Samstag, 18. Dezember 2021

Langeweile: Keine Abenteuer im Kopf

Die Langeweile, die in die Länge gedehnte Weile, hat viele Gesichter. Sie kann ein kurzzeitiges Gefühl sein, das kommt und wieder geht. Sie kann sich bei bestimmten Gelegenheiten regelmäßig melden, bei denen wir irgendetwas, was gerade los ist, nicht interessant finden. Sie kann den Arbeitsprozess begleiten, wenn wir Tätigkeiten machen müssen, für die wir keine Motivation aufbringen und die unseren Neuigkeitsdrang nicht befriedigen. 

Wenn wir die Langeweile von innen her betrachten, können wir sie als eine Art Erschöpfungs- und Erstarrungsreaktion des Denkens verstehen. Sie ist ein mentales Phänomen und tritt auf, wenn wir vom Lebensprozess unseres Körpers abgespalten sind. Wir sind fixiert auf das Denken, das gerade mit dem, was ist, nichts anfangen kann und selber nichts Neues, Interessantes zustande bringt.

Dem Rest des Körpers ist nie fad. Die Nieren, die Leber, die Milz haben immer etwas zu tun, ebenso jede Zelle, jedes Gewebe, jeder Muskel. Der Körper ist dauernd in Bewegung, in Schwingungen, in Veränderungsprozessen. Informationen werden ausgetauscht und Prozesse optimiert, damit das komplizierte Regelwerk reibungslos funktioniert. Auch unsere Wahrnehmung ist im Wachzustand beständig aktiviert, die Augen und die Ohren müssen sogar die Menge an Eindrücken filtern, die von außen einströmen, damit sie mit ihrer Fülle zurechtkommen. 

Die Ablenkungsmaschinerien

Die Langeweile existiert also nur in einem kleinen Teil des Kopfes. Dennoch hat dieser Teil eine große Macht über unsere Befindlichkeit. Denn die Gefühle der Langeweile erleben wir als ziemlich unangenehm und lästig und wollen sie schnell loswerden. Die moderne Unterhaltungsindustrie hat ein riesiges Geschäftsmodell entwickelt, um die Menschen vor ihrer Langeweile zu bewahren. Trotz des massiven Angebots an Zerstreuung scheint es nicht so zu sein, dass die Menschen weniger an Langeweile leiden. Vielmehr ist es offenbar so, dass sich die Unterhaltungsangebote immer mehr selbst entwerten. Wir brauchen uns nur Fernsehshows anzuschauen, die wir vor dreißig Jahren lustig und abwechslungsreich gefunden haben und die heute träge und mäßig amüsant erscheinen.

Der Suchtcharakter der Unterhaltung

Die Zerstreuung als Gegenmittel zur Langeweile hat also Ähnlichkeiten mit Suchtmechanismen: Wir brauchen immer mehr, wir gieren nach Neuem und Intensiverem, um der Fadesse zu entrinnen. Deshalb müssen die Produkte der Ablenkungsindustrie immer greller, schneller und hektischer werden, um unsere Reize zumindest für einige Zeit zu fesseln. Es sind nicht mehr die Themen und Erzählstränge, die einen Film interessant machen, sondern die Reizkaskaden, die das Nervensystem der Zuschauer in Bann halten sollen. Ein Film oder ein Roman darf keine Längen und Leerläufe haben, eine Pointe muss die nächste jagen, sonst werden die Konsumenten nicht ihrer Langeweile gerettet, die sich in jeder Lücke, in der etwas Entspannung eintritt, melden wird. Schon ist das Publikum für immer verloren.

Langeweile und Routine

Immer wieder die gleichen Handgriffe zu machen, stereotype Bewegungen fortwährend zu wiederholen, die gleichen Gedanken nach vorne und nach hinten zu wälzen, routinierte Abläufe wieder und wieder auszuführen führt zu einer Form der Langeweile, in der sich die Zeit scheinbar ins Unendliche dehnt. Geistige Unterforderung wirkt genauso belastend wie Überforderung. Der Mangel an Anregungen lässt das Innere abstumpfen. Wo in der Erfahrung die Ecken und Kanten fehlen, die neue Reaktionen herausfordern, wo es keine unerwarteten Unterbrechungen in gewohnten Vorgängen gibt, die das Geschehen in eine unvorhergesehene Richtung lenken, geht die kreative Spannung verloren. 

Es ist diese aufregende Spannung, die uns ein besonderes Gefühl von Lebendigkeit und Wachstum gibt. Die Spannung der Neugier, die das Überraschende entdeckt und sich in seinen Zauber ergibt, bringt uns unmittelbar mit den expansiven Kräften des Lebens in Kontakt. Wo sie fehlt oder ausgezehrt ist, versiegt der Zugang zu diesen Lebensquellen. Auch wenn solche Routinetätigkeiten körperlich nicht anstrengend und geistig nicht beanspruchend sind, können sie Zustände von Erschöpfung und Ausgelaugtsein hervorbringen, die schwerer zu ertragen sind als die Arbeit von Möbelpackern.

Was können wir tun, um bei Laune zu bleiben, wenn wir Routine-Tätigkeiten machen müssen? Schlecht haben es jene, die sich mit eintöniger Arbeit ihr Einkommen verdienen müssen. Manche schätzen zwar die Überschaubarkeit und Gleichförmigkeit solcher Arbeiten, aber für viele stellen sie eine nagende Belastung dar, die zu drückenden Gefühlen und Verstimmungen als Folge einer Sinnentleerung führen kann. Hier können nur arbeitsorganisatorische Veränderungen helfen, um die Arbeitsabläufe menschengerechter zu gestalten, z.B. durch Job-Rotation.

