Freitag, 29. April 2016

Epigenetische Weitergabe von Stress über die Generationen

Die Weitergabe von Stress über die Generationen

Hier folgt die Übersetzung einer Forschungsarbeit zum Thema der epigenetischen Weitergabe von Stress und seelischen Bürden von Generation zu Generation. Die Wissenschaft findet mehr und mehr Beweise dafür, dass emotionale Belastungen von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden können. Die Vorgänge selbst sind komplex und der genauere Blick zeigt auch, dass es keine Kausalketten gibt, also dass wenn in der einen Generation ein schlimmes Ereignis passiert, die darauffolgende automatisch traumatisiert sein muss. Vielmehr sind so viele Faktoren im Spiel, dass es starke Streuungen in der epigenetischen Prägung gibt. Doch zeigen auch diese Studien, dass die ersten Phasen im Leben eines Kindes besonders anfällig sind für Änderungen im Erbmaterial, die sich dann erst später in körperlichen oder seelischen Beschwerden äußern. Was wir aus der Therapie in vielen Fällen dokumentieren können, findet hier eine wissenschaftliche Erklärung auf biologischer Basis.

Hier nun übersetzte Ausschnitte aus dem Artikel von V.A.Rozanov  in der Fachzeitschrift Neurophysiology (
September 2012, Volume 44, Issue 4, pp 332-350) zum besseren Verständnis der wissenschaftlichen Hintergründe.
Moderne Technologien haben es ermöglicht, die Übertragung von psychosozialem Stress mit Genvariationen in Verbindung zu bringen.  Dieser Zusammenhang wurde zwischen Mutter und Kind untersucht, nämlich die DNA-Modifikationen in den neuronalen und in anderen Geweben des Kindes bezogen auf die mütterlichen Bindungsfähigkeiten. Ebenso wurden Korrelationen zwischen dem Muster der sozialen Unterstützung und der Aktivität des Stresssystems beim Kind erforscht.

Nach Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leiden ca. 10% der Erwachsenen an der einen oder anderen mentalen Störung innerhalb jedem Zeitintervall, und 25% der Menschen können eine solche Störung irgendwann in ihrem Leben erleiden. Klar zeigen die Daten, dass die Zahlen dieser Störungen in der Jugend- und Teenagerzeit im Ansteigen begriffen sind.

Bei komplexeren Organismen, und besonders bei den Säugetieren wird die Kontrolle der Genexpression zu einem großen Teil durch Hormone gesteuert. Das Zusammenwirken der Hormone mit den entsprechenden Rezeptoren reguliert die Genexpression, also das Wirksamwerden eines Gens in einer Zelle. Die Unbeständigkeit und direkte Abhängigkeit von der An- oder Abwesenheit der einen oder anderen Veränderung in der Umgebung sind die Haupteigentümlichkeiten dieser Prozesse. Das heißt, dass diese Prozesse unvermeidlich gelöscht oder eliminiert werden, sobald die Notwendigkeit der Anpassung abnimmt.

Es gibt einen entscheidenden Moment in dieser Situation. Negative Einflüsse – Stress oder die Nichtbefriedigung fundamentaler Bedürfnisse z.B. in der Nahrungsversorgung oder in der emotionalen Unterstützung –, die in frühen Entwicklungsstadien auftreten, führen später zu einem programmierenden Einfluss auf die Entwicklung von physiologischen, biochemischen und Verhaltensphänomenen im ganzen weiteren Leben. Das wird durch biologische Mechanismen der Hormonregulierungen vollzogen. Der Hauptmechanismus solcher Programmierungseffekte dürfte in epigenetischen Veränderungen des Chromatins liegen, vor allem im Auftauchen von Etiketten (Einprägungen, Epimutationen) an den DNA-Molekülen oder an Proteinen im Zellkern (Histonen).
Diese Veränderungen zwingen die Gene dazu, in einer neuen modifizierten Weise zu funktionieren, entweder werden sie stillgelegt oder besonders aktiviert. Solche Etikette können nicht nur neue Funktionen innerhalb eines individuellen Lebens bewirken (übertragen durch die mitotische Zellteilung). Diese können auch transgenerational übertragen werden (d.h. in einer Abfolge von Zellen in einer embryonalen Linie, übertragen durch meiotische Zellteilung=Reifeteilung von Keimzellen). Das bedeutet tatsächlich, dass erworbene Eigenschaften vererbt werden, also dass also Anlage und Umwelt zusammenfallen und dieser Alternative hinkünftig sinnlos ist.

Solche Änderungen in der Aktivität der Gene im Gehirn und in allen anderen Geweben, die den Wirkungen von Stress über das neuroendokrine System ausgesetzt sind, verschwinden nicht nach der Geburt, sondern sie bleiben das ganze Leben hindurch bis ins hohe Alter wirksam. Solche epigenetischen Transformationen finden nach der Keimteilung (Mitose) statt, auch in endgültig geteilten Zellen, die sich also nicht weiter teilen können, vor allem in den Neuronen. Gehirnneurone leben ein langes Leben ohne Zellteilung. Dennoch zeigen sie eine überraschend hohe Plastizität, sie können lernen, indem sie auf psychoaktive Einflüsse reagieren und von ihnen abhängig werden. Gleichzeitig sind die frühen Entwicklungsstadien, die sogenannten Fenster, die sensibelsten Phasen in Hinblick auf die epigenetischen Umgestaltungen des Genoms im Vergleich zu späteren Stadien im Lebenszyklus.

