Dienstag, 24. Mai 2016

Religion ein Relikt?

Wie hast du‘s mit der Religion? Die berühmte Frage von Margarete an Heinrich in Goethe’s Faust könnte in nicht allzu ferner Zukunft von vielen Menschen nicht mehr verstanden werden: Faust: Was meinst du eigentlich mit Religion, sprich? Eine über Jahrzehnte gehende Entwicklung zeigt, dass sich immer mehr Menschen als nicht-religiös bezeichnen.

Dies geht aus dem Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung von 2013 hervor. Dazu wurden 14000 Menschen aus 13 Staaten befragt (Deutschland, Frankreich, Schweden, Spanien, Schweiz, Türkei, Israel, Kanada, Brasilien, Indien, Südkorea, UK und USA). Der fallende Trend in Hinblick auf Religiosität ist in fast allen dieser Länder auffällig, insbesondere bei den Jugendlichen. Mit Ausnahme von Israel gilt für alle untersuchten Länder: Junge Menschen bezeichnen  sich immer weniger als religiös.

Für Deutschland z.B. zeigt sich der Trend im Vergleich der Zahlen von 1950, als sich 95,6 % der christlichen Religion zugehörig fühlten, und 2010, wo dieser Wert auf 59,4 % gesunken ist. Stärker von dem Rückgang betroffen sind dabei die Evangelischen im Vergleich zu den Katholiken.

Beispiel Spanien: 85% der über 45-Jährigen bezeichnen sich als mäßig bis sehr religiös, aber nur 58% der unter-29-Jährigen. In vielen europäischen Ländern geben weniger als ein Drittel an, dass sie an Gott glauben.

Interessant sind die Befunde aus den USA, die manchmal auch als überreligiös etikettiert werden. Tatsächlich bezeichnen sich 31 % als „Nicht religiös oder nicht sehr religiös“, das sind immerhin 48 Millionen erwachsene US-Bürger. Über die Generationen zeigt sich ein deutlicher Trend:

Alter/Nichtglaubende:
86 – 100: 5%
68 – 85: 9%
49 – 67: 15%
48 – 33: 21 %
24 – 32: 30%
18 – 23: 34%

Ein Forscher hat den Trend hochgerechnet und ist auf das Jahr 2220 gestoßen, in dem es dann 100% Nichtglaubende in den USA geben müsste. Ob dann die US-Banknoten noch den Hinweis tragen: „In God we trust“ oder ob das dann nur mehr als Zynismus verstanden wird, werden wir sehen, sollten wir diese Tage noch miterleben.

Doch kein Gottesgen


Jedenfalls können diese statistischen Daten als klare Absage an alle verstanden werden, die meinen, dass sie irgendwo ein Gottesgen oder ein Gottesareal im Gehirn gefunden haben. Der Gottesglauben kann in der Biologie nicht gefunden werden, vor allem dann nicht, wenn man mit naturwissenschaftlichen Methoden sucht. In manchen Ländern (Schweden, Ostdeutschland) sind die „Gläubigen“ schon eine Minderheit, und es wäre absurd anzunehmen, dass so viele Menschen gegen ihre eigene genetische Prägung eingestellt sind. Außerdem wäre schwer zu erklären, wie es dazu kommt, dass diese Zahl über die Jahrzehnte kontinuierlich ansteigt.

Deshalb ist es ratsam, die Fragen des religiösen Glaubens ganz aus der Sphäre der naturwissenschaftlichen Vergegenständlichung herauszuholen. Sie betreffen jeden Menschen auf andere Weise und finden ganz unterschiedliche individuelle Antworten. Außerdem unterliegen sie historischen Entwicklungen, die mit dem evolutionären Fortschreiten des kollektiven Bewusstseins zu tun haben. Dieser Trend ist, wie ich versucht habe, in meinem Buch "Vom Mut zu wachsen" zu begründen, unaufhaltsam, wenn auch weder geradlinig noch eindeutig geschichtet. Wir erleben es in unseren Lebenswelten.

Ist dieses Phänomen mit einem Gewinn oder Verlust an Lebensqualität verbunden? Auch hierauf kann es unterschiedliche Antworten geben. Die Vertreter der Religionen müssen naturgemäß die Entwicklung bedauern und weisen vielleicht darauf hin, dass mit dem Religionsbezug ein Verlust an Moral und Sinngebung, möglicherweise auch Gemeinschaftsgefühl und sozialen Verantwortung verbunden ist. Die Vertreter der Säkularisierung dagegen begrüßen den Zugewinn an Freiheit und das Wegfallen von einschränkenden Normen und Dogmen.

Religionsverlust und Bewusstseinsevolution 


Aus der Sicht der Bewusstseinsevolution sind mehrere Schichten an diesem Prozess beteiligt, sodass er alles andere als eindeutig beschaffen ist. Hier folgt eine kurze Übersicht.

Religion und Glaube finden sich in den frühesten Zeiten der Menschen, in verschiedensten Praktiken und Vorstellungen, die bestimmte  Phänomene als übernatürlich deuten, also nicht als Teil der  alltäglichen menschengemachten Abläufe und ihrer äußeren Zusammenhänge.

Mit dem Zuwachs an Erfahrungswissen wurde diese überall gegenwärtige Übernatur, die Magie in die praktische Welt hereingeholt, von jedermann nachvollziehbar und zum Diesseits gemacht. Die Sphäre des Wunderbaren und heilsamen Geheimnisvollen finden die heutigen Menschen in technischen Spielzeugen. Niemand versteht, wie ein Mobiltelefon mit seinen vielfältigen Fähigkeiten funktioniert, wir wundern uns kurz darüber, wenn wir es erstmals in den Händen halten, und wissen dabei aber, dass das alles, weil menschengemacht, diesseitig erklärbar und verstehbar ist.

