zu App, stets auf der Suche nach etwas besonders Aufregendem, ohne jemals bei der ersehnten Befriedigung anzukommen.

Die Süchte, die auf diese Weise entstehen, sind keineswegs harmlos, sondern können zu drastischen Auswirkungen auf die betroffenen Personen führen. Die Zahl der Kinder, die am Aufmerksamkeitsdefizit leiden, steigt seit 2005, also seit der Einführung der Smartphones massiv an. Dazu kommt die Anforderung, gleichzeitig mehrere unterschiedliche Informationskanäle zu kontrollieren, die jedem Gehirn enorm viel Energie abverlangt, ohne dass es entsprechende Erholungszeiten gibt, weil die spannungsgeladenen Suchtvorgänge in den Schlaf hineinwirken oder zu verkürzten Schlafzeiten führen. Gleichzeitig gibt es da immer noch die äußere Realität, auf die geachtet werden muss (z.B. müssen wir einem entgegenkommenden Fußgänger Platz machen, während der Blick durch das Smartphone gebannt ist). Die Folgen sind höhere Fehleranfälligkeit, Gedächtnisschwächen und verringerte Kreativität. Das Gehirn befindet sich gewissermaßen in einem Dauerstress und wird süchtig danach. Jede Beschäftigung der Aufmerksamkeit wird vom nächsten Reiz unterbrochen, sodass keine Gefühle für Kontinuität zustande kommen können.

„Wir sind keine Kunden von Apps wie TikTok, Facebook, Twitter, unsere Aufmerksamkeit ist das Produkt, das die Unternehmen an die echten Kunden, die Werbetreibenden, verkaufen.“ (Johann Hari, Medienforscher und Autor des Buches „Stolen Focus“ im Falter 42/22, S. 26) Je mehr Menschen süchtig gemacht werden können, desto mehr Geld wird in die Kassen der Medienbetreiber gespült.

Es ist eine Tatsache, dass Menschen länger auf Dinge schauen, die sie aufregen, als auf jene, die sie glücklich machen (negativity bias). Daraus folgt, dass die Medien jene Leute belohnen, die schockierende, angstmachende und beschämende Inhalte verbreiten: Solche Nachrichten werden öfter geteilt und länger konsumiert. Damit haben die menschenfeindlichen oder menschenverachtenden Triebkräfte der Leute einen mächtigen Verstärker auf ihrer Seite. Solche Meinungen und Sichtweisen werden tendenziell höher belohnt als menschenfreundliche.

Suchtbekämpfung als öffentlicher Auftrag

Die Suchtprävention ist nicht nur eine private Herausforderung, sondern auch Teil der staatlichen Aufgabe, die darin besteht, Menschen vor Gefahren zu schützen, vor denen sie sich selber nicht oder nur mangelhaft schützen können. Es handelt sich in diesem Fall um Gefahren, die nicht direkt wahrnehmbar sind, sondern sich im Anschein eines harmlosen Zeitvertreibs verstecken. Sie wirken aber auf Körper und Psyche mit weitreichenden schädigenden Folgen. Ebenso wenig wie Staaten nicht zulassen können, dass ihre Bevölkerung dem Opium oder anderen suchterzeugenden Drogen verfällt, müssten sie auch verhindern, dass raffiniert manipulative Medienmaschinen die Gehirne der Menschen in Besitz nehmen und sie zu emotionalen und sozialen Krüppeln machen.

Die sozialen Medien befinden sich im Privatbesitz und stellen eigene, in sich weitgehend autonome Wirtschaftsbetriebe dar, die gewinnorientiert arbeiten. Das Suchtmodell ist der beste Garant für steigende Werbeeinnahmen und Unternehmensgewinne. Es wird deshalb immer weiter ausgebaut und verfeinert. Vonseiten der Betreiber ist es logisch, möglichst viele Menschen süchtig zu machen, denn je stärker die Sucht verbreitet ist, desto stärker sprudeln die Gewinne. Indem die Leute vermehrt das Medium konsumieren und mit eigenen Inhalten füttern, agieren sie als nützliche Idioten, die sich freiwillig vor den Karren der Medienbetreiber spannen lassen. Es ist die Logik des Kapitalismus, der sie unterliegen und durch die sie sich ausbeuten und abhängig machen lassen, ohne es zu merken. 