Das Epigenom


Die epigenetischen Umformungen werden als das Epigenom bezeichnet. Das ist eine dynamische Schnittstelle zwischen veränderbaren Mechanismen, die auf die Langzeitprogrammierung der Genexpression ausgerichtet sind, d.h. auf die Kontrolle der Transkription. Dieses Muster ist in jedem Gewebe unterschiedlich. Es ist dynamisch, seine Wirkungen sind reversibel und es kann (mit endgültigen Modifikationen oder ohne) auf die nachfolgenden Generationen übertragen werden. Der dynamische Modus des Epigenoms wird durch biochemische Reaktionen bestimmt, die durch Enzyme kontrolliert werden. Es gibt vor allem zwei Mechanismen: (1) die Methylierung der DNA-Moleküle durch Zytosin-Rückstände und (2) verschiedene gleichwertige Modifikationen von Kernproteinen (Methylisierung, Phosphorylierung, Ribosylierung, Ubiquitinierung, Acetylierung usw. der Histone).

Die Übertragung der Methyl-Etiketten auf nachfolgenden Generationen wird mit Hilfe der sogenannten unterstützenden Zytosin-DNA-Methyltransferase durchgeführt. Dieses Enzym erkennt halb-methylisierte Bereiche und bindet eine Methylgruppe an das nicht-methylisierte Zytosin. Auf diese Weise nutzt dieser Mechanismus schon vorher existierende Methyl-Etiketten für deren Reproduktion.

Soweit der Textauszug aus der Studie von Rozanov, und hier noch ein paar ergänzenden Informationen zum Thema Methylierung - hier zur Quelle.

Die DNA-Methylierung


Bei der DNA-Methylierung handelt es sich, als wichtigste epigenetische Veränderung, um eine chemische Abänderung an Grundbausteinen der Erbsubstanz einer Zelle. Diese Modifikation wird durch die Übertragung von Methylgruppen durch Enzyme (DNA-Methyltransferasen) auf Nukleobasen an bestimmten Stellen innerhalb der DNA hervorgerufen. Da der jeweilige Grundbaustein an der jeweiligen Stelle erhalten bleibt, ist die DNA-Methylierung keine genetische Mutation. Die DNA-Methylierung ist eine DNA-Modifikation durch Methylierung der DNA; sie kommt in sehr vielen verschiedenen (möglicherweise in allen) Lebewesen vor und hat verschiedene biologische Funktionen. Die Abfolge der DNA-Methylierung ist Teil des epigenetischen Codes einer Zelle.

Die wichtigste epigenetische Veränderung ist die Methylierung von Cytidin-Basen der DNA. Dabei werden überhaupt nur solche Cytidine methyliert, die innerhalb von Cytosin-Guanosin-Dinukleotiden angetroffen werden. Andere Cytidine werden durch die bekannten menschlichen DNA-Methyltransferasen (DNMT) nicht verändert.

Während der DNA-Verdopplung vor jeder Zellteilung gibt es den alten DNA-Strang, an dem bestimmte Cytidine methyliert sind, während der neugebildete DNA-Strang noch nicht methyliert ist. Das Enzym DNMT3 methyliert jedes Cytidin in einem halbmethylierten CG/CG-Paar. Eine solche CG-Methylierung führt dazu, dass Methyl-CG-erkennende Proteine an solche meCG-Paare binden. Diese Bindung führt zur Anlagerung weiterer Proteine und zur Verdichtung der Nukleosomen. Dadurch ist die DNA nicht mehr ablesbar und das darunterliegende Gen ist inaktiv.

Methylierte Cytidine sind anfällig für Desaminierung (Verlust einer Amino-Gruppe). Ein desaminiertes, nichtmetyliertes Cytidin ist ein Uracil. Dieses ist keine der vier normalen DNA-Basen Adenin, Cytosin, Guanin oder Thymin. Daher wird ein Uracil in der DNA als Fehler erkannt und schnellstens ausgetauscht. Wird aber ein 5-Methylcytidin desaminiert, entsteht daraus ein Thymin, das ein DNA-Baustein ist. Hier kann der DNA-Reparaturapparat nicht erkennen, ob das Thymin oder das gegenüberliegende Guanin falsch eingebaut ist. Daher bleibt die Umwandlung eines Methylcytidins in ein Thymin erhalten und wird, wenn diese Methylierung in einer Keimzelle stattgefunden hat, auch vererbt.

Methylierung und Traumaspeicherung


In einer Studie von Michael Meaney und Moshe Szyf
(University of Montreal) wurden epigenetische Prägung beim Menschen erforscht. Sie wählten für ihre Studie einen ungewöhnlichen Ansatz. Sie untersuchten die Gehirne von 13 Selbstmördern, die in ihrer Kindheit missbraucht worden waren. Die Gewebeproben vom Hippocampus der Selbstmörder erhielten die Forscher von der »Suicide Brain Bank« in Quebec. Sie untersuchten die Methylierungsmuster aus den Proben und verglichen sie mit denen von Unfalltoten, die keine frühkindlichen Traumata erlebt hatten. Die Analyse ergab, dass im Gehirn der Missbrauchsopfer wichtige Gene durch chemische Markierungen auf »Aus« gestellt waren. Bei den Unfalltoten ohne Missbrauchsgeschichte waren die Gene nicht methyliert und somit funktionstüchtig. Die Sequenz der Gene unterschied sich in den beiden Gruppen nicht, berichten die Forscher im Fachjournal »PloS One« (Band 3, e2058).