All die Kontingenzen, also alles, was nicht beherrschbar ist, was mächtiger ist als wir selber, all das, was schicksalshaft ins Leben der Menschen eingreift, verliert die Aura des Magischen. Jedes individuell schmerzliche Krankheitsschicksal hat über die Kenntnis von Viren und Bakterien das Geheimnis verloren. Die Deutungsmacht haben die Wissenschaften übernommen.

Dazu kommt und damit verbunden ist der Rückgang der Autorität und der autoritären Strukturen, die über lange Zeit von den religiösen Institutionen mitgetragen wurde. Die Menschen müssen immer selbstbestimmter werden. Sie müssen immer mehr selber entscheiden, damit keine Abhängigkeit von Autoritäten. Gültige Hierarchien werden immer weniger, damit auch die verpflichtende Vermittlung des Glaubens. Auf sich gestellt, brauchen die Menschen keinen Glauben mehr.

Der Kapitalismus und der Tod Gottes


Dieser massive und durchgreifende Religionsverlust findet schon am Übergang von der dritten, der hierarchisch-autoritären zur materialistischen Bewusstseinsstufe statt. Die Deutungsvormacht der Religionen schwindet überall dort, wo der Kapitalismus die Zügel in die Hand nimmt. Er reduziert alle Vorgänge auf ökonomische und technische Abläufe, die menschengemacht sind, ob wir sie nun verstehen oder nicht.

An den Zahlen der Bertelsmann-Studie erkennt man, dass wir uns mitten in diesem Übergangsfeld befinden. Der Kapitalismus hat unser Innenleben noch immer nicht vollständig eingenommen, doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis die magisch-mythische Erfahrungssphäre gänzlich auf die Bildschirme der Unterhaltungselektronik verbannt ist. Wir schalten diese Welt ein und aus, wie es uns gerade passt. Fühlen wir uns innerlich leer, tauchen wir ein in ein Fantasy-Abenteuer, bis uns auch das wieder reicht und wir genug vom Mysterium haben.

Auch wenn der Materialismus noch lange nicht durchlebt, durchlitten und ausgekostet ist, haben wir schon die weiteren Horizonte der Bewusstseinsentwicklung erschlossen. Während wir sie zunehmend nutzen, findet die Dimension des Religiösen neue Spielräume. Auf der Strecke geblieben, also in die Geschichte zurückverbannt, sind die märchenhaften und magischen Teile der Religionen sowie ihre Verquickung mit Macht – politisch, sozial, ideologisch.

Ein österreichischer Bischof, der öffentlich verkündet, für den Wahlsieg eines rechtspopulistischen Präsidentschaftsbewerbers zu beten, erscheint heutzutage den meisten Menschen als leicht skurril, und selbst sein vorgeordneter Erzbischof hat postwendend erklärt, dass es eine gute Tradition wäre, dass sich Bischöfe bei politischen Prozessen mit Empfehlungen zurückhalten und dass Kandidaten nicht nur nach ihrer Meinung zu religiösen Reizthemen wie Abtreibung bewertet werden sollten.

Und aus der sicheren Distanz können wir uns jeden Tag glücklich fühlen, wenn wir nicht in einer Region der Welt leben, in der diese Entflechtung von Religion und Machtpolitik noch nicht vollzogen ist und diese Verwirrung massive Gewalt und unsägliches Leid verursacht.

Religion jenseits der Angsterzeugung und -verbreitung


Wie schaut nun die Sphäre des Religiösen aus, wenn sie von ihrer Deutungs- und Regulierungsmacht entkleidet ist? Was bedeutet Glaube jenseits der Ängste, die von den Religionen über Jahrhunderte verbreitet wurden?

Auf der personalistischen Evolutionsstufe, die den Materialismus überwindet, wurde begonnen, das Innere der Religion zu erforschen. Zugleich erfolgt die Läuterung der Stellung der Religion in der Gesellschaft im Sinn des bedingungslosen Engagements für Unterdrückte, Benachteiligte, Behinderte, für die entmenschlichten Opfer des Kapitalismus.

Diese Rückbesinnung auf die Kernbotschaften, die in allen Großreligionen zu finden sind und die Förderung des Menschlichen zum Inhalt haben, gibt den Religionen einen neuen Stellenwert, der dann im systemischen Bewusstsein eine besondere Würdigung erfahren kann. Religionen erfüllen eine wichtige Funktion als Wertevermittler des Menschlichen, die aber nur gelingt, wenn alle Gier-, Macht- und Stolzthemen aus den Strukturen und Vermittlungsformen verschwunden sind. Auf dieser Ebene können sich die Religionen der Welt das Leid der Menschen untereinander aufteilen, um tröstend und heilend einzuwirken, ähnlich wie Rotes Kreuz und Roter Halbmond zusammenarbeiten und keine Konkurrenz gegeneinander brauchen.

Extremismus diskreditiert und schwächt die traditionellen Religionen


Überall dort, wo der religiöse Fundamentalismus wütet, geben die Zahlen Anlass für Hoffnung: Dass weniger Gewalttaten, Kriege und Gräueltaten mit religiösen Deckmänteln begangen werden, ist wahrscheinlich, sobald die Religion in ihrer traditionellen Machtstruktur an Bedeutung im Leben der Menschen verliert.