Das Leben ist impulsiv und spontan

In der Langeweile hoffen wir auf eine Erlösung durch das Äußere. Irgendein Reiz soll kommen, der uns das unangenehme Gefühl nimmt. Wie können wir aber die Brüche in uns selbst erzeugen, die uns dann zum Kitten anregen? Wenn wir genauer nach innen spüren, finden sich dort immer Impulse, die uns aus der Lethargie und der gedehnten Zeiterfahrung führen. Unser Körper ist in dauernder Veränderung, ebenso unser Geist. Es liegt an uns, im richtigen Moment auf einen dieser Impulse aufzuspringen und ihn zuzulassen. Es kann eine überraschende Bewegung sein, die uns aus der langweiligen Routine herausholt oder eine neue Idee. Es kann etwas Unscheinbares sein, das plötzlich als etwas Besonderes erscheint. Wenn wir die kleinen Veränderungen, die in jedem Moment ablaufen, mit Aufmerksamkeit verfolgen, gibt es keine Langeweile mehr.

Wir sind sofort spontan, sobald wir aus den Schleifen der Denkgewohnheiten herausgetreten sind. Offenbar sind es alte, verstaubte Ängste, die uns in diese Schleifen einspannen. Dann stellen sich die öden Gefühle der Langeweile ein. Achten wir stattdessen auf unsere innere Lebendigkeit, dann binden wir uns an den Flow-Zustand an, an das Fließen von einem Moment zum nächsten. Das ist die Spontaneität, das Gegenmittel zur Langeweile. Allerdings können wir sie uns nicht verordnen („Sei doch endlich spontan!“). Wir brauchen sie nur zuzulassen, und das geschieht, sobald wir aus dem Kopfkino aussteigen, das stets die gleichen Filme abspult.

Die Chance in der Langeweile

Die Langeweile kann durchaus etwas Konstruktives und Positives sein, wenn wir nicht mit ihr hadern. Sie macht uns auf eine Pause in der Kette der interessanten Lebensmomente aufmerksam. Wir können diese Unterbrechung zum Nachdenken nutzen und Entscheidungen für eine sinnvolle Gestaltung unserer Lebenszeit vorbereiten. Wir tauchen in eine unerwartete Auszeit ein, die wir als Zeit der Muße definieren können, als ein Ausklinken aus den Funktionsabläufen des Lebens. Damit schaffen wir einen Kontrast zu einer Welt, die dauernd zum Produktivsein und Performen drängt, eine Welt, in der wir fortlaufend unseren Wert beweisen müssen. Wer nichts tut und nichts zu tun hat, ist wertlos. Deshalb darf niemand zugeben, Langeweile zu spüren. Vielmehr gilt es, herauszustreichen, wie gestresst man doch ist. 

Statt dass wir uns den Druck antun, mit dem wir meinen, jeden Moment des Lebens mit Sinn füllen zu müssen, lassen wir eine Pause zu. Dann können wir die Freiheit vom Zwang des Tuns und des Gefallens genießen. Auf diese Weise lassen wir das Quälende der Langeweile hinter uns und entdecken einen eigentümlichen Sinn in ihr, der tiefer gegründet ist als der Sinn, den wir mit unserem Tätigsein erzeugen. Wir kommen mehr zu uns selbst und zu dem, was wir sind, unabhängig von den Erwartungen, Zwängen und Ängsten.

Die Langeweile als Transformationspunkt

Von hier ist es nicht weit zum Portal, das von der Langeweile ins Nirvana führt. Blaise Pascal schreibt dazu: „Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung. Er wird dann sein Nichts fühlen, seine Preisgegebenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unaufhörlich wird aus dem Grund seiner Seele der Ennui aufsteigen, die Schwärze, die Traurigkeit, der Kummer, der Verzicht, die Verzweiflung.“  („Rien n’est si insupportable à l’homme que d’être dans un plein repos, sans passions, sans affaires, sans divertissement, sans application. Il sent alors son néant, son abandon, son insuffisance, sa dépendance, son impuissance, son vide. Incontinent il sortira du fond de son âme, l’ennui, la noirceur, la tristesse, le chagrin, le dépit, le désespoir.“) (Pensées diverses II – Fragment Nr. 25/37)

Die Leere in der Zeit, durch die die quälende Langeweile charakterisiert ist, dreht sich ins Unendliche der Zeitlosigkeit, allerdings nur, wenn wir sie als Drehpunkt verstehen und nutzen, als Chance für eine transformierende Veränderung. Fallen wir jedoch auf uns selber und unser Ego zurück, so landen wir in der von Pascal beschriebenen Verzweiflung; gelangen wir über uns selber hinaus, indem wir uns gewissermaßen in die vollkommene Ruhe und ihr Nichts fallen lassen und jeden Widerstand gegen die in die Länge gedehnte Zeit aufgeben, dann gelangen wir in den Raum der inneren Freiheit. In diesem Raum gibt es keine Langeweile mehr.

Zum Weiterlesen:
Gier und Neugier
Meditation und Langeweile
Langeweile, eine Form der Selbsttäuschung
Muße als Lebenskunst



Samstag, 11. Dezember 2021

Gier und Neugier

Zwei Strebungen in uns, die ähnlich und unähnlich zugleich sind. Gemeinsam ist ihnen, dass sie etwas wollen, was gerade nicht da ist. Es sind stark drängende Kräfte, die mit dem aktuellen Zustand nicht zufrieden sind und darüber hinaus wollen. 