Stillgelegt war in den Gehirnen der Missbrauchsopfer ein Set von Genen für ribosomale RNA (rRNA), ein wichtiger Bestandteil des Ribosoms, das für die Produktion von Proteinen in Zellen verantwortlich ist. Diese Gene waren ausschließlich im Hippocampus, einer für das Lernen und Erinnern wichtigen Hirnregion, der Betroffenen abgeschaltet. Dagegen waren sie in anderen Hirnregionen und anderen Körperteilen noch aktiv, wie die Forscher in weiteren Experimenten nachwiesen. Aus älteren Untersuchungen ist bekannt, dass Missbrauchsopfer einen Hippocampus mit geringerem Volumen aufweisen als Menschen ohne traumatische Erfahrungen. Die Stilllegung der rRNA-Gene und die somit gestörte Proteinproduktion im Hippocampus könnten eine Erklärung hierfür sein. Doch Szyf ist vorsichtig: »Es könnte sein, dass die Unterschiede in der Methylierung durch den frühkindlichen Missbrauch verursacht wurden, doch eine Kausalität nachzuweisen, ist bei Menschen deutlich schwieriger als bei Tieren.« Es ließe sich nicht eindeutig klären, wann die Methylierungen erfolgten. Szyf ist aber der Ansicht, dass traumatische Erfahrungen in der Kindheit Markierungen im Gehirn hinterlassen, die bis ins Erwachsenenalter erhalten bleiben und das Suizidrisiko erhöhen.


Vgl. Materialien zur Epigenetik 
Kindliche Traumatisierung verändert die Gene
 

Reinkarnation - Glaube oder Symptom?

Ist dieses Leben, das wir da leben, einzigartig und einmalig, zu Ende mit dem Tod? Die Menschheit scheint sich in zwei Gruppen geteilt zu haben: Die eine Hälfte, vor allem in Asien, glaubt an die Wiedergeburt, die andere an das singuläre Leben mit einem Weiterleben nach dem Tod. Soweit die religiösen Aussagen, die keine eindeutige Antwort erlauben, sondern nur die Vielfalt der Reaktionen auf das Mysterium des Todes. So bleibt allenfalls eine Glaubensfestlegung: Ich glaube an eine Wiedergeburt oder nicht.

Reinkarnation und Wissenschaft


Die nächste Frage geht an die Wissenschaft. Hier stößt man auf das Lebenswerk von Ian Stevenson, der eine große Zahl an Dokumenten von Kindern gesammelt hat, die angebliche Vorleben erinnern. Doch sagt er zu seinen Forschungen, sie habe keine Beweise geliefert, sondern Fälle, die eine Reinkarnation nahelegen. Weiters kann man lesen:
 „Obwohl das Studium der Kinder, die behaupten, ein früheres Leben zu erinnern, mich überzeugt hat, dass einige unter ihnen in der Tat reinkarniert haben mögen, so hat es mir doch auch die Gewissheit verschafft, dass wir nahezu nichts über die Reinkarnation wissen.“ (Ian Stevenson: Wiedergeburt. Kinder erinnern sich an frühere Erdenleben. Aquamarin-Verlag 1992)


Die verschiedenartigen Kritiken an den Forschungen von Stevenson reichen von methodischen Fehlern, Beeinflussungen der interviewten Personen bis zur Nichtberücksichtigung von kulturellen Beeinflussungen durch die vorherrschenden religiösen Traditionen.  Johannes Mischo, ein bekannter  Freiburger Parapsychologe schreibt: „Eine überzeugende empirische Belegbasis für die Reinkarnation gibt es nach meiner persönlichen Einschätzung derzeit nicht. Die zentralen Fragen der menschlichen Existenz, Beweise für ein Überleben des persönlichen Todes können von den empirischen Wissenschaften nicht geliefert werden, bestenfalls Hinweise, die weiterer Nachforschung bedürfen.“
Zitiert nach: Helmut Obst: Reinkarnation. Weltgeschichte einer Idee. München: C.H.Beck 2009


Ken Wilber, der Dalai Lama und die Reinkarnation


Der US-Philosoph und Autor Ken Wilber hat sich auch mit dem Thema auseinandergesetzt. Er schließt nicht aus, dass Reinkarnation  möglich ist, es ist ihm aber klar, dass es auf der theoretischen Ebene eine Menge zusätzlicher Hypothesen braucht, um sie einzuführen. Sein umfassendes Weltmodell müsste durch spekulative Zusatzannahmen erweitert werden, um der Existenz von Vorleben einen Platz geben zu können. Definitiv verneint er aber die Möglichkeit, sich an frühere Leben zu erinnern:


„Wenn also Menschen behaupten, ein vergangenes Leben ‚zu erinnern‘ – wo sie lebten, wovon sie lebten und so weiter –, dann erinnern sie sich sicherlich nicht an irgendein aktuelles vergangenes Leben, und dies entspricht jeder größeren Religion oder jedem Zweig der immerwährenden Philosophie. Nur Buddhas (oder Tulkus [= aus der Geisterwelt heraus erschaffene Wesen; Anm.d.Übers.]), sagt man, können sich gewöhnlich an vergangene Leben erinnern – die Hauptausnahme von der Regel. Sogar der Dalai Lama hat gesagt, er könne sich nicht an vergangene Leben erinnern, dies sollte als eine Mahnung für alle dienen, die denken, sie könnten es.“

(Ken Wilber: Death, rebirth and meditation, in: G. Doore (ed.), What survives? Contemporary explorations of life after death , Los Angeles, J.P. Tarcher. (übersetzt von Hape Lin)) Link

Wilber verweist darauf, dass in den alten religiösen Traditionen, wie z.B. im Buddhismus oder Hinduismus, in denen die Seelenwanderung als zentrales Lehrstück vertreten wird, das Wiedererleben solcher vergangener Leben keine Rolle spielt. Vielmehr geht es darum, im jetzigen Leben gute Grundlagen für ein nächstes Leben zu schaffen.