Möglicherweise tragen religiöse Extremisten extrem dazu bei, dass dieser Trend beschleunigt wird: Der Missbrauch von Religion für politische Zwecke schreckt die Menschen von der Religion insgesamt ab und macht sie misstrauisch gegen die Angebote der Glaubensrichtungen insgesamt. Religionen, die sich für Zwecke der Gewalt und Unmenschlichkeit missbrauchen lassen, schaufeln an ihrem eigenen Grab und schwächen die Attraktivität und die Glaubwürdigkeit des Glaubens insgesamt. Sie beschleunigen den Fortschritt der Bewusstseinsevolution, auch wenn sie das gerade Gegenteil anstreben. Was ist, wenn Glaubenskrieg ist, und keiner glaubt mehr daran?

Sonntag, 22. Mai 2016

Kohärentes Atmen - mein neues Buch



Das kohärente Atmen wurde aus dem Bestreben entwickelt, über die Atmung zu einem optimalen Zusammenspiel des Nervensystems mit den wichtigsten Körperfunktionen zu gelangen. Mit der richtigen Atemfrequenz im regelmäßigen Rhythmus und entspannter Ausatmung verbessert sich nachhaltig und messbar die Herzschlagvariabilität. Diese gibt Auskunft über die Verfasstheit unseres autonomen Nervensystems. Eine gute Variabilität beruht auf einem starken Parasympathikus.

Mit Hilfe der Polyvagaltheorie werden in dem Buch die Zusammenhänge zwischen dem Nervensystem und der psychischen und sozialen Gestimmtheit hergestellt. Es wird deutlich, dass die Achtsamkeit auf die entspannte Atmung eine große Rolle für unsere Lebensqualität und für die Lösung von inneren Problemen in der Psychotherapie und im Coaching spielt. 

In dem Buch werden verschiedene andere Atemtechniken und -methoden mit dem kohärenten Atmen verglichen. Es wird dargestellt, dass das letztere einen übergeordneten Rang beanspruchen kann, weil es mit allen anderen Atemübungen gut kombiniert werden kann und zugleich als Vorbild für die optimale Alltagsatmung dienen kann. 

Wenn wir fragen, wie wir zu mehr Gelassenheit, Lebensfreude und Motivation finden können, kann das kohärente Atmen eine kompetente Antwort liefern. Seine Theorie ruht auf Forschungen zur Physiologie der Atmung, des Herzkreislaufs und des Nervensystems und Gehirns und seine Praxis ist leicht und einfach zu erlernen. 

Die Methode hat sich als unterstützende Übungsform für alle möglichen Arten von psychischen Störungen sowie in der Traumaheilung bewährt. Sie hilft weiters effektiv bei Schlafstörungen, Panikanfällen und Angstzuständen. 

Sportler nutzen das kohärente Atmen, um ihre Ausdauerleistungen zu verbessern, und Meditierer kommen mit der Methode schneller in den Zustand des inneren Friedens und Gewahrseins. 

Das Buch kann hier als Paperback bestellt werden, Preis: € 15,99,
und hier als Hardcover, Preis € 19,99

Samstag, 21. Mai 2016

In eigener Sache: 100 000 Aufrufe

Liebe Leserinnen und Leser dieser Blogseite,

danke für das Interesse an meinen Veröffentlichungen, ich freue mich, dass die bisher 280 Beiträge auf dieser Seite mit heutigem Tag insgesamt über 100 000 Mal aufgerufen wurden. Ich werde mich bemühen, weiterhin interessante und verbreitenswerte Informationen und Gedankengänge auf dieser Seite aufzubereiten und freue mich über das Weitergeben und Weiterempfehlen.

Wilfried Ehrmann

Mittwoch, 18. Mai 2016

Die rechte Rhetorik: Perfide und zugleich simpel

„Predigen Sie etwas Einfaches. Teilen Sie die (soziale) Welt in zwei Teile: in DIE WIR und in DIE ANDEREN. Definieren Sie DIE WIR als bedroht. Geben Sie niemals einen Fehler zu. Bei Angriffen: Wechseln Sie blitzschnell in die Opferrolle. Erfinden Sie Sündenböcke. Erklären Sie Ihr Weltbild durch (erfundene) Einzelfälle. Polarisieren Sie. Erfinden Sie für alles unüberbrückbare Gegensätze.“

So zitiert der Journalist Hans Rauscher den Kommunikationswissenschaftler Walter Ötsch, der sich mit der Rhetorik der Rechtspopulisten beschäftigt hat. Wir können daran erkennen, dass der rechte Rhetoriker sein Publikum in den Kampf-Flucht-Modus verleiten will. Er erzeugt eine Angst, indem er eine Gefahr an die Wand malt. Rechte Politiker fürchten sich vor Chemtrails, Vegetariern und Flüchtlingsmassen. Oder – wir wissen ja gar nicht, ob sie sich selber fürchten oder die Furcht nur anderen einimpfen wollen.

Jedenfalls wollen sie Ängste wachrufen und in die Menschen einpflanzen, und die Erfolge geben ihnen recht. Ängstliche und ängstlich gemachte Menschen sind unsicher und lassen sich leichter vor den eigenen Karren spannen. Sie fühlen sich verstanden und reagieren mit Begeisterung und Hysterie, wenn der Angstprediger auftaucht. Denn er erfüllt eine Doppelrolle: Zunächst macht er die Bedrohung dingfest und gibt damit den Eindruck, dass er jemand ist, der den Durchblick hat, der weiß, von wo der Wind der Gefahr droht. Damit bietet er sich als Rudelführer an. Dann blicken die verängstigten Augen zu ihm auf und er bietet sich als der Retter an. Natürlich muss er gewählt werden. Denn er ist der, der sich am besten auskennt (alles, was ihm widerspricht, ist linkslinks und damit von vornherein doppelt Pfui, oder stammt aus der „Lügenpresse“, die von sinistren Drahtziehern gesponsert und manipuliert ist).