Für diese Logik wird riskiert, auf einer riesigen und fortlaufend wachsenden Basis Menschen zu infantilisieren und in Konsumidioten zu verwandeln, die hilflos ihrer Sucht ausgeliefert sind. Die Folgen für die mentale und emotionale Gesundheit der Menschen haben die Medien und ihre Eigentümer nicht zu tragen, für sie ist natürlich die Allgemeinheit zuständig. Die Privaten streichen die Gewinne ein, die öffentliche Hand kommt für die Schäden auf, das ist ein beliebtes Modell, das im Rahmen eines ungeregelten Kapitalismus gut gedeiht.

Immer wenn massiv wirksame Suchtformen in der Geschichte aufgetreten sind, haben sich Regierungen eingeschaltet, um die Schäden einzudämmen. In der gegenwärtigen Situation ist es dringlich erforderlich, dass die Medien mit ihren massiven Zugriffsmöglichkeiten auf das Bewusstsein der Individuen unter staatliche Kontrolle gestellt werden. Da die Medien zugleich auch eine wichtige Rolle in der Informationsbereitstellung und Kommunikation leisten, hätte ein Verbot oder die Abschaffung keinen Sinn. Vielmehr sollten sie dem kapitalistischen Gewinnzwang entzogen und dem Gemeinwohl untergeordnet werden.

Die Untätigkeit der staatlichen Organe in diesem Bereich hinzunehmen, ist so, als würde man argumentieren, dass der Opium- oder Heroingebrauch einerseits der individuellen Verantwortung unterliegt und andererseits ein privatwirtschaftliches Geschäftsgebaren ist, in das sich der Staat nicht einmischen soll. Jeder soll nach seiner Fasson süchtig werden, und jeder Drogenproduzent oder -dealer soll seinem Geschäft im Rahmen der freien Marktwirtschaft ungehindert nachgehen können. Die meisten Staaten messen zwar in diesem Bereich mit unterschiedlichen Maßstäben, weil z.B. der Drogenvertrieb unter Strafe gestellt ist, der Alkoholvertrieb aber nicht. Aber diese Inkonsequenz enthebt sie nicht der Pflicht, dort regulierend einzugreifen, wo systematisch und raffiniert die Schwächen der Individuen, und hier vor allem der Kinder und Jugendlichen ausgenutzt werden, um sich an ihnen zu bereichern und die verursachten Schäden durch andere ausbaden lassen. Denn auch vor Alkoholkonsum werden Minderjährige staatlicherseits geschützt.

Anfälligkeiten für die Mediensucht

Erwähnt sei auch, dass es innerpsychische Faktoren gibt, die die „meta“-modernen Süchte beeinflussen. Sie liefern Scheinbefriedigungen für emotionale Mängel und Scheintröstungen für erlittene Verletzungen. Sie fördern narzisstische Persönlichkeitszüge, vor allem, wenn die Grundlagen durch unsichere Bindungsmuster schon in früher Kindheit gelegt wurden. Sie dienen paranoiden Angstmustern, wenn es frühe Wurzeln für solche Neigungen gibt. Stabile und flexible Persönlichkeiten fallen weniger leicht auf die Verlockungen der medialen Konsumwelt herein und tun sich auch leichter darin, ihren Mediengebrauch einzuschränken. Diese Schiene zur Reduktion des Suchtverhaltens ist in gewisser Weise wichtiger als staatliche Regelwerke, weil sie das Problem an der Wurzel packt. Aber die dafür notwendige Arbeit ist langwierig und herausforderungsreich und erfordert viel Eigeneinsatz der Betroffenen. Sie kann nur dort beginnen, wo der Leidensdruck entsprechend hoch ist, dass der Aufwand auf sich genommen wird. Bis eine genügend große Zahl an Menschen durch solche Bewusstwerdungsprozesse durchgegangen ist, vergeht viel zu viel Zeit, in der laufend weitere Personen und Personengruppen in die Sucht fallen, in immer jüngerem Alter und in immer mehr Gesellschaftsschichten. 

Medienbildung

Es ist sicher mehr und mehr Medienbildung notwendig, um zumindest die ärgsten Auswüchse der Mediensucht hintan zu halten und deren Folgen bewusst zu machen. Eine kritische Haltung den virtuellen Inhalten gegenüber kann nicht über die Medien erlernt werden, sie erfordert Anregungen und Auseinandersetzungen auf der persönlichen Ebene und sie gedeiht im Teamwork und in Kleingruppen. Die Entwicklung der Medien hat ein hohes Tempo; die entsprechenden Bildungsprozesse hinken immer hinterher, aber wenn es gelingt, bei Jugendlichen und Erwachsenen Basiskompetenzen in der Mediennutzung aufzubauen, ist ein wichtiger Schritt gegen die Sucht gelungen. 