Die Idee, dass das Aufsuchen von früheren Leben heilsame Wirkungen haben kann, ist in Wirklichkeit viel jünger und stammt aus den Anfängen der theosophischen Bewegung, die von Helena Petrovna Blavatsky begründet wurde und deren Reinkarnationslehre dann von Rudolf Steiner übernommen wurde.  Hierin liegen Hauptquellen für die moderne westliche Esoterik, in der die Reinkarnationslehre einen festen Platz behauptet. 


Reinkarnationserleben als neurotische Störung?


Ein interessanter Hinweis zu dieser Thematik ergibt sich aus den Erforschungen des Peakstates-Institutes in Vancouver unter Leitung von Grant McFetridge: Es gibt zwar Erinnerungsphänomene an frühere Leben, im Sinn einer unmittelbar einleuchtenden Erfahrung, kurzzeitig in einem Lebenszusammenhang zu sein, der vor dem eigenen Leben liegt. Doch beruhen diese nicht auf einer Seelenwanderung, werden also nicht durch eine zuerst exkorporierte und dann wieder inkorporierte Seele von einem Leben zum nächsten weitergetragen, sondern sind Illusionen, die durch einen defekten traumabedingten Vorgang, der auf der Zellebene etabliert ist,  hervorgerufen werden. Reinkarnationserlebnisse sind also nach dieser Auffassung Ausdruck einer psychischen Störung und keine spirituellen Einsichten. Das Institut hat auch eine Methode entwickelt, die Menschen von dieser Störung heilen kann, sodass sie dann keine Reinkarnationserlebnisse mehr haben. Da viele der Pastlife-Erfahrungen mit Gewalt, Grausamkeit, Verletzungen usw. zu tun haben, kann das für viele, die unter solchen Phänomenen leiden, eine Erleichterung sein.


In diesem Zusammenhang ist auch noch erwähnenswert, dass unser Gehirn in der Lage ist, außerkörperliche Erfahrungen zu produzieren. Wird ein bestimmtes Gehirnareal elektrisch gereizt, erlebt die Person, dass sie mit ihrem Bewusstsein aus ihrem Körper heraustritt und sich von oben sieht. Es ist also keine mystische Fähigkeit, den eigenen Körper zu verlassen, sondern eine Reaktionsform, die in unserem Gehirn angelegt ist. Möglicherweise handelt es sich um einen dissoziativen Mechanismus, den das Gehirn bereithält, um sich vor überwältigenden Erfahrungen zu schützen. 


So wäre es auch nicht weiter verwunderlich, sollte das Gehirn sogar ganze Szenen mit Menschen in historischen Kostümen produzieren können, um einen inneren neurotischen Konflikt verschleiert zu Bewusstsein zu bringen. Beim Träumen geht es ja auch so. Methodisch ist dann freilich klar, dass die Reinkarnationstherapie, die also innere Themen durch den Rückgang auf Erfahrungen in früheren Leben auflösen will, auf einem Holzweg ist, weil sie nur den Konflikt in der Verkleidung auflöst und nicht auf der Ebene, auf der er eigentlich entstanden ist. Damit verschafft sie zwar eine momentane Erleichterung, die dann als Beweis für die Wirksamkeit der Therapie in Anspruch genommen wird, es ist aber nicht gewährleistet, dass die Symptome nicht wieder auftauchen werden, vielleicht in einer neuen Verkleidung. 


Vgl. Kritische Fragen an die Reinkarnationstherapie
Das Modell der Inkarnation und die praktischen Konsequenzen

Mittwoch, 27. April 2016

Essenzdenken und Gewalt

Das Wesen geht der Existenz voraus, die „Tischheit“ ist vor dem wirklichen „Tisch“ da, soweit die Vorstellung von Platon, die nachhaltig die Geistes- und Denkgeschichte geprägt hat. Er war der Meinung, dass an einem jenseitigen Ort alle Ideen versammelt sind, nach denen sich dann die Wirklichkeiten ausbilden, nach dem Vorbild der Geometrie, wo es den idealen Kreis in der Wirklichkeit nicht gibt, aber der wirkliche Kreis nur deshalb für die Mathematik taugt, weil er ein Abbild des idealen Kreises ist.

Und weil in der Mathematik alles seine wunderschöne Ordnung hat, dient sie als Vorbild für die Angelegenheiten der Menschen. Auch da solle man sich an den Wesensbegriffen orientieren, um sich selbst als gut, wahr und schön zu verwirklichen. Ebenso solle sich die Gesellschaft und Kultur an den vordefinierten Idealen, die dem philosophischen Denken zugänglich sind, ausrichten und nach ihnen streben.