Sicher, wer verstanden hat, dass wir fortwährend Wirklichkeiten konstruieren, dass wir Prägungen haben, die uns bestimmte Wirklichkeitskonstruktionen wahrscheinlich machen, und dass wir unter Angst möglichst einfache Wirklichkeitskonstruktionen bevorzugen, wird nicht so leicht auf die Propagandamaschine hereinfallen, die von rechter Seite in ganz Europa und mit besonderer Perfidie in Österreich auf Hochtouren arbeitet. Wer verstanden hat, dass die Wirklichkeit immer komplexer ist als unsere Konstruktionen, und wer verstanden hat, dass wir über die Zukunft nichts wissen und vorher wissen können und dass wir auf die langfristig Entwicklung der kollektiven Vernunft vertrauen können, wird gelassen bleiben können angesichts der ausgestreuten Ängste und auch angesichts zunehmender Erfolge der Angstillusionserzeuger. Denn die Retter wollen mit Hilfe ihrer Opfer an die Macht kommen und scheitern, sobald sie mit der Komplexität der Wirklichkeit konfrontiert sind.

Wer nicht komplex denken kann (also nicht einmal die Anfangsgründe der systemischen Vernunft verstanden hat), wird keine langfristigen Einflüsse auf die vielfältige Realität ausüben können, sondern irgendwelche Löcher stopfen, die anderswo wieder aufbrechen. Die Angstmacher sind nicht fähig zu Visionen, denn Ängste blockieren die Intelligenzentwicklung und die Kreativität. Die Fixierung auf die Durchsetzung der eigenen Ideologie verhindert durchgreifende zukunftsorientierte Reformen. Rechte Politiker sind unfähig, das Ganze eines Staatswesens und seiner Angehörigen im Blick zu behalten, und deshalb können ihre Eingriffe in die Strukturen keine dauerhaften Resultate bringen. Der Schaden, den sie anrichten, kann heftig sein, z.B. im kulturellen Bereich, wo zu erwarten ist, dass die gehasste und verleumdete Avantgarde und fortschrittliche Kunst auf Förderungen zugunsten von Heimat- und Trachtenvereinen verzichten muss. Die Modernisierung soll aufgehalten werden, so lange und so gut es geht. Im Grund geht es um Abwehr, Abwehr dessen, was ohnehin nicht aufzuhalten ist, sondern was nur verzögert werden kann. Das Verzögern kommt teuer, aber die Räder, die rückwärts gedreht werden, drehen sich dann, wenn der Spuk wieder vorbei ist, umso schneller nach vorne. Freilich laufen die Kosten weiter, die, die aufgewendet werden müssen, um die angerichteten Flurschäden zu bereinigen. Aber wir haben's ja.

Was den massivsten Einbruch der rechten Ideologie in die Gesellschaft anbetrifft, den Nationalsozialismus, sind die angerichteten Schäden noch lange nicht aufgearbeitet. Auch deshalb bietet sich der rechten Rhetorik bis heute ein fruchtbarer Nährboden. Doch führt kein Weg darum herum, denn die Schädigungen, die der rechte Extremismus angerichtet hat, betreffen nicht nur die Materie, sondern gehen vor allem tief in die Seelen. Deshalb braucht es eine eingehende und umfassende Geschichtstherapie.

Wir haben es hier in Österreich „nur“ mit einer „sozialen Heimatpartei“, also keiner sozialen Nationalpartei, geschweige denn mit einer nationalen Sozialpartei zu tun, eine Partei, die schon einmal eindrucksvoll ihre Unfähigkeit im Gestalten und Regieren und ihre Schamlosigkeit in der Selbstbedienung unter Beweis gestellt hat. Zu mehr ist sie vermutlich auch in diesen Tagen aufgrund der Enge ihrer Ideologie nicht in der Lage, im Guten wie im Bösen. Mit jeder rhetorischen Tirade, die aus diesem Eck in die Öffentlichkeit dringt, verstärkt sich dieser Eindruck.

Literatur: Walter Ötsch: Haider Light. Handbuch für Demagogie.  Wien Czernin, 1. Auflage 2000. 

Genauere Hinweise zur rhetorischen Trickkiste von Norbert Hofer finden sich unter diesen Adressen: Was kann man gegen Kampf-Rhteorik machen?  sowie Norbert, der Profi

Donnerstag, 5. Mai 2016

Donald Trump und die Ängste in der "strengen Weltsicht"

Die Soziologin Elisabeth Wehling (University of Berkeley) beschreibt in einem Artikel im Standard die Erfolge von Donald Trump im US-Präsidentschaftswahlkampf damit, dass er ganz bestimmte Werthaltungen, die in Nordamerika tief verwurzelt sind, konsequent anspricht und damit seine Wähler emotional engagiert. Sie benennt das als „strenge Weltsicht“, die auf fünf Säulen ruht:  Selbstbezogenheit, Sozialdarwinismus, Hierarchie, Fürsorge für die eigene Gemeinschaft und ihre Verteidigung gegen das Böse auf der Welt durch eine starke, männliche Autoritätsfigur. Ich möchte in diesem Artikel die angesprochenen Werte auf das Modell der Bewusstseinsevolution beziehen.