Gesellschaftliche Kontrolle

Zusätzlich ist ein Hebel notwendig, der noch tiefer ansetzt, um ein Gegengewicht gegen die Machtkonzentration, die die großen Informationskonzerne bei sich monopolisieren, zu etablieren. Es kann nicht angehen, dass eine superreiche Person ein Medium aufkauft und ihm die Linie verpasst, die ihm selbst gefällt – man stelle sich nur kurz vor, die Person wäre nicht Elon Musk, sondern Donald Trump oder ein ähnliches Kaliber. Medien, die Millionen und Milliarden von Menschen erreichen, die von dort ihre Informationen beziehen und sich ihre Meinungen bilden, die dann auf die Gesellschaft zurückwirken, können nicht der subjektiven Willkür und den politischen Ideen einzelner Menschen überantwortet werden, seien sie noch so gewiefte Geschäftsleute.

Zu diesem Zweck halte ich hier ein Plädoyer für die Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der medialen Schlüsselindustrien, nicht in der Weise, dass staatliche Organe die operationalen Geschäfte übernehmen, sondern in der Weise, dass die Gesellschaft mit Hilfe der Macht des Staates die Richtlinien und Werte vorgibt, nach denen die Algorithmen gestaltet und die Informationskanäle gesteuert werden. So sollten z.B. nicht nur pornografische oder radikalisierende Inhalte herausgefiltert werden, sondern auch alle, die Hass schüren, und solche, die die Demokratie gefährden. In jedem Fall sollten alle Abläufe, die Sucht erzeugen, abgestellt und Mediennutzer zum Medienfasten angeregt werden. Außerdem könnten die Medien danach ausgerichtet werden, bei den Konsumenten Bildungsprozesse auszulösen und ihre Kreativität anzuregen.

Lebensverbessernde statt ausbeutende Medien

Es braucht eine Massenbewegung, die sich auf die Fahnen schreibt, dass wir Technologien wollen, die unser Leben verbessern und nicht solche, die uns ausbeuten und versklaven. Wir wollen Medien, die allen gehören und deren Grundfunktionen dem Gemeinwohl dienen, das in manipulationsfreien Diskursen festgelegt wird. Wir brauchen virtuelle Räume, in denen sich Menschen austauschen können, ohne dass sie dabei von Geschäftsinteressen gegängelt und durch Daten- und Identitätsklau missbraucht werden. Wir wollen Medien, die die gesunde Gehirnentwicklung der Kinder fördern und ihre Entwicklung zu kreativen, selbstbewussten und kritischen Menschen unterstützen. 

Die Medienkonzerne sind Unternehmen, die nach den Regeln des Kapitalismus funktionieren. Wenn klar wird, wo wir als Gesellschaft hinwollen, was die Werte sind, nach denen wir uns orientieren, und wenn wir uns klarmachen, dass wir die Macht darüber haben, was in unserer Gesellschaft passiert, dann ist der Schritt naheliegend, die Konzerne zu kontrollieren, statt dass wir uns von ihnen kontrollieren lassen. Die Konzerne werden sich anpassen und ihre Geschäftsmodelle neu justieren. Sie haben von sich aus kein Interesse, dass die Menschen dümmer und desorientierter werden; wir können aber auch nicht von ihnen erwarten, dass sie von sich aus dem Fortschritt der Menschheit zu mehr Menschlichkeit dienen, solange sie gewinnorientiert arbeiten. Das ist unser Job als Zivilgesellschaft, und wo wir dafür die staatliche Macht brauchen, sollten wir sie auch einfordern.

Mit dem Hauptargument gegen die staatliche oder gesellschaftliche Kontrolle von sozialen Medien, der Gefahr der Einschränkung der Meinungsfreiheit, werde ich mich am nächsten Artikel beschäftigen.