Erst im späten Mittelalter wurde auf der Ebene des Denkens der Bann dieser Festlegungen gebrochen und damit die modernen Wissenschaften begründet, mit ihrem Vorrang der Untersuchung dessen, was existiert, vor dem, was man sich darüber denken kann. Theorien werden also aus der Erfahrung abgeleitet und durch sie begründet. Jede Theoriebildung muss sich an der Wirklichkeit messen und in der Praxis bewähren, sonst muss sie verworfen werden.

Konservativismus und Essentialismus


Dennoch ist das Denken in Wesenheiten und vordefinierten Begriffen noch lange nicht verschwunden. Es wirkt in die meisten gesellschaftspolitischen Diskussionen hinein: Die klassischen konservativen Positionen zu Themen der Familie, Sexualität, Abtreibung und Euthanasie gehen von ideologischen Festlegungen aus, die weiter nicht begründet werden können. Die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft und nicht eine Form des Zusammenlebens, die sich im Lauf der Geschichte fortlaufend ändert und an äußere Bedingungen anpasst. Die Sexualität hat eine von der „Natur“ vorgegebene Funktion und Form und muss dieser entsprechend ausgeübt werden; während jede andere Form der sexuellen Betätigung als abnormal und abartig gebrandmarkt werden kann. Ähnliches gilt für die Geschlechtsrollen. In der Abtreibungsfrage wird die Debatte auf die Frage reduziert, wann ein Mensch ein Mensch ist und damit argumentiert, dass der Mensch von Anfang an über ein Wesen verfügt und sich nicht erst im Lauf des Wachstums entwickelt. Ähnlich wird in der Euthanasiefrage gedacht.
 

Der Rassebegriff


Unermesslichen Schaden hat der Rassebegriff in diesem Zusammenhang angerichtet. Seine Anhänger waren der Meinung, dass sich Rassen streng voneinander abgegrenzt definieren lassen und dass den jeweiligen Angehörigen kollektiv Eigenschaften zugesprochen werden können – von Körpermerkmalen bis zu Charaktereigenschaften und ethischen Werthaltungen. An diesem Beispiel wird auch die Nähe des Essentialismus zur Gewalt deutlich: Die Feinde können schnell identifiziert werden und müssen mit allen Mitteln bekämpft werden, denn sie sind durch ihr Wesen gefährlich, nicht durch Einstellungen, die sie auch ändern könnten. Deshalb geht es darum, sie zu vernichten, weil alles andere die Gefahr nicht eindämmen würde.

Islamisten und Jihadisten bedienen sich dieses Modells, um es pauschal und kollektiv gegen die „westliche Gesellschaft“ zu richten, die vernichtet werden muss, sodass jede Gewaltaktion gerechtfertigt ist. Da das Modell in sich willkürlich ist und nicht für einen offenen Diskurs taugt, passt es zur Begründung und Absegnung des eigenen Handelns und der damit verbundenen Zerstörungen.

Die implizierte Gewalt


Die platonische Ideenphilosophie und jedes von ihr abgeleitete Denken ist in sich gewalttätig. Sie tut der Wirklichkeit Gewalt an, indem sie deren Phänomene und Zusammenhänge einem abstrakten Raster unterordnet, der den eigenen Vorstellungen entspringt. Hegel, ein Philosoph mit fundamentalistischen Neigungen, soll einmal auf den Vorwurf, dass es in der Realität mehr Papageienarten gebe als es seiner Theorie nach geben könne, gesagt haben, das sei umso schlimmer für die Realität.

Auch in der Politik sind Essenz-Definitionen gebräuchlich. Menschen werden politischen Richtungen zugeordnet („Ein Linker“ oder „ein Rechter“ usw.) und entsprechend bewertet und wahrgenommen. Mein Vater sagte über einen Kollegen, dieser sei ein fähiger Mensch, allerdings sei er bei der falschen Partei (nämlich nicht der, der sich mein Vater zugehörig fühlte). Die gegenseitig aufgebauten Feindbilder erlauben dann jede Form von Abwertung und Diffamierung der Gegner.

Ein absurdes Beispiel aus dem gegenwärtigen Wahlkampf zum österreichischen Bundespräsidenten illustriert dieses Arbeiten mit Feindbildern und die dabei immer wirksame Projektionstendenz: Der Kandidat der rechten Partei, Norbert Hofer, bezichtigte den unabhängigen, von den Grünen unterstützten Kandidaten Alexander van der Bellen, eine faschistische Diktatur errichten zu wollen (weil dieser angekündigt hat, einen Mehrheitsführer mit dezidiert antieuropäischen Zielen nicht automatisch mit der Regierungsbildung zu betrauen). Selber hat der rechte Kandidat angekündigt, im Fall der Wahl alle Mittel seines Amtes auszuschöpfen, um seine Vorstellungen durchzusetzen, und diese reichen bis zur Absetzung der bestehenden und der Einsetzung einer neuen Regierung sowie der Auflösung des Parlaments auf deren Vorschlag, also alles Schritte, die zu einer faschistischen Diktatur führen. Die Faschisten der 1920-er Jahre nutzen diese rhetorische Figur skrupellos für ihre eigenen Zwecke: Indem sie die linken Parteien der Absicht zur bolschewistischen Machtergreifung beschuldigten, rechtfertigten sie alle Mittel, um selbst ihre Gewaltherrschaft zu errichten. Selbstverständlich laufen die Prozesse 90 Jahre später etwas anders, aber die Verwendung von essentialen Ideologien ist gleichgeblieben, weil diese in sich gewalttätig sind.