Die Selbstbezogenheit


Trump präsentiert sich als vollkommener und rücksichtsloser Egoist und begeistert damit seine Anhänger. Seine Botschaft ist: „Wenn du so egoistisch bist wie ich, kommst du an die Spitze. Wenn wir als Land so egoistisch sind wie ich, dann bleiben wir an der Spitze.“

Der Egoismus als Ideologie hat seine Wurzeln im Zerfall der tribalen Strukturen und im daraus resultierenden Zerfall der verbindenden Werte der Gemeinschaft. Er entsteht im Übergang zur emanzipatorischen Bewusstseinsebene und ist von der Angst bestimmt, dass man niemandem vertrauen kann als sich selbst und dass man deshalb primär immer das eigene Überleben sichern muss.

Wie schon öfter auf diesen Seiten belegt wurde, ist der Egoismus keine „natürliche“ Eigenschaft des Menschen, sondern eine Reaktionsform auf frustrierte Bedürfnisse, also die Trotzhaltung, die entsteht, wenn die sozialen Beziehungen brüchig werden.

Sozialdarwinismus


Trump im Originalton: „Das Gute an mir ist, dass ich reich bin, reiche Menschen sind reich, weil sie schwierige Probleme lösen.“ Der Sozialdarwinismus ist die Ideologie des Egoismus. Er besagt, dass der rücksichtslose Kampf um die knappen Mittel zeigt, wer der stärkere ist, und dass dem Sieger im Kampf legitimerweise die Beute plus die Macht über den Unterlegenen gehört.

Das darwinistische Prinzip für die Evolution des Lebens besagt: Survival of the fittest, also das Überleben der am besten Angepassten. Der Sozialdarwinismus macht daraus: Survival of the strongest, also je brutaler, desto überlebensfähiger. Diese Ansicht war grundlegender Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie (die ja auch in den USA viele Anhänger hatte) und diente als Rechtfertigung für die Vernichtung alles Schwachen und Minderen. Der Machtwahn, der aus dieser Denkfigur stammt, kann nur gebrochen werden, wenn er in der eigenen Vernichtung endet, denn er muss bis zum letzten Quäntchen seiner Kraft beweisen, dass er der Stärkere ist.

 Der Sozialdarwinismus ist ein Produkt der personalistischen Ebene der Bewusstseinsentwicklung, in der zwar die Persönlichkeit des Einzelnen verherrlicht und verfeinert wurde, aber auch eine ideologische Überhöhung stattfand. Der Sozialdarwinismus überträgt die Brutalität des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes und der rücksichtslosen Ausbeutung auf den gesamten gesellschaftlichen Prozess und umgibt sie mit einem ideologischen Glorienschein. Er wird mit der Macht der Natur und der Natürlichkeit ausgestattet: Im Ganzen des Lebens ginge es so zu, also kann es unter den Menschen nicht anders sein.

Hierarchie


Diese Werthaltung sieht es als gottgegeben an, dass es unter den Menschen Rangordnungen gibt, die einigen Menschen die moralische Autorität über andere verleihen: Männer über Frauen, Weiße über Schwarze, Heteros über Homos usw.

Die Idee der political correctness dagegen besagt, dass niemandem aufgrund von Merkmalen wie Geschlecht oder Hautfarbe Rechte und Privilegien, die andere haben, vorenthalten werden dürfen, die andere genießen. Sie ist eines der größten Feindbilder für  die konservativen Amerikaner.

Diese Idee ist eine Anleihe aus dem hierarchischen Bewusstsein. Dieses stellt den Ausweg aus der Schrankenlosigkeit des emanzipatorischen Egoismus dar. Es installiert Unterschiede unter den Menschen, die durch die Geburt definiert werden und unveränderlich sind. Damit gibt es eine klare Zuordnung der Vorrechte für die einen und der Benachteiligung für andere, und niemand darf sich beklagen.

Es widerspricht freilich auch im konservativen Weltbild dem „naturgegebenen“ Überlebensegoismus, denn die jeweils Untergeordneten müssen zugunsten der Übergeordneten auf ihre Egoismen verzichten und werden mit der Gewalt der Rechtmäßigkeit der „heiligen Ordnung“ in ihrer Selbstdurchsetzung eingeschränkt, wie die Demonstranten bei Trumps Veranstaltungen, die verprügelt werden müssen, weil ihnen als Untergeordneten keine Meinungsäußerung zusteht.

Fürsorge


Man sorgt für Seinesgleichen, und zwar gut. Andere gehen einen nichts an, die sollen selber schauen, wie sie zurecht kommen. Der Kreis der „Seinesgleichen“ wird willkürlich definiert: Wer sich den eigenen Werthaltungen unterwirft, gehört dazu und wird unterstützt, wer andere Einstellungen vertritt, bleibt ausgeschlossen.

Hier tritt das Urmotiv des tribalen Bewusstseins auf, allerdings in der pervertierten Form der willkürlichen Zuordnung und der aggressiven Ausgrenzung. Dazu gehört der, der sich unterordnet, im Sinn der NS-Parole: „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“ Wer das Volk ist, wird ideologisch festgelegt.

Das tribale Bewusstsein dagegen ist begründet in einer selbstverständlichen und vorgegebenen Zugehörigkeit, die nicht willkürlich festgelegt und verändert werden kann. Alle Menschen tragen die Sehnsucht nach einer derartigen Zugehörigkeit in sich, weil nur diese ihnen Geborgenheit und Sicherheit auf einer ganz tiefen emotionalen Ebene gewähren kann. Die Gemeinschaftsideologien, die in späterer Zeit, besonders im 19. Jahrhundert, in dem auch die Hauptbesiedelung in Nordamerika stattgefunden hat, entstehen, nutzen diese emotionalen Bedürfnisse für ihre Zwecke aus.