Hier sind schon die Unterschiede: die Gier will etwas, das sie schon kennt, während die Neugier eben auf Neues aus ist. Die Gier resultiert aus uralten Mängeln, die unbedingt erfüllt werden müssen, sonst wäre die Frustration zu groß. Sie ist prinzipiell unersättlich, hat also nie genug. Sie ist zeitweilig erschöpft, wenn sie sich einmal überfressen hat. Sobald der üppige Schmaus verzehrt ist meldet sich schnell der gierige Hunger wieder. So geht es dem Völler, ähnlich der Säuferin und dem Geldscheffler. Weit verbreitet ist auch die Gier nach Anerkennung und Sex. Im Grund können Menschen nach allem, was es so gibt, gierig sein.  

Jedoch ist jedes der vielen Objekte der Gier ein Ersatzobjekt, das für die erlittene emotionale Unterernährung der Kindheit herhält. Da Objekte nie die Liebe geben können, die das Kind gebraucht hätte, kann es nie zu einer Erfüllung kommen. Die Gier führt nur zu weiterer Gier. Das ist die Tragik, die in der Gier steckt und die von ihr getriebenen Menschen ins Unglück treibt und dort festhält. 

In der Gier steckt die Massivität der kindlichen Frustrationen, die aus einer frühen überlebensangst stammt. Das Kind spürt, dass es ohne emotionale Versorgung und Zuwendung untergehen muss. Es setzt alles ein, um das zu verhindern. Aus dieser Dynamik stammt die Skrupellosigkeit, mit der gierige Menschen sogar über Leichen gehen können. Sie zeigen die Rücksichtslosigkeit, die wir von Suchtkranken kenn, denen jedes Mittel recht ist, um an den Stoff zu kommen. 

Die Gier kennt ihre eigenen Sehnsüchte, als Spannung zwischen dem permanenten inneren Mangel und der fantasierten Befriedigung. Die Sehnsucht, die aus der Gier stammt, wird als Leiden erlebt, weil das Ziel der Sehnsucht unerreichbar erscheint. Das Leben wird als unauflösbare Spannung zwischen den Polen der unerfüllten Gegenwart und einer nie eintretenden Erlösung, die immer wieder in der Fantasie ausgemalt wird, empfunden.  

Auf einer tieferen Ebene deutet die Sehnsucht an, dass es ein Jenseits des destruktiven Zyklus von Mangel und Befriedigung gibt, eine Ebene, auf der die quälende Kraft des Getriebenseins überwunden werden kann. Für jedes Leiden gibt es eine Heilung, und der erste Schritt ist immer, es als Leiden, für das man selbst die Verantwortung trägt, zu erkennen.  

Die gierige Person vermeint, die Heilung läge in der Aneignung des Objekts; das ist die Illusion, die sie durchschauen muss, um zur eigentlichen Heilung zu kommen. Es geht darum, die Wurzel des giergetriebenen Musters zu erkennen: Die unerfüllten kindlichen Bedürfnisse, für die die Objekte der Begierde als Ersatz herhalten müssen. Die seelischen Schmerzen, die mit diesen Frustrationen verbunden sind, müssen gespürt und durchlebt werden, um zur Heilung und Befreiung von der Qual der Gier zu gelangen. 

Nach hinten oder nach vorne schauen

Während die Gier immer an die Vergangenheit zurückgebunden ist, richtet sich die Neugier auf das Zukünftige, auf das Unbekannte. Es ist eine Lust am Abenteuer, am Weiten dessen, was gerade da ist. Aus dem, was ist, soll mehr werden, es soll wachsen, es soll sich in unbekannte Dimensionen hinein erstrecken. Die Neugier liegt im Staunen und Wundern, im Erleben des Unglaublichen und Unerwarteten, im Sprengen der Wahrnehmungsmuster und Denkgewohnheiten. Die Neugier erkennt das Einzigartige am gegenwärtigen Moment.  

Die einfache Gier ist ein Abkömmling der Angst und hat viele Querverbindungen zur Scham. Sie zählt deshalb zu den Schutzgefühlen, die aus Überlebensprogrammen stammen. Die Neugier dagegen ist dem Wachstumssektor der Gefühlslandschaft zugeordnet. Sie ist zuständig für alles, was die Menschen an Fortschritt und Verbesserung ihrer Lebensbedingungen im Lauf von Jahrtausenden erschaffen haben. Hinter jeder Erfindung steckt ein neugieriger Mensch, hinter jeder Entdeckung ebenfalls. Die Neugier ist der Antrieb der Kreativität, die etwas in die Welt setzen will, was es noch nicht gegeben hat. Jeder Künstler ist von Neugier motiviert, ebenso wie jede Wissenschaftlerin. Der Komponist ist neugierig, wie sich die Melodie im Kopf weiterentwickelt, die Schriftstellerin ist neugierig, was ihre Romanfigur als nächstes machen wird, der Maler sitzt vor der berühmten weißen Leinwand und lässt sich vom Pinsel und seinem Strich überraschen.  

Die Neugier und das Mysterium 

Kinder sind die Meister und Lehrmeister in der Neugier. Sie erstaunen und begeistern die Erwachsenen mit den Entdeckungen, die sie mit ihrer Lust am Neuen immer wieder aufspüren. Die leuchtenden Augen der Kinder weisen uns auf das Wunderbare hin, an Dingen oder Erfahrungen, was wir vielleicht abschätzig als Kleinigkeiten bezeichnen. Unermüdlich und spielerisch erforschen sie die Wirklichkeit um sie herum und eignen sich damit Schritt für Schritt ihren Platz in dieser Welt an. 