Starre und unveränderbare Begriffsfestlegungen geben Sicherheit und ersparen Differenzierungen und sorgfältiges Überlegen. Sie reduzieren die Unübersichtlichkeit der Wirklichkeit und ihre dauernde Veränderungstendenz auf stabile und einfache Markierungen. Sie suggerieren die Befreiung von Ängsten, indem die Quellen der Bedrohung eindeutig benannt und bekämpft werden.

Die Wirklichkeit ist in gradueller Veränderung, in der Evolution, wie in jeder anderen natürlichen Entwicklung. Es gibt keine kategorialen Unterschiede unter den Menschen und ihren Motiven. Wenn wir das ernst nehmen, machen wir uns auf, die Wirklichkeit in ihren Nuancen und Spielarten zu erforschen und erkennen, dass wir ihrer begrifflich nie habhaft werden. Wir erkennen auch, dass jeder Versuch, solche Kategorien einzuführen, willkürlich und potenziell gewalttätig ist.

Unsere Identität und die Mikrobiome

In gewisser Hinsicht sind wir keine Voll-Menschen, sondern Minderheiten in uns selbst: Wir beherbergen ca. 100 Billionen nicht-menschliche Bakterienzellen, zehnmal mehr als unsere "eigenen" menschlichen Zellen und mit 150-mal mehr Genen als jene, die wir ererbt haben. Diese Bakterien machen zwar nur 1 – 3 % unserer Körpermasse aus, haben aber viel mitzureden bei all den Prozessen, die in uns ablaufen. Sie führen ein interessantes Sozialleben: sie organisieren sich untereinander, stehen in Konkurrenz, bilden Gemeinschaften, tauschen Gene aus usw. Sie führen also ein vielfältiges Eigenleben in ihren Mikrobiomen, im Mund, auf der Haut, in den Schleimhäuten und vor allem im Darm. Für unser Leben und unsere Gesundheit sind sie von zentraler Bedeutung.

Wir wissen heute, dass Babys die Muttermilch nur dann gut verdauen können, wenn sie die Bakterienkultur von der Mutter beim Durchgang durch den Geburtsgang mitbekommen. Deshalb haben Kaiserschnitt-Babys häufiger Verdauungsbeschwerden als natürlich geborene. Und deshalb wird bei fortschrittlicheren Kaiserschnittgeburten die Bakterienkultur aus der mütterlichen Scheide auf das Baby übertragen.

Die Enzyme, die wir benötigen, um Kohlenhydrate zu verdauen, entstehen aus Genen, die gar nicht unsere eigenen sind. Einige der Mikro-Arten stellen Hormone als Stoffwechselprodukte her, darunter das als Glückshormon bekannte Dopamin.

Schließlich wirkt sich das gastrointestinale Mikrobiom über unser Gehirn auf unsere Befindlichkeit aus: Moleküle aus diesem Bereich können die Blut-Hirn-Schranke überwinden und modifizieren dort die Regulation von bestimmten Neurotransmittern, sodass möglicherweise Depressionen, bipolare Störungen und Autismus durch Mikroorganismen behandelt werden können.

Wie es ein Forscher ausgedrückt hat, wird das Immunsystem der Säugetiere, das scheinbar zur Kontrolle von Mikroorganismen geschaffen ist, in Wirklichkeit von den Mikroorganismen kontrolliert. Die Evolutionsgeschichte ist eine gemeinsame Entwicklung zwischen Mikrobiomen und Wirt, als Prozess der fortschreitenden Integration.

Die Mikrobenwelt beschränkt sich nicht auf unser Innenleben, sondern breitet sich auf unser Wohnumfeld aus. Eine Studie konnte zeigen, dass Familien ein gemeinsames interaktives Feld zwischen den Personen und ihrer häuslichen Umgebung aufbauen. Wenn die Familie umzieht, braucht es nur 24 Stunden, bis die alte mikrobiologische Besiedlung erfolgt ist und nicht mehr von der alten Wohnung unterscheidbar ist.


Das Darm-Mikrobiom


Die Zusammensetzung des Darm-Mikrobioms, in dem sich etwa 1400 Bakterienarten zusammenfinden, wird beeinflusst durch
•    Ernährung
•    Darminfektionen, Darmentzündungen und Reizdarmsyndrom
•    Fettleibigkeit und Mangelernährung
•    Stress.
Andererseits hat das Darm-Mikrobiom Auswirkungen auf
•    Ernährung, Verdauung, Stoffwechsel und Körpergewicht
•    Immunsystem
•    Schmerz und Stressanfälligkeit
•    Emotionalität, Stimmungslage, Lernen und Gedächtnis.

(Quelle)

Es gilt als sicher, dass die persönliche Ausprägung der Darmflora mit 18 Jahren abgeschlossen ist. Dabei gibt es eine bestimmte Gruppe von Bakterien, die bei fast allen Menschen gefunden wird – eine Art biologische Grundausstattung. Dazu kommen dann bestimmte Spezialisten, die vermutlich die Ernährung und andere Lebensumstände widerspiegeln und eine große Vielfalt in den Darm bringen. 


Wir sind Billionen von Identitäten in dauernder Veränderung


Wir beherbergen also ein riesiges Reservoir aus vielfältigen Kulturen in uns, die eine enorme genetische Breite aufweisen. Da verliert sich jeder Versuch, eine Klassifikation einzuführen. Dazu kommt, dass die einzelnen Biome nicht nur miteinander kommunizieren, sondern auch untereinander Gene austauschen und so dauernd neue genetische Zusammensetzungen erzeugen.