Freund-Feindschema und starke männliche Autorität


„Die Welt ist gespalten in Gut und Böse, und um die eigene – selbstredend gute! – Gemeinschaft zu verteidigen, braucht es eine starke männliche Autorität, die nicht zimperlich ist und auch mal zupacken kann – zum Beispiel in Form von Angriffskriegen oder Folter.“ (Wehling)

Hier finden wir wieder das Motiv des Helden, der als der Gute gegen das Böse kämpft, Thema in all den bombastischen Hollywood-Leinwandepen. Der Preis der vereinfachenden Aufteilung der Welt in Schwarz und Weiß ist die Paranoia, die Angst, die auf Dauer gestellt ist. Wir müssen immer auf der Hut sein, das Böse schläft nie und schlägt gerade dann zu, wenn wir uns am sichersten fühlen. Wie sagte der Psychiater zum Paranoiker: „Bloß weil Sie Paranoiker sind, brauchen Sie nicht zu glauben, dass Sie nicht verfolgt werden.“

Der Preis der Paranoia ist auch der Wirklichkeitsverlust, denn diese ist weder gut noch böse, sondern vielschichtig und differenziert, und sie verändert sich dauernd. Wer sich dem Freund-Feind-Schema verschreibt, hat es nicht mehr mit der Wirklichkeit zu tun, sondern mit den Gespenstern im eigenen Kopf.

Das Freund-Feindschema stammt nach meiner Auffassung unmittelbar aus dem Kampf-Flucht-Mechanismus unserer urtümlichen Stressreaktion. Unter Gefahr müssen wir uns schnell orientieren, um der Bedrohung effektiv zu entgehen und brauchen dafür das einfachste Schema, das es gibt: Sicher oder unsicher, gut oder böse. Wenn wir das Schema internalisiert haben, haben wir eine Daueranspannung in uns etabliert.

Wieder wird am Übergang von der tribalen Sicherheit in die emanzipatorische Willkür angesetzt. Außerhalb der Stammesgemeinschaft gibt es nur feindliche Wildnis, und ich brauche eine einfache Perspektive, um damit zurechtzukommen. Jedem, der mir eine solche verspricht, muss bedingungslos gefolgt werden.

Zusammenfassung


Diese Analyse zeigt, dass sich dieses „strenge Weltbild“, an dem sich das konservative Amerika orientiert, aus den Ängsten verschiedener Bewusstseinsschichten nährt, dass dabei die erste Ebene in ihrer ursprünglichen Qualität ausgeblendet bleibt und die sechste und siebte Stufe nicht vorkommen, weil diese alle durch diesen Wertkomplex repräsentierten Einstellungen in Frage stellen und als mangelhaft und überholt erklären. Die weiße und noch schlimmer die schwarze Bevölkerung der USA ist im Bewusstsein des endgültigen und unwiederbringlichen Verlustes der tribalen Sicherheit in ihr neues Land gekommen. Ein völliger Neuanfang, bei dem jeder ganz auf sich gestellt ist, musste gewagt werden. Manche haben das gut geschafft, manche weniger. Danach teilt sich das Land ein, und jeder seiner Bewohner weiß um seinen Platz in der unsichtbaren Hierarchie. Eine selbstverständliche Zugehörigkeit gibt es nicht (und deshalb auch keine selbstverständliche Sozialfürsorge). Donald Trump steht für diesen Pioniergeist und bietet sich als Identifikationsfigur an für alle, die es so weit bringen wollen wie er.

Dieses wilde Gemisch an Bewusstseinselementen kann auch die Folie sein, vor der vielen von uns Donald Trump wie ein skurriles Wesen von einem anderen Stern oder aus einer anderen, längst überwundenen Zeit vorkommt. Tatsächlich tragen wir alle die Spuren der angesprochenen Bewusstseinsschichten in uns. Womit wir allerdings einen Unterschied machen können, ist die Bereitschaft, die eigenen Werthaltungen beständig zu überprüfen und dafür die Maßstäbe des systemischen und des holistischen Bewusstseins zu nutzen. Dann fällt es uns leichter, Licht in die dunkelsten Vorgänge zu bringen und zugleich die eigenen Verwicklungen mit diesen Bereichen der Seele zu lösen.

Für deutsche Leser: Was bedeutet dieses Profil für das Verständnis von Pegida und AfD? Für österreichische Leser: Wie kann man die Erfolge der FPÖ vor diesem Hintergrund verstehen?

Mittwoch, 4. Mai 2016

Herr Hofer und die Erlösungssehnsüchte in der österreichischen Seele

Der herrschende Wahlkampf zum Amt des österreichischen Bundespräsidenten zeigt einen eigenartigen Drall, unter dem das Amt so aufgebläht wird, dass es nur von einem „starken Mann“ ausgefüllt werden kann. Kein Wunder, dass die einzige Frau, die sich beworben hat, auf der Strecke geblieben ist. Die Kandidaten werden befragt, wie sie ihr Amt ausüben wollen, was natürlich jeden Wähler interessieren sollte. Wenn aber dann als Antwort kommt, dass Regierungen entlassen werden, wenn sie „über 2,3 Jahre“ nichts tun (gibt es ein einziges Beispiel einer Regierung in der Geschichte Österreichs, die über Jahre faul herumgelegen ist und sich nicht um die Probleme des Landes gekümmert hat?) Man muss nicht über alle Maßnahmen zufrieden sein, aber völlige Untätigkeit kann man wohl keiner Regierung nachsagen. Außerdem haben wir ein Parlament, das die Performance der Regierung zu kontrollieren hat, 183 Mandatare, denen auch so auffallen sollte, wenn ein Minister die Gesetze, die da beschlossen wurden, nicht ausführt. Dafür werden sie schließlich bezahlt.