Von den Kindern lernen wir auch, wie sich die Neugier mit der Begeisterung verbindet. Das Neue, das uns auffällt, zeigt uns eine überraschende Seite des unendlichen Geistes, des Mysteriums des Seins. Jede Facette des uns umgebenden großen Geheimnisses öffnet eine Verbindung, die über unser kleines Ego hinausweist.  

Die erfolgreiche Suche, die die Neugier beflügelt hat, bereitet uns Freude und hebt unsere Stimmung. Manchmal fühlt es sich wie ein Durchbruch oder ein kreativer Schub an. Manchmal ist eine winzig kleine Entdeckung, die wir machen. Wir sind mit der Welt und ihren Schönheiten in besonders intensiver Weise verbunden. Wir teilen den Geist dieser vielfältigen und großen Welt der Erscheinungen.  

Die Neugier hat auch eine Verwandtschaft mit der Sehnsucht. Sie zeigt sich einerseits darin, dass wir eine Sehnsucht nach Neuem spüren können, wenn die Neugier kein Objekt findet. In der Langeweile, die immer eine Abwesenheit der Neugier ist, meldet sich die Sehnsucht nach Abwechslung, Ablenkung, Unterhaltung, damit die Neugier wieder Nahrung bekommt. 

Die Neugier führt uns schließlich auch auf den spirituellen Weg. Wir spüren offene Stellen und Mängel in uns und suchen die Ganzheit. Wir spüren die Enge des Egos in uns und streben nach Befreiung. Es meldet sich eine Kraft in uns, die uns sagt, dass es da noch mehr gibt. Neugierig machen wir uns auf der Suche nach dem Innersten des Mysteriums. 

Zum Weiterlesen:
Gier und Selbstzerstörung
Wirtschaft ohne Gier
Das Giersystem im Kapitalismus
Konsum und Gier
Kreative und reaktive Fantasien


Mittwoch, 8. Dezember 2021

Die Impf-Kommunikation

Die Pandemie-Krise hat im Zusammenhang mit der Impfthematik auch ein massives gesellschaftspolitisches Kommunikationsproblem aufgezeigt. Es gelingt der Staatsverwaltung nicht, die eigenen Intentionen und Pläne ausreichend an die Frau und den Mann zu bringen und verständlich zu machen, sodass genügend Menschen impfen gehen und die Virenverbreitung minimiert wird.  

Ebenso verhallen die einschlägigen Appelle der Wissenschaft bei vielen Adressaten erfolglos, vielmehr tragen sie offensichtlich zusätzlich zum Anstieg der Wissenschaftsskepsis bei. Die Überforderungs- und Verzweiflungssignale der überforderten Intensivmediziner und des überbelasteten Spitalspersonals stoßen bei denen, an die sie gerichtet sind, auf Abwehr, Verharmlosung oder durch Fake-News gespeiste Umdeutungen.  

Es geht hier nicht um die Adressaten, also die Impfunwilligen in der Bevölkerung, sondern um die andere Seite der Kommunikation: Die Unfähigkeit, die Botschaft so zu übermitteln, dass sie zur erwünschten Handlung führt. Dieses Kommunikationsproblem kann als Vermittlungsschwierigkeit von der sechsten zur fünften Bewusstseinsstufe verstanden werden.  

Die Logik der Bewusstseinsevolution verläuft so, dass die nächstfolgende Stufe die wichtigsten Elemente der vorigen beinhaltet, sie weiterentwickelt und in neue Zusammenhänge stellt. Klar ist, dass die Perspektiven und Denkweisen der nächstfolgenden Stufe von den Menschen auf der vorigen nicht automatisch verstanden werden und auf Widerstand stoßen. Sie stellen ja die Prinzipien des eigenen Bewusstseins in Frage und fordern eine Weiterentwicklung, die ins Unbekannte führt und deshalb riskant ist. Vor jedem Schritt auf ein neues Organisationsniveau meldet sich die Angst vor dem Neuen und Unbekannten und die Angst, Vertrautes und Gewohntes aufgeben zu müssen, auch wenn es nicht wirklich mehr nützlich ist und einengt. Es liegt an der höheren Stufe, die Vermittlungswege anzubieten, die es den Leuten, die auf der vorigen Stufe verankert sind, schmackhaft machen, den Schritt auf die nächste Stufe zu wagen.   

Die Impf-Kommunikation

Ich gehe in Bezug auf die gegenwärtigen Situation von der Annahme aus, dass die Gesundheitsverwaltung, die in enger in enger Zusammenarbeit mit der Wissenschaft ihre Verordnungen und Maßnahmen setzt, auf einer systemischen Ebene, also auf der sechsten Bewusstseinsstufe argumentiert: Sie will dafür sorgen, dass das Gesundheitssystem seine Leistungsfähigkeit behalten kann, und darüber hinaus, dass durch die dafür notwendigen Maßnahmen der beste Nutzen für möglichst viele in der Krisensituation erzielt werden kann, bzw. dass die Schäden möglichst gering bleiben. Dazu wird ein Prozedere gewählt, das nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen dazu am dienlichsten ist.  