Zum Weiterlesen:

Freitag, 28. Oktober 2022

Krisen und Krisenresilienz

Im vorigen Artikel war die Rede von Störungen im Alltag. Es gibt Störungen, die von Dauer sind, ohne dass wir uns an sie gewöhnen können, und die wir als sehr heftig erleben. Wir nennen sie dann Krisen. Es sind Anhäufungen von Störungen, die unsere Verarbeitungskapazitäten überschreiten. Persönliche Krisen entstehen durch Krankheiten oder psychische Überlastungen wie z.B. beim Burnout. Gesellschaftliche Krisen entstehen, wenn eine Gesellschaft mit den Herausforderungen nicht mehr zu Recht kommt, die an sie gestellt werden und viele Individuen darunter leiden.

Krisen sind also massive Enttäuschungen von Erwartungen. Sie erschüttern eingeübte Lebensgewohnheiten und unterbrechen ritualisierte Abläufe, was verunsichert und als sehr belastend erlebt wird und Stress erzeugt. Zukunftsbilder und Pläne müssen über den Haufen geworfen werden, und sie zerplatzen wie Seifenblasen. Die Menschen fühlen sich ausgeliefert und ohnmächtig, ohne Chance, den Lauf der Dinge zu beeinflussen.

Die Pandemie als Krise

In der Pandemiezeit sind viele in Krisen gestürzt – Ängste um die eigene Gesundheit und die von Angehörigen, Ängste um den Beruf und die Ausbildung, Verlustängste wegen abgeschotteter und unterbrochener Beziehungen. Dazu kamen und kommen die von Verschwörungstheorien, Halbwahrheiten und verzerrten Forschungsergebnissen erzeugten und geschürten Ängste, die das Krisenbewusstsein zusätzlich aufgeladen haben. Viele Menschen mussten viele ihrer Gewohnheiten aufgeben und auf viele Selbstverständlichkeiten des täglichen Lebens verzichten. Diese massiven Enttäuschungen und Verunsicherungen haben Depressionen ausgelöst und zu anderen psychischen Symptomen geführt. Denn wir greifen in Krisen auf unsere Überlebensprogramme zurück. Da sie uns schon irgendeinmal geholfen haben, sollen sie uns auch jetzt mehr Sicherheit verschaffen. Sie engen allerdings unsere Flexibilität und unsere Kreativität ein und schneiden uns von unserem lösungsorientierten Potenzial ab, sodass wir erst recht nicht mit den Herausforderungen der Krise zurande kommen. 

Traumaketten

Alle Krisen docken zusätzlich an das kollektive Krisengedächtnis an, sodass die aktuellen Ängste durch vergangene Ängste verstärkt werden. Die subjektive Krisenresilienz, also die individuelle Fähigkeit, mit Krisen konstruktiv umgehen zu können, hängt sehr von der eigenen persönlichen Vorgeschichte ab. Je mehr Traumatisierungen in der eigenen Geschichte vorgekommen sind, desto verletzbarer und infizierbarer ist das Bewusstsein für aktuelle Krisenbelastungen. Außerdem dringen Verschwörungsgeschichten und vereinfachende Erklärungstheorien leichter in den Innenraum ein und vermindern die Fähigkeit zur adäquaten Wirklichkeitswahrnehmung. Die Personalisierung von komplexen Zusammenhängen, die Fixierung auf Retter und Bösewichte und einfache Schwarz-Weiß-Schemata vermitteln zwar eine gewisse kognitive Orientierung, die einigermaßen Sicherheit gibt, aber sie hilft in der Praxis nicht weiter, weil sie auf realitätsfremden Annahmen und Schlussfolgerungen beruht.

Große Zerstörungen, große Chancen?

Die Krisenbelastungen in Kriegsgegenden sind natürlich noch viel höher und hinterlassen deshalb enorm tiefere Spuren im kollektiven Gedächtnis der betroffenen Länder und der Menschheit insgesamt. Aber selbst beim düsteren Szenario des Ukrainekrieg gibt es Perspektiven der Hoffnung: Vielleicht wird der furchtbare Ukrainekrieg zum wichtigsten Wendepunkt in der Geschichte des gepeinigten Landes und führt es in eine lichtvollere Zukunft? Vielleicht führt der Krieg in Russland zu neuen Entwicklungen für mehr Demokratie und Meinungsfreiheit?

Der erste Weltkrieg mit seinen Millionen an Todesopfern hat zur Gründung der ersten internationalen Staatenvereinigung und der zweite Weltkrieg mit noch viel mehr Opfern und Zerstörungen zur Gründung der UNO geführt. Die verheerenden Erfahrungen mit den beiden Hauptkatastrophen des vergangenen Jahrhunderts haben bei vielen Menschen eine zuvor noch nie gekannte Friedensbereitschaft wachgerufen und die Ächtung des Krieges zu einem ethischen Standard gemacht. 