Also dient die jetzt im Raum stehende Drohung offenbar nur dazu, dass sich der Kandidat, der solches äußert, den Mund voll nimmt, um als der mächtige Oberlehrer dazustehen, der kontrolliert, ob die faulen Schüler die Hausübungen vollständig und richtig gemacht haben und ob sie schön genug geschrieben haben. Wenn nicht, kommt zuerst der erhobene Zeigefinger, und, wenn das nicht fruchtet, werden die Schüler entlassen.

Ein autoritäres Verständnis des höchsten Amtes im Staat und der Verfassung wird da propagiert. Oben steht der Präsident, und die Regierung hat es ihm recht zu machen. Herr Hofer spricht von Untätigkeit, bei der er eine Regierung entlassen würde. Das ist aber ein weitgestecktes Feld, das viele Interpretationen offen lässt. Die Drohung kann auch schlagend werden, wenn der künftige BP der Meinung ist, die Regierung werde nicht in der Weise tätig, wie er sich das vorstellt – sie will beispielsweise die Mindestsicherung für Asylwerber nicht kürzen oder streichen, was er sich von seinem ideologischen Hintergrund wünschen und für den Staat als unbedingt notwendig erachten könnte. Die Regierung macht nicht das, was er gerne hätte, also wird sie entlassen, damit eine gefügigere oder genehmere Regierung gebildet werden kann.

Dass solches autoritäres Denken gerade von der Person vertreten wird, die als dritter Präsident dem Nationalrat, also dem gesetzgebenden Organ vorsteht, mutet seltsam an. Denn aus dem Amt müsste er wissen, dass Recht und Gesetz vom Volk ausgehen, das diesen Nationalrat wählt. Dieses Gremium berät und beschließt die Gesetze und überwacht deren Ausführungen, mit denen die Regierung betraut ist. Es gibt da keine autoritäre Über- und Unterordnung, sondern ein System von check and balance.

Eine ähnliche Schieflage zeigt sich bei der Debatte um internationale Verträge, die in diesen Wahlkampf hineingetragen wird: Da brüsten sich die Kandidaten, Verträge, die dem Land schaden könnten, nicht zu unterschreiben. Aber alles, was ein Präsident an Gesetzen und Verträgen unterschreiben soll, wird ihm vom Parlament auf den Tisch gelegt, und allein die Annahme, dass dieses Gremium unfähig ist zu erkennen, was dem Land guttut und was ihm Schaden zufügt, ist eine Missachtung der Parlamentarier und eine maßlose Überschätzung der eigenen Fähigkeiten. Wieso sollte eine Person an der Spitze des Staates um so viel mehr Durchblick und Weisheit haben als 183 Abgeordnete?

Die Sehnsucht nach dem starken Mann – noch immer


Doch verfängt eine derartige Ansage nur dort, wo der zitierte „starke Mann“ ersehnt wird. Da meint man vielleicht, dass dieses Motiv doch längstens obsolet sein sollte: Die Schneise der Verwüstung, die dieses Konzept durch unsere äußeren und inneren Landschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezogen hat, sollte doch genügen, um für den Reste der Geschichte gegen die verblendenden Versprechen eines starken Helden immunisiert zu sein. Doch reagiert unser historisches Immunsystem nur, wenn es Bewusstheit und Reflexion in die Zusammenhänge gebracht hat.

Auffälligerweise wird vieles an dem erfolgreichen und smarten BP-Kandidaten der FPÖ bemerkt; über seine Anspielungen an den Mythos des starken Mannes, der sich über die demokratischen Institutionen stellen möchte, habe ich noch kaum etwas gelesen, noch fließt dieser Zusammenhang in die Diskurse ein.  Herr Hofer spielt, bewusst oder unbewusst, mit den Sehnsüchten, die aus den Seelen der Österreicher noch immer nicht getilgt sind und die besonders dann wieder lebendig werden, wenn die Wirtschaftslage pessimistisch gesehen wird und ein furchterregender Druck von außen in Form von Flüchtlingsmassen bildlich in den Köpfen verankert ist. Die Unübersichtlichkeit der Lage, verbunden mit dem Gefühl der Bedrohung, mobilisiert Sehnsüchte nach einem Retter, der mit starker Faust alle Not bannt und jede Gefahr in die Schranken weist.

Die Situation erinnert an die 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, allerdings übertragen auf ein ungleich höheres Niveau des Wohlstandes und der sozialen Absicherung. Doch die tieferen Seelenstrukturen haben diesen Unterschied nicht zur Kenntnis genommen, die irrationalen Ängste und medial erzeugten Bedrohungsszenarien nähren irrationale Hoffnungen, sobald blaue, verheißungsvoll nach oben gerichtete Augen suggerieren, dass alles noch heil werden kann.


Wer historisch denkt, kann da leicht ein mulmiges Gefühl bekommen. Die Herabwürdigung, Lächerlichmachung und Abwertung des Parlaments stand am Anfang der Errichtung der Diktatur in Deutschland und Österreich. In beiden Fällen tragen die „starken Männer“ auf, von ihren Anhängern hysterisch verehrt, martialisch schreiend ihre Durchsetzungskraft in die Welt posaunend. Die Taten folgten schnell und konsequent, mit den verheerenden Folgen, die uns bis heute zur Mahnung dienen sollten.

Man soll ja nicht das Schlimmste befürchten, und auch Herr Hofer ist an seinen Taten zu messen, sollte ihm der Griff nach dem obersten Amt im Staate gelingen. Aber ich zumindest werde mich nicht wundern, sollte tatsächlich der Mythos des starken Mannes reinszeniert werden. Schließlich wurde das alles schon angedeutet.