Wir sind also ein Sammelsurium aus verschiedensten Elementen, aus Billionen von Identitäten. Wir können nicht einmal sagen, dass die Zellen, die aus der Ei- und der Samenzelle stammen, aus der wir entstanden sind, , also unser Genpool "eigener" sind als jene, die innerhalb dieses daraus gebildeten Körpers leben. Denn wir könnten ohne diese Bakterienkulturen nicht leben und wir wären anders, wenn diese Bakterien anders wären. Das, was wir unser individuelles Leben nennen, ist eine permanente Wechselwirkung zwischen unserem Genmaterial und dem der Biome. Unsere Identität ist diese sich beständig verändernde interaktive Gewebe zwischen all den Genomen, die in jedem Moment eine faszinierende Form der Zusammenarbeit finden, die bewirkt, dass wir leben und dass wir so leben, wie wir leben.

Macht es einen Sinn, für dieses dynamische Geschehen, das wir sind, den Begriff der Individualität anzuwenden? Natürlich sind wir einzigartig, noch radikaler einzigartig, als wenn wir nur von dem von den Eltern ererbten Genpool ausgehen. Wir unterscheiden uns auf viel mehr Ebenen voneinander als wir sonst annehmen. Individualität heißt Unteilbarkeit, aber was sollen wir mit diesem Begriff, wenn sich unsere innere Zusammensetzung laufen verändert? Da gibt es nicht einmal irgendeinen „Kern“, der nicht mehr geteilt werden kann, sondern das ausdrückt, was wir „in unserem Wesen“ sind.

Angesichts dieser erdrückenden Einsichten in die Überlegenheit der Dynamik über alle Festlegungen, der Veränderbarkeit über alle Kategorien können wir jedes starre Konzept über unsere Identität und unsere Individualität loslassen. Diese Konzepte sind ja nur Versuche, uns an die Erwartungen der anderen anzupassen, die viel Kraft und Energie erfordern. Denn innerlich ändern wir uns dauernd, und diese Ungewissheit wollen wir unseren Mitmenschen und uns selbst nicht zumuten. Also bilden wir uns Wesensbegriffe übereinander, mittels derer wir uns wechselseitig berechenbar machen. Das sind aber nur willkürliche Festlegungen, die uns darüber täuschen, dass wir in Wirklichkeit von Moment zu Moment in Veränderung sind.


Aktueller Nachtrag: Heute wurde die Nachricht veröffentlicht, dass es einem Innsbrucker Forscherteam gelungen ist, ein Darmbakterium namens Alistipes als Auslöser für Dickdarmkrebs zu identifizieren. Das Protein LCN2 kann der Entstehung von Darmtumoren vorbeugen, weil es dem Alistipe-Keim die Nahrung entzieht.

Vgl. Des Pudels Kern

Montag, 4. April 2016

Der Kaiserschnitt – ein feministisches Thema

Die Zunahme der Kaiserschnittgeburten wir hier als Anzeichen der erneuten Durchsetzung patriarchaler Strömungen verstanden werden: Die noch immer zum größten Teil männlichen Gynäkologen machen sich ihre Arbeit leichter, Geburten sind schön planbar und risikoärmer, und im privaten Bereich können sie ihr Bankkonto durch den operativen Eingriff zusätzlich auffetten. Das Weibliche, das im Gebären eine unbestreitbare Domäne innehat, wurde der männlichen Macht unterworfen, denn beim Kaiserschnitt ist es der Arzt, der die Geburt vornimmt, während die Mutter bewusstlos ist. Das Gesundheitsrisiko liegt bei Mutter und Kind, während die Ärzte aus dem Schneider sind. Denn Richter glauben, dass Kaiserschnitte nicht nur die ultima, sondern sogar die optima ratio in der Geburtshilfe sind. Das ist die eine Seite der "Medaille", auf der sich materialistisches, technokratisches und patriarchalisches Denken verbünden.

Die andere Seite ist die der Frauen selber. Abgesehen von den Vertreterinnen der natürlichen Geburt gibt es offenbar kein brennendes Interesse im Rahmen der feministischen Bewegungen an dieser Thematik. Die steigenden Kaiserschnittzahlen sind offenbar kein feministisches Thema. Vielmehr konzentrieren sich wichtige feministische Strömungen allein auf die Gewährleistung maximaler Entscheidungsfreiheit für die Frauen und unterstützen deshalb häufig kritiklos den Kaiserschnitt.

Tatsächlich wird die Diskussion um den Kaiserschnitt stärker von neutralen Institutionen vorangetrieben, wie der WHO, die eine Kaiserschnittrate von 15% als vertretbar ansieht und Staaten mahnt, in denen die Kaiserschnittrate darüber hinausgeht. Der WHO geht es um die Erhaltung der Gesundheit und der Verringerung von Risiken, für Mütter und für Kinder. Dort hat sich herumgesprochen, dass höhere Kaiserschnittraten höhere Risiken sowohl für die Mütter als auch für die Kinder bedeuten. Der Mythos der höheren Sicherheit des Kaiserschnittes im Vergleich zur natürlichen Geburt ist längst entlarvt. Allerdings wissen das eher Wissenschaftler und Statistiker als das allgemeine Bewusstsein. Viele Menschen denken, dass der Kaiserschnitt die größte Sicherheit für Mütter und Kinder bietet, und diesem Bewusstsein folgen auch viele Ärzte und anderen verantwortlichen Personen im Gesundheits- und Rechtswesen.