Lernchancen

Krisen enthalten große Lernpotenziale, die nach dem Überstehen der Krisenzeit genutzt werden können. Wir werden uns zwar nie mit den angerichteten Zerstörungen und geopferten Menschenleben abfinden können – die tiefen Spuren des vergossenen Blutes sind unauslöschlich in unser kollektives Gedächtnis eingesunken. Wir können aber unsere Energien darauf bündeln, die Chancen, die in einer überwundenen Krise enthalten, zu nutzen, um die Menschheit zu mehr Menschlichkeit weiterzuentwickeln.

Das Lernen durch die Pandemie

Die Pandemie hat nicht nur bei vielen Menschen und in vielen Bereichen die digitalen Fähigkeiten verbessert, sondern auch neue Einstellungen zur Gesundheit, zum Gesundheitswesen und zu den Gesundheitsberufen hervorgebracht. Es hat sich als gesellschaftlicher Konsens herausgebildet, dass der Wert jedes einzelnen Menschenlebens über betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzenrechnungen und über kapitalistische Gewinnerwartungen gestellt werden muss – oder: Die Ethik ist wichtiger und maßgeblicher als die neoliberale Ideologie.

Klima und Krisenbewusstsein

In Bezug auf die Klimakrise sind wir als Gesellschaft viel zu weit vom Krisenbewusstsein und damit von der Lernzone entfernt. Es braucht offenbar noch mehr und noch schlimmere Katastrophen, damit eine kritische Masse für substantielle Veränderungen entsteht. Viele Menschen sind erst dann bereit, ihr Leben zu verändern und gesellschaftliche und politische Änderungen zu fordern, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht – wie den Menschen in Bangladesch und Pakistan, wenn also die Krise an die eigene Haustüre klopft und sie die Bedrohung hautnah erleben müssen.

Zerstörung und Neubeginn

Krisen haben Ähnlichkeiten mit Geburtsprozessen. Das Alte wird zerstört und muss unwiederbringlich hinter sich gelassen werden. Vom Alten zum Neuen muss bedrohliche eine Krisenphase durchlaufen werden, ohne die das neue Leben nicht gewonnen werden kann. Es kann umgekehrt sein, dass wir Krisen nur deshalb als so belastend erleben, weil wir den krisenhaften Geburtsprozess durchlaufen haben und weil sich unser Unterbewusstsein an all die lebensbedrohlichen Situationen dieses dramatischen Ablaufs erinnert. Jede spätere Krise bringt die Ängste aus den früheren Krisen hoch – und aktiviert das Unterbewusste, noch mehr nach möglichen Gefahrenquellen zu fahnden, auch deshalb sind Theorien, die große Katastrophen ankündigen, bei traumatisierten Menschen besonders beliebt. 

Krisen fordern unsere Anpassungs- und Lernbereitschaft heraus und können, wenn sie zu intensiv erlebt werden (verstärkt durch Vorbelastungen), auch zur Lähmung und Resignation führen. Die Chancen, die in jeder Krise liegen und durch die neue Kräfte mobilisiert werden können, können nur genutzt werden, wenn es gelingt, die Macht der Ängste, die uns blockieren, zu überwinden und den Mut des Neuanfangens zu spüren. 

Krisenresilienz

Krisenresilient können wir nur werden, wenn wir einen stabilen Bezug zur äußeren Realität herstellen und aufrechterhalten können. Auf diese Weise gelingt es uns, die Ängste mit der Realität zu konfrontieren und unsere Handlungsmöglichkeiten nach ihrer Tauglichkeit und Umsetzbarkeit zu bewerten. Wir sollten unsere Befürchtungen durch Vertrauen und unsere Verzweiflung durch Hoffnung ersetzen. Wir sollten uns auf unseren Mut besinnen, der uns schon in vielen Situationen unseres Lebens weitergeholfen hat. Krisen sind Wendepunkte, und wenn wir sie in der richtigen Weise nutzen, können wir gestärkt aus jeder Krise hervorgehen.

Zum Weiterlesen:
Störungen zerstören Illusionen
Die Kraft der Zerstörung
Brauchen wir Krisen, um die globalen Probleme zu lösen?
Krisenängste und ihr Jenseits
Die Corona-Krise als Chance