Sonntag, 1. Mai 2016

Ist die Schöpfung intelligent?

Wenn wir in die Betrachtung der Natur versinken, kommen wir in ein Staunen: Wie wunderbar ist alles eingerichtet, welche tiefe Harmonie und Kohärenz ist in allem. Wir geraten in das Gefühl des Erhabenen, wie es Immanuel Kant in Bezug auf die Naturschönheit benannt hat. Es enthebt uns unserer kleinlichen Sorgen, Nöte und Ängste. Es gibt immer etwas Größeres, das uns umfängt und hält.

Der spirituelle Lehrer OM C. Parkin schreibt in seinem Buch „Angst. Die Flucht aus der Wirklichkeit“:

„Wir haben immer Angst vor dem, was wir in Wirklichkeit nicht akzeptieren. Es kann so erleichternd und entspannend sein, in Akzeptanz aller Möglichkeiten in jedem Moment dem Leben offen zu begegnen, in dieser offenen Weite. Nehmen wir an, in uns taucht die Angst auf davor, den Partner zu verlieren. Das bedeutet, wir akzeptieren diese Möglichkeit nicht (…), die eine derjenigen Möglichkeiten ist, welche der Ablauf in der Totalität zeigen kann. Dieser Ablauf folgt einem intelligenten Plan. Glaubst du allen Ernstes daran, dass dieser Ablauf unintelligent ist? Oder dass du intelligenter bist, als dieser unpersönliche Ablauf?“ (S. 134)

Die Intention der Belehrung ist klar: Es geht um die Anmaßung des egogelenkten Denkens, das immer glaubt, dass sich die Welt nach den eigenen Erwartungen und Vorstellungen richten muss, damit wir unsere Komfortzone nicht verlassen müssen. Dagegen führt das Akzeptieren des Lebens mit seinen Wechselfällen, Überraschungen und Enttäuschungen dazu, innerlich zu wachsen und eine tiefere Gelassenheit zu finden. Dazu hilft die Annahme, dass es eine größere Regie gibt, die den Ablauf der Dinge regelt, auf die wir in Wirklichkeit keinen Einfluss haben.

Allerdings stellt sich die Frage, ob wir „allen Ernstes“ annehmen können, dass die Vorgänge in ihrem Insgesamt etwas mit Intelligenz zu tun haben. Denn Intelligenz ist ein sehr menschliches Konzept, bezogen auf den Leistungsgrad der unterschiedlichen Fähigkeiten, die wir brauchen, um unser Leben zu bewältigen. Über die Fragwürdigkeit der Messung dieser Fähigkeiten habe ich an anderer Stelle hingewiesen.

Wenn wir andere Naturwesen betrachten und auf ihre Intelligenz hin bewerten, messen wir sie immer am Maßstab unserer eigenen Fähigkeiten – für ihr eigenes Leben sind die Amöben oder Gorillas bestens ausgestattet und brauchen gar keine Bewertung dafür. Allenfalls können wir uns dafür interessieren, ob es unter den einzelnen Mitgliedern einer Spezies gewitztere oder doofere gibt. Aber für solche Vergleiche brauchen wir einen eigenen Intelligenzbegriff angepasst an die jeweilige Spezies.

Die Natur ist, wie sie ist, das Universum ist, wie es ist. Gehen wir nicht in eine Anmaßung, wenn wir die Maßstäbe, die wir für unser eigenes menschliches Überleben in diesem Universum entwickelt haben, auf das unendlich Größere zu übertragen? Die Gesetzmäßigkeiten, die wir dem Ganzen durch die wissenschaftlichen Forschungen abluchsen, zeigen nichts von einer Intelligenz, die in diesem Ganzen wirkt, sondern von unserer Intelligenz, Modelle von den Prozessen zu entwerfen, um das, was da läuft, für unsere Köpfe verständlich und technisch nutzbar zu machen.

Aus dieser Sicht betrachtet, sind wir noch viel unwissender als wenn wir glauben, von einer großen Intelligenz reden zu können, die da alles steuert und reguliert. Nicht einmal das wissen wir, und wir können es nicht einmal wissen noch werden wir es jemals wissen. Ob Intelligenz in den Vorgängen im Universum herrscht und welche Intelligenz das sein könnte, ist gänzlich aus unserem Horizont ausgeschlossen. Da können wir noch so weit in unserer inneren Weisheit fortgeschritten sein – wo die Grenzen unserer Erkenntnis sind, beginnt die Spekulation. Denn die Erkenntnis ist immer auch eine körperliche und damit an die Grenzen unserer Körperlichkeit, an die Vorgegebenheit unserer Sinnesorgane und unseres Nervensystems gebunden. Und Spekulation heißt willkürliches, also ego-geleitetes Fantasieren, ohne Realitäts- und Wahrheitsbezug und ohne interaktive Verbindlichkeit.

Ähnlich wie das Eingeständnis, dass es Zufälle sind, die die Entwicklung steuern, ist es eine größere und angemessenere Form der Bescheidenheit, wenn wir darauf verzichten, intelligente Absichten oder Pläne im Ganzen zu vermuten. Sind wir in der Natur und fühlen uns mit ihr verbunden, so ist das ein Genießen des Erhabenen, ohne dass wir ein Konzept in sie hineinlegen. Wir sind dann Teil des großen Ganzen, fern vom Ego, das überall seine eigene Agenda sucht und bestätigt wissen will. Das reine Staunen ist frei von Konzepten, sondern öffnet für die Weite des Umgreifenden.


Zitat: OM C. Parkin: Angst. Die Flucht aus der Wirklichkeit. AdvaitaMedia 2015
Vgl. Evolution und Zufall