Viele, die mit diesen Argumentationen nichts anfangen können, kommen hingegen von der personalistischen Ebene, das den eigenen Körper und die eigene Seele über alles andere stellt, und diese Personen fühlen sich von den Appellen der Politik, der Wissenschaft und des Gesundheitswesens weder verstanden noch unterstützt. Deshalb verstehen sie ihrerseits die Anliegen der Regierung nicht, setzen die empfohlenen Maßnahmen nicht um und protestieren und rebellieren dagegen.  Wir haben es mit einem Vermittlungsproblem zwischen diesen beiden Ebenen zu tun.    

Am Beispiel der Impf-Kommunikation zeigt sich in vielen Ländern, wie schwierig es offensichtlich ist, die Abwehr der vorigen Entwicklungsstufe gegen das Neue zu überwinden. Die mRNA-Impfstoffe z.B., bei denen eine relativ neue Biotechnologie angewendet wird, die vielen Laien unbekannt ist, haben große irrationale Ängste ausgelöst. Viele wollen sich nur mit Impfstoffen impfen lassen, die schon auf lange bekannten Grundlagen beruhen.

Die Impfpflicht und die politische Regression

Nun hat die Regierung in Österreich aus der misslungenen Kommunikation und Überzeugungsarbeit den Schluss gezogen, die Impfpflicht zu verhängen. Es müssen sich also auch die Unwilligen der Impfung unterziehen, wenn sie nicht bestraft werden wollen. Der Staat wechselt damit von der systemischen auf die hierarchische Ebene, von der sechsten auf die dritte Stufe, um mittels Staatsgewalt das Verhalten zu erzwingen, das durch Überzeugungsarbeit nicht zustande gebracht werden konnte. Da ist es dann nicht verwunderlich, dass Teile der solcherart in eine Zwangslage Geratenen noch eine Stufe darunter regredieren und zu Verweigerung und Widerstand aufrufen, indem sie der Regierung die demokratische Legitimation absprechen und sich in einer Diktatur fühlen. 

Andererseits ist es aus der Sicht der Staatsverwaltung und der Politik nachvollziehbar, dass die systemische Ebene verlassen wurde, weil durch die Engpässe im Gesundheitssystem ein Zeitdruck entstanden ist und keine langwierigen Überzeugungskampagnen mehr geführt werden können. Außerdem zeigt die Erfahrung, dass das Andauern der Pandemie bei vielen die Ängste steigert und dass sich dadurch die einmal eingenommenen Positionen (für oder wider die Impfung) immer mehr verhärten, sodass Gespräche immer mühsamer und sinnloser werden. 

Dazu kommt, dass systemische Entscheidungsfindungen im Allgemeinen einen hohen Zeitbedarf haben. Sie gedeihen nur gut unter stressfreien Rahmenbedingungen und bringen nur dann Frucht, wenn alle Beteiligten und Betroffenen mit ihren Sichtweisen, Ängsten und Erwartungen ausreichend einbezogen werden. Deshalb ist es für Einzelpersonen wie für Verwaltungssysteme äußerst schwierig, unter äußerem Stress das systemische Bewusstsein aufrechtzuerhalten. 

Die Notwendigkeit der Stärkung der systemischen Vernunft

Was kann die systemische Ebene dazu beitragen, die Motivation zum Überstieg in diese Bewusstseinsform zu stärken? Obwohl in Österreich der Zug zur gütlichen Verständigung mit den Impfgegnern abgefahren ist, ist die Frage wichtig, wie die  systemische Ebene die personalistische erreichen könnte. Anders gefragt: Wie könnte das systemische Niveau das Vertrauen erwerben, das es braucht, um sich auf breiterer Basis zu etablieren? Es ist nämlich ziemlich klar, dass wir, abgesehen von der Pandemie, ohne die Erforschung der Komplexität, die eine systemische Spezialität ist, die Herausforderungen der Zeit und der Zukunft nicht meistern können, ob es sich nun um die Pandemie, die Klimakrise, die Schere zwischen arm und reich oder das Finanzsystem handelt. In all diesen Fragen hat das personalistische Bewusstsein ausgedient. Wenn es nicht gelingt, in der Gesellschaft eine breite Basis für systemisches Denken und systemische Vernunft aufzubauen, gerät der Weiterbestand der Menschheit in ernsthafte Bedrängnis. 

Widerstand in der systemischen Integration

Praktisch geht es darum, wie man systemisch mit Widerstand und Abwehr umgeht. Es gilt, alles, was zum System gehört, als Teil des Systems zu verstehen, also auch das, was sich dagegen wehrt, Teil des Systems zu sein. Die Frage an diesen Teil ist, was er braucht, damit er sich als zugehörig erfährt und wohlfühlen kann.  Dazu gehört, dass seine Funktion im System gesehen und anerkannt wird. 

Das systemische Umgehen mit Widerstand besteht darin, so lange kommunizieren, bis er sich in eine Ressource verwandelt. Es gilt zu verstehen, dass der Widerstand eine Schutzfunktion hatte, die allerdings jetzt nicht mehr benötigt wird – die Würdigung verhilft zur Transformation. Die Abwehr kann sich erst öffnen, wenn sie gesehen, in ihrem Wert verstanden und ernstgenommen wird.  

Abwehr und Adoleszenz

Jede Abwehr enthält eine Ähnlichkeit mit der Energie der Adoleszenz. Deshalb wählen wir hier die hypothetische Annahme, dass sich viele der Impfgegner mit ihrem Thema psychodynamisch betrachtet adoleszenter Motivationen und Gefühlsmuster bedienen. Damit ist nicht gemeint, dass jeder Widerstand gegen das Impfen pubertär wäre, was ja eine ungebührliche Abwertung der betreffenden Personen darstellen würde. Vielmehr geht es darum, die Trieb- und Abwehrkräfte zu verstehen, die in diesem Kommunikationspatt mitspielen, vor dem Verständnis, dass jeder erwachsene Mensch die adoleszenten Strebungen und Motivationen in sich trägt und zu bestimmten Gelegenheiten aktiviert, und das oft durchaus sinnvoll. Solche Motivations- und Reaktionsmuster können auch bei Impfbefürwortern eine Rolle spielen und sich in ihr Verhalten einmischen. Es ist weiters offensichtlich, dass bei der Ablehnung der Impfung unterschiedliche Motive mitspielen, von denen viele einer erwachsenen rationalen Prüfung Stand halten können.  

Doch scheint es, dass die adoleszenten Anteile in dieser Szenerie eine besondere Rolle im angesprochenen Vermittlungsproblem spielen. Denn das systemische Bewusstsein ist gleichzusetzen mit der reifen, bedachten, rational und emotional ausgeglichenen Erwachsenenhaltung. Und zwischen Erwachsenen und heranwachsenden Jugendlichen gibt es seit jeher Verständnis- und Kommunikationspotenzial sowie viel Konfliktstoff.  Evolutionär betrachtet, sind diese Konflikte ein notwendiger Bestandteil des gesellschaftlichen Fortschritts. 

Adoleszente wollen als erwachsener gesehen und behandelt werden, als sie es aktuell sind. Sie haben das Gefühl, dass sie vieles besser verstehen und durchblicken als die in ihren Meinungen festgefahrenen und verzopften „Alten“. Sie wissen alles besser, kennen sich überall besser aus, haben Informationsquellen, die sonst niemand hat usw. Diese Überzeugung brauchen sie auch, weil sie ja als die nächste Generation die Gesellschaft mit neuen und besseren Ideen gestalten werden. 

Jugendliche wollen keine Moralisierungen und lassen sich auch nicht durch Belohnungen kaufen. Zugleich brauchen sie die Bereitschaft zur Nachsicht und Fürsorge, sie wollen sich auf die Sicherheit verlassen können, dass wer da ist, wenn etwas schief geht. Sie sind gewissermaßen nur Erwachsene auf Probe und lernen erst, mit dieser Verantwortung umzugehen. Insgeheim setzen sie auf „Vater Staat“, der ihnen die Ausbildung und die soziale Absicherung zur Verfügung stellt, während sie ihn andererseits ablehnen und bekämpfen – wie sie es auch trotz aller Kritik schätzen, dass sie sich auf ihre Eltern verlassen können und nicht missen wollen, dass ihnen die Wäsche gewaschen wird. 

Über die Notwendigkeit eines erkenntnistheoretischen Basiskonsenses

Angewandt auf die Impfthematik bedeutet das, dass jedes Bedenken und jede Sorge der Impfskeptiker ernstgenommen werden muss. Schließlich haben sie durch ihr Misstrauen bewirkt, dass viele Problematiken um die Impfung genauer erforscht wurden, sodass es inzwischen viele Methoden gibt, um Impfschäden und Nebenwirkungen abzufangen oder zu heilen. Gefühle und rationale Argumente müssen entwirrt werden, sodass beide Aspekte gesondert betrachtet werden können. Es gilt, eine Basis zu finden, mit der der Unterschied zwischen Fakten und Fiktionen, wissenschaftlichen Ergebnisse und verzerrten Pseudoargumenten geklärt werden kann. Auf welche Metaerkenntnisse kann man sich einigen? Also welche Prüfungsmethode der Faktizität wird außer Zweifel gestellt und kann als Grundlage für eine gemeinsam akzeptierte relative Wahrheit gelten? Was sind vertrauenswürdige und seriöse Informationsquellen und wo ist die Grenze zwischen Faktenwissen und Spekulation? Wie können wir herausfinden, auf welche Weise Erkenntnisse zustande kommen, welche Standards der Wahrheitsfindung sind in Geltung? Welchen Quellen darf man Glauben schenken, und bei welchen muss man vorsichtig sein?

Verständigung braucht also einen erkenntnistheoretischen Basiskonsens: Wie können wir uns auf einen sicheren Zugang zu verlässlichen Informationen einigen, um damit eine gemeinsame Grundlage für das herzustellen, was als wirklich gelten kann? Wenn wir unterschiedliche Zugänge zur Gewinnung von relativer Wahrheit haben, wird jedes Gespräch im Sand verlaufen oder im unlösbaren Konflikt enden. 

Zum Weiterlesen:
Impfen, Wissen und Wissenschaft
Die Ethik des Impfens
Fixierungen in der Impfdebatte
Ethischer Perfektionismus und seine Überwindung



Donnerstag, 2. Dezember 2021

Ethischer Perfektionismus und seine Überwindung

Die Ethik erforscht die Beweggründe des menschlichen Handelns und ihre Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen. Sie stellt die Frage nach dem Guten und dem Bösen und bewertet die Maßstäbe und Werte, nach denen die Menschen ihre Handlungen setzen. Ich gehe im Folgenden auf die ethischen Paradigmen ein, die vom Übergang von der fünften, personalistischen, zur sechsten, systemischen Bewusstseinsebene wichtig sind. In den vorhergehenden Blogbeiträgen zur Impf-Debatte habe ich vor allem auf das systemische Ethikparadigma zurückgegriffen, ohne es explizit zu erläutern, was hier nachgeholt wird.

Die personalistische Ethik

Ein wichtiges Merkmal der personalistischen Bewusstseinsstufe besteht darin, dass die Person in den Mittelpunkt der Ethik gerückt wurde: Jeder Mensch ist für seine Handlungen voll verantwortlich, und sein Gewissen gibt ihm Auskunft darüber, was gut und was böse ist. Der ethische Maßstab für das Bewerten der Handlungen wird ganz ins Subjekt verlegt, es muss vor sich selber rechtfertigen, was es tut. Diese Verinnerlichung der Ethik, bei der es primär nicht um das Befolgen von Standards geht, die von au8en durch die Gesellschaft oder die Machthaber vorgegeben sind, geht zurück auf den Einfluss des Christentums. Besonders durch die Reformation im 16. Jahrhundert wurde der Akzent der ethischen Fragestellung rigoros von außen nach innen verlegt.

Die Schuldspannung im personalistischen Bewusstsein  - das nie erreichbare Ideal des durch und durch guten Menschen ist die Grundlage für den ethischen Perfektionismus. In der religiösen Perspektive mit einem Schuldkonto verknüpft, das nach dem Tod ausgewertet und eingelöst wird und die Lebenschancen für die jenseitige Zukunft bestimmt, die mit der Ewigkeit gleichgesetzt ist. Das ganze Leben steht unter dem Gewissensdruck, es nie gut genug zu machen. Am Horizont wartet die Vorerinnerung an den Tod und an das unerbittliche Gericht, das danach kommt.

Hier liegen die Wurzeln des ethischen Perfektionismus, der Vorstellung, dass jede Handlung von der Erfüllung der höchsten Wertvorstellungen bestimmt sein muss und dass von ihrer Richtigkeit die persönliche Integrität abhängt. 

Alles, was diesem Anspruch nicht gerecht wird, muss als böse charakterisiert werden, in theologischer Sicht als Schädigung der Gottesbeziehung, profan betrachtet, als gemeinschafts- und sozialschädlich. Nach reformatorischer Ansicht kann nur Gott von der Schuld der ethischen Unvollkommenheit erlösen. Da immer ein Stück Unvollkommenheit selbst bei der besten Lebensführung verbleibt, gelingt es nie, diese Schuld vollständig zu tilgen. Es bleibt ein moralisches Minderwertigkeitsgefühl, das den Menschen ganz von der göttlichen Gnade abhängig macht.

In dem permanenten verinnerlichten Schulddruck findet sich einer der Gründe der Abkehr von der göttlichen Überinstanz in der Ethik, die noch von personalistischen Denkern wie Friedrich Nietzsche vollzogen wurde. Denn den  Autonomiebestrebungen, mit denen sich die moderne Person aus Abhängigkeiten befreien und selbst verwirklichen will, steht jede außermenschliche Moralinstanz im Weg.

Die systemische Ethik

Auf der folgenden Bewusstseinsebene wird auf die göttliche Korrekturinstanz in ethischen Belangen verzichtet und der Bezugspunkt der Ethik richtet sich auf das dynamische Gleichgewicht der Elemente von Systemen sowie der jeweiligen Systeme untereinander. Was ein System destabilisiert, widerspricht der Ethik, was es fördert und wachsen lässt, entspricht ihr. Der Blickpunkt geht weg vom Subjekt, das immer auch als Teil eines Systems wahrgenommen wird. Alle Entscheidungen, die wir treffen, alle Handlungen, die wir setzen, betreffen alle anderen Elemente des Systems und werden im Licht dieser Auswirkungen bewertet. Genauso sind wir von allen Entscheidungen und Handlungen der anderen Elemente mitbetroffen. Die Ethik dient also als Korrekturinstrument für die Abläufe in den Systemen. Alle Bewertungen sind relativ, auf den jeweiligen Kontext bezogen. Es gibt keine absoluten Moralinstanzen mehr, von denen alle abhängig sind und auf die man sich berufen kann.

In Bezug auf die Impfdebatte heißt das, dass es keine absolut richtige oder falsche Entscheidung geben kann. Es geht um die Abstimmung der Erfordernisse der einzelnen involvierten Systeme. Das eigene Körper-Seele-System steht, wie schon besprochen, im Sinn der personalen Ebene bei vielen im Vordergrund der Entscheidung, ob für oder wider die Impfung. Da diese Ebene untrennbar mit der sozialen Ebene verknüpft ist, gibt es in diesem Feld die meisten Auseinandersetzungen, die, weil sie personal geführt werden, zu keinen Fortschritten führen, sondern dazu, dass sich die unterschiedlichen Positionen verfestigen. Die Geimpften fühlen sich bedroht von den Nichtgeimpften, die Ungeimpften fühlen sich von den Geimpften unter Druck gesetzt und moralisch abgewertet. Manche von ihnen greifen darüber hinaus die Geimpften als die vergifteten und eigentlichen Bösewichte an, usw.

Die systemische Ebene fragt nicht danach, wer Recht hat und wer nicht, sondern sie wägt zwischen den Erfordernissen der Personen und der unterschiedlichen Systeme ab. Dazu werden nicht nur individuelle Erfahrungen und Urteile herangezogen, sondern vor allem die wissenschaftlichen Befunde, die den Blick auf größere Einheiten und deren Verfasstheiten ermöglichen. Nur über wissenschaftliche Datenerhebung kann abgeschätzt werden, welche Maßnahmen langfristig zu Erfolg führen und welche nicht. In der individuellen wie in der politisch-kollektiven Entscheidungsfindung, die sich in Hinblick auf das Impfen stellt, sollte das allen zugängliche und nachvollziehbare wissenschaftliche Wissen eine prominente Rolle spielen, weil es in der Lage ist, Egoismen, die von der personalen Ebene kommen, auszugleichen.

Das Ende des ethischen Perfektionismus

Auf der systemischen Ebene macht der ethische Perfektionismus keinen Sinn mehr. Je deutlicher sichtbar ist, in wie viele komplexe Zusammenhänge jedes menschliche Handeln eingebunden ist, desto klarer wird, dass es keine absolut richtigen Handlungen und Entscheidungen geben kann. Es gibt bei jedem Tun oder Nichttun Bereiche der Wirklichkeit, die Schäden erleiden. Jede Handlung ist ein Kompromiss zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen der verschiedenen Systeme, deren Teil wir sind. Wenn wir viel konsumieren, schädigen wir die Umwelt; wenn wir wenig konsumieren, schädigen wir den Handel. Wenn wir uns impfen lassen, nehmen wir das Risiko von Nebenwirkungen und eventuellen langfristigen Schäden auf uns; wenn wir uns nicht impfen lassen, nehmen wir das Risiko von schwerer Erkrankung auf uns, ebenso wie das Risiko, im Fall der Infektion verstärkt andere anzustecken. 

Es sind diese beiden Risiken, die mich zur Einschätzung gebracht haben, dass das Impfen im Sinn der sozialen Systeme die ethisch bessere Entscheidung ist als das Nichtimpfen. Während für das Impfen die eigene Gesundheit wie die Gesunderhaltung anderer spricht, hat das Nichtimpfen nur einen möglichen (und nicht einmal wahrscheinlichen) individuellen Vorteil auf seiner Seite. In diese Einschätzung fließt das ein, was ich als Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen aufgefasst und verstanden habe. Es ist zwar keine absolut gültige Einschätzung, allerdings eine, die ich mit vielen teile und für die ich auf gute Argumente zurückgreifen kann. 

Die Bedeutung der Transparenz

Jede andere Einschätzung verdient Respekt und Achtung, muss sich aber auch die Anfrage an die Kriterien, auf denen sie beruht, gefallen lassen. Denn zur Wirksamkeit der Ethik in Systemen gehört ihre Rückkoppelungsfunktion. Das, was eine Person als wirk- oder heilsamer für ein System erachtet, kann nicht einfach vom Tisch gewischt oder ignoriert werden; dadurch würde nicht nur die Person, sondern das ganze System geschwächt. Es braucht die Debatte und Auseinandersetzung, die nur dann weiterführt, wenn sie ohne Machtansprüche oder Manipulationen abläuft. 

Eigene Entscheidungen, die das Ganze mitbetreffen, müssen in ihren Motiven transparent gemacht werden, damit es zum wechselseitigen Verständnis im System kommt. Auf dieser Basis entsteht Verständnis und Verbindung, wichtige Grundlagen für die von der Gemeinschaft getragene Weiterentwicklung. 

Es muss klar werden, welcher Anteil der Motivation aus der personalistischen Ebene stammt und nur den Eigeninteressen der Person gilt und welcher für die Gemeinschaft relevant ist. Es ist legitim, die eigenen Interessen mit zur berücksichtigen, doch nur, wenn sie öffentlich bekannt gemacht und untereinander abgestimmt sind, wenn also die personale mit der systemischen Ebene verknüpft wird. Korruption z.B. besteht darin, dass der individuelle Vorteil auf Kosten der Allgemeinheit gesucht wird und die entsprechenden Machenschaften geheim bleiben.

In der systemischen Ethik werden die Sichtweisen abgewogen und die Personen als gleichrangig betrachtet. Die eigene Person hat einen Platz, so wie die anderen. Ebenso haben die verschiedenen Wirklichkeitsbereiche ihren Platz: Die Gefühls- und die Gedankenwelt, das Regionale, das Nationale und das Internationale, das Innere und das Äußere, das Ich und die anderen usw. Die Ethik baut Brücken und saniert sie, wo sie brüchig werden. Denn alle Verbindungen müssen aufrecht bleiben und möglichst gut im Fluss sein, dann gedeihen die Systeme und bewältigen ihre Herausforderungen. 

Die universalistische Stufe

Das systemische Paradigma der Ethik ist nicht der Weisheit letzter Schluss, deshalb gibt es im Modell der Bewusstseinsevolution noch eine siebente Stufe. Sie ist jenseits der Ängste angesiedelt, die auch auf der systemischen Ebene noch eine Rolle spielen. Sie ist in Momenten gegenwärtig, in denen wir einfach tun, was zu tun ist, weil es sich in sich stimmig anfühlt. In dieser Stimmigkeit sind die beiden vorher besprochenen Bewusstseinsebenen enthalten. Das Gute und das Böse spielen keine Rolle mehr, weil die Bewertungsfreiheit der systemischen Ebene mitschwingt und verallgemeinert wird. Da diese Ebene in unserer Welt erst sporadisch vorkommt, spielt sie bei praktischen Fragen wie der Pandemiebekämpfung nur eine geringe Rolle. Sie kann uns jedoch dazu verhelfen, die Dramatik und Verbissenheit der Streitkulturen hinter uns zu lassen.

Zum Weiterlesen:
Impfen, Wissen und Wissenschaft
Die Ethik des Impfens
Fixierungen in der Impfdebatte