Genauer betrachtet, wird die feministische Idee durch jeden medizinisch nicht indizierten Kaiserschnitt in ihrem Mark getroffen. Denn es werden Frauen in dem Bereich entmündigt, den sie von der Natur als das ganz zentral Weibliche übertragen bekommen haben. Das Gebären ist der Kern weiblicher Fruchtbarkeit und schöpferischer Kraft. Kaiserschnittgeburten, die keiner medizinischen Notwendigkeit unterliegen, entreißen den Frauen diese ihre Kraft, und sie wandert zu den überwiegend männlichen ärztlichen Geburtshelfern, die ohnehin nichts damit anfangen können.

Schwangerschaft und Geburt ist etwas, was den Männern grundsätzlich, also von Natur aus, unzugänglich ist. Auch mögliche zukünftige Entwicklungen, die dahin führen, dass einem biologischen Mann eine Gebärmutter eingepflanzt wird, die ihn dann in die Lage versetzt, Kinder zu gebären, ändert daran nichts, weil der Mann dann in einem wesentlichen Teil der Biologie zu einer Frau wird.

Kaiserschnitte bergen kurz- und langfristige Risiken, die die Mütter und die Kinder betreffen. Es sind physiologische und psychologische Belastungen, die auftreten können. Deshalb ist es wichtig, dass ein Bewusstsein für die problematischen Aspekte von Kaiserschnitten geschaffen wird, sodass diese Geburtsmethode wieder den Stellenwert bekommt, der ihr eigentlich zusteht: Im Fall der akuten Lebensbedrohung für Mutter oder Kind den natürlichen Gebärvorgang zu unterbrechen und mit dem operativen Eingriff zu einem vorzeitigen Ende zu führen. In allen anderen Fällen sollten natürliche Geburten durchgeführt werden, und es sollte alles getan werden, um die Mütter dazu zu ermutigen und sie dabei zu unterstützen. Es sollte umgekehrt notwendig werden, dass jeder Kaiserschnitt sorgfältig gerechtfertigt werden muss, eine Entwicklung, die dadurch in Gang kommen könnte, dass erstmals Klagen von Müttern, die zu einem medizinisch nicht indizierten Kaiserschnitt gedrängt wurden, vor Gericht verhandelt werden.

Es bedarf der Bewusstseinsbildung, und Bewusstseinsbildung ist Aufklärung, und Aufklärung heißt immer wieder, einer Unmündigkeit zu entrinnen. Es ist die Unmündigkeit, die durch die Vernachlässigung der Erste-Person-Perspektive die gesamte Gesellschaft mitbetroffen hat, Männer wie Frauen, die sich aber im Bereich des Gebärens besonders schädigend auf die Mütter und ihr Selbstbewusstsein auswirkt. Jeder Frau wird durch den Kaiserschnitt der Vollzug ihrer Weiblichkeit im wichtigsten Thema ihrer Fruchtbarkeit weggenommen, und das sollte eine starke Betroffenheit auslösen und dazu führen, dass jeder Kaiserschnitt gründlich überlegt und abgewogen wird. Die Abwägung dieser Aspekte sollte also einen wichtigen Stellenwert in der Entscheidung für oder wider Kaiserschnitt einnehmen. Frauen leiden nach dem Kaiserschnitt unter dieser Beschneidung ihrer schöpferischen Kraft, wie TherapeutInnen bestätigen, die mit den betroffenen, häufig traumatisierten Frauen arbeiten. Kaiserschnitt-Mütter fühlen sich verständlicherweise in ihrem Selbstwert beschnitten, so, als wären sie der Natur und ihrem Kind etwas schuldig geblieben.

Es mag seltsam klingen, wenn ein Mann über ein Thema schreibt, das, wie beschrieben, in den Kernbereich des Weiblichen fällt. Doch sollte nach mehr als hundert Jahren Feminismus klar sein, dass es den Männern nicht gut gehen kann, wenn die Frauen nicht in ihren Rechten und in ihren Kräften stehen können. Jede Schwächung der Frauen ist auch eine Schwächung der Männer, weil diese dann Lasten zugemutet bekommen, die nicht zu ihnen gehören: Im Zusammenhang mit diesem Thema: Zu wissen und zu entscheiden, was für eine gebärende Frau der beste Weg ist, ihr Kind zur Welt zu bringen. Dazu kommt, dass es ein gesamtgesellschaftliches Ziel sein sollte, unseren Kindern den bestmöglichen Start ins Leben zu bieten.

Deshalb kann es auch ein Männeranliegen sein, den Feminismus zu fördern und von ihm zu fordern, sich mehr um das so zentral weibliche Thema der Geburt und des Gebärens zu kümmern. An den Männern ist es, die volle Bereitschaft zu bekunden, diesem Raum des Weiblichen Sicherheit und Wertschätzung zu geben. Denn dieser Raum ist der Raum des Mysteriums der Entstehung des menschlichen Lebens.


Vgl. Der Kaiserschnitt - die Geburtsmethode der Zukunft?
Zu dem Thema fand im Rahmen der 9. österreichischen Atemtage 2016 eine Podiumsdiskussion statt, die aufgezeichnet wurde und hier angeschaut werden